Christ und Welt

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Christ und Welt
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CHRIST&
& WELT
WELT
CHRIST
DIEZEIT
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
10. JULI 2014 No 29
Christ & Welt
PREIS DEUTSCHLAND 4,50 €
ANGRIFF AUF DIE ELITEN
Wenn Seelsorge
tödlich endet
Eine Freiburger Gemeinde
trauert. Ihr Pfarrer wurde
umgebracht
Christ & Welt Seite 2
Mit ihrer überlegenen
Intelligenz machen
Computer bald Ärzte,
Manager und
andere Akademiker
überflüssig. Aber ist das
wirklich schlimm?
Illustration: Smetek für DIE ZEIT (verwendetes Foto: Getty Images)
IN DIESER AUSGABE
VON CHRIST & WELT
Knipsen in der
Kirche
WIRTSCHAFT SEITE 19
Er will meinen Job!
SCHICKSALSTAGE IN NAHOST
BND -SKANDAL
Der einzige Weg
Es reicht
Wir stehen zu Israel. Aber Frieden kann es nur geben, wenn auch
die Palästinenser ihren eigenen Staat bekommen VON BARACK OBAMA
A
Sicherheitskooperation Israel si­
ls sich die Air ­Force One
cherer; amerikanische Investitionen
vergangenes Jahr auf
in Israels hochinnovative Ver­teidi­
den Landeanflug im
gungs­­
systeme wie das Arrow In­
Heiligen Land vor­
terceptor System und den Iron
bereitete, schaute ich
­Dome (beides Raketenabwehrsyste­
aus meinem Fenster
me, Anm. d. Red.) retten Leben.
und war einmal mehr davon be­
Unser Einsatz für Israels Sicher­
eindruckt, dass Israels Sicherheit in
heit umfasst auch unser Engage­
Minuten und Meilen gemessen werden
ment im gesamten Nahen Osten.
kann. Ich habe gesehen, was Sicherheit
Unter amerikanischer Führung hat
für diejenigen bedeutet, die in der Nähe
die internationale Gemeinschaft im
der Blauen Linie (der Demarkations­
vergangenen Monat erfolgreich die
linie zwischen dem Libanon und Israel,
letzten von Baschar al-Assads de­
Anm. d. Red.) leben; was sie für Kinder
klarierten Chemiewaffen aus Syrien
in Sderot heißt, die einfach ohne Angst
entfernt. Die Auflösung dieser Vor­
aufwachsen wollen; und welche Bedeu­
In Israel eska­
räte vermindert die Fähigkeit eines
tung sie für Familien hat, die ihr Haus
liert die Gewalt.
brutalen Diktators, mit Massen­
und ihr gesamtes Hab und Gut durch
Der US-Präsi­
vernichtungswaffen nicht nur das
die Raketen von Hisbollah und Hamas
dent appelliert
syrische Volk, sondern auch Syriens
verloren haben.
Nachbarn, darunter Israel, zu be­
Ich bin selbst Vater und kann den
leidenschaftlich
drohen. Wir werden weiterhin mit
Schmerz kaum ermessen, den die El­
an Israelis und
unseren Partnern in Europa und in
tern von Naftali Fraenkel, Gilad
Palästinenser,
der arabischen Welt zusammen­
Schaar und Ejal Jifrach, die im Juni
eine dauerhafte
arbeiten, um die gemäßigte syrische
auf so tragische Weise entführt und
Friedenslösung
Op­po­si­tion zu unterstützen und
ermordet wurden, ertragen müssen.
zu finden. In
auf eine politische Lösung für die­
Und ich bin untröstlich über die sinn­
Deutschland
sen Konflikt zu drängen, der eine
lose Verschleppung und Ermordung
humanitäre Krise und regionale In­
von Mohammed Hussein Abu
erscheint der
stabilität nach sich zieht.
Chdeir, dessen Leben ihm und seiner
Text exklusiv in
Ebenso arbeiten wir daran, si­
Familie geraubt wurde. In diesem
der ZEIT
cherzustellen, dass der Iran niemals
Moment der Gefahr müssen alle Be­
Atomwaffen besitzen wird. In har­
teiligten die Unschuldigen schützen,
mit Vernunft und Maß agieren, nicht mit Rache ten internationalen Verhandlungen über das ira­
nische Atomprogramm versuchen wir, diese
und Vergeltung.
Von Harry Truman bis in die heutige Zeit schwere Bedrohung internationaler und regiona­
waren die Vereinigten Staaten stets Israels größ­ ler Sicherheit, auch der Sicherheit Israels, mit
ter Freund. Ich habe es immer wieder gesagt: friedlichen Mitteln zu beseitigen. Wir haben
Weder die Vereinigten Staaten noch ich werden klargemacht, dass zu jeglicher Einigung konkre­
jemals in unserem Bekenntnis zu Israels Sicher­ te und verifizierbare Sicherheiten gehören müs­
heit und zum israelischen Volk wanken. Den sen, die gewährleisten, dass das Atomprogramm
Friedensprozess zu unterstützen wird immer der des Irans ausschließlich friedlich genutzt wird.
Im Laufe dieses Prozesses haben wir enge Rück­
Grundstein dieser Zusage sein.
Während der vergangenen fünf Jahre haben sprache mit Israel gehalten. Die Frist für die Ver­
wir unsere Zusammenarbeit ausgeweitet – heu­ handlungen läuft ab, und wir wissen noch nicht,
te, das bestätigen hochrangige israelische Politi­ ob sie am Ende Erfolg haben werden. Aber eines
ker, sind die Beziehungen in Sicherheitsfragen hat sich nicht geändert: Wir sind entschlossen,
zwischen Israel und den Vereinigten Staaten den Iran daran zu hindern, sich Atomwaffen zu
stärker, unternehmen unsere Streitkräfte mehr beschaffen, und wir behalten alle Optionen auf
gemeinsame Übungen mit­ein­an­der als je zuvor. dem Tisch, um dieses Ziel zu erreichen.
Das Bekenntnis der Vereinigten Staaten zu
Auch die Zusammenarbeit unserer Geheim­
dienste war nie so eng. Gemeinsam entwickeln Israels Sicherheit stellen wir darüber hinaus
wir neue Verteidigungstechniken, wie zum Bei­ durch unser anhaltendes Engagement für einen
spiel ferngesteuerte Aufspürgeräte gegen Spreng­ dauerhaften Frieden im Nahen Osten unter Be­
fallen und eine leichtgewichtige Körperpanze­ weis. Wir waren uns immer bewusst, dass die
Lösung des jahrzehntealten Konflikts zwischen
rung, die unsere Soldaten beschützen werden.
Die Haushaltsmittel in Washington sind Israelis und Palästinensern enormen Aufwand
knapp, aber unser Bekenntnis zu Israels Sicher­ und schwierige Entscheidungen von allen Betei­
heit bleibt eisern. Die Vereinigten Staaten haben ligten verlangen würde. (Fortsetzung auf Seite 6)
sich verpflichtet, mehr als drei Milliarden Dollar
pro Jahr bereitzustellen, um Israels Sicherheit bis
zum Jahr 2018 mitzufinanzieren. In allen Be­ Weitere Beiträge zum Nahostkonflikt, S. 6
www.zeit.de/audio
reichen macht unsere so noch nie da gewesene
Obama
in der
ZEIT
Die Bundesregierung muss sich gegen die Anmaßungen der
US-Spione wehren. Die Mittel dazu hat sie VON HEINRICH WEFING
M
an möchte jetzt mal mit der herrschen als die Konsequenzen eines entschlos­
Faust auf den Tisch schlagen. senen Handelns.
Die Verweigerung einer mehr als bloß gewis­
Und laut werden. Richtig
laut, lauter noch als der Bun­ perten Reaktion der Bundesregierung nach den
despräsident und der Innen­ Snowden-Enthüllungen hat das drastisch deut­
minister, viel lauter als die nie lich gemacht. Auch das trägt ja zum Provozieren­
zum Dröhnen und Drohen neigende Kanzlerin. den der neuen Affäre bei: Die Deutschen haben
Liebe Leute in Washington, möchte man die NSA-Sache nach Kräften runtergespielt,
brüllen, habt ihr sie eigentlich noch alle? Wie weggelächelt, glattgeschwiegen. Und die USkönnt ihr so blöd sein, einen Doppelagenten Agenten? They didn’t give a shit, um es mal mi­
beim BND anzuwerben und euch dabei auch lieugerecht zu formulieren. Noch einmal zu
noch erwischen zu lassen? Genügt euch der Är­ schweigen, nichts zu tun und bloß verdruckst
ger um Snowden nicht? Ist euch komplett egal, auf die Ermittlungen des Generalbundesanwalts
dass der Antiamerikanismus in Deutschland zu verweisen ist schlicht keine Option mehr.
Die Staats-Kunst wird darin bestehen, ein
grassiert, dass hier fundamental etwas ins Rut­
paar symbolische Stiche zu setzen, die registriert
schen kommt?
Und man weiß gar nicht genau, worüber man werden, daheim und in Washington, die aber
sich mehr ärgern soll: über die Dreistigkeit der den ohnehin entstandenen Schaden nicht po­
US-Dienste, trotz weltweiter Empörung über die tenzieren. Und es gibt durchaus solche Signale,
NSA einfach so weiterzumachen wie bisher­ die verstanden würden, die vom Bundes­
üblich. Oder über das Schweigen der Regierung innenminister erwähnte 360-Grad-Spionage­
in Washington, die mit einem halbamtlichen abwehr etwa, die sich auch gegen die Amerikaner
»sorry« und der Strafversetzung eines mittel­ richten würde; eventuell die Aussetzung oder Kün­
digung von Ab­
kommen,
hohen Agentenführers eine
zum Beispiel des SafeMenge Druck aus dem Kes­
Harbor-Vertrages, der es
sel nehmen könnte, es aber
den amerikanischen Netz­
partout nicht tut. Oder aber
giganten eigentlich erst
über den Schaden für die
... und die Kanzlerin:
möglich macht, in Europa
deutsch-amerikanischen Be­
Politik Seite 2/3,
zu agieren; oder, wenn
ziehungen, den diese Agen­
Feuilleton S. 37
sonst gar nichts ver­
ten­nummer notwendig her­
standen wird, die Einla­
beiführen wird, jetzt, da sie
dung an Edward Snow­
aufgeflogen ist.
Natürlich sind das emotionale Reaktionen, den, doch noch vor dem NSA-Untersuchungs­
der Ärger genauso wie der Wunsch nach einem ausschuss in Berlin auszusagen.
Dabei geht es nicht um alles oder nichts; das
offiziellen Wutausbruch. Politik kann so nicht
reagieren, auch wenn es ihr manchmal schwer­ zu behaupten ist nur ein Vorwand, nichts zu tun.
fällt. Und sie reagiert auch nicht so, jedenfalls Auch die USA brauchen Deutschland, brauchen
dann nicht, wenn Angela Merkel diese Politik Europa und werden nicht alles aufs Spiel setzen,
wenn die Bundesregierung mit Nachdruck auf
bestimmt.
Sie muss wägen und abwägen, sie muss die die Einhaltung der Spielregeln zwischen Ver­
kurzfristige Aufwallung mit den langfristigen In­ bündeten besteht. Und das wäre nicht bloß Aus­
teressen dieses Landes abgleichen, sie will sich druck von enttäuschter Liebe oder beleidigter
und die deutschen Sicherheitsbehörden nicht Bockigkeit. Es wäre auch mehr als ein kleinliches
komplett von den Informationen der US-­ Nachtreten. Im Gegenteil, darauf zu bestehen,
Geheimdienste abschneiden. Und sie braucht und notfalls lautstark, dass geltende Regeln ein­
Obama und die Vereinigten Staaten überall, in gehalten werden, ist für einen Rechtsstaat von
der Ukraine, bei den Atomverhandlungen mit fundamentalem Interesse.
Nach innen, weil nur so die Rechtstreue der
dem Iran, bei der Bankenregulierung, in Südost­
asien. Denn im Zweifel, wenn es gegen Putin geht Bürger erhalten werden kann. Nach außen, weil
oder gegen Peking, dann sind uns die Vereinigten eine Exportnation wie die deutsche auf Rechts­
Staaten doch sehr viel näher als Russland oder sicherheit, auf ein Mindestmaß an Fair Play und
China. Aus Tradition und weil sie ähnliche Inte­ Vertragstreue gerade im Ausland existenziell an­
ressen und Werte haben, im Prinzip jedenfalls: gewiesen ist. Und weil die Herrschaft des Rechts
im Kern das ist, was den Westen von den Auto­
Toleranz, Individualismus, Rechtsstaatlichkeit.
Das alles ist schon richtig, ganz und gar nicht kratien der Welt unterscheidet.
Wenn Washington das so offenkundig aus
trivial und ein zuverlässiger Bremsklotz gegen
überschießenden Zorn oder pubertäre Trotz­ den Augen verliert, darf die Kanzlerin, nein:
reaktionen. Nur: Bei allem Abwägen und Nach­ muss die Kanzlerin daran erinnern. Ohne Ge­
denken darf man eines nicht übersehen. Wie fast brüll, natürlich. Aber durchaus laut. So laut, dass
immer im Leben hat auch in der Politik das sie gehört wird.
Nichtstun Folgen. Und zwar Folgen, die nicht
www.zeit.de/audio
unbedingt angenehmer sind oder leichter zu be­
Der Spion ...
Stört das Fotografieren die
heiligen Handlungen bei
Hochzeit und Taufe?
Christ & Welt Seite 3/4
Limburg und die
Folgen
Weitermachen wie bisher?
Papstberater Gregor Maria
Hoff warnt die Bischöfe
Christ & Welt Seite 5
KREUZ & QUER
Männer aus
Moabit XXVIII
Die Bank an der Straßenecke ist
beliebt: Mittags setzen sich die Ju­
gendlichen aus dem Hostel darauf,
abends der nette Kiffer, ab und an
die alten Frauen von nebenan.
