Christ und Welt
Transcription
Christ und Welt
JETZT MIT JEDE WOCHE NEUEN SEITEN MIT 6 SEITEN CHRIST& & WELT WELT CHRIST DIEZEIT WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR 10. JULI 2014 No 29 Christ & Welt PREIS DEUTSCHLAND 4,50 € ANGRIFF AUF DIE ELITEN Wenn Seelsorge tödlich endet Eine Freiburger Gemeinde trauert. Ihr Pfarrer wurde umgebracht Christ & Welt Seite 2 Mit ihrer überlegenen Intelligenz machen Computer bald Ärzte, Manager und andere Akademiker überflüssig. Aber ist das wirklich schlimm? Illustration: Smetek für DIE ZEIT (verwendetes Foto: Getty Images) IN DIESER AUSGABE VON CHRIST & WELT Knipsen in der Kirche WIRTSCHAFT SEITE 19 Er will meinen Job! SCHICKSALSTAGE IN NAHOST BND -SKANDAL Der einzige Weg Es reicht Wir stehen zu Israel. Aber Frieden kann es nur geben, wenn auch die Palästinenser ihren eigenen Staat bekommen VON BARACK OBAMA A Sicherheitskooperation Israel si ls sich die Air Force One cherer; amerikanische Investitionen vergangenes Jahr auf in Israels hochinnovative Verteidi den Landeanflug im gungs systeme wie das Arrow In Heiligen Land vor terceptor System und den Iron bereitete, schaute ich Dome (beides Raketenabwehrsyste aus meinem Fenster me, Anm. d. Red.) retten Leben. und war einmal mehr davon be Unser Einsatz für Israels Sicher eindruckt, dass Israels Sicherheit in heit umfasst auch unser Engage Minuten und Meilen gemessen werden ment im gesamten Nahen Osten. kann. Ich habe gesehen, was Sicherheit Unter amerikanischer Führung hat für diejenigen bedeutet, die in der Nähe die internationale Gemeinschaft im der Blauen Linie (der Demarkations vergangenen Monat erfolgreich die linie zwischen dem Libanon und Israel, letzten von Baschar al-Assads de Anm. d. Red.) leben; was sie für Kinder klarierten Chemiewaffen aus Syrien in Sderot heißt, die einfach ohne Angst entfernt. Die Auflösung dieser Vor aufwachsen wollen; und welche Bedeu In Israel eska räte vermindert die Fähigkeit eines tung sie für Familien hat, die ihr Haus liert die Gewalt. brutalen Diktators, mit Massen und ihr gesamtes Hab und Gut durch Der US-Präsi vernichtungswaffen nicht nur das die Raketen von Hisbollah und Hamas dent appelliert syrische Volk, sondern auch Syriens verloren haben. Nachbarn, darunter Israel, zu be Ich bin selbst Vater und kann den leidenschaftlich drohen. Wir werden weiterhin mit Schmerz kaum ermessen, den die El an Israelis und unseren Partnern in Europa und in tern von Naftali Fraenkel, Gilad Palästinenser, der arabischen Welt zusammen Schaar und Ejal Jifrach, die im Juni eine dauerhafte arbeiten, um die gemäßigte syrische auf so tragische Weise entführt und Friedenslösung Opposition zu unterstützen und ermordet wurden, ertragen müssen. zu finden. In auf eine politische Lösung für die Und ich bin untröstlich über die sinn Deutschland sen Konflikt zu drängen, der eine lose Verschleppung und Ermordung humanitäre Krise und regionale In von Mohammed Hussein Abu erscheint der stabilität nach sich zieht. Chdeir, dessen Leben ihm und seiner Text exklusiv in Ebenso arbeiten wir daran, si Familie geraubt wurde. In diesem der ZEIT cherzustellen, dass der Iran niemals Moment der Gefahr müssen alle Be Atomwaffen besitzen wird. In har teiligten die Unschuldigen schützen, mit Vernunft und Maß agieren, nicht mit Rache ten internationalen Verhandlungen über das ira nische Atomprogramm versuchen wir, diese und Vergeltung. Von Harry Truman bis in die heutige Zeit schwere Bedrohung internationaler und regiona waren die Vereinigten Staaten stets Israels größ ler Sicherheit, auch der Sicherheit Israels, mit ter Freund. Ich habe es immer wieder gesagt: friedlichen Mitteln zu beseitigen. Wir haben Weder die Vereinigten Staaten noch ich werden klargemacht, dass zu jeglicher Einigung konkre jemals in unserem Bekenntnis zu Israels Sicher te und verifizierbare Sicherheiten gehören müs heit und zum israelischen Volk wanken. Den sen, die gewährleisten, dass das Atomprogramm Friedensprozess zu unterstützen wird immer der des Irans ausschließlich friedlich genutzt wird. Im Laufe dieses Prozesses haben wir enge Rück Grundstein dieser Zusage sein. Während der vergangenen fünf Jahre haben sprache mit Israel gehalten. Die Frist für die Ver wir unsere Zusammenarbeit ausgeweitet – heu handlungen läuft ab, und wir wissen noch nicht, te, das bestätigen hochrangige israelische Politi ob sie am Ende Erfolg haben werden. Aber eines ker, sind die Beziehungen in Sicherheitsfragen hat sich nicht geändert: Wir sind entschlossen, zwischen Israel und den Vereinigten Staaten den Iran daran zu hindern, sich Atomwaffen zu stärker, unternehmen unsere Streitkräfte mehr beschaffen, und wir behalten alle Optionen auf gemeinsame Übungen miteinander als je zuvor. dem Tisch, um dieses Ziel zu erreichen. Das Bekenntnis der Vereinigten Staaten zu Auch die Zusammenarbeit unserer Geheim dienste war nie so eng. Gemeinsam entwickeln Israels Sicherheit stellen wir darüber hinaus wir neue Verteidigungstechniken, wie zum Bei durch unser anhaltendes Engagement für einen spiel ferngesteuerte Aufspürgeräte gegen Spreng dauerhaften Frieden im Nahen Osten unter Be fallen und eine leichtgewichtige Körperpanze weis. Wir waren uns immer bewusst, dass die Lösung des jahrzehntealten Konflikts zwischen rung, die unsere Soldaten beschützen werden. Die Haushaltsmittel in Washington sind Israelis und Palästinensern enormen Aufwand knapp, aber unser Bekenntnis zu Israels Sicher und schwierige Entscheidungen von allen Betei heit bleibt eisern. Die Vereinigten Staaten haben ligten verlangen würde. (Fortsetzung auf Seite 6) sich verpflichtet, mehr als drei Milliarden Dollar pro Jahr bereitzustellen, um Israels Sicherheit bis zum Jahr 2018 mitzufinanzieren. In allen Be Weitere Beiträge zum Nahostkonflikt, S. 6 