Heute hat wieder der Mann mit
dem Fahrrad Platz genommen,
neben ihm ein großer Plüschbär,
den rechten Arm um eine Schultü­
te gelegt, den linken um eine Fla­
sche Bier. Der Fahrradmann beugt
sich vor: »Wenn der so weiter­
macht«, er blickt kurz zu dem Bä­
ren, »sackt der ab. Jetzt mal so so­
zial gesehen. Ich bring den zum
Arbeitsamt, der braucht ’ne Fort­
bildung. Oder ’ne Therapie. Der
hat«, jetzt flüstert er, »voll das Dro­
genproblem. Sitzt hier mit Schul­
tüte und säuft. Mitten am Tag! Das
geht doch nicht. Da muss man was
tun, schließlich hat man Verant­
wortung. So als Nachbar, meine
ich.« HANS-JOACHIM NEUBAUER
Kl. Fotos: picture-alliance/dpa; F1online;
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L 4,80/HUF 1960,00
o
N 29
69. J A H RG A N G
C 7451 C
10. Juli 2014
W O C H E N Z E I T U N G
F Ü R
G L A U B E , G E I S T , G E S E L L S C H A F T
Wenn Seelsorge tödlich endet
Fotografieren in der Kirche – ist das ok?
Nach Limburg ist alles anders
Ein Freiburger Pfarrer wird umgebracht.
Wie die Gemeinde trauert.
Zwei Seiten Debatte über das
Knipsen bei Hochzeit und Taufe.
Der Skandal hat Folgen für alle
Bischöfe. Ein Papstberater warnt.
Seite 2
Seiten 3, 4
Seite 5
SEIN MOTIV: ALEXANDER DOBRINDT
Liebet den Zöllner!
Und es begab sich zu der Zeit, als die Mächtigen ihren Staatshaushalt nicht mehr finanzieren konnten, da wurden an vielen Stellen des Landes Schranken errichtet, auf dass Wegezölle erhoben werden konnten. Vor zentral gelegenen Brücken,
Stadttoren und Durchgängen, die ein jeglicher Reisende unweigerlich passieren musste, stand der Zöllner – geächtet als
Kollaborateur der Römer. Und es fand sich keiner unter der
Sonne, der mit dem Sünder etwas zu tun haben wollte, da er
im Ruf stand, sich über Gebühr zu bereichern. Nur Jesus ließ
sich von ihm bewirten, er nahm Platz zwischen Sündern und
Steuereintreibern. Zachäus, der oberste Zollpächter von Jericho, gelobte daraufhin, die Hälfte seines Besitzes an die Armen zu verteilen und die geraubten Gelder vierfach zu erstatten. Mehrere Bibelstellen erzählen vom Gleichnis, in dem
der Herr den bußbereiten Steuereintreiber jedem selbstgerechten Pharisäer vorzog. Heißt es doch im Psalm 51,19:
„Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist; ein
zerbrochenes und zerschlagenes Herz, wirst du, Gott, nicht
verschmähen.“
Alexander Dobrindt ist der Zöllner unserer Tage. Noch
zeigt sich der Bundesverkehrsminister nicht reumütig, wenn
er die Maut auf sämtlichen deutschen Straßen plant. Er bereichert sich weder privat, noch ist er Handlanger einer Besatzungsmacht. Und doch hat der Verkehrspolitiker mehr denn
je Jesus-Geduld dringend nötig. Denn auch dieser Zöllner hat
kaum Freunde, nicht in der Koalition, schon gar nicht in der
EU – selbst in der eigenen Partei ist er zuweilen allein. Eine
Maut, die die Ausländer nicht benachteiligen darf und die
Bundesbürger nicht zusätzlich belasten soll, diesen Widerspruch kann kein noch so salomonisches Urteil aufheben.
Zumindest geht das nicht ohne Gesetzestrick. Darauf warten
die Pharisäer. Sie gehen schon in Stellung.
Andreas Öhler
FOTO: WOLFGANG KUMM
Das letzte Gefecht
ARCHIV Der Streit um Helmut Kohls private Akten verschärft sich: Versucht Maike Kohl-Richter, das Erbe
ihres Mannes an sich zu ziehen? Oder ist sie das Opfer einer frauenfeindlichen Kampagne?
oder Andrea Nahles selbstbewusst nach
der Macht. Doch noch ist das nicht selbstlar, die Stiefmutter ist schuld. verständlich.
Zumindest in den konservativen MiBöse, intrigant und egoistisch
treibt sie ihr Unwesen in der lieus wirkt das Bild von der schwachen
Märchenwelt von Aschenput- Frau neben dem Mann, den der Mantel
tel, Schneewittchen und Frau Holle. Sie der Geschichte umweht, weiter. Kohlist Hexe und Nemesis in einem, sie wie- Richter bekommt das zu spüren: Des Altgelt den wohlmeinenden Vater auf gegen kanzlers Weggefährten von einst fordern
seine Kinder, sie zieht das Erbe an sich. freien Aktenzugang für Historiker. Alle
Sie will Geld, sie will Macht, und was sie rufen nach Transparenz, und die Presse
will, bekommt sie auch. Zunächst. Erst schürt die Glut. Die böse Stiefmutter
am Ende erreicht sie die Rache der Ge- wird gebraucht: Stiefmütterlich behanrechten. So ist es im deutschen Märchen, delt Kohl-Richter demnach nicht nur die
und so geht es in der deutschen Wirklich- Söhne Helmut Kohls; stiefmütterlich gekeit zu, glaubt man dem Bild, das sich die he sie auch mit den Deutschen um. Denn
Deutschen von den Frauen an der Seite es sei ja deren gutes Recht, in Kohls Arder Mächtigen machen. Prominentes Bei- chiv zu lesen und zu stöbern. Wer
spiel: Maike Kohl-Richter. Die Frau, die
dem schwer kranken Helmut Kohl das Jawort gab, damals, 2008, in der Kapelle
der Reha-Klinik in Heidelberg, weiß, was
sie erwartet. Sie will bei ihrem Mann bleiben, bis zum Ende. Maike Kohl-Richter
wird die Letzte sein.
Von Hans-Joachim Neubauer
K
Nietzsches Werk, aktiv daran, den Philosophen zu einer restaurativen Kultfigur
des 20. Jahrhunderts aufzubauen. Seither
werden die Frauen und Witwen der „großen Männer“ grundsätzlich verdächtigt,
das historische Erbe zu manipulieren, eine Logik, die nur in einer patriarchalen
Gesellschaft denkbar ist.
Wer also darf darüber entscheiden,
wer wann zu welchen Quellen Zugang
hat? In der Zeitgeschichtsschreibung steht
die politische Aktualität der wissenschaftlichen Quellenerschließung oft im Wege.
Darüber muss gesprochen und gestritten
werden. Ein Politiker, der versucht, sein
Bild für alle Zeiten festzuschreiben, wird
scheitern; spätere Historiker werden sein
Bild neu zeichnen. Dabei werden sie auch
um ihre gemeine Intrige zu spinnen.
Demnach setzte Willys Witwe dazu dasselbe Mittel ein, das auch Cosima Wagner
und Elisabeth Förster-Nietzsche virtuos
nutzten: den Nachlass.
In patriarchalen Zeiten ist der Nachlass eben die Waffe der Prominentenwitwe; im Nachlass berühren sich die private
und die öffentliche Person des berühmten
Urhebers. Was von dessen Erbe, posthum
oder zu Lebzeiten, nun der Allgemeinheit
gehört und was der Gattin oder Erbin des
großen Mannes, darüber gibt es nicht nur
bei Politikern Streit. Helene Weigel
brachte die Theater zur Weißglut, indem
sie verfügte, welche Bühnen Stücke des
verstorbenen Bertolt Brecht aufführen
durften – und welche nicht. Die literarische Welt ist an solche Zwistigkeiten gewöhnt, seit je fürchten Archivare und
Verleger die Figur der streitbaren Witwe.
auf die Rolle der Maike Kohl-Richter zu
sprechen kommen, die mit Verve für ihren Mann kämpft. „Ich bin nicht in der
Lage, den historischen Nachlass meines
Mannes alleine zu verwalten. Das wäre
eine absurde Vorstellung“, sagte sie kürzlich der „Welt am Sonntag“. In den Geschichtsbüchern von morgen könnte sie
als die Letzte ihrer Art erscheinen.
Die Kritik an ihr lässt ein erstaunliches
Maß an Misogynie erkennen. Schon im
Fall der Brigitte Seebacher-Brandt, an den
jetzt immer wieder erinnert wird, mutmaßte die Nation, die junge Frau habe
den alten Altkanzler einer Gehirnwäsche
unterzogen. Das Grundmuster: Wie bei
Aschenputtel erobert die böse Stiefmutter Herz und Hirn des schwachen Vaters,
Nachrichten in kleiner Münze
Das Seltsame am Fall Maike Kohl-Richter ist
nur: Nichts weist darauf hin, dass sie unkor-
Kollekte der Woche
E
s gibt wenige Themen, bei denen sich Moraltheologen, Kirchen und christliche Politiker durch die Bank einig sind. Die Ablehnung des organisierten,
assistierten Suizids, etwa mit einem tödlichen Medikamentencocktail, ist eines
dieser Konsensthemen. Doch nun schert ausgerechnet eine Nonne aus dem
Schweizer Wallis aus. „Ich unterstütze alle Personen“, schrieb die 75-jährige
Ursulinen-Schwester Marie-Rose Genoud in einem Leserbrief, „die nach reiflicher Überlegung und mit klarem Verstand als letzten Ausweg eine tödliche Dosis nehmen.“ Marie-Rose Genoud ist keine Unbekannte in der Schweiz. Im Jahr
2009 erhielt sie für ihr Engagement für Asylbewerber den Prix Courage verliehen. Sie ist es gewohnt, sich mit der Obrigkeit anzulegen, nun also auch mit
ihrer eigenen, der katholischen Kirche. Die reagiert bislang noch schweizerisch
verhalten. Zwar stellte der Walliser Bischof Norbert Brunner fest, dass die Lehre der Kirche in diesem Punkt feststehe. Jedoch interessiere ihn sehr wohl,
„aus welcher Motivation hinaus die Ordensfrau sich zu diesem heiklen Thema
öffentlich geäußert hat“. Auch die Schweizer Bischofskonferenz sieht bei dem
Thema einen für deutsche Katholiken doch recht überraschenden, weil so gar
nicht grundsätzlichen Klärungsbedarf: „Es ist eine neue Haltung in der Schweizer Kirche.“ Sie zeige, dass „eine Debatte darüber auch innerhalb der Kirche
notwendig ist“. In der Schweiz sind die Vereine Dignitas und Exit beheimatet,
die ihren Mitgliedern auf Anfrage Beratung, Begleitung und Beihilfe zum Suizid
anbieten.
A
uf deutschen Friedhöfen gibt es zwei Kategorien von Holocaust-Überlebenden – diejenigen, die vor dem 31. März 1952 verstorben sind, und
jene, die etwas länger überlebten. Ersteren sichert die Bundesrepublik ein
„Ehrengrab“ zu: Die Verstorbenen erhalten auf dem Friedhof ewiges Ruherecht, die Angehörigen müssen für die Grabpflege also nicht aufkommen.
Wer dagegen das Pech hatte, nach dem Stichtag zu versterben, wird auf
deutschen Friedhöfen als ganz normaler Toter behandelt, das heißt, das Grab
wird nach einigen Jahrzehnten geräumt, falls die Angehörigen nicht für die
Verlängerung der Ruhefrist aufkommen. Eine Ausnahme bilden bislang nur
die jüdischen Friedhöfe. Dagegen hat nun der Zentralrat der Sinti und Roma
protestiert. Viele Angehörige von im Holocaust ermordeten Sinti und Roma
hätten nicht die finanziellen Möglichkeiten, um die ewige Grabruhe zu sichern,
so der Verband. Gleichzeitig seien die Gräber – in Ermangelung offizieller
Gedenkstätten für die im Dritten Reich als „Zigeuner“ ermordeten Sinti und
Roma – für die Angehörigen Orte der kollektiven Erinnerung. Um die Grabstätten dennoch zu schützen, schlägt der Zentralrat vor, die Gräber doch
bundesweit unter Denkmalschutz zu stellen oder sie in Ehren- beziehungsweise
Dauergräber umzuwandeln. Obwohl einzelne Gemeinden in Deutschland dies
bereits so handhaben, fehlt bislang eine einheitliche Regelung auf Bundesebene. 3500 Gräber seien nach Angaben des Zentralverbands deutschlandweit
betroffen.
Raoul Löbbert
FOTO: WOLFGANG KUMM/DPA/PICTURE ALLIANCE
Das ist gut, doch die Frau des Altkanzlers
wird kritisiert statt geachtet. Denn sie tut
nicht, was sie soll. Sie ist die „Frau an seiner Seite“, und da soll auch ihr Platz sein:
im Schatten des großen Mannes. Aber
statt sich mit dieser Rolle zufriedenzugeben und den historischen Masterplan anderen zu überlassen, etwa den Männern
in ihrer Partei, kämpft sie. Hartnäckig
verteidigt sie 400 Aktenordner im Oggersheimer Keller, Kohls Handarchiv, die
Basis für den geplanten vierten Band seiner Erinnerungen. Je stärker ihr Engagement, desto heftiger ist der Widerstand,
der ihr entgegenschlägt. Sie gilt als eine
Cosima Wagner von heute, als anmaßende Wächterin des historischen Schatzes.
Sie soll sich bescheiden, sagen ihre Kritiker, schließlich wollen auch andere mitmalen am Bild in den Geschichtsbüchern.
Maike Kohl-Richter könnte eine der
Letzten sein, die zu spüren bekommen,
was es heißt, als „Frau an seiner Seite“ behandelt zu werden. Die patriarchale Epoche geht zu Ende. Heute greifen Frauen
wie Angela Merkel, Ursula von der Leyen
schreibt die Geschichte der Männer, die
Geschichte schrieben?
Der Konflikt ist alt: Wenn die großen
Männer abtreten oder sterben, schlägt die
Stunde ihrer Frauen. Im 19. Jahrhundert
erlebte die Figur der dominanten „Frau
an seiner Seite“ eine erste Konjunktur:
Cosima Wagner wurde eine der bekanntesten Witwen der Kulturgeschichte.
Nach Richard Wagners Tod verstand sie
sich als Gralshüterin seines Erbes. Bis ins
Letzte hinein bestimmte sie die Wirkungsgeschichte des Komponisten. Ähnlich autoritär und selbstbewusst ging Elisabeth Förster-Nietzsche mit dem Erbe
ihres Bruders Friedrich um. Sie verwaltete nicht nur seinen Nachlass, sondern arbeitete, auch durch massive Eingriffe in
rekt mit den Akten ihres Mannes umgehen wird. Anscheinend überlegen die
Kohls, die Dokumente einer Stiftung zu
übereignen; so gesehen ist also alles im
Lot. Letztlich geht es um etwas anderes,
nämlich um den Versuch, am patriarchalen Weltbild festzuhalten. Deshalb wird
so eifrig am Zerrbild der bösen Stiefmutter gemalt: Jung und schön, wie sie ist,
verhext sie den Alten und nimmt, was sie
kriegen kann. Hinter dieser unzeitgemäßen Debatte zeigt sich die Sehnsucht der
Deutschen – zumindest der Christdemokraten – nach Frieden mit Helmut Kohl.