www.zeit.de/audio reichen macht unsere so noch nie da gewesene Obama in der ZEIT Die Bundesregierung muss sich gegen die Anmaßungen der US-Spione wehren. Die Mittel dazu hat sie VON HEINRICH WEFING M an möchte jetzt mal mit der herrschen als die Konsequenzen eines entschlos Faust auf den Tisch schlagen. senen Handelns. Die Verweigerung einer mehr als bloß gewis Und laut werden. Richtig laut, lauter noch als der Bun perten Reaktion der Bundesregierung nach den despräsident und der Innen Snowden-Enthüllungen hat das drastisch deut minister, viel lauter als die nie lich gemacht. Auch das trägt ja zum Provozieren zum Dröhnen und Drohen neigende Kanzlerin. den der neuen Affäre bei: Die Deutschen haben Liebe Leute in Washington, möchte man die NSA-Sache nach Kräften runtergespielt, brüllen, habt ihr sie eigentlich noch alle? Wie weggelächelt, glattgeschwiegen. Und die USkönnt ihr so blöd sein, einen Doppelagenten Agenten? They didn’t give a shit, um es mal mi beim BND anzuwerben und euch dabei auch lieugerecht zu formulieren. Noch einmal zu noch erwischen zu lassen? Genügt euch der Är schweigen, nichts zu tun und bloß verdruckst ger um Snowden nicht? Ist euch komplett egal, auf die Ermittlungen des Generalbundesanwalts dass der Antiamerikanismus in Deutschland zu verweisen ist schlicht keine Option mehr. Die Staats-Kunst wird darin bestehen, ein grassiert, dass hier fundamental etwas ins Rut paar symbolische Stiche zu setzen, die registriert schen kommt? Und man weiß gar nicht genau, worüber man werden, daheim und in Washington, die aber sich mehr ärgern soll: über die Dreistigkeit der den ohnehin entstandenen Schaden nicht po US-Dienste, trotz weltweiter Empörung über die tenzieren. Und es gibt durchaus solche Signale, NSA einfach so weiterzumachen wie bisher die verstanden würden, die vom Bundes üblich. Oder über das Schweigen der Regierung innenminister erwähnte 360-Grad-Spionage in Washington, die mit einem halbamtlichen abwehr etwa, die sich auch gegen die Amerikaner »sorry« und der Strafversetzung eines mittel richten würde; eventuell die Aussetzung oder Kün digung von Ab kommen, hohen Agentenführers eine zum Beispiel des SafeMenge Druck aus dem Kes Harbor-Vertrages, der es sel nehmen könnte, es aber den amerikanischen Netz partout nicht tut. Oder aber giganten eigentlich erst über den Schaden für die ... und die Kanzlerin: möglich macht, in Europa deutsch-amerikanischen Be Politik Seite 2/3, zu agieren; oder, wenn ziehungen, den diese Agen Feuilleton S. 37 sonst gar nichts ver tennummer notwendig her standen wird, die Einla beiführen wird, jetzt, da sie dung an Edward Snow aufgeflogen ist. Natürlich sind das emotionale Reaktionen, den, doch noch vor dem NSA-Untersuchungs der Ärger genauso wie der Wunsch nach einem ausschuss in Berlin auszusagen. Dabei geht es nicht um alles oder nichts; das offiziellen Wutausbruch. Politik kann so nicht reagieren, auch wenn es ihr manchmal schwer zu behaupten ist nur ein Vorwand, nichts zu tun. fällt. Und sie reagiert auch nicht so, jedenfalls Auch die USA brauchen Deutschland, brauchen dann nicht, wenn Angela Merkel diese Politik Europa und werden nicht alles aufs Spiel setzen, wenn die Bundesregierung mit Nachdruck auf bestimmt. Sie muss wägen und abwägen, sie muss die die Einhaltung der Spielregeln zwischen Ver kurzfristige Aufwallung mit den langfristigen In bündeten besteht. Und das wäre nicht bloß Aus teressen dieses Landes abgleichen, sie will sich druck von enttäuschter Liebe oder beleidigter und die deutschen Sicherheitsbehörden nicht Bockigkeit. Es wäre auch mehr als ein kleinliches komplett von den Informationen der US- Nachtreten. Im Gegenteil, darauf zu bestehen, Geheimdienste abschneiden. Und sie braucht und notfalls lautstark, dass geltende Regeln ein Obama und die Vereinigten Staaten überall, in gehalten werden, ist für einen Rechtsstaat von der Ukraine, bei den Atomverhandlungen mit fundamentalem Interesse. Nach innen, weil nur so die Rechtstreue der dem Iran, bei der Bankenregulierung, in Südost asien. Denn im Zweifel, wenn es gegen Putin geht Bürger erhalten werden kann. Nach außen, weil oder gegen Peking, dann sind uns die Vereinigten eine Exportnation wie die deutsche auf Rechts Staaten doch sehr viel näher als Russland oder sicherheit, auf ein Mindestmaß an Fair Play und China. Aus Tradition und weil sie ähnliche Inte Vertragstreue gerade im Ausland existenziell an ressen und Werte haben, im Prinzip jedenfalls: gewiesen ist. Und weil die Herrschaft des Rechts im Kern das ist, was den Westen von den Auto Toleranz, Individualismus, Rechtsstaatlichkeit. Das alles ist schon richtig, ganz und gar nicht kratien der Welt unterscheidet. Wenn Washington das so offenkundig aus trivial und ein zuverlässiger Bremsklotz gegen überschießenden Zorn oder pubertäre Trotz den Augen verliert, darf die Kanzlerin, nein: reaktionen. Nur: Bei allem Abwägen und Nach muss die Kanzlerin daran erinnern. Ohne Ge denken darf man eines nicht übersehen. Wie fast brüll, natürlich. Aber durchaus laut. So laut, dass immer im Leben hat auch in der Politik das sie gehört wird. Nichtstun Folgen. Und zwar Folgen, die nicht www.zeit.de/audio unbedingt angenehmer sind oder leichter zu be Der Spion ... Stört das Fotografieren die heiligen Handlungen bei Hochzeit und Taufe? Christ & Welt Seite 3/4 Limburg und die Folgen Weitermachen wie bisher? Papstberater Gregor Maria Hoff warnt die Bischöfe Christ & Welt Seite 5 KREUZ & QUER Männer aus Moabit XXVIII Die Bank an der Straßenecke ist beliebt: Mittags setzen sich die Ju gendlichen aus dem Hostel darauf, abends der nette Kiffer, ab und an die alten Frauen von nebenan. Heute hat wieder der Mann mit dem Fahrrad Platz genommen, neben ihm ein großer Plüschbär, den rechten Arm um eine Schultü te gelegt, den linken um eine Fla sche Bier. Der Fahrradmann beugt sich vor: »Wenn der so weiter macht«, er blickt kurz zu dem Bä ren, »sackt der ab. Jetzt mal so so zial gesehen. Ich bring den zum Arbeitsamt, der braucht ’ne Fort bildung. Oder ’ne Therapie. Der hat«, jetzt flüstert er, »voll das Dro genproblem. Sitzt hier mit Schul tüte und säuft. Mitten am Tag! Das geht doch nicht. Da muss man was tun, schließlich hat man Verant wortung. So als Nachbar, meine ich.« HANS-JOACHIM NEUBAUER Kl. Fotos: picture-alliance/dpa; F1online; Reuters; Robin Utrecht/action press (l.) ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DKR 45,00/NOR 65,00/FIN 7,00/E 5,50/ Kanaren 5,70/F 5,50/NL 4,80/A 4,60/ CHF 7.30/I 5,50/GR 6,00/B 4,80/P 5,50/ L 4,80/HUF 1960,00 o N 29 69. J A H RG A N G C 7451 C 10. Juli 2014 W O C H E N Z E I T U N G F Ü R G L A U B E , G E I S T , G E S E L L S C H A F T Wenn Seelsorge tödlich endet Fotografieren in der Kirche – ist das ok? Nach Limburg ist alles anders Ein Freiburger Pfarrer wird umgebracht. Wie die Gemeinde trauert. Zwei Seiten Debatte über das Knipsen bei Hochzeit und Taufe. Der Skandal hat Folgen für alle Bischöfe. Ein Papstberater warnt. Seite 2 Seiten 3, 4 Seite 5 SEIN MOTIV: ALEXANDER DOBRINDT Liebet den Zöllner! Und es begab sich zu der Zeit, als die Mächtigen ihren Staatshaushalt nicht mehr finanzieren konnten, da wurden an vielen Stellen des Landes Schranken errichtet, auf dass Wegezölle erhoben werden konnten. Vor zentral gelegenen Brücken, Stadttoren und Durchgängen, die ein jeglicher Reisende unweigerlich passieren musste, stand der Zöllner – geächtet als Kollaborateur der Römer. Und es fand sich keiner unter der Sonne, der mit dem Sünder etwas zu tun haben wollte, da er im Ruf stand, sich über Gebühr zu bereichern. Nur Jesus ließ sich von ihm bewirten, er nahm Platz zwischen Sündern und Steuereintreibern. Zachäus, der oberste Zollpächter von Jericho, gelobte daraufhin, die Hälfte seines Besitzes an die Armen zu verteilen und die geraubten Gelder vierfach zu erstatten. Mehrere Bibelstellen erzählen vom Gleichnis, in dem der Herr den bußbereiten Steuereintreiber jedem selbstgerechten Pharisäer vorzog. Heißt es doch im Psalm 51,19: „Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist; ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz, wirst du, Gott, nicht verschmähen.“ Alexander Dobrindt ist der Zöllner unserer Tage. Noch zeigt sich der Bundesverkehrsminister nicht reumütig, wenn er die Maut auf sämtlichen deutschen Straßen plant. Er bereichert sich weder privat, noch ist er Handlanger einer Besatzungsmacht. Und doch hat der Verkehrspolitiker mehr denn je Jesus-Geduld dringend nötig. Denn auch dieser Zöllner hat kaum Freunde, nicht in der Koalition, schon gar nicht in der EU – selbst in der eigenen Partei ist er zuweilen allein. Eine Maut, die die Ausländer nicht benachteiligen darf und die Bundesbürger nicht zusätzlich belasten soll, diesen Widerspruch kann kein noch so salomonisches Urteil aufheben. Zumindest geht das nicht ohne Gesetzestrick. Darauf warten die Pharisäer. Sie gehen schon in Stellung. Andreas Öhler FOTO: WOLFGANG KUMM Das letzte Gefecht ARCHIV Der Streit um Helmut Kohls private Akten verschärft sich: Versucht Maike Kohl-Richter, das Erbe ihres Mannes an sich zu ziehen? Oder ist sie das Opfer einer frauenfeindlichen Kampagne? oder Andrea Nahles selbstbewusst nach der Macht. Doch noch ist das nicht selbstlar, die Stiefmutter ist schuld. verständlich. Zumindest in den konservativen MiBöse, intrigant und egoistisch treibt sie ihr Unwesen in der lieus wirkt das Bild von der schwachen Märchenwelt von Aschenput- Frau neben dem Mann, den der Mantel tel, Schneewittchen und Frau Holle. Sie der Geschichte umweht, weiter. Kohlist Hexe und Nemesis in einem, sie wie- Richter bekommt das zu spüren: Des Altgelt den wohlmeinenden Vater auf gegen kanzlers Weggefährten von einst fordern seine Kinder, sie zieht das Erbe an sich. freien Aktenzugang für Historiker. Alle Sie will Geld, sie will Macht, und was sie rufen nach Transparenz, und die Presse will, bekommt sie auch. Zunächst. Erst schürt die Glut. Die böse Stiefmutter am Ende erreicht sie die Rache der Ge- wird gebraucht: Stiefmütterlich behanrechten. So ist es im deutschen Märchen, delt Kohl-Richter demnach nicht nur die und so geht es in der deutschen Wirklich- Söhne Helmut Kohls; stiefmütterlich gekeit zu, glaubt man dem Bild, das sich die he sie auch mit den Deutschen um. Denn Deutschen von den Frauen an der Seite es sei ja deren gutes Recht, in Kohls Arder Mächtigen machen. Prominentes Bei- chiv zu lesen und zu stöbern. Wer spiel: Maike Kohl-Richter. Die Frau, die dem schwer kranken Helmut Kohl das Jawort gab, damals, 2008, in der Kapelle der Reha-Klinik in Heidelberg, weiß, was sie erwartet. Sie will bei ihrem Mann bleiben, bis zum Ende. Maike Kohl-Richter wird die Letzte sein. Von Hans-Joachim Neubauer K Nietzsches Werk, aktiv daran, den Philosophen zu einer restaurativen Kultfigur des 20. Jahrhunderts aufzubauen. Seither werden die Frauen und Witwen der „großen Männer“ grundsätzlich verdächtigt, das historische Erbe zu manipulieren, eine Logik, die nur in einer patriarchalen Gesellschaft denkbar ist. Wer also darf darüber entscheiden, wer wann zu welchen Quellen Zugang hat? In der Zeitgeschichtsschreibung steht die politische Aktualität der wissenschaftlichen Quellenerschließung oft im Wege. Darüber muss gesprochen und gestritten werden. Ein Politiker, der versucht, sein Bild für alle Zeiten festzuschreiben, wird scheitern; spätere Historiker werden sein Bild neu zeichnen. Dabei werden sie auch um ihre gemeine Intrige zu spinnen. Demnach setzte Willys Witwe dazu dasselbe Mittel ein, das auch Cosima Wagner und Elisabeth Förster-Nietzsche