Denn solange der große alte Mann als
Opfer einer jungen Hexe erscheint, lassen
sich die alten Streitereien mit ihm unter
der Schminke allgemeinen Mitleids verbergen. Zum Bild der jungen Bösen gehört die Figur des greisen Patriarchen.
Doch deren Tage sind gezählt. Pech für
die Misogynen: Auch die Klischees sind
nicht mehr das, was sie einmal waren.
Heute haben eben auch Frauen Macht,
und irgendwann wird man um ihr Erbe
streiten. Dann wird er zur Stelle sein,
„der Mann an ihrer Seite“. Und sicher
wird er kämpfen.
C&W 2 GLAUBE
C H R I S T & W E L T | 29/2014
CHRIST UND WELT
Gefühlskinokompetenz
EDITORIAL Hochzeit, Taufe, Konfirmation: Kirchliche
Feiern müssen magische Momente liefern
„Wir wünschen uns das ,Ave
können sich Pfarrer über
Maria‘ von Helene Fischer“,
die positiven Erwartungen
sagt die Braut dem Kirchennicht. Viele winken eher remusiker ein paar Wochen vor
signiert als seelsorgerisch amder Hochzeit. Auf Schlagerbitioniert jeden Punkt auf
göttinnen werden Organisten
der Wedding-Planner-Liste
im Studium nicht vorbereidurch. Andere straffen Befftet, deshalb ist Youtube ein
chen oder Römerkragen und
wichtiges
kirchenmusikaverbannen Popmusiker samt
lisches Instrument geworden.
Kameraleuten aus ihrem HoDie Recherche ergibt: Das Klappt alles,
heitsbereich. Der Gottes„Ave Maria“ von Helene Fidienst sei doch kein Kundenscher ist das von Franz Schu- weinen alle.
dienst, der Altarraum kein
bert, das mit der Jungfrau Der Fotograf Service-Point!, zürnen sie.
und den Sorgen also. Das
Nicht nur bei HochzeiPaar aber möchte den neuen zoomt die
ten, auch bei Taufen, KonfirText, den ohne Jungfrau, da- Tränen der
mationen und Erstkomfür mit Nächten voll Einsam- Braut heran. munionen prallen Eventkeit und dem moraltheoloDramaturgie und Liturgie
gisch diskutablen Wunsch:
unsanft aufeinander. Wir ha„Schließ heut Nacht nicht deine Türe/ ben uns in dieser Ausgabe ein Plaund öffne heut dein Herz ganz weit.“ nungsdetail vorgenommen, das noch
Mit 1 597 326 Klicks hat Helene Fischer leidenschaftlicher diskutiert wird als
den seligen Schubert-Allmächtigen die Musikauswahl: Fotografieren im
Dietrich Fischer-Dieskau übertrumpft. Festgottesdienst – soll das erlaubt
Wenn alles klappt, öffnet die Fest- sein? Unser Autor Kristian Fechtner
gemeinde ihr Herz ganz weit und sagt aus theologischen Gründen Nein;
weint. Der Fotograf zoomt die Tränen sein Kollege Heinzpeter Hempelmann
der Braut heran. Den magischen Mo- gibt aus theologischen Gründen das
ment gibt es später im Netz. Vielleicht Jawort. Schön zu sehen: Ob und wann
wird die Szene so berühmt wie das Vi- in einer Kirche tatsächlich auf den
deo des Halleluja-singenden irischen Auslöser gedrückt wird, hängt weder
Priesters.
von der Konfession noch von Rom ab,
Eigentlich müssten die Kirchen eher schon von der Diskretion des Fodankbar sein, wenn Brautpaare ihnen tografen. Unsere Recherchen haben
Gefühlskinokompetenz zutrauen. Wer eine Foto-Ökumene ans Licht gemöchte nicht lieber auf seine Schön- bracht. Um es mit Helene Fischer zu
heit reduziert werden als auf sein Skan- sagen: „Aus fremden Menschen werdalpotenzial? Sentiment ist besser als den Freunde, und große Sorgen werRessentiment. Doch so richtig freuen den klein.“
Christiane Florin
Pfarrbüro: In diesem Haus wurde Christof Schorling umgebracht.
Ein Pfarrer stirbt öffentlich
TRAUER Christof Schorling, der führende Geistliche der Lutheraner in Baden, ist
umgebracht worden. Noch vor Kurzem hat er seine eigene Beisetzung
vorbereitet. In der Erinnerung sucht die Gemeinde Trost
Exorzismus e. V.
lii gaudium“ kommt der Teufel nur einmal vor. Und das auch nur als Kompositum. „Teufelskreis“, das klingt
schon fast so harmlos wie Stuhlkreis.
Papst Franziskus hat dazugelernt. Anfangs sprach er noch häufig vom Teufel. Dann hatte ein Fernsehsender auch noch gemeint, Franziskus habe höchstselbst einen Exorzismus auf dem Petersplatz vollzogen. Das
wurde dementiert. Inzwischen weiß der Papst, dass
die meisten Mitteleuropäer
noch weniger als an Gott an den
Teufel glauben. Mehr noch: Bisweilen
wird die Erwähnung des Teufels schon
als gotteslästerlich angesehen. Kann es
das personifizierte Böse geben, wenn
es doch den allmächtigen Gott als Personifizierung des Guten gibt?
Das Böse kommt im wunderbaren
Schreiben das Papstes zigfach vor. Dagegen zu streiten ist des Glaubenden
Auftrag. „Der christliche Sieg ist immer
ein Kreuz, doch ein Kreuz, das zugleich
ein Siegesbanner ist, das man mit
einer kämpferischen Sanftmut
gegen die Angriffe des Bösen
trägt“, schreibt Franziskus.
Die Papstworte klingen fast
wie eine Teufelsaustreibung.
Der Glaube also doch ein gelebter Exorzismus? Der Große Exorzismus von 1999 – festgelegt im „Rituale Romanum“ – besteht größtenteils aus der Lesung der
Evangelien. Das kann so schlimm nicht
sein. Die kleine Variante gibt’s bei jeder
Taufe, wenn „dem Bösen widersagt“
wird. Franziskus mutet seinen Freunden viel zu. Aber vielleicht lässt sich
auch von den falschen Freunden etwas
lernen.
Mit Freunden ist das nicht wie in der
Ehe. Man kann kaum Exklusivität beanspruchen. Und doch wohnt jeder engen Freundschaft eine gewisse Sehnsucht nach Einmaligkeit inne.
Argwöhnisch werden die
Freunde der Freunde betrachtet. Wenn der Papst
nun die Internationale Vereinigung der Exorzisten anerkennt, ist es verständlich,
dass Franziskus-Freunde aufschrecken. Gilt etwa seine Zuneigung auch den Teufelsaustreibern?
Lässt sich etwa der Papst aus Argentinien auf ein vorkonziliares, ans Okkulte grenzendes Niveau herab? Geht seine Liebe zu den Rändern so weit, dass
er solche abstrusen und verwelkenden
Blüten an den Außenmauern des Katholischen gedeihen lässt? So reden die
Franziskus-Freunde.
In Rom tagen gerade die Exorzisten,
bilden sich fort, ringen um ihren Ruf.
Sie geben sich freundlich. Meistens
müssten die vermeintlich „Besessenen“ zum Psychiater,
nicht zu ihnen, räumen die
Fachleute fürs KatholischDüstere ein. Aber es gebe
natürlich auch „echte“ Fälle.
Die vatikanische Anerkennung ist eine sehr schwache
Würdigung ihrer Arbeit. Sie dürfen
nicht „im Namen der Kirche“ sprechen. Sie sind ein privater Verein, der
als solcher nun etwas kirchliche Aufmerksamkeit erfährt.
Vom Papst selbst hat man dazu
nichts gehört. Dennoch erregen die
Teufelsaustreiber die Beachtung der
Öffentlichkeit. 250 Exorzisten gebe es
weltweit, der Bedarf steige, heißt es. In
Italien werden laufend neue ausgebil- Unter dem Titel „Franz & Friends“ blickt
det. Im päpstlichen Schreiben „Evange- Christ & Welt in den Vatikan.
IMPRESSUM
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brechens, dann öffnet sich nicht nur für
die Familie ein schwarzes Loch, sonie Staffelei des Bestatters dern für viel mehr Menschen. Selbst
steht noch vor dem Altar. diejenigen, die nicht mehr jeden SonnPfarrer Christof Schorling tag in die Kirche gehen, wissen, wo ihr
lächelt dort von einem Foto Pfarrer lebt und wer er ist.
Schorling kannte den mutmaßlichen
in die Erlöserkirche in Freiburg. Die
Aufnahme zeigt einen Mann Mitte 50. Täter, einen 30-jährigen Mann, wohl
Freundliche Augen, über den Schultern seit zwei Jahren. Sie trafen sich erstmals
der Albe eine rote Stola. Die Kirche ist bei der goldenen Hochzeit der Großelleer. Der Leichenwagen mit dem Sarg tern des Verdächtigen. So erzählen Kirist schon auf dem Weg zum städti- chenmitglieder. Die Polizei berichtet,
schen Hauptfriedhof. Christof Schor- dass der mutmaßliche Täter psychisch
ling ist eines gewaltsamen Todes ge- krank sei. Mehrere Male sei er in einer
storben. Er wurde an einem Dienstag Klinik behandelt worden. Schorling soll
erstochen. Jetzt ist die Trauerfeier für vor ihm gewarnt haben. Seiner Kollegin hatte er geraten, den Mann nicht
ihn zu Ende.
Die evangelisch-lutherische Gemein- ins Haus zu lassen. Er sei gefährlich.
de in Freiburg ist eine Gemeinschaft,
deren Mitglieder zerstreut leben. Sie Wie kam er trotzdem ins Büro des Pfarzählt rund 650 Mitglieder, von denen rers? Das ist eine der offenen Fragen dieeinige bis zu 50 Kilometer Weg auf sich ses 24. Juni. An diesem Tag soll der
nehmen, um gemeinsam den Gottes- mutmaßliche Täter mehrere Stunden
dienst in Freiburg zu feiern. Oder wie vor dem Eisenzaun herumgelungert
an diesem Samstag, um zu trauern. haben. Er sei von religiösen WahnvorBierbänke stehen in Reih und Glied stellungen befallen gewesen, erzählen
draußen vor der Kirchentür. Das Got- mehrere Gemeindemitglieder. Die Poteshaus konnte den Andrang nicht fas- lizei will das nicht bestätigen. Mehrfach
sen. Regen ist angekündigt. Ein kleiner will der Mann an diesem Tag in das
Pavillon vor der Kirche soll Schutz bie- Haus, um dort mit Christof Schorling
ten. Für Männer, Frauen, Kinder, die ei- zu sprechen. Als der Pfarrer dem mutnander umarmen und sich fragen, wa- maßlichen Täter gegen 19.30 Uhr die
rum ihr Pfarrer sterben musste. Trauer Türe öffnet, sitzt eine Mitarbeiterin im
lässt sich nicht organisieren, der Raum Raum nebenan. Sie hört kurz darauf
dafür schon.
laute Stimmen, einen Schrei. Auch das
Schorling war beliebt. Im Land war erzählen sich die Gemeindemitglieder.
er als einer der Radiopfarrer des Süd- Die Mitarbeiterin öffnet die Tür, sieht
westrundfunks bekannt. „Ich bin gerne Schorling am Boden liegen. Zu diesem
Pfarrer. Die Botschaft ist einmalig, der Zeitpunkt soll der mutmaßliche Täter
Beruf vielseitig“, schrieb er über sich bereits mit einem Küchenmesser zugeauf den Seiten des SWR. In der Evan- stochen haben. Für den Pfarrer kommt
gelisch-Lutherischen Kirche in Baden jede Hilfe zu spät.
war er Superintendent, der Bischof für
Der 30-Jährige flieht in ein Wald3000 Menschen. Verwurzelt in seiner gebiet oberhalb Freiburgs. Dort wird er
Gemeinde. Seit dem Jahr 2000 arbeitete eine halbe Stunde später von der Polier dort, in Herdern – diesem Freibur- zei gefasst. Die Staatsanwaltschaft erger Stadtteil, der im eh schon idyl- mittelt wegen Totschlags und beanlischen Freiburg ein Stück heile Welt tragt die Unterbringung in einer psychiverheißt. Händel-, Haydn-, Schumann- atrischen Klinik. Der Haftrichter
und Brahmsstraße. Mächtige Platanen stimmt dem Antrag am Tag nach der
spenden Schatten. Fahrräder mit Kin- Tat zu.
deranhängern rollen an Altbauvillen
Schorling hinterlässt seine Ehefrau,
vorbei. Das bürgerlich-grüne Freiburg drei erwachsene Kinder und ein Enkelist hier daheim.
kind. Und zurück bleibt eine GemeinKurz bevor die Stadt- auf die Mo- de, die aus ihrem Alltag herausgerissen
zartstraße trifft, steht eines dieser herr- ist. Bald sollte das Sommerfest gefeiert
schaftlichen Häuser. Nummer 22. Den werden mit gemeinsamem Grillen. Ein
Eisenzaun davor hat Efeu in Besitz ge- Gesangstag und Gottesdienste waren
nommen. Neben dem Eingangstor sagt geplant. Die Normalität, die sich in den
ein Schild: Hier hat die evangelisch-lu- Ankündigungen des jüngsten Gemeintherische Gemeinde ihren Sitz. Hier ist debriefs spiegelt, ist zerstört.
Schorling getötet worden. Als SeelsorWie kann eine Kirche auf so eine
ger in seinem Arbeitszimmer.
Katastrophe reagieren? Zumal wenn es
Ein Pfarrer stirbt öffentlich. Wird eine kleine selbstständige Kirche ist wie
ein Geistlicher Opfer eines Gewaltver- die evangelisch-lutherische Kirche? Sie
Von Patrick Grießer
D
FOTOS: PATRICK SEEGER/DPA/PICTURE ALLI ANCE, STEFANO SPAZIANI/PICTURE ALLIANCE
Von Volker Resing
nimmt sich neben der badischen Landeskirche mit ihren 1,2 Millionen Mitgliedern vergleichsweise winzig aus.
Doch ihr scheint gerade ihre Überschaubarkeit zu helfen, die ersten
Schritte in der Trauer gemeinsam zu
gehen. Die Pflicht, sich zu organisieren,
wird zur Therapie. Gottesdienst und
Gesangstag finden statt – nur unter
ganz anderem Vorzeichen.