virtuos nutzten: den Nachlass. In patriarchalen Zeiten ist der Nachlass eben die Waffe der Prominentenwitwe; im Nachlass berühren sich die private und die öffentliche Person des berühmten Urhebers. Was von dessen Erbe, posthum oder zu Lebzeiten, nun der Allgemeinheit gehört und was der Gattin oder Erbin des großen Mannes, darüber gibt es nicht nur bei Politikern Streit. Helene Weigel brachte die Theater zur Weißglut, indem sie verfügte, welche Bühnen Stücke des verstorbenen Bertolt Brecht aufführen durften – und welche nicht. Die literarische Welt ist an solche Zwistigkeiten gewöhnt, seit je fürchten Archivare und Verleger die Figur der streitbaren Witwe. auf die Rolle der Maike Kohl-Richter zu sprechen kommen, die mit Verve für ihren Mann kämpft. „Ich bin nicht in der Lage, den historischen Nachlass meines Mannes alleine zu verwalten. Das wäre eine absurde Vorstellung“, sagte sie kürzlich der „Welt am Sonntag“. In den Geschichtsbüchern von morgen könnte sie als die Letzte ihrer Art erscheinen. Die Kritik an ihr lässt ein erstaunliches Maß an Misogynie erkennen. Schon im Fall der Brigitte Seebacher-Brandt, an den jetzt immer wieder erinnert wird, mutmaßte die Nation, die junge Frau habe den alten Altkanzler einer Gehirnwäsche unterzogen. Das Grundmuster: Wie bei Aschenputtel erobert die böse Stiefmutter Herz und Hirn des schwachen Vaters, Nachrichten in kleiner Münze Das Seltsame am Fall Maike Kohl-Richter ist nur: Nichts weist darauf hin, dass sie unkor- Kollekte der Woche E s gibt wenige Themen, bei denen sich Moraltheologen, Kirchen und christliche Politiker durch die Bank einig sind. Die Ablehnung des organisierten, assistierten Suizids, etwa mit einem tödlichen Medikamentencocktail, ist eines dieser Konsensthemen. Doch nun schert ausgerechnet eine Nonne aus dem Schweizer Wallis aus. „Ich unterstütze alle Personen“, schrieb die 75-jährige Ursulinen-Schwester Marie-Rose Genoud in einem Leserbrief, „die nach reiflicher Überlegung und mit klarem Verstand als letzten Ausweg eine tödliche Dosis nehmen.“ Marie-Rose Genoud ist keine Unbekannte in der Schweiz. Im Jahr 2009 erhielt sie für ihr Engagement für Asylbewerber den Prix Courage verliehen. Sie ist es gewohnt, sich mit der Obrigkeit anzulegen, nun also auch mit ihrer eigenen, der katholischen Kirche. Die reagiert bislang noch schweizerisch verhalten. Zwar stellte der Walliser Bischof Norbert Brunner fest, dass die Lehre der Kirche in diesem Punkt feststehe. Jedoch interessiere ihn sehr wohl, „aus welcher Motivation hinaus die Ordensfrau sich zu diesem heiklen Thema öffentlich geäußert hat“. Auch die Schweizer Bischofskonferenz sieht bei dem Thema einen für deutsche Katholiken doch recht überraschenden, weil so gar nicht grundsätzlichen Klärungsbedarf: „Es ist eine neue Haltung in der Schweizer Kirche.“ Sie zeige, dass „eine Debatte darüber auch innerhalb der Kirche notwendig ist“. In der Schweiz sind die Vereine Dignitas und Exit beheimatet, die ihren Mitgliedern auf Anfrage Beratung, Begleitung und Beihilfe zum Suizid anbieten. A uf deutschen Friedhöfen gibt es zwei Kategorien von Holocaust-Überlebenden – diejenigen, die vor dem 31. März 1952 verstorben sind, und jene, die etwas länger überlebten. Ersteren sichert die Bundesrepublik ein „Ehrengrab“ zu: Die Verstorbenen erhalten auf dem Friedhof ewiges Ruherecht, die Angehörigen müssen für die Grabpflege also nicht aufkommen. Wer dagegen das Pech hatte, nach dem Stichtag zu versterben, wird auf deutschen Friedhöfen als ganz normaler Toter behandelt, das heißt, das Grab wird nach einigen Jahrzehnten geräumt, falls die Angehörigen nicht für die Verlängerung der Ruhefrist aufkommen. Eine Ausnahme bilden bislang nur die jüdischen Friedhöfe. Dagegen hat nun der Zentralrat der Sinti und Roma protestiert. Viele Angehörige von im Holocaust ermordeten Sinti und Roma hätten nicht die finanziellen Möglichkeiten, um die ewige Grabruhe zu sichern, so der Verband. Gleichzeitig seien die Gräber – in Ermangelung offizieller Gedenkstätten für die im Dritten Reich als „Zigeuner“ ermordeten Sinti und Roma – für die Angehörigen Orte der kollektiven Erinnerung. Um die Grabstätten dennoch zu schützen, schlägt der Zentralrat vor, die Gräber doch bundesweit unter Denkmalschutz zu stellen oder sie in Ehren- beziehungsweise Dauergräber umzuwandeln. Obwohl einzelne Gemeinden in Deutschland dies bereits so handhaben, fehlt bislang eine einheitliche Regelung auf Bundesebene. 3500 Gräber seien nach Angaben des Zentralverbands deutschlandweit betroffen. Raoul Löbbert FOTO: WOLFGANG KUMM/DPA/PICTURE ALLIANCE Das ist gut, doch die Frau des Altkanzlers wird kritisiert statt geachtet. Denn sie tut nicht, was sie soll. Sie ist die „Frau an seiner Seite“, und da soll auch ihr Platz sein: im Schatten des großen Mannes. Aber statt sich mit dieser Rolle zufriedenzugeben und den historischen Masterplan anderen zu überlassen, etwa den Männern in ihrer Partei, kämpft sie. Hartnäckig verteidigt sie 400 Aktenordner im Oggersheimer Keller, Kohls Handarchiv, die Basis für den geplanten vierten Band seiner Erinnerungen. Je stärker ihr Engagement, desto heftiger ist der Widerstand, der ihr entgegenschlägt. Sie gilt als eine Cosima Wagner von heute, als anmaßende Wächterin des historischen Schatzes. Sie soll sich bescheiden, sagen ihre Kritiker, schließlich wollen auch andere mitmalen am Bild in den Geschichtsbüchern. Maike Kohl-Richter könnte eine der Letzten sein, die zu spüren bekommen, was es heißt, als „Frau an seiner Seite“ behandelt zu werden. Die patriarchale Epoche geht zu Ende. Heute greifen Frauen wie Angela Merkel, Ursula von der Leyen schreibt die Geschichte der Männer, die Geschichte schrieben? Der Konflikt ist alt: Wenn die großen Männer abtreten oder sterben, schlägt die Stunde ihrer Frauen. Im 19. Jahrhundert erlebte die Figur der dominanten „Frau an seiner Seite“ eine erste Konjunktur: Cosima Wagner wurde eine der bekanntesten Witwen der Kulturgeschichte. Nach Richard Wagners Tod verstand sie sich als Gralshüterin seines Erbes. Bis ins Letzte hinein bestimmte sie die Wirkungsgeschichte des Komponisten. Ähnlich autoritär und selbstbewusst ging Elisabeth Förster-Nietzsche mit dem Erbe ihres Bruders Friedrich um. Sie verwaltete nicht nur seinen Nachlass, sondern arbeitete, auch durch massive Eingriffe in rekt mit den Akten ihres Mannes umgehen wird. Anscheinend überlegen die Kohls, die Dokumente einer Stiftung zu übereignen; so gesehen ist also alles im Lot. Letztlich geht es um etwas anderes, nämlich um den Versuch, am patriarchalen Weltbild festzuhalten. Deshalb wird so eifrig am Zerrbild der bösen Stiefmutter gemalt: Jung und schön, wie sie ist, verhext sie den Alten und nimmt, was sie kriegen kann. Hinter dieser unzeitgemäßen Debatte zeigt sich die Sehnsucht der Deutschen – zumindest der Christdemokraten – nach Frieden mit Helmut Kohl. Denn solange der große alte Mann als Opfer einer jungen Hexe erscheint, lassen sich die alten Streitereien mit ihm unter der Schminke allgemeinen Mitleids verbergen. Zum Bild der jungen Bösen gehört die Figur des greisen Patriarchen. Doch deren Tage sind gezählt. Pech für die Misogynen: Auch die Klischees sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Heute haben eben auch Frauen Macht, und irgendwann wird man um ihr Erbe streiten. Dann wird er zur Stelle sein, „der Mann an ihrer Seite“. Und sicher wird er kämpfen. C&W 2 GLAUBE C H R I S T & W E L T | 29/2014 CHRIST UND WELT Gefühlskinokompetenz EDITORIAL Hochzeit, Taufe, Konfirmation: Kirchliche Feiern müssen magische Momente liefern „Wir wünschen uns das ,Ave können sich Pfarrer über Maria‘ von Helene Fischer“, die positiven Erwartungen sagt die Braut dem Kirchennicht. Viele winken eher remusiker ein paar Wochen vor signiert als seelsorgerisch amder Hochzeit. Auf Schlagerbitioniert jeden Punkt auf göttinnen werden Organisten der Wedding-Planner-Liste im Studium nicht vorbereidurch. Andere straffen Befftet, deshalb ist Youtube ein chen oder Römerkragen und wichtiges kirchenmusikaverbannen Popmusiker samt lisches Instrument geworden. Kameraleuten aus ihrem HoDie Recherche ergibt: Das Klappt alles, heitsbereich. Der Gottes„Ave Maria“ von Helene Fidienst sei doch kein Kundenscher ist das von Franz Schu- weinen alle. dienst, der Altarraum kein bert, das mit der Jungfrau Der Fotograf Service-Point!, zürnen sie. und den Sorgen also. Das Nicht nur bei HochzeiPaar aber möchte den neuen zoomt die ten, auch bei Taufen, KonfirText, den ohne Jungfrau, da- Tränen der mationen und Erstkomfür mit Nächten voll Einsam- Braut heran. munionen prallen Eventkeit und dem moraltheoloDramaturgie und Liturgie gisch diskutablen Wunsch: unsanft aufeinander. Wir ha„Schließ heut Nacht nicht deine Türe/ ben uns in dieser Ausgabe ein Plaund öffne heut dein Herz ganz weit.“ nungsdetail vorgenommen, das noch Mit 1 597 326 Klicks hat Helene Fischer leidenschaftlicher diskutiert wird als den seligen Schubert-Allmächtigen die Musikauswahl: Fotografieren im Dietrich Fischer-Dieskau übertrumpft. Festgottesdienst – soll das erlaubt Wenn alles klappt, öffnet die Fest- sein? Unser Autor Kristian Fechtner gemeinde ihr Herz ganz weit und sagt aus theologischen Gründen Nein; weint. Der Fotograf zoomt die Tränen sein Kollege Heinzpeter Hempelmann der Braut heran. Den magischen Mo- gibt aus theologischen Gründen das ment gibt es später im Netz. Vielleicht Jawort. Schön zu sehen: Ob und wann wird die Szene so berühmt wie das Vi- in einer Kirche tatsächlich auf den deo des Halleluja-singenden irischen Auslöser gedrückt wird, hängt weder Priesters. von der Konfession noch von Rom ab, Eigentlich müssten die Kirchen eher schon von der Diskretion des Fodankbar sein, wenn Brautpaare ihnen tografen. Unsere Recherchen haben Gefühlskinokompetenz zutrauen. Wer eine Foto-Ökumene ans Licht gemöchte nicht lieber auf seine Schön- bracht. Um es mit Helene Fischer zu heit reduziert werden als auf sein Skan- sagen: „Aus fremden Menschen werdalpotenzial? Sentiment ist besser als den Freunde, und große Sorgen werRessentiment. Doch so richtig freuen den klein.“ Christiane Florin Pfarrbüro: In diesem Haus wurde Christof Schorling umgebracht. Ein Pfarrer stirbt öffentlich TRAUER Christof Schorling, der führende Geistliche der Lutheraner in Baden, ist umgebracht worden. Noch vor Kurzem hat er seine eigene Beisetzung vorbereitet. In der Erinnerung sucht die Gemeinde Trost Exorzismus e. V. lii gaudium“ kommt der Teufel nur einmal vor. Und das auch nur als Kompositum. „Teufelskreis“, das klingt schon fast so harmlos wie Stuhlkreis. Papst Franziskus hat dazugelernt. Anfangs sprach er noch häufig vom Teufel. Dann hatte ein Fernsehsender auch noch gemeint, Franziskus habe höchstselbst einen Exorzismus auf dem Petersplatz vollzogen. Das wurde dementiert. Inzwischen weiß der Papst, dass die meisten Mitteleuropäer noch weniger als an Gott an den Teufel glauben. Mehr noch: Bisweilen wird die Erwähnung des Teufels schon als gotteslästerlich angesehen. Kann es das personifizierte Böse geben, wenn es doch den allmächtigen Gott als Personifizierung des Guten gibt? Das Böse kommt im wunderbaren Schreiben das Papstes zigfach vor. Dagegen zu streiten ist des Glaubenden Auftrag. „Der christliche Sieg ist immer ein Kreuz, doch ein Kreuz, das zugleich ein Siegesbanner ist, das man mit einer kämpferischen Sanftmut gegen die Angriffe des Bösen trägt“, schreibt Franziskus. Die Papstworte klingen fast wie eine Teufelsaustreibung. Der Glaube also doch ein gelebter Exorzismus? Der Große Exorzismus von 1999 – festgelegt im „Rituale