Zwei Tage nach der Tat treffen sich
Gemeindemitglieder in Freiburg zu einer ersten Andacht. Deutschland spielt
gerade bei der Fußballweltmeisterschaft gegen die USA. Die Fußballfans
in den Kneipen jubeln. In der Erlöserkirche schweigen und beten die Menschen miteinander – und sie erinnern
sich. Spontan, mittels einer Telefonkette und per E-Mail, haben sich die Mitglieder über das Treffen gegenseitig informiert. Der stellvertretende Superintendent, der Karlsruher Pfarrer
Christian Bereuther, spricht der Gemeinde Trost zu. In jeder der sieben
Gemeinden der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Baden hat es seither eine solche Andacht gegeben.
In dieser Kirche ist nur Mitglied, wer
hier hineingeboren wird oder wer sich
bewusst dafür entscheidet. Das bindet
und motiviert. Auf diese Weise erklärt
ein Kirchenvorstand, warum sich die
Gemeinde und die Kirche auch in der
Ausnahmesituation so schnell organisieren konnten. Einerseits. Und andererseits müsse man ja auch merken, dass
Christof Schorling die Gemeinde nun
schon 14 Jahre geleitet habe. Sein Weg
sei es gewesen, die Kirchenmitglieder in
die Verantwortung zu nehmen.
Bei sich selbst hat Christof Schorling
das auch getan. Zum Beispiel, als er im
Februar seine eigene Trauerfeier vorbereitet hat. Während der Feier am
Samstagmittag erzählt Pfarrer Andreas
Schwarz der Gemeinde fast beiläufig
davon. Er weiß jedoch um das Gewicht
dieser Worte.
Schwarz stammt aus Pforzheim, wo
auch Schorling 14 Jahre als Pfarrer gearbeitet hat. Der Pforzheimer Posaunenchor ist ebenfalls nach Freiburg angereist. Später, zur Beisetzung, wird er
„Christ ist erstanden“ schmettern, eine
Choral-Fantasie der Komponistin Frieda Fronmüller. Mit einer Wucht, die
die Klänge über die Friedhofsmauern
hinausträgt. „Das war sein Lieblingslied. Kein Witz. Wir sollten das so spielen, dass der Sargdeckel aufspringt“,
sagt ein Musiker anschließend. Das habe der Tote so gewollt.
Die Trauerfeier und die Beisetzung
sind womöglich das geistliche Testa-
ment dieses Pfarrers. Ihm lag die Ökumene am Herzen. Das zeigt die Reihe
seiner Trauerredner: In der Erlöserkirche sprechen der badische Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh
und der Bischof der Selbständigen
Evangelisch-Lutherischen Kirche in
Deutschland, Hans-Jörg Voigt, aber
auch der katholische Stadtdekan Wolfgang Gaber. Voigt erzählt von der
menschenfreundlichen Liebe Christof
Schorlings. Jeder Trauerredner lobt
diesen Pfarrer für seine Nähe zu den
Menschen. Eine Nähe, die den Pfarrer
das Leben gekostet habe.
In seiner Predigt beschreibt Andreas
Schwarz seinen Superintendenten als
einen Menschen, der nicht polarisieren
wollte, sondern verbinden. Er hatte
„immer ein Ohr für Kranke, Schwache, Gestörte, Gefährliche“ und öffnete ihnen die Türen. Die Worte hallen in der kleinen Kirche nach.
Schwarz erzählt noch die Episode, als
Schorling als Student einmal einem Bett-
ler 200 Mark lieh. Der Geistliche habe
tatsächlich gedacht, er bekomme das
Geld zurück. Doch er habe den Bettler nie wieder gesehen. Auch soll er
einmal einem Drogenabhängigen geholfen haben, dessen Motorrad abzutransportieren. Der VW-Bus der Familie kam dabei zum Einsatz. Man
ahnt es schon zu Beginn der Episode:
Das Motorrad gehörte dem Drogenabhängigen gar nicht, wie sich am
Tag darauf herausstellte. Selbst die
Trauergäste müssen lachen. Ein Lachen, das die Macht des Schreckens
eindämmen will. Wenigstens für eine
Weile. Der Freiburger Sozialbürgermeister Ulrich von Kirchbach sagt der
Trauergemeinde in der Erlöserkirche:
„Durch diese Tat ist das Leben in
der ganzen Stadt erschüttert worden.“ Die Stimme versagt ihm immer
wieder.
Die Familie hat Trost in der Bibel
gesucht. Die Gemeinde auch. Eine
Lektorin liest Sätze aus dem Römerbrief. Sie standen auch in der Todesanzeige: „Ich bin gewiss, dass weder
Tod noch Leben, weder Engel noch
Mächte, noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder
Hohes noch Tiefes, noch eine andere
Kreatur uns scheiden kann von der
Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist,
unserm Herrn.“
Der Satz war auch der Trauspruch
von Christof Schorling und seiner
Frau. Er hatte sich gewünscht, dass
diese Worte auch in der Trauer um ihn
nachklingen.
GROSSAUFNAHME C&W 3
C H R I S T & W E L T | 29/2014
Weg mit den Kameras!
FAMILIENALBUM Kaum ist das Jawort in der Kirche gesprochen, klicken die Auslöser.
Von Kristian Fechtner
G
zu Darstellern ihrer selbst. Und die versammelte Gemeinde wird gleichsam zum
Publikum der Hauptdarsteller. Die Kamera nötigt dazu, sich selbst zu inszenieren:
Wie dankbar will ich als Taufvater dreinblicken, wie erwachsen als Konfirmandin
ausschauen? Und wenn ich als Braut mein
Trauversprechen gebe, will ich nicht zu erkennen geben, ob meinem Ja auch andere
Empfindungen beigemischt sind. Der
Blick der Kamera ist unerbittlich, denn er
befiehlt: Zeige, wer du bist, oder genauer,
wer du sein willst. Und der Blick der Kamera ist ungnädig, denn er droht: Und ich
werde dir zeigen, wer du bist! Im Segen jedoch, so glauben Christinnen und Christen, ruht ein anderer, nämlich der barmherzige Blick Gottes auf denen, die gesegnet werden.
Drittens schließlich reduziert das Fotografieren das Geschehen im Gottesdienst
auf das, was sichtbar ist. All das, was
nicht bildhaft dokumentiert werden
kann, wird durch das Foto unsichtbar und
damit ungeschehen gemacht: die spürbare Energie einer Fürbitte, die leiblich
spürbare Präsenz der anderen in der Gemeinde hinter mir, die Spannung, wenn
ein Kind zur Taufe gehoben wird.
Es gibt gewichtige Gründe, gegen das
Fotografieren im Gottesdienst anzutreten.
Allerdings reicht es nicht, es liturgisch besser zu wissen als die Beteiligten. Dass das
Anliegen vehement vorgebracht und beharrlich an ihm festgehalten wird, zeugt
davon, dass die Fotos für die Beteiligten
bedeutsam sind. Inwiefern? Fotografieren
bedeutet, ein Erlebnis zu einer realen Erfahrung zu machen. Fotos verbürgen, dass
etwas tatsächlich stattgefunden hat, wirklich geworden ist. Als gebe es eine heimliche Angst mancher Brautpaare, es sei alles
leich passiert es. Die Braut
nestelt ihr Kleid zurecht und
prüft, ob der Gesichtsausdruck stimmt. Der Bräutigam
nimmt Haltung an und streicht beiläufig
noch einmal das Haar zur Seite. Es gilt,
den Trausegen zu empfangen vor dem
Altar. Und dieser Augenblick soll vom
Onkel der Braut fotografisch festgehalten
werden. So ist es ausgemacht.
Kaum ein Traugespräch kommt heute
um den Punkt herum, zu klären, wie es
denn mit dem Fotografieren im Gottesdienst bestellt ist. Dies gilt ähnlich auch
für Taufen und Konfirmationen. Dabei
hat der Fotoapparat angesichts von Youtube-Filmchen und Selfies heute schon
fast etwas Gediegenes. Als modernes Medium gehört er zum Familienfest dazu,
denn durch ihn werden die Ereignisse
und Lebensabschnitte ins Bild gesetzt, die
eine Familie prägen. Die Fotos zeigen,
wer dazu und wer zu wem gehört; nicht
selten sind sie aussagereiche Soziogramme. Vor der Kirche stellt man sich zum
Foto auf. Längst hat aber die fotografische Praxis in vielen Gemeinden Einzug
in den Gottesdienst selbst gehalten.
Nicht mehr das Ob, sondern mehr und
mehr nur das Wie steht zur Debatte und
wird pragmatisch ausgehandelt: Möglichst ohne die Sicht zu versperren und
dezent sollen die Einsegnung der Konfirmanden oder der Taufakt abgelichtet
werden.
Im Blick auf das, was einen Gottesdienst ausmacht, handelt es sich beim Fotografieren allerdings um weit mehr als
nur um technisches Beiwerk. Es berührt
vielmehr den Charakter dessen, was Menschen im Gottesdienst erleben und erfahren. Erstens schafft der Blick durch die Kamera einen Status des Beobachters. Hier
ist die männliche grammatikalische Form
angemessen, es handelt sich fast durchweg
um Kamera-Männer. Mit einer solchen
Beobachter- und Betrachterrolle wird – gegenläufig zur gemeinschaftlichen Teilnahme – Distanz geschaffen. Der Blick durch
die Kamera verwandelt das gottesdienstliche Geschehen in ein Bild-Objekt.
Zweitens verwandelt sich zugleich der
Status derjenigen, die fotografiert werden. Kristian Fechtner lehrt Praktische Theologie
Das Brautpaar, die Pfarrerin, der Konfir- an der Universität Mainz. „Kirche von Fall zu
mand oder die Taufeltern werden allesamt Fall“ heißt sein Buch zum Thema.
nur Einbildung gewesen, wenn man davon
kein Bild hätte. Zugleich ist das Foto vor
dem Altar die Möglichkeit, den Segen und
Zuspruch erkennbar und sich selbst wiedererkennend auf die eigene Person zu beziehen. Für die anderen mögen solche Fotos wie standardisiert erscheinen. Die Beteiligten hingegen nehmen sich selbst als
Abgebildete im Bild unverwechselbar
wahr: Dieses Versprechen, dieser Segen
gilt mir.
Und vielleicht das Wichtigste: Die Fotos der kirchlichen Trauung fungieren als
Unterpfand. Sie sind für die Erinnerung
Bürgen eines guten Anfangs. Sie zur Hand
nehmen zu können ist die Möglichkeit,
sich zu vergewissern, auch und gerade in
schwierigen Zeiten: Unsere Geschichte hat
einen verheißungsvollen Ursprung. Ein
solches Bild zu betrachten und mit anderen nachzuerzählen aktiviert die guten
Kräfte meiner Lebensgeschichte. Spätestens hier aber wird deutlich: Das Foto verspricht, was es selbst nicht einzulösen vermag. Es ist und es bleibt eben eine Abbildung von etwas anderem. Das wissen
auch die Betrachter, die sich mit ihm erinnern. Und doch bleibt es bedeutsam und
wird sorgsam aufbewahrt.
Und was macht ein Pfarrer, wenn er
wieder mit dem Wunsch konfrontiert
wird, der Onkel solle die entscheidenden
Augenblicke fotografieren? Will er gottesdienstlich kundiger Spielverderber sein
oder lebensweltlich sensibler Erfüllungsgehilfe? Er wird, das ist meine Vorstellung, den Konflikt im Gespräch vorab als
Chance aufnehmen, mit den Beteiligten
herauszubringen, welche Bedeutung und
welchen Sinn das gottesdienstliche Geschehen hat. Er wird dabei deutlich machen, dass in diesem Gottesdienst nicht
fotografiert werden soll und warum dies
gut so ist. Auf dass die Beteiligten dem
auf die Spur kommen, was sie selbst Bedeutsames mit ihrer Trauung – oder der
Taufe und Konfirmation ihrer Kinder –
verbinden. „Aber dann hätte ich ja gar
kein Bild von meiner Trauung“, entsetzt
sich eine junge Frau. „Doch“, erwidert
die Pfarrerin, „ein Herzensbild.“ Solche
Gespräche werden beileibe nicht immer
gelingen. Was, wenn die Überlegungen
gar keine Resonanz finden? Dann ist es
gut zu wissen, dass die Frage, ob fotografiert wird oder nicht, wichtig ist, aber
nicht entscheidend.
FOTOS: F1 ONLINE; BONNER MÜNSTER; FREDERIKA HOFFMANN; PRIVAT (2)
Stört das, oder gehört Fotografieren zur Feier? An der Frage scheiden sich die Geister.
Unser Autor meint: Der Blick durch den Sucher hat im Gottesdienst nichts verloren
So sieht die Wirklichkeit aus
Pfarrer haben gut reden
Dankbar fürs Digitale
Dezent dabei
Grundsätzlich bin ich dafür, dass das Fotografieren diskret geschieht; also nicht zur Hauptsache wird. Die Handlung darf
nicht zur Inszenierung für die Kamera „verkommen“. Im Bonner Münster gilt bei der Hochzeit: Ein- und Auszug des Paares
dürfen fotografiert werden; ebenso die eigentliche Trauungshandlung; wobei der Fotograf darauf achten muss, dass er
nicht zwischen Brautpaar und Priester steht. Bei Taufen gilt
ebenfalls die Regelung: Bei den einzelnen Riten darf fotografiert werden, beim Wortgottesdienst, der Predigt und dem
Taufbekenntnis nicht. Da stört das Fotografieren die Sammlung der Beteiligten. Als ich noch in einer kleineren Pfarrei
war, hatte ich bei der Erstkommunionfeier immer einen Fotografen für alle. Aber im Zeitalter der Handy-Fotografie ist das
kaum noch umzusetzen. Heute hängt sehr viel vom Gespräch
mit den Beteiligten ab, damit das nicht als Verbot wahrgenommen wird. Also frage ich: Möchten Sie wirklich, dass
plötzlich zehn Leute aufspringen und ihr Handy zücken? Auch
Taufeltern und Brautpaare sind ja nicht nur an schönen Fotos, sondern auch an einer „ungestörten“ Feier interessiert.
Fotografen, die sich nicht daran halten, werden von mir während der Feier auf die Absprache mit dem Brautpaar hingewiesen. Ich könnte aber nicht behaupten, dass früher in dieser Hinsicht alles besser war. Manchmal bin ich für die Digitalisierung dankbar: Früher spulten die Kameras den Film ziemlich lautstark zurück. Ich habe
einmal erlebt, dass dieses Geräusch während des Jawortes
losging. Das hat sehr gestört.