Romanum“ – besteht größtenteils aus der Lesung der Evangelien. Das kann so schlimm nicht sein. Die kleine Variante gibt’s bei jeder Taufe, wenn „dem Bösen widersagt“ wird. Franziskus mutet seinen Freunden viel zu. Aber vielleicht lässt sich auch von den falschen Freunden etwas lernen. Mit Freunden ist das nicht wie in der Ehe. Man kann kaum Exklusivität beanspruchen. Und doch wohnt jeder engen Freundschaft eine gewisse Sehnsucht nach Einmaligkeit inne. Argwöhnisch werden die Freunde der Freunde betrachtet. Wenn der Papst nun die Internationale Vereinigung der Exorzisten anerkennt, ist es verständlich, dass Franziskus-Freunde aufschrecken. Gilt etwa seine Zuneigung auch den Teufelsaustreibern? Lässt sich etwa der Papst aus Argentinien auf ein vorkonziliares, ans Okkulte grenzendes Niveau herab? Geht seine Liebe zu den Rändern so weit, dass er solche abstrusen und verwelkenden Blüten an den Außenmauern des Katholischen gedeihen lässt? So reden die Franziskus-Freunde. In Rom tagen gerade die Exorzisten, bilden sich fort, ringen um ihren Ruf. Sie geben sich freundlich. Meistens müssten die vermeintlich „Besessenen“ zum Psychiater, nicht zu ihnen, räumen die Fachleute fürs KatholischDüstere ein. Aber es gebe natürlich auch „echte“ Fälle. Die vatikanische Anerkennung ist eine sehr schwache Würdigung ihrer Arbeit. Sie dürfen nicht „im Namen der Kirche“ sprechen. Sie sind ein privater Verein, der als solcher nun etwas kirchliche Aufmerksamkeit erfährt. Vom Papst selbst hat man dazu nichts gehört. Dennoch erregen die Teufelsaustreiber die Beachtung der Öffentlichkeit. 250 Exorzisten gebe es weltweit, der Bedarf steige, heißt es. In Italien werden laufend neue ausgebil- Unter dem Titel „Franz & Friends“ blickt det. Im päpstlichen Schreiben „Evange- Christ & Welt in den Vatikan. IMPRESSUM Redaktion: Dr. Christiane Florin (V.i.S.d.P.) Anschrift Redaktion: dreipunktdrei mediengesellschaft mbH Heinrich-Brüning-Straße 9, 53113 Bonn; Geschäftsführer: Theo Mönch-Tegeder Amtsgericht Bonn HRB 18302 Telefon: (0228) 26000-128 Fax: (0228) 26000-7006 E-Mail: [email protected] Internet: www.christundwelt.de Anschrift Verlag: Verlag Rheinischer Merkur GmbH i.L. Speersort 1, 20095 Hamburg Liquidatorin: Ulrike Teschke; Amtsgericht Bonn HRB 5299 Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH, 64546 Mörfelden-Walldorf Abonnement Deutschland: Jahresabonnement € 234,00; für Studenten € 153,40 Abonnementbestellung für die Sonderausgabe der ZEIT mit Christ & Welt: Leser-Service, 20080 Hamburg Telefon: (040) 42 23 70 70 Fax: (040) 42 23 70 90 oder E-Mail: [email protected] brechens, dann öffnet sich nicht nur für die Familie ein schwarzes Loch, sonie Staffelei des Bestatters dern für viel mehr Menschen. Selbst steht noch vor dem Altar. diejenigen, die nicht mehr jeden SonnPfarrer Christof Schorling tag in die Kirche gehen, wissen, wo ihr lächelt dort von einem Foto Pfarrer lebt und wer er ist. Schorling kannte den mutmaßlichen in die Erlöserkirche in Freiburg. Die Aufnahme zeigt einen Mann Mitte 50. Täter, einen 30-jährigen Mann, wohl Freundliche Augen, über den Schultern seit zwei Jahren. Sie trafen sich erstmals der Albe eine rote Stola. Die Kirche ist bei der goldenen Hochzeit der Großelleer. Der Leichenwagen mit dem Sarg tern des Verdächtigen. So erzählen Kirist schon auf dem Weg zum städti- chenmitglieder. Die Polizei berichtet, schen Hauptfriedhof. Christof Schor- dass der mutmaßliche Täter psychisch ling ist eines gewaltsamen Todes ge- krank sei. Mehrere Male sei er in einer storben. Er wurde an einem Dienstag Klinik behandelt worden. Schorling soll erstochen. Jetzt ist die Trauerfeier für vor ihm gewarnt haben. Seiner Kollegin hatte er geraten, den Mann nicht ihn zu Ende. Die evangelisch-lutherische Gemein- ins Haus zu lassen. Er sei gefährlich. de in Freiburg ist eine Gemeinschaft, deren Mitglieder zerstreut leben. Sie Wie kam er trotzdem ins Büro des Pfarzählt rund 650 Mitglieder, von denen rers? Das ist eine der offenen Fragen dieeinige bis zu 50 Kilometer Weg auf sich ses 24. Juni. An diesem Tag soll der nehmen, um gemeinsam den Gottes- mutmaßliche Täter mehrere Stunden dienst in Freiburg zu feiern. Oder wie vor dem Eisenzaun herumgelungert an diesem Samstag, um zu trauern. haben. Er sei von religiösen WahnvorBierbänke stehen in Reih und Glied stellungen befallen gewesen, erzählen draußen vor der Kirchentür. Das Got- mehrere Gemeindemitglieder. Die Poteshaus konnte den Andrang nicht fas- lizei will das nicht bestätigen. Mehrfach sen. Regen ist angekündigt. Ein kleiner will der Mann an diesem Tag in das Pavillon vor der Kirche soll Schutz bie- Haus, um dort mit Christof Schorling ten. Für Männer, Frauen, Kinder, die ei- zu sprechen. Als der Pfarrer dem mutnander umarmen und sich fragen, wa- maßlichen Täter gegen 19.30 Uhr die rum ihr Pfarrer sterben musste. Trauer Türe öffnet, sitzt eine Mitarbeiterin im lässt sich nicht organisieren, der Raum Raum nebenan. Sie hört kurz darauf dafür schon. laute Stimmen, einen Schrei. Auch das Schorling war beliebt. Im Land war erzählen sich die Gemeindemitglieder. er als einer der Radiopfarrer des Süd- Die Mitarbeiterin öffnet die Tür, sieht westrundfunks bekannt. „Ich bin gerne Schorling am Boden liegen. Zu diesem Pfarrer. Die Botschaft ist einmalig, der Zeitpunkt soll der mutmaßliche Täter Beruf vielseitig“, schrieb er über sich bereits mit einem Küchenmesser zugeauf den Seiten des SWR. In der Evan- stochen haben. Für den Pfarrer kommt gelisch-Lutherischen Kirche in Baden jede Hilfe zu spät. war er Superintendent, der Bischof für Der 30-Jährige flieht in ein Wald3000 Menschen. Verwurzelt in seiner gebiet oberhalb Freiburgs. Dort wird er Gemeinde. Seit dem Jahr 2000 arbeitete eine halbe Stunde später von der Polier dort, in Herdern – diesem Freibur- zei gefasst. Die Staatsanwaltschaft erger Stadtteil, der im eh schon idyl- mittelt wegen Totschlags und beanlischen Freiburg ein Stück heile Welt tragt die Unterbringung in einer psychiverheißt. Händel-, Haydn-, Schumann- atrischen Klinik. Der Haftrichter und Brahmsstraße. Mächtige Platanen stimmt dem Antrag am Tag nach der spenden Schatten. Fahrräder mit Kin- Tat zu. deranhängern rollen an Altbauvillen Schorling hinterlässt seine Ehefrau, vorbei. Das bürgerlich-grüne Freiburg drei erwachsene Kinder und ein Enkelist hier daheim. kind. Und zurück bleibt eine GemeinKurz bevor die Stadt- auf die Mo- de, die aus ihrem Alltag herausgerissen zartstraße trifft, steht eines dieser herr- ist. Bald sollte das Sommerfest gefeiert schaftlichen Häuser. Nummer 22. Den werden mit gemeinsamem Grillen. Ein Eisenzaun davor hat Efeu in Besitz ge- Gesangstag und Gottesdienste waren nommen. Neben dem Eingangstor sagt geplant. Die Normalität, die sich in den ein Schild: Hier hat die evangelisch-lu- Ankündigungen des jüngsten Gemeintherische Gemeinde ihren Sitz. Hier ist debriefs spiegelt, ist zerstört. Schorling getötet worden. Als SeelsorWie kann eine Kirche auf so eine ger in seinem Arbeitszimmer. Katastrophe reagieren? Zumal wenn es Ein Pfarrer stirbt öffentlich. Wird eine kleine selbstständige Kirche ist wie ein Geistlicher Opfer eines Gewaltver- die evangelisch-lutherische Kirche? Sie Von Patrick Grießer D FOTOS: PATRICK SEEGER/DPA/PICTURE ALLI ANCE, STEFANO SPAZIANI/PICTURE ALLIANCE Von Volker Resing nimmt sich neben der badischen Landeskirche mit ihren 1,2 Millionen Mitgliedern vergleichsweise winzig aus. Doch ihr scheint gerade ihre Überschaubarkeit zu helfen, die ersten Schritte in der Trauer gemeinsam zu gehen. Die Pflicht, sich zu organisieren, wird zur Therapie. Gottesdienst und Gesangstag finden statt – nur unter ganz anderem Vorzeichen. Zwei Tage nach der Tat treffen sich Gemeindemitglieder in Freiburg zu einer ersten Andacht. Deutschland spielt gerade bei der Fußballweltmeisterschaft gegen die USA. Die Fußballfans in den Kneipen jubeln. In der Erlöserkirche schweigen und beten die Menschen miteinander – und sie erinnern sich. Spontan, mittels einer Telefonkette und per E-Mail, haben sich die Mitglieder über das Treffen gegenseitig informiert. Der stellvertretende Superintendent, der Karlsruher Pfarrer Christian Bereuther, spricht der Gemeinde Trost zu. In jeder der sieben Gemeinden der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Baden hat es seither eine solche Andacht gegeben. In dieser Kirche ist nur Mitglied, wer hier hineingeboren wird oder wer sich bewusst dafür entscheidet. Das bindet und motiviert. Auf diese Weise erklärt ein Kirchenvorstand, warum sich die Gemeinde und die Kirche auch in der Ausnahmesituation so schnell organisieren konnten. Einerseits. Und andererseits müsse man ja auch merken, dass Christof Schorling die Gemeinde nun schon 14 Jahre geleitet habe. Sein Weg sei es gewesen, die Kirchenmitglieder in die Verantwortung zu nehmen. Bei sich selbst hat Christof Schorling das auch getan. Zum Beispiel, als er im Februar seine eigene Trauerfeier vorbereitet hat. Während der Feier am Samstagmittag erzählt Pfarrer Andreas Schwarz der Gemeinde fast beiläufig davon. Er weiß jedoch um das Gewicht dieser Worte. Schwarz stammt aus Pforzheim, wo auch Schorling 14 Jahre als Pfarrer gearbeitet hat. Der Pforzheimer Posaunenchor ist ebenfalls nach Freiburg angereist. Später, zur Beisetzung, wird er „Christ ist erstanden“ schmettern, eine Choral-Fantasie der Komponistin Frieda Fronmüller. Mit einer Wucht, die die Klänge über die Friedhofsmauern hinausträgt. „Das war sein Lieblingslied. Kein Witz. Wir sollten das so spielen, dass der Sargdeckel aufspringt“, sagt ein Musiker anschließend. Das habe der Tote so gewollt. Die Trauerfeier und die Beisetzung sind womöglich das geistliche Testa- ment dieses Pfarrers. Ihm lag die Ökumene am Herzen. Das zeigt die Reihe seiner Trauerredner: In der Erlöserkirche sprechen der badische Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh und der Bischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland, Hans-Jörg Voigt, aber auch der katholische Stadtdekan Wolfgang Gaber. Voigt erzählt von der menschenfreundlichen Liebe Christof Schorlings. Jeder Trauerredner lobt diesen Pfarrer für seine Nähe zu den Menschen. Eine Nähe, die den Pfarrer das Leben gekostet habe. In seiner Predigt beschreibt Andreas Schwarz seinen Superintendenten als einen Menschen, der nicht polarisieren wollte, sondern verbinden. Er hatte „immer ein Ohr für Kranke, Schwache, Gestörte, Gefährliche“ und öffnete ihnen die Türen. Die Worte hallen in der kleinen Kirche nach. Schwarz erzählt noch die Episode, als Schorling als Student einmal einem Bett- ler 200 Mark lieh. Der Geistliche habe tatsächlich gedacht, er bekomme das Geld zurück. Doch er habe den Bettler nie wieder gesehen. Auch soll er einmal einem Drogenabhängigen geholfen haben, dessen Motorrad abzutransportieren. Der VW-Bus der Familie kam dabei zum Einsatz. Man ahnt es schon zu Beginn der Episode: Das Motorrad gehörte dem Drogenabhängigen gar nicht, wie sich am Tag darauf herausstellte. Selbst die Trauergäste müssen lachen. Ein Lachen, das die Macht des Schreckens eindämmen will. Wenigstens für eine Weile. Der Freiburger Sozialbürgermeister Ulrich von Kirchbach sagt der Trauergemeinde in der Erlöserkirche: „Durch diese Tat ist das Leben in der ganzen Stadt erschüttert worden.