Als ein neuer Film drin war, war
das Versprechen vorbei. Ein solcher Moment lässt sich nicht
neu aufnehmen wie eine missglückte Filmszene.
Mir ist es wurscht, ob in der Kirche fotografiert werden darf.
Als Bräutigam muss ich mich um so vieles kümmern, da bin
ich eigentlich dankbar für jede Entscheidung, die mir abgenommen wird. Meine Freundin sieht das ähnlich: Ständig
schickt sie mir Foren-Berichte, in denen traumatisierte ExBräute von ihren Unfällen auf dem Weg vom oder zum Altar
berichten (mein Highlight: „Mollige Braut bricht vor Kirche
durch Kutsche“). Sollte meiner Freundin in der Weinmeile
ums Jawort also ein Stolperer passieren, ist sie sicher froh,
wenn es nicht für die Ewigkeit festgehalten wird. Doch ums
Brautpaar geht es bei einer Hochzeit eh nur am Rand. Alle
meine Freunde etwa wollten es bei ihrer Hochzeit anders machen, am liebsten romantisch auf einer Berghütte. Oder allein
am Südseestrand. Und dann haben sie doch mit Schwippschwager Kurt und dem Rest der Großfamilie gefeiert, weil es
eben das ist, was die Familie erwartet. Die Hochzeit ist der
Beweis dafür, dass der Mensch in den glücklichsten Momenten des Lebens eben doch ein Herdentier ist. Will die Familie
also das Ja mit der Handykamera dokumentieren, wäre es gefährlich fürs Brautpaar, sie daran zu hindern. Das wäre, als
würde man ein Rudel hungriger Wölfe zum Fasten auffordern,
wenn es Blut wittert. Ein Pfarrer ist da fein raus: Seine Familie ist es ja nicht. Verbietet er den Angehörigen, zu fotografieren, hat am Ende das Brautpaar das Problem. Dann heißt es:
„Was für einen Fundi haben die sich denn ausgesucht?“ In
solchen Fällen wird gern umso hämischer geknipst, wenn die
Braut durch die Kutsche bricht.
Zum Glück haben wir keine Kutsche. Meine Freundin ist
schlank, unser Priester nett und
unsere Eltern, Tanten und Großeltern sind es auch. Handys sind
für sie unheimliche Wesen aus
einer fremden Welt. Nicht nur
deshalb sind wir glücklich.
Wenn Victoria von Schweden ihren Daniel heiratet oder William seine Kate, dann sind Millionen von Zuschauern weltweit
öffentlich-rechtlich live dabei. Wenn sie ihre Kinder taufen,
kann ich mir die Bilder davon anschließend in der Tageszeitung
ansehen. Ich kann daher gut verstehen, dass Menschen sehr irritiert sind, wenn sie bei ihrer Hochzeit oder bei der Taufe ihrer
Kinder nicht fotografieren dürfen. Der Adel darf’s, die Bürgerlichen nicht – als eingefleischte Demokratin sage ich schon einmal: Das geht gar nicht. Allerdings sind diese adligen Hochzeiten und Taufen perfekte Inszenierungen, und als praktische
Theologin weiß ich, dass auch jeder Gottesdienst eine Inszenierung ist. Film und Foto dürfen diese Inszenierung gerne dokumentieren, sie dürfen sie jedoch nicht stören. Jetzt sind begeisterte Großväter oder engagierte Paten in der Regel keine professionellen Kameramänner oder Fotografen, sie sind auch
meistens nicht in das Drehbuch des Gottesdienstes eingeweiht,
und ihnen ist sogar der Drehort häufig fremd. Da ich als Pfarrerin für die Regie zuständig bin (hoffentlich mit Unterstützung
des Heiligen Geistes), sehe ich es als meine Aufgabe an, dafür
zu sorgen, dass die Filmenden und Fotografierenden wissen,
wann und wo sie das am besten
tun können und wann nicht. Das
gibt den Menschen ein sicheres
Gefühl und weist ihnen einen
Spielraum zu. Pannen wird es
trotzdem geben, das ist menschlich. Meine Erfahrung ist: Mit einem Schuss Humor lässt es sich
regeln.
Wilfried Schumacher ist Stadt-
Raoul Löbbert will nächstes
Angela Rinn ist Pfarrerin in
Jahr heiraten.
Mainz-Gonsenheim.
dechant in Bonn.
Humor hilft
Fotografieren und Filmen im Gottesdienst – da könnte man
schrecklich grundsätzlich werden. Aber was hilft das Grundsätzliche mir als Pastor, wenn ich ganz praktisch eine Balance
finden muss zwischen einer würdig-konzentrierten Feier und
den Bedürfnissen der Menschen, mit denen ich es zu tun habe? Allgemeine Regeln sind sinnvoll, entlasten sie mich doch
davon, jede Entscheidung stets von Neuem durchdiskutieren
zu müssen. Aber möchte ich die Beziehung zu einem Brautpaar damit beginnen, dass ich ihm eine Verbotsliste überreiche? Oder will ich einen Gottesdienst mit solch einer autoritären Geste eröffnen? Wichtig ist mir, dass der Gottesdienst ohne falsche Ablenkungen gefeiert wird. Deshalb wehre ich
mich dagegen, wenn Menschen diesen Ander-Ort nicht respektieren und fotografierend herumlaufen oder Täuflinge mit
Blitzlichtgewittern verschrecken. Andererseits weiß ich, dass
andere Menschen andere Bedürfnisse haben, zum Beispiel
nach visueller Erinnerung. Da gehöre ich einfach einem anderen Milieu an. Aber es gibt eine einfache Lösung: Einer wird
beauftragt, nach vorheriger Absprache dezent Bilder für alle
zu machen, so können sich die anderen entspannen. Dies verbinde ich dann noch mit einem freundlich-humorvollen Hinweis darauf, dass es eine sehr schöne Erfahrung ist, wenn
man ein besonderes Ereignis direkt, mit den eigenen Augen
und nicht durch einen Bildschirm hindurch wahrnimmt. Das
versteht eigentlich jeder. Denn der Gottesdienst ist eben auch
eine einmalige Gelegenheit, aus
der visuellen Dauerberieselung
auszusteigen, um für sich und
gemeinsam etwas ganz anderes
zu erfahren.
Johann Hinrich Claussen ist
Hauptpastor an St. Nikolai in
Hamburg und Propst für die
Propstei Alster-West im Kirchenkreis Hamburg-Ost.
C&W 4 GROSSAUFNAHME
C H R I S T & W E L T | 29/2014
Jesus hätte fotografiert
„Das ist mir zu nah!“
RANDBEMERKUNG Ein bekannter Fotograf erklärt, warum
Protestanten schwieriger abzulichten sind als Katholiken
SITTENBILD Die Kirchen sind Dienstleister, die Kunden wollen Events. Na und?
Der Theologe Heinzpeter Hempelmann sieht in der Entwicklung eine Chance
FOTOS: PRIVAT; ACK; EPD/IMAGO; DEPI
Christ & Welt: Hält die Ehe besser, wenn
ich mir den Moment des Jawortes immer
wieder auf einem Foto angucken kann?
Heinzpeter Hempelmann: Theologisch betrachtet nicht, weil es ja auf den Segen
Gottes ankommt, und der ist unabhängig
vom Bild. Wenn ich den menschlichen
Faktor in Betracht ziehe, glaube ich, dass
eine aktive Erinnerungskultur dazu beiträgt, dass ein solches Ereignis wichtig
bleibt.
C & W: Die Zahl der Fotos pro Hochzeit
steigt, die Zahl der Ehejahre sinkt. Wie
passt das zusammen?
Hempelmann: Es stimmt, viele kirchliche
Eheschließungen werden heute so inszeniert, als würden sie wie eine Königshochzeit im Fernsehen übertragen. Und
das bei Paaren, die jahrelang vorher zusammengelebt haben. Das lässt darauf
schließen, dass die Kirche für das emotionale Event zuständig ist. Ich kann das
nicht nur negativ finden. Events haben in
der Heiligen Schrift eine große Rolle gespielt, in Israel gab es eine ausgeprägte
Festkultur. Fotografieren ist doch ein
Hinweis darauf, dass die Menschen dieses
Ereignis ernst nehmen. Dass Ehen trotzdem nicht so lange halten wie in der vermeintlich guten alten Zeit, hat nichts mit
der Zahl der Fotos zu tun. Es gibt eben
nicht mehr den sozialen Druck, eine Ehe
um jeden Preis aufrechtzuerhalten.
C & W: Was sind die angesagten
Wünsche an kirchliche Feiern in
modernen Milieus?
Hempelmann: Das Allerwichtigste ist: Die
Feier muss individuell sein. Unterwassertaufen im Schwimmbad sind angesagt
oder Trauversprechen während eines
Fallschirmsprungs. Es gibt Pfarrerinnen
und Pfarrer, die auch bei so etwas mitmachen. Die Eventisierung ist aber nicht
allein in den modernen Milieus zu beobachten. Auch bürgerliche und traditionelle Kirchenmitglieder betreiben einen
ziemlich hohen Aufwand für die Feiern,
auch finanziell. Es gibt das Gefühl, die
Freunde und Bekannten übertrumpfen
zu müssen. Nur ein solides Essen nach
dem Gottesdienst, das reicht nicht mehr.
Wir wissen aus Befragungen, dass es in
prekären Milieus viele Taufaufschübe
gibt. Die Eltern möchten eigentlich ihre
Kinder kirchlich taufen lassen, fürchten
aber die Kosten. Manche Gemeinden organisieren deshalb Tauffeste, da wird gemeinsam gefeiert. Das ist nicht so individuell, aber es gibt einem die Möglichkeit,
dazuzugehören.
C & W: Wo sind die meisten Konfliktpunkte bei individuell gestalteten Feiern?
Hempelmann: In der Ästhetik. Das ist bei
der Taufe tatsächlich die Frage: Wer darf
wann wo fotografieren? Es ist kaum vermittelbar, dass überall geknipst wird, aber
bei einem solchen Ereignis nun gerade
nicht. Bei Hochzeiten und Beerdigungen
steckt in den Musikwünschen der meiste
Konfliktstoff. Wir haben bei der jüngsten
Mitgliederbefragung in der evangelischen
Kirche festgestellt, dass Menschen aus
postmodernen Milieus gegenüber den
Pfarrerinnen und Pfarrern sehr selbstbewusst auftreten. Wenn ihre Wünsche
nicht erfüllt werden, sind viele zwar enttäuscht, aber sie diskutieren nicht lange,
sondern suchen sich eine andere Kirche.
Es gibt aber gerade in der modernen
Oberschicht die Haltung: Mein Smartphone und mein iPad gehören zu mir, wenn
der Pfarrer das in der Kirche ablehnt, fühle ich mich mit meiner Lebenswelt abgelehnt. Diese Leute gehen nicht in eine andere Kirche, sondern treten aus. Man kann
sich auf den Standpunkt stellen: „Um solche Leute ist es nicht schade, die haben ohnehin nicht begriffen, worum es geht.“ Da
würde ich entgegnen: Jesus hat sich auf
sein Gegenüber eingelassen, die Pharisäer
dagegen nicht. Die Kirche hat keinen
Selbstzweck, sondern dient dazu, Menschen in Kontakt mit dem Evangelium zu
bringen. Über allem steht der sogenannte
Missionsbefehl nach Matthäus 28. Der bedeutet: Alle sind willkommen, so wie sie
sind.
C & W: Wenn sich der Bräutigam „Sex
Bomb“ von Tom Jones wünscht, soll der
Organist dieses Lied also spielen?
Hempelmann: Warum nicht? Ich würde als
Pfarrer ein solches Lied als Herausforderung empfinden und den Bräutigam darum bitten, diesen Wunsch zu erklären.
Sexualität ist zudem nichts Unbiblisches.
Das muss dann in das Ganze der Liturgie
eingebunden werden und stimmig sein.
C & W: Ist Gottesdienst Kundendienst?
Hempelmann: Kundendienst ist überspitzt,
aber die Kirche darf sich als Dienstleisterin verstehen, wenn sie ihr Hauptanliegen, das Evangelium zu verbreiten, im
Auge behält. Wir sind keine obrigkeitsstaatliche Behörde, wir sind Gehilfen der
Freude. Die Kirche sollte sich bei den Kasualien ein gewinnendes Gesicht geben.
C & W: Hat, wer Kirchensteuer zahlt,
den Anspruch, dass seine Wünsche
erfüllt werden?
Hempelmann: So zugespitzt würde ich es
nicht sagen. Die Pfarrer sind Boten des
Heinzpeter Hempelmann ist Professor
für Evangelische Theologie. Einer seiner
Schwerpunkte ist die milieugerechte
Seelsorge.
Evangeliums, diese Aufgabe sollten sie
milieugerecht erfüllen. Im Blick auf die
Ästhetik gibt es nicht den allein gültigen
christlichen Standpunkt.
C & W: Fotografieren ist alltäglich
geworden. Sollte nicht gerade die Kirche
der Ort des nicht Alltäglichen sein?
Hempelmann: Das sollte sie zweifellos, sie
macht ja auch Angebote der Stille und
des Rückzugs. Aber Lebensfeste sind
nicht der richtige Anlass für Kontemplation. Das würde doch jede Erwartung konterkarieren. Pfarrerinnen und Pfarrer sollen sich nicht anbiedern, aber sie sollen
auch nicht ästhetische Fragen überhöhen.
Sich an der Tradition festzuhalten und
neue Entwicklungen aus dem Kirchenraum fernzuhalten, das garantiert nicht,
dass die Botschaft verstanden wird.
C & W: Darf die Kirche als Anbieter einer
Dienstleistung auch Wünsche formulieren? Zum Beispiel könnte ein Pfarrer
zum Brautpaar sagen: Ich gestalte die
Hochzeit nach Ihren Vorstellungen, aber
dafür möchte ich Sie an den nächsten
zehn Sonntagen im Gottesdienst sehen.
Hempelmann: Eine tolle Idee! Ich würde es
nur nicht als Pflicht verpacken, sondern
als Chance. Natürlich kann man sagen:
Wer bei uns getauft oder getraut wird,
der wird auch weiter begleitet. Die Erfahrungen mit solchen Angeboten sind sehr
gut. In der Theologie spricht man von
der „gestreckten Kasualie“. Das heißt, der
Pfarrer belässt es nicht bei der einen
punktuellen Begegnung, sondern besucht
die Taufeltern oder das Brautpaar. Nach
einem Jahr kann man zum Beispiel zu einem Tauferinnerungsgottesdienst einladen.
C & W: Welche Rolle spielt bei kirchlichen
Feiern der Respekt vor dem Heiligen?
Hempelmann: „Heilig“ heißt für mich
nicht, dass Gott unfähig ist, sich auf die
Lebenswirklichkeit von Menschen einzulassen. Er ist selbst Mensch geworden.
Heiligkeit ist die Kehrseite der Liebe Gottes zu den Menschen. Jesus hat unsere Lebensverhältnisse geteilt. Ich habe theologisch bei dieser Sicht der Dinge ein sehr
gutes Gewissen.
C & W: Wann hätten Sie ein schlechtes?
Was wäre Anbiederung?
Hempelmann: Zum Beispiel, Kinder zu
taufen, wenn nicht erkennbar ist, dass die
Eltern tatsächlich eine christliche Erziehung wollen. Die Auswahl der Paten ist
sehr viel substanzieller als die Frage, ob
fotografiert werden darf oder welche Lieder gesungen werden.
C & W: Hätte Jesus bei einer Taufe
fotografiert?
Hempelmann: Da bin ich mir sicher.
Das Gespräch führte Christiane Florin.
Buchtipp: Heinzpeter Hempelmann u. a.:
Handbuch Taufe. Impulse für eine
milieusensible Taufpraxis. Neukirchener
Theologie, Neukirchen-Vluyn 2013.
149 Seiten, 16,99 Euro.
Von Maurice Weiss
E
s ist ein großer Unterschied, ob
man einen Katholiken oder einen
Protestanten fotografiert. Das lässt
sich gut am Beispiel Bayerns erklären. Das ist ein geteiltes Land, in Franken etwa gibt es protestantische Gegenden wie Hof
und katholische wie Bamberg. Wenn man jemanden in Hof fotografieren will, wird meist
alles kontrolliert, wird aufgeräumt, geordnet,
ein Schein erzeugt, da herrscht große Unsicherheit. Der Fotograf wird genutzt, um das
eigene Bild von sich zu entwerfen, das Bild,
das man von sich in die Welt lässt. Dem Fotografen wird die Autorenschaft abgesprochen.
In Bamberg ist es ganz anders – den Leuten ist es einfach egal, wie sie abgelichtet werden. Dazwischen liegen nur ein paar Kilometer, aber das Verhalten mir als Fotografen gegenüber ist komplett anders. Unabhängig
vom Geschlecht. Obwohl Frauen allgemein
etwas schwieriger sind, sie machen sich meist
mehr Gedanken über ihr Erscheinen; dabei
geht es nicht um Schönheit, sondern um
Ideale, um die Bilder, die man von sich selbst
hat. Jeder Mensch hat ein Bild von sich: Dicke
sehen sich oft als dünner, als sie sind, Schwache als kräftiger. Wie tolerant ist man gegenüber dem Außenbild, das vom Innenbild abweicht? Darin sind Katholiken deutlich entspannter als Protestanten, die oft nur schwer
zulassen können, dass das, was ich sehe, auch
abgebildet werden darf, unabhängig davon,
ob diese Leute nun religiös sind oder nicht.
Die Pastorentochter Angela Merkel ist dafür
ein gutes Beispiel. Sie hat totale Kontrolle über
das Bild. Sie weiß um die Macht des Bildes,
und sie misstraut ihr. Statt dem Fotografen seinen eigenen Blick zu lassen, versucht sie, ihn
zu kontrollieren. Ich war oft bei ihr im Büro,
sie sitzt dann immer an der gleichen Stelle, es
gibt die gleichen Regeln, und es gibt immer
den gleichen Bildaufbau: Da steht der Schreibtisch, da hängt der Adenauer, draußen ist der
Reichstag und so weiter. Zuletzt habe ich versucht, mir eine neue Perspektive zu erobern,
indem ich die Kamera über den Kopf hob – sie
blickt dann nicht mehr aus 1,50 Meter oder
1,80 Meter Höhe, sondern aus 2,20 Meter. Das
führte sofort zu heftigsten deutlichen Verwerfungen. Was ich denn für einen Sport treibe,
fragte mich Merkel. Selbst in intensivsten Gesprächen und Interviews achtet sie darauf, ihr
Erscheinen zu kontrollieren. Horst Seehofer
dagegen ist total anders. Er hat auch ein starkes
Ego – aber ihm ist es völlig egal, wie er rüberkommt. Ob man ihn fotografiert oder nicht,
das perlt einfach an ihm ab. Katholisch halt.
So ist das auch im europäischen Rahmen. In
Italien etwa spielt das Optische eine große Rolle – aber ob reich, ob arm, ob Bauer oder Städter, es gibt eine große Souveränität im Umgang mit sich selbst. Wenn jemand sie fotografieren möchte, sehen die Italiener das als Auszeichnung. „Ich werde dir meine beste Seite
zeigen“, sagen sie. Sie wollen das Beste zeigen,
und darauf sind sie stolz. So ist es auch in
Frankreich, da kann man die Leute fragen, ob
man ein Porträt machen darf – sie sagen eigentlich immer Ja. In Mecklenburg-Vorpommern ist das ganz anders. Ich wollte dort in einem Krankenhaus Porträts von Krankenschwestern machen. Aber die waren einfach
immer weg. Ich stand in einem leeren Saal,
und wenn ich schließlich doch eine aufspürte
So sieht die Wirklichkeit aus
und sie fragte, ob ich sie fotografieren dürfte,
hieß es nur: „Ne, ne, mach mal die anderen.“
Ans Licht gezerrt zu werden, sich zu präsentieren, empfindet der Protestant in seiner
egalitären Vorstellung als unangenehm. Das
gilt als unbescheiden, das macht man nicht,
man zeigt sich nicht. Während der Katholik
stolz darauf ist. Katholiken halten größere
Unterschiede aus – extremer Reichtum, extreme Armut, man zeigt einfach mehr. Das fängt
bei den Kirchen an. Ich bin, als Protestant, zunächst in Südfrankreich aufgewachsen und
kenne beide Seiten: Die protestantischen Kirchen sind weiß, katholische Kirchen riechen,
sprechen alle Sinne an, das Auge, das Ohr, die
Nase … Das hat mich sehr beeindruckt. Umso frustrierender war es, nach Deutschland zu
kommen. Ich saß als Konfirmand in Darmstadt in einer kalten Kirche aus dem 19. Jahrhundert ohne jeglichen Charme, perfekt renoviert, da lag kein Krümel rum. Die totale
Abwesenheit jeder Form von Gefühl. Es ging
alles über das Wort. Die Worte und Gesänge
waren toll, aber sonst: Alles klein-klein, ohne
Großzügigkeit. Dagegen die katholischen Kirchen in Frankreich mit ihren überbordenden
Gemälden von Christi Leiden, da vermittelt
sich doch eine ganz andere Wahrnehmung.
Jede Generation versucht den folgenden etwas zu erzählen. Der Protestant tut das mit
Worten, mit Geschichten, selten mit Bildern.
Die Renaissance und ihre Malerei wären ohne
das Katholische undenkbar. Die Fähigkeit, Gesichter und Landschaften zu erforschen und
auch darstellen zu wollen, mit Emotionen, ist
eng mit dem römisch-katholischen Kulturkreis
verbunden.
Die Fotografie, die sich in Deutschland mit
Becher und anderen entwickelt hat, ist extrem
misstrauisch und distanziert – und meistens
untermauert mit Worten, mit viel Konzeption.
Viele Bilder sind Strukturaufnahmen. Im
Grunde erzählen sie herzlich wenig, das Konzept dahinter ist entscheidend. Fotografen aus
der Generation Antoine D’Agata aus Frankreich dagegen leben von purer Emotionalität,
bis hin zur Überinszenierung. Da wird dann
mit nackten Körpern und großen Brüsten gespielt, und immer wieder werden die menschlichen Grenzen ausgelotet, das menschliche
Gefühl. Das ist den Deutschen zu fremd, die
sagen: „I, das ist mir zu nah!“
In Deutschland pflegt man generell ein zutiefst misstrauisches Verhältnis zur Fotografie.
In Frankreich gilt: „Ohne Bild keine Nachricht.“ Dort ist der Fotograf der „témoin“, das
heißt der Zeuge, der tatsächlich dabei war.
Wenn irgendwo etwas passiert, rufen die Franzosen tendenziell einen Fotografen an, um zu
recherchieren. Die Deutschen rufen immer
den Redakteur an, den Wortmenschen. Der recherchiert eine komplizierte Geschichte – und
eine Woche vor Drucklegung fällt ihnen ein,
dass sie ja noch Bilder brauchen. Italienische
Magazine schicken mich los, um lange Bildstrecken zu fotografieren – und am Ende bitten sie mich, ein paar Zeilen dazuzuschreiben.
Ich bin der Zeuge, ich war dabei.
Aufgezeichnet von Hans-Joachim Neubauer.
Der international renommierte Fotograf und
Fotoreporter Maurice Weiss wurde 1964 in
Perpignan geboren; er lebt in Berlin. Er arbeitet
für große europäische Magazine und Zeitungen.
Soeben erschienen: Maurice Weiss: Facing Time.
Hg. Jürgen B. Tesch, Hirmer Verlag, 39,80 Euro.
Blitzen tut weh
Zu Beginn meiner Tätigkeit als orthodoxer Pfarrer in Deutschland hielt ich es wie
mein großer Landsmann Sergiu Celibidache, der bekanntlich von der Musik sagte,
man könne sie nicht konservieren, und deshalb Aufzeichnungen jeglicher Art in seinen Konzerten ablehnte. Auch für mich war die Einmaligkeit des Moments so wichtig, dass ich glaubte, das Mysterium der jeweiligen Taufe oder Trauung schützen zu
können (und zu müssen!). So weit die Theorie. Als Pfarrer einer Auslandsgemeinde
wurde ich aber schon bald mit dem realen Leben meiner Gemeindemitglieder konfrontiert, die auf Ton- und Bildaufnahmen insistierten. Das letzte Argument, mit
dem mein Widerstand und der meiner Kollegen gebrochen wurde, lautete: Wie sollen wir denn unseren Verwandten in der Heimat von diesem Gottesdienst berichten? So wurde aus der Ausnahme einer Aufnahme die Regel, und seitdem hecheln
wir der technologischen Aufrüstung der Fotobranche hinterher. So war es wohl kurz
nach der Einführung der Camcorder, dass ich mich bei einer Taufe von einem Dutzend gebannt auf ihr neues technisches Spielzeug starrender Männer (!) umgeben
sah, die selbiges in Augenhöhe vor mich hielten und mir so den Blickkontakt zur Gemeinde verwehrten. Es blieb mir nur übrig, den Gottesdienst zu unterbrechen und darum zu bitten, einen
einzigen Fotografen beziehungsweise Kameramann zu
bestimmen, um den Gottesdienst einigermaßen konzentriert feiern zu können. So halte ich es übrigens bis
heute – und trauere im Grunde meines Herzens Celibidache nach, insbesondere seit der Einsatz des
Smartphones zur Standardbeschäftigung auch der
Kirchgänger gehört.
„Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist zuträglich“ (1. Brief des Paulus an die Korinther,
6,12). Damit ist zu möglichen Abbildungsorgien alles gesagt. Ein striktes Film- und
Fotoverbot mag Ausdruck eines die Kerngemeinde beeindruckenden geistlichen
Machtwortes sein. Es läuft jedoch Gefahr, stellvertretend für andere klug zu sein.
Das ist pfäffisch. Die Berufung auf ablenkende Blitzlichtgewitter, auf Verschlussklappern und Kamerasurren ist verlogen. Bild und Film können blitzfrei das plätschernde
Taufwasser und die Schweißperlen der Aufregung auf den Stirnen des Brautpaars
ablichten. Das ist nicht das Problem. Entscheidend ist, gemeinsam mit jenen, die im
Zentrum der Kasualie stehen, herauszufinden, was ihnen „zuträglich“ ist. Dafür gibt
es bewährte Testfragen: Habt Ihr den Schwiegervater derart lieb, dass er während
des Jawortes im Altarraum auf der Jagd nach der besten Perspektive herumgeistern
soll? Soll die Freundin des Taufpaten vor dem Taufstein
knien, um das Plätschern des Taufwassers in Nahaufnahme abzufilmen? Die Intimität und Konzentration
des Erlebens eines Kasualgottesdienstes ist stark. Das
bietet Erholung von einem unausweichlich erscheinenden Dokumentationsdrang. Was also auch immer mit
Leidenschaft fotografiert und gefilmt werden mag: Die
einmaligen Bilder im Kopf während der Feier dürfen
dadurch nicht irritiert werden.
In der Wieskirche (Weltkulturerbe der UNESCO seit 1983), die von zirka einer Million
Touristen und Pilgern jährlich besucht wird, ist das Fotografieren grundsätzlich erlaubt. Einschränkungen gibt es bei der Feier der Liturgie und kirchlichen Feiern wie
Hochzeiten und Taufen. Auf Hinweisschildern wird mit Piktogrammen darauf aufmerksam gemacht, dass das Fotografieren während der oben genannten liturgischen Feiern nicht erlaubt ist, weil das den liturgischen Ablauf und die Gottesdienstbesucher sehr stört. Die meisten halten sich allerdings nicht daran, weil sie entweder die Hinweisschilder nicht lesen, sich in ihrer „Freiheit“ nicht einschränken lassen
wollen oder sehr egoistisch geprägt sind.
Für Trauungen haben wir die Regelung, dass ein Fotograf vom Brautpaar beauftragt
wird, der bis zum Abschluss des Trauaktes dezent fotografieren kann. Bei der Eucharistiefeier zur Trauung – zum Beispiel beim Kommunionempfang des Brautpaares, einem intimen Akt des Glaubensvollzuges! – darf nicht fotografiert werden. Das
Brautpaar wird bereits beim Traugespräch auf diese Regelung hingewiesen.
Die meisten Fotografen kommen vorher in die Sakristei, besprechen die „Spielregeln“ mit dem Zelebranten und halten sich auch daran. Fotografen, die sich nicht
an die abgemachten „Spielregeln“ halten und den Zelebranten fast auf die Seite
schieben, ständig hin und her springen, um möglichst nahe Bilder aufnehmen zu
können, werden dezent weggeschickt.
Wir verstehen, dass bei einer so persönlichen Feier wie Trauung und Taufe fotografiert werden soll; dem wollen wir entsprechen. Allerdings müssen die genannten „Spielregeln“ eingehalten
werden. Viele Laienfotografen fotografieren mit Blitz.
Sie wissen nicht, dass für einen so großen Raum ein
Blitz keine Bedeutung hat. Ein dezenter Hinweis darauf
von „Wächtern“ in der Kirche wird mit großem Unverständnis aufgenommen und es wird trotzdem munter
weiter geblitzt. Das „Blitzlichtgewitter“ ist eine starke
Beeinträchtigung für den Zelebranten, der ins „Volk“
schauen muss.
Constantin Miron ist Erzpriester der Griechisch-
Stephan Schaede leitet die
Monsignore Gottfried Fellner ist Wallfahrtspfarrer
Orthodoxen Metropolie Brühl.
Evangelische Akademie Loccum.
der Wieskirche.
Wir hecheln hinterher
Verbote sind pfäffisch
GEISTESGEGENWART C&W 5
C H R I S T & W E L T | 29/2014
Die rote Linie
SKANDAL Der Fall Tebartz-van Elst bleibt strafrechtlich folgenlos, hat aber Konsequenzen für alle Bischöfe, glaubt
Papstberater Gregor Maria Hoff. Eine Amtshilfe
26. März 2014. Der Papst nimmt den
Rücktritt des Limburger Bischofs an. Allgemeines Aufatmen macht sich breit –
nicht zuletzt im deutschen Episkopat. Als
ließe sich zur Tagesordnung übergehen,
beginnt das Warten auf den nächsten Bischof, von dem man sich eine bessere Zukunft verspricht. Dabei hinterlässt der Fall
Limburg Fragen, die grundsätzlich das
Amt und nicht nur Franz-Peter Tebartzvan Elst betreffen.
Von einem Aufatmen ist unter Bischöfen in letzter Zeit häufiger die Rede. Bischöfe fühlen sich freier. Bischöfe sprechen offener. Mutige Thesen machen die
Runde, hinter denen man vor anderthalb
Jahren noch redaktionelle Fehler vermutet hätte. Im Spiegel des Pontifikatswechsels lesen sich Aussagen einiger
Oberhirten wie seitenverkehrt. Homosexualität, Kommunionempfang wiederverheirateter Geschiedener, Beteiligung
der Ortskirchen: Vieles ist mit anderem
Strich geschrieben und liest sich wie gegengebürstet. Eine nervöse Lernfähigkeit
macht sich im Episkopat bemerkbar, die
eine vibrierende Unruhe in der bischöflichen Amtsführung belegt. Antworten auf
drängende Fragen stehen an, und die Zukunftsfähigkeit der katholischen Kirche
hat niemand im Patent. Angesichts des
nautischen Bilds von der Kirche als Schiff
verdichtet sich der Eindruck, man müsse
es auf offener See umbauen. Für den
Mann am Steuer keine lukrativen Aussichten, weil die kirchliche Navigation
Positionsbestimmungen bei hohem Wellengang verlangt.
Für konservative Behaupter unter den
Bischöfen kein Problem. Beißfeste Wortmeldungen markieren öffentlich weiterhin kirchliches Gelände. Wer laut genug
schreit, den nimmt man auch im postmodernen Nebel unterscheidungssicher
wahr. Was fest daherkommt, erscheint allerdings gelegentlich blicktrüb. Auch ehrenwert laute Stimmen können kaum
überdecken, dass es um Standfestigkeit in
Hanglage geht. Stehenbleiben ist indes
keine kirchliche Disziplin, und das spüren
viele Bischöfe, weil sie um ihre Verant-
wortung wissen. Im Umbruch kirchlicher
Realitäten müssen sie ihre Rollen neu finden, nicht nur weil Franziskus andere Akzente setzt als sein Vorgänger, sondern
weil der lebensweltliche Druck zunimmt,
der die Kirche vor Ort belastet. Im katholischen Treibhauseffekt, den das hierarchische Kirchenmodell mit starker Innenbindung erzeugt, mit linearen Zuschreibungen von klerikaler Macht und hohen
Erwartungen an die Amtsträger, trifft die
Dauerschmelze der Gemeinden gerade
die Bischöfe. Ihnen ist eine pastorale Verantwortung zugemutet, die sie an den
Rand ihrer organisatorischen Leitungsmöglichkeiten wie ihrer persönlichen
Kräfte führt.
Aber dass aufatmende Bischöfe so schnell so
anders sprechen, macht auch aus einem
anderen Grund nachdenklich. Wie stand
und steht es um ihren apostolischen Freimut, um die Einspruchsfähigkeit aus dem
Geist des Evangeliums, um Auseinandersetzungsbereitschaft weniger mit dem
Papst als mit der Kurie? Wenn freilich kritische Bischöfe, die ihre Eigenverantwortung diözesan zur Geltung bringen, nach
Rom gebeten werden (und das ist nachweislich nicht nur in Einzelfällen geschehen), stimmt etwas mit der Koordination
des Bischofsamtes nicht.
Die Systemstörung bischöflicher Energiehaushalte trat nirgendwo so deutlich
zutage wie in Limburg. Eine durchgreifende Krise des Bischofsamtes zeigte sich
am Missmanagement einer Person, mit
der sich die Frage nach der Theologie dieses Amtes verbindet. Der Fall „Limburg“
hängt ganz sicher mit der Persönlichkeitsstruktur des Bischofs zusammen, betrifft
aber weit mehr. Nicht nur Tebartz-van
Elst hat versagt, sondern mit ihm auch
das Domkapitel und diverse Aufsichtsgremien. Infrage steht das Ensemble bischöflicher Leitung, wie es theologisch beansprucht und kirchenpolitisch auf die Bühne gebracht wird.
Bischöfe handeln in personaler Stellvertretung. Sie treten als Nachfolger der
Apostel auf und setzen deren Mission
fort. In der Form der apostolischen Sukzession sind sie mit Jesus Christus verbun-
den. Die Bischöfe vertreten ihn, wenn sie
das Evangelium verkünden und ihm eine
Stimme geben; wenn sie im Gottesdienst
an seiner statt handeln; wenn sie die Kirche leiten, indem sie dem Geist Jesu
Raum geben. Das Amt des Bischofs wird
über den Singular dieser personalen Repräsentanz Christi begründet.
In ihrer Autorisierung zeigt sich freilich auch ein Gefahrenmoment bischöflicher Ermächtigung: die Versuchung, die
Stellvertretung ohne ihre relativierenden
Momente wahrzunehmen. Der Christusbezug im Bischofsamt ist aber an Bezeugungsformen seiner Gegenwart im Plural
gebunden. Im „priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Christi“, an
dem alle Getauften teilhaben, bestimmt
das Zweite Vatikanische Konzil die Aufgabe des Bischofs. Sein Zeugnis bleibt auf
das Zeugnis aller Christinnen und Christen verwiesen. Das schließt Einspruchsrechte ein und verweist auf die Kompetenzen der Laien, die über die der Bischöfe hinausführen können. Ein Bischof,
der sich einseitig auf seine apostolische
Vollmacht beruft und seine Diözese monarchisch beziehungsweise autoritär leitet, nimmt die ihm zustehende Leitungsmacht auf eine Weise in Anspruch, die
sich am Singular der Stellvertretung festmacht, aber den Plural der Bezeugungsinstanzen außer Acht lässt, ohne die sein
Zeugnis nicht zustande kommt.
Der kirchliche Nennwert des Falls
Limburg lässt sich unter diesem Gesichtspunkt bestimmen. Systematisch wurden
zuständige Gremien übergangen, konsequent alle Entscheidungen auf die Interessen des Bischofs konzentriert, den das
eigene Führungsmodell überfordern
musste. Tebartz-van Elst ist ein Opfer des
eigenen Systems, das in seiner hierarchischen Zuspitzung das Bischofsamt um
seine diakonale Identität bringt. Auf dieser Linie zeigten sich einige Bischöfe öffentlich mit ihrem Amtsbruder solidarisch, ohne die Loyalität gegenüber dem
betroffenen Volk Gottes auch nur in Erwägung zu ziehen. Diese episkopale
Gruppenbindung droht in klerikaler
Selbstverzauberung zu erstarren. Es
nimmt nicht wunder, dass die entspre-
chenden Akteure ein grundsätzliches
Misstrauen gegenüber der Rolle der Medien äußerten. Außenperspektiven auf
die Kirche haben im Modell der Kirche
als einer societas perfecta, eines in sich geschlossenen Systems, bestenfalls eine
nachrangige Bedeutung, besitzen jedenfalls kein konstitutives Mitspracherecht.
Das aber ist eine Illusion. Die Kirche
kann sich selbst nicht angemessen kontrollieren – das offenbarte schon der Missbrauchsskandal. Eine Lehre aus den Limburger Vorkommnissen besteht in der
notwendigen Bereitschaft, sich kirchlich
auf externe Beobachtungen und einmischungsfähige Expertisen einzustellen.
Das empfiehlt sich noch aus einem anderen Grund, der die Bischöfe in ihrer
Amtsführung direkt betrifft. Angesichts
von Entscheidungszumutungen auf zu
vielen Ebenen, die sie mit Letztverantwortung zu treffen haben, stehen sie unter dem Zeitdruck struktureller Überforderung, weil jede ihrer Bestimmungen
immer zu schnell und zugleich zu spät
kommen muss.
Deshalb ist mehr Beteiligung am bischöflichen Dienst gefordert. Ein erster
Schritt bestünde in einer Umstellung der
Wahlverfahren. Die jüngsten Ernennungen von Erzbischöfen im deutschen
Raum, in Salzburg und Freiburg, machen
nachdenklich. Offensichtlich wurden
ortskirchliche Vorschläge ausgeblendet
oder übergangen oder gar bewusst kon-
Gregor Maria Hoff ist Professor für
katholische Theologie in Salzburg und
Mitglied der päpstlichen Kommission
fürdie Beziehungen zum Judentum.
terkariert. Das geregelte Miteinander als
shared responsibility von Volk Gottes und
apostolischer Leitung wird zu einem Probestein jener Reformen, die Papst Franziskus im Blick zu haben scheint.
Dabei ist ein Qualitätssprung im Bischofsmanagement schon deshalb erforderlich,
weil immer mehr Herausforderungen auf
die Bischöfe zukommen und der pastorale Notstand zunimmt. Nach Limburg ist
mehr zu erwarten:
1. Ein Mehr an historischem Bewusstsein,
nämlich die offene Anerkennung der
Wandelbarkeit des Bischofsamtes, das unter veränderten geschichtlichen Bedingungen Gestaltungsmöglichkeiten lässt:
bei der Bestellung der Bischöfe wie hinsichtlich ihrer Aufgabenbeschreibung.
2. Ein Mehr an theologischem Profil, gerade im Blick auf die öffentliche Sprachfähigkeit der Kandidaten, die sich in der
Arena gesellschaftlicher Debatten zu behaupten haben: mit sensibler Akustik für
offene Fragen, mit kritischem Weitblick
und informierter Einmischungsfähigkeit,
ohne einseitig von vorab entwickelten
kirchlichen Positionen abzuhängen.
3. Ein Mehr an Kreativität bei der Kandidatenkür – mit größerer Typenvarianz,
für die nicht römische Gehorsamsnachweise oder erwiesene Unauffälligkeit in
der theologisch-kirchlichen Meinungsbildung den Ausschlag geben.
4. Ein Mehr an Transparenz in der Entscheidungsfindung, und zwar sowohl im
Blick auf die Bischofswahlen wie auf die
Amtsführung, um der Beteiligung des
Volkes Gottes in seinem charismatischen
Eigensinn mehr Raum zu geben. Wenigstens aus Klugheitserwägungen wäre hier
nachzubessern, denn angesichts der medialen Möglichkeiten bleibt nichts hinter
verschlossenen Türen, was kirchlicher
Geheimhaltung unterliegt.
5. Ein Mehr an Eigenständigkeit in pastoralen Erfordernissen für die Kirchen vor
Ort, was Regelungen ad experimentum angesichts von kirchlichen Notsituationen
einschließt (Gemeindeleitung, Zulassung
zu den Sakramenten, pastorale Initiativen). Eine wirkliche Wechselwirkung
zwischen Ortskirchen und römischer Lei-
FOTOS: ALESSIA PIERDOMENICO/REUTERS; HE RBERT ROHRER/WILDBILD/PICTURE ALLIANCE
Von Gregor Maria Hoff
tung, die Freiheitsrechte auch formell garantiert, ohne Beliebigkeiten Tür und Tor
zu öffnen (und also neue Missstände und
Einseitigkeiten zu produzieren), könnte
beide Seiten stärken.
6. Ein Mehr an Gewaltenteilung und Entlastung in der Ausübung des bischöflichen Dienstes, mit unabhängigen Einspruchsrechten und handlungsfähigen
Kompetenzen für Mitarbeiterinnen, die
etwa die Personalführung und die Finanzorganisation betreffen.
7. Ein Mehr an professioneller Begleitung
der Bischöfe – mit offener Kritik in geschützten Räumen, die von Außenperspektiven bestimmt ist und strukturell
festgelegt wird.
8. Ein Mehr an pastoraler Programmatik,
das mit einer theologischen Idee echte
Entwicklungsoptionen verbindet. Wer Bischof werden will und soll, muss die Zielperspektive bestimmen, mit der er antritt:
Wo soll die Ortskirche in zehn, in zwanzig Jahren stehen, der der Bischof vorsteht? Und welche strukturellen Schritte
und Schnitte sind erforderlich?
Der Fall Limburg legt eine Krise frei,
in der sich das bischöfliche Amt der katholischen Kirche befindet. Es handelt
sich um eine Vertrauenskrise, die über die
Personen hinaus die kirchliche Anlage
des Amtes betrifft. Dass es als Dienst ausgewiesen und zugleich wie ein Aufstieg
behandelt wird, mit bischöflichen Beförderungen auf kurialen Posten, zeigt ein
exemplarisches Problem an. Die pastorale Autorität des diakonalen Amtes wird
von der kirchlichen Macht einer klerikalen Position überlagert. Für die Versuchungen, die sich damit verbinden, liefert Tebartz-van Elst Anschauungsmaterial. Mit dem Abschied von einer ambivalenten Karriere-Codierung steht aber die
klerikale Ordnung hierarchischer Kirchenleitung selbst auf dem Prüfstand.
Zum Weiterlesen: „Der ,Fall‘ Tebartz-van
Elst: Kirchenkrise unter dem Brennglas“,
herausgegeben von Joachim Valentin. Mit
Beiträgen von Gregor Maria Hoff, Thomas
Schüller, Christian Klenk, Johannes zu Eltz
u. a. Das Buch erscheint nächste Woche im
Herder Verlag.
C&W 6 GESELLSCHAFT
C H R I S T & W E L T | 29/2014
SAMMLUNG
EIN BILD, EIN SATZ, EIN WUNDER
Heute kuratiert von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Ihre Empfehlung:
Gabriele Münter:
Staffelsee (1934)
Warum haben Sie
dieses Bild ausgewählt,
Frau LeutheusserSchnarrenberger?
»Mit den scharfen Konturen, starken Kontrasten
und kräftigen Farben
macht Gabriele Münter
sich die Landschaft ihrer
und meiner Wahlheimat
zu eigen. Sie bewältigt
sie, ohne sie zu vergewaltigen, und bringt eine
Schönheit der Landschaft
zum Ausdruck, die über
das fotografisch Sichtbare
weit hinausreicht.«
Kurator im Monat Juli ist die frühere
Bundesjustizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger.
DER ATHEIST,
DER WAS VERMISST
DAS WESENTLICHE: POLITISCHE HEIMAT
HALTUNG , BITTE!
Ist die AfD eine christliche Partei?
Fehlerquote
Passion im August
WECHSEL Der evangelische Theologe und Buchautor Sebastian Moll war FDP-Mitglied, seit
Martin Ahrends lebt als Schriftsteller in Berlin.
I
ch habe mir schon vor langer Zeit abgewöhnt, ponem gesunden Rechtsempfinden nicht vereinbar ist. Und
litische Stellungnahmen mit den Worten „als
ich verstehe nicht, warum man ein Christ sein muss, um
Christ“ zu beginnen. Meiner Ansicht nach haben
zu erkennen, dass die Finanzierung ausländischer Staatssie dort in den meisten Fällen nichts verloren. Zu
und Bankensysteme mit dem Geld deutscher Sparer und
den Stellungnahmen, die mit „als Christ“ begonnen
Rentner an Verantwortungslosigkeit kaum zu überbieten
werden können, gehören unter anderem: „Als Christ
ist. Für diese Erkenntnisse braucht man weder Bibel noch
glaube ich an die Erlösung durch den Kreuzestod Jesu“
Gesangbuch, es genügen Verantwortungsbewusstsein
oder „Als Christ versuche ich, nach dem Willen Gottes
und Mut zur Wahrheit.
zu leben“. Ein Satz wie „Als Christ befürworte ich die
Vielleicht sind es genau diese beiden Elemente, die eiEinführung eines flächendeckenden gesetzlichen Minne christliche Partei ausmachen. „Der Politiker denkt an
destlohns“ käme mir hingegen niemals über die Lippen,
die nächste Wahl, der Staatsmann an die nächste GeneraMan muss
unabhängig davon, ob ich den Mindestlohn für eine
tion“, lautet ein berühmtes Zitat des britischen Premiersinnvolle wirtschaftspolitische Maßnahme halte oder kein Christ
ministers William Ewart Gladstone (1809–1898), der beinicht. Aber genau darum geht es. Es gehört zu den be- sein, um
nahe Priester der anglikanischen Kirche geworden wäre,
liebten Tricks von Politikern, politische Sachfragen auf
der sich aber auch als Staatsmann stets von seinem christeine moralische Ebene zu erheben. Bei der Debatte um Abtreibung
lichen Verantwortungsbewusstsein leiten ließ. Daher
den Mindestlohn konnte man mitunter den Eindruck für Unrecht
könnte man in dem oben angeführten Zitat den Begriff
gewinnen, als ginge es um einen Streit zwischen kalt„Staatsmann“ auch durch den Begriff „Christ“ ersetzen.
herzigen Sklavenhaltern und Kämpfern für die Men- zu halten.
Christen nehmen ihre Verantwortung für ihre Mitmenschenrechte, was viele Bürger dazu veranlasste, sich „als
schen ernst, handeln sub specie aeternitatis. Auch ihren
Christen“ für den Mindestlohn einzusetzen, nicht zuletzt die Sy- Mut zur Wahrheit haben die Christen im Laufe der Geschichte imnode der Evangelischen Kirche im Rheinland. Dabei geht es beim mer wieder unter Beweis gestellt. Seit es Christen gibt, haben sich
Mindestlohn, wie bei so ziemlich allen politischen Projekten, ein- diese mutig zu ihrem Glauben bekannt und dafür nicht selten mit
zig und allein darum, Vor- und Nachteile für die Bevölkerung ihrem Leben bezahlt. In vielen Teilen der Welt tun sie das bis heusorgsam gegeneinander abzuwägen – und zwar mit Sachverstand, te. Nun sollte freilich niemand sein politisches Engagement bei der
nicht mit Glaubenseifer.
Alternative für Deutschland mit einem christlichen Martyrium
Insofern ist die Frage, ob es sich bei der AfD um eine christliche gleichsetzen. Fest steht jedoch, dass auch ein Bekenntnis zu politiPartei handelt, für mich schwer zu beantworten. Zwar werden ei- schen Wahrheiten mit persönlichen Nachteilen einhergehen kann.
nige ihrer Positionen in den Medien des Öfteren als christlich be- Wieder zeigt sich der entscheidende Unterschied. Politiker mögen
zeichnet, um nicht zu sagen: gebrandmarkt. Ich verstehe aber nicht, die Wahrheit mitunter als „nicht hilfreich“ empfinden. Als Christ ist
warum man ein Christ sein muss, um zu erkennen, dass eine staat- sie mir etwas Heiliges.
liche Privilegierung der „Homo-Ehe“ nicht notwendig ist, da das
Ausleben homosexueller Neigungen für die Zukunft der Gesell- Sebastian Moll ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelischschaft keinerlei Relevanz hat. Ich verstehe auch nicht, warum man Theologischen Fakultät der Universität Mainz. Zuletzt erschien von
ein Christ sein muss, um zu erkennen, dass ein Recht auf Abtrei- ihm „Du sollst nicht atmen: Warum wir am besten das Atmen einstelbung, also ein Recht auf Vernichtung menschlichen Lebens, mit ei- len sollten und andere Erkenntnisse aus dem Jetzt“ (adeo).
DAS UNWESENTLICHE: EMPÖRUNG
Ein Lächeln für Putin
Liebe Amerikaner – ihr glaubt, wir würden nur fest mit dem Fuß
aufstampfen, wenn wir für euch vor dem Neuschwansteiner Märchenschloss Schuhplattler tanzen! Ihr haltet uns wohl ansonsten
für Leisetreter?! Aber jetzt mal ganz ungeschützt: Wenn wir so
laut marschieren würden wie unsere Väter und Großväter, wäre
es euch doch auch nicht recht. Wir wollen niemandem auf die
Füße treten. Und: ja, ja, ja. Luftbrücke, Rosinenbomber, Carepakete – Berlin bleibt frei – Ich bin ein Berliner. Wir sagen Dank,
Dank und immer wieder Dank!!! Aber nun sagen wir euch doch
auch mal mit ein bisschen Entschiedenheit: Wir sind ein wenig gekränkt, dass ihr euren Geheimdienst nicht an die Leine nehmt.
Wir wissen, er will doch nur spielen. Er beißt auch keine Freunde.
Aber dass er überall herumschnüffelt, finden wir irgendwie auch
nicht so okay. Nichts für ungut, aber stellt euch mal vor, wir würden dasselbe mit euch machen. Jetzt hat auch noch ein Mitarbeiter unseres Bundesnachrichtendienstes Informationen an euch geliefert – da wird es aber langsam Zeit für eine lückenlose Aufklärung. Natürlich nur, wenn es sich einrichten lässt. Unser Präsident
will auch nur spielen – und zwar den Beleidigten. Dass er es gar
nicht soo ernst meint, bleibt aber streng vertraulich! Wir empören
uns jetzt also in aller Form und bitten, mit der Spionage nun mal
ein bisschen aufzuhören. Wir müssen sonst zu ernsteren Maßnahmen greifen und beim nächsten G-8-Treffen zu Putin gucken,
wenn euer President uns anlächelt.
Andreas Öhler
FOTOS: ARTHOTHEK/VG BILD-KUNST, BONN 2014; PRIVAT (2)
Nach einem enttäuschenden WM-Spiel wollen
wir die verlorene Zeit nicht verloren geben und
immerhin Erkenntnis daraus ziehen: „Was hast du
denn erwartet?“, fragt mein Freund, ein Hirnchirurg. Ich zucke die Schultern. „Jedenfalls nicht
das, wovon der Kommentator zuletzt sprach: eine
‚geringe Fehlerquote‘. Wenn sie nach Brasilien
fahren, um keine Fehler zu machen, sollten sie lieber daheimbleiben.“
– „Wenn es um so viel geht: Was ist daran verkehrt, wenn man Fehler vermeidet? Immerhin
sind sie weitergekommen. Das ist für sie dasselbe
wie für mich eine komplizierte OP: Ende gut, alles gut.“
– „Deine Chirurgie ist kein Spiel und wird
nicht als Event in die Welt übertragen. Es kann
schnell langweilig werden, jemandem bei der Fehlervermeidung zuzusehen.“ – „Es sei denn, ich
entschärfe zum Beispiel eine Zeitbombe: Soll ich
das blaue oder das rote Kabel trennen?“ – „Das ist
zwar für jeden erkennbar spannend, aber auch
kein Spiel. Man darf keinen
Fehler machen.“
Auf dem
– „Beim Fußball soll man
das?“ – „Wir haben beide kei- Rasen spielt
ne Ahnung davon. Ich vermu- immer ein
te, hier soll es offene Räume
geben für das Unvorhersehba- Drittes mit.
re. Die füllen sich mit so Das ist nicht
schwer definierbaren Dingen
wie Teamgeist und Tages- kalkulierbar.
form, mit Intuition und Gottvertrauen. So wird das Spiel spielerisch und schön
anzuschauen.“
– „Das ist kein Volkstanz. Da kämpfen Profis
um Sieg oder Niederlage!“ – „Wenn die Mannschaft ‚geschlagen‘ vom Platz geht, sollte niemand
ernsthaft verletzt sein.“ – „Aber es geht doch um
etwas Großes.“ – „Um einen großen Modellversuch. Der aufrechte Gang wird befragt. Er wirkt
komisch, wenn er nicht dazu dient, die Hände zu
gebrauchen. Modellhaft ist auch, dass man auf
dem Rasen nie alles richtig machen kann. Dass
immer ein unkalkulierbares Drittes mitspielt.“ –
„Denn erstens kommt es anders …“
– „All die Absicherungsstrategien, die in unserem Leben überhand genommen haben, erweisen
bei einem missglückten Kopfball ihre Komik.“ –
„Schlimm wär’s allerdings, wenn beim Fußball
nicht gelacht werden dürfte.“ – „Niemand würde
über deine Hirn-OP lachen, wenn sie schiefgegangen ist. Niemand würde lachen, wenn die Bombe
bei der Entschärfung hochgeht. Aber das Spiel beraubt sich selbst, wo es das Schicksal eliminieren
will, das auf dem Rasen so gern den Clown
spielt.“ – „Humor und Gottvertrauen? Das ist deine ganze Philosophie?“ Ich nicke.
„Ich liebe klassische Musik und fahre gern auf
die Sommerfestivals, die überall hier bei uns im
Norden stattfinden. Beim Durchblättern der Programme fällt mir aber auf, dass immer mehr Musik
zur Aufführung kommt, die vom Kirchenjahr her
in die Passions- oder Adventszeit gehört. Mich ärgert
das so, dass ich der Festivalleitung einen geharnischten Brief geschrieben habe. Meine Freunde finden
Walter K., Lübeck
das übertrieben. Sie auch?
Kurzem gehört er der Alternative für Deutschland an
Pfeffernüsse und Elisenlebkuchen gibt es ab August in den Läden. Wen wundert es, dass zur gleichen Zeit auch schon mal die Weihnachtskantaten erklingen? Der Kulturbetrieb agiert seltsam
kulturlos, wenn es darum geht, die Wünsche des
Publikums zu erfüllen. Oder ist es nur die Art Gedankenlosigkeit eines professionellen Musikbetriebs, die der geistlichen Musik den Geist austreibt, weil sie nur auf die künstlerische Herausforderung oder die emotionalen Effekte aus ist? Es
gibt Experten, die behaupten, die Musik, die für
die dunklen Jahreszeiten und dunklen Momente
des Christentums komponiert wäre, sei schlicht
die bessere. Vielleicht ist das eine Ausrede. Kunstreligiöse Erbauung, die bei Hitzegewittern das
Schaurig-Erhabene von „O Haupt voll Blut und
Wunden“ hervorruft, verkauft sich nicht nur gut,
sie gibt den Festivals auch den nötigen „existenziellen Ernst“, wie es in einem Programm für ein
berühmtes Sommerfestival heißt.
Der Musikbetrieb orientiert sich längst nicht
mehr am Kirchenjahr. Das bürgerliche Milieu ist
vom religiösen Gedächtnisverlust genauso befallen wie die, die am Karfreitag für jeden Rummel
zu haben sind. Nun gebe ich freimütig zu, dass ich
die Matthäuspassion auch im Sommer höre. Ich
höre sie zu allen Zeiten und in allen Lebenslagen.
Hundertprozentige Kirchenjahrstreue ist für meine privaten Hörgewohnheiten nichts. So geht allerdings nicht nur der Sinn für den Horizont des
christlichen Heilsgeschehens verloren, wir verlieren auch ganz profan den Sinn für die Geschichtlichkeit des Lebens, für Abfolgen, Spannungsbögen und Zeitrhythmen. Im Grunde zahlen wir
einen hohen Preis für die Mentalität des Immer-alles-wann-immer-wir-Wollen; Hauptsache, es
klingt schön. Wir vergessen die Erfahrung des
Wartenkönnens und leiden an – nun auch hochkultureller – Verfettung. Also doch kein Passionsspektakel im August. An den Elisenlebkuchen gehen wir doch schließlich auch vorbei. Oder nicht?
Die Pastorin Dr. Petra Bahr ist Kulturbeauftragte der
Evangelischen Kirche in Deutschland. Ihre Kolumnen
sind gerade in der Edition Chrismon als Buch
erschienen: „Haltung, bitte!“ Wenn Sie vor einem
Dilemma stehen und einen Ausweg mit Anstand
suchen, schreiben Sie Dr. Petra Bahr. Leserpost
bitte an: Christ & Welt, Heinrich-Brüning-Straße 9,
53113 Bonn. Stichwort „Haltung“.
E-Mail: [email protected]