“ Die Stimme versagt ihm immer wieder. Die Familie hat Trost in der Bibel gesucht. Die Gemeinde auch. Eine Lektorin liest Sätze aus dem Römerbrief. Sie standen auch in der Todesanzeige: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Der Satz war auch der Trauspruch von Christof Schorling und seiner Frau. Er hatte sich gewünscht, dass diese Worte auch in der Trauer um ihn nachklingen. GROSSAUFNAHME C&W 3 C H R I S T & W E L T | 29/2014 Weg mit den Kameras! FAMILIENALBUM Kaum ist das Jawort in der Kirche gesprochen, klicken die Auslöser. Von Kristian Fechtner G zu Darstellern ihrer selbst. Und die versammelte Gemeinde wird gleichsam zum Publikum der Hauptdarsteller. Die Kamera nötigt dazu, sich selbst zu inszenieren: Wie dankbar will ich als Taufvater dreinblicken, wie erwachsen als Konfirmandin ausschauen? Und wenn ich als Braut mein Trauversprechen gebe, will ich nicht zu erkennen geben, ob meinem Ja auch andere Empfindungen beigemischt sind. Der Blick der Kamera ist unerbittlich, denn er befiehlt: Zeige, wer du bist, oder genauer, wer du sein willst. Und der Blick der Kamera ist ungnädig, denn er droht: Und ich werde dir zeigen, wer du bist! Im Segen jedoch, so glauben Christinnen und Christen, ruht ein anderer, nämlich der barmherzige Blick Gottes auf denen, die gesegnet werden. Drittens schließlich reduziert das Fotografieren das Geschehen im Gottesdienst auf das, was sichtbar ist. All das, was nicht bildhaft dokumentiert werden kann, wird durch das Foto unsichtbar und damit ungeschehen gemacht: die spürbare Energie einer Fürbitte, die leiblich spürbare Präsenz der anderen in der Gemeinde hinter mir, die Spannung, wenn ein Kind zur Taufe gehoben wird. Es gibt gewichtige Gründe, gegen das Fotografieren im Gottesdienst anzutreten. Allerdings reicht es nicht, es liturgisch besser zu wissen als die Beteiligten. Dass das Anliegen vehement vorgebracht und beharrlich an ihm festgehalten wird, zeugt davon, dass die Fotos für die Beteiligten bedeutsam sind. Inwiefern? Fotografieren bedeutet, ein Erlebnis zu einer realen Erfahrung zu machen. Fotos verbürgen, dass etwas tatsächlich stattgefunden hat, wirklich geworden ist. Als gebe es eine heimliche Angst mancher Brautpaare, es sei alles leich passiert es. Die Braut nestelt ihr Kleid zurecht und prüft, ob der Gesichtsausdruck stimmt. Der Bräutigam nimmt Haltung an und streicht beiläufig noch einmal das Haar zur Seite. Es gilt, den Trausegen zu empfangen vor dem Altar. Und dieser Augenblick soll vom Onkel der Braut fotografisch festgehalten werden. So ist es ausgemacht. Kaum ein Traugespräch kommt heute um den Punkt herum, zu klären, wie es denn mit dem Fotografieren im Gottesdienst bestellt ist. Dies gilt ähnlich auch für Taufen und Konfirmationen. Dabei hat der Fotoapparat angesichts von Youtube-Filmchen und Selfies heute schon fast etwas Gediegenes. Als modernes Medium gehört er zum Familienfest dazu, denn durch ihn werden die Ereignisse und Lebensabschnitte ins Bild gesetzt, die eine Familie prägen. Die Fotos zeigen, wer dazu und wer zu wem gehört; nicht selten sind sie aussagereiche Soziogramme. Vor der Kirche stellt man sich zum Foto auf. Längst hat aber die fotografische Praxis in vielen Gemeinden Einzug in den Gottesdienst selbst gehalten. Nicht mehr das Ob, sondern mehr und mehr nur das Wie steht zur Debatte und wird pragmatisch ausgehandelt: Möglichst ohne die Sicht zu versperren und dezent sollen die Einsegnung der Konfirmanden oder der Taufakt abgelichtet werden. Im Blick auf das, was einen Gottesdienst ausmacht, handelt es sich beim Fotografieren allerdings um weit mehr als nur um technisches Beiwerk. Es berührt vielmehr den Charakter dessen, was Menschen im Gottesdienst erleben und erfahren. Erstens schafft der Blick durch die Kamera einen Status des Beobachters. Hier ist die männliche grammatikalische Form angemessen, es handelt sich fast durchweg um Kamera-Männer. Mit einer solchen Beobachter- und Betrachterrolle wird – gegenläufig zur gemeinschaftlichen Teilnahme – Distanz geschaffen. Der Blick durch die Kamera verwandelt das gottesdienstliche Geschehen in ein Bild-Objekt. Zweitens verwandelt sich zugleich der Status derjenigen, die fotografiert werden. Kristian Fechtner lehrt Praktische Theologie Das Brautpaar, die Pfarrerin, der Konfir- an der Universität Mainz. „Kirche von Fall zu mand oder die Taufeltern werden allesamt Fall“ heißt sein Buch zum Thema. nur Einbildung gewesen, wenn man davon kein Bild hätte. Zugleich ist das Foto vor dem Altar die Möglichkeit, den Segen und Zuspruch erkennbar und sich selbst wiedererkennend auf die eigene Person zu beziehen. Für die anderen mögen solche Fotos wie standardisiert erscheinen. Die Beteiligten hingegen nehmen sich selbst als Abgebildete im Bild unverwechselbar wahr: Dieses Versprechen, dieser Segen gilt mir. Und vielleicht das Wichtigste: Die Fotos der kirchlichen Trauung fungieren als Unterpfand. Sie sind für die Erinnerung Bürgen eines guten Anfangs. Sie zur Hand nehmen zu können ist die Möglichkeit, sich zu vergewissern, auch und gerade in schwierigen Zeiten: Unsere Geschichte hat einen verheißungsvollen Ursprung. Ein solches Bild zu betrachten und mit anderen nachzuerzählen aktiviert die guten Kräfte meiner Lebensgeschichte. Spätestens hier aber wird deutlich: Das Foto verspricht, was es selbst nicht einzulösen vermag. Es ist und es bleibt eben eine Abbildung von etwas anderem. Das wissen auch die Betrachter, die sich mit ihm erinnern. Und doch bleibt es bedeutsam und wird sorgsam aufbewahrt. Und was macht ein Pfarrer, wenn er wieder mit dem Wunsch konfrontiert wird, der Onkel solle die entscheidenden Augenblicke fotografieren? Will er gottesdienstlich kundiger Spielverderber sein oder lebensweltlich sensibler Erfüllungsgehilfe? Er wird, das ist meine Vorstellung, den Konflikt im Gespräch vorab als Chance aufnehmen, mit den Beteiligten herauszubringen, welche Bedeutung und welchen Sinn das gottesdienstliche Geschehen hat. Er wird dabei deutlich machen, dass in diesem Gottesdienst nicht fotografiert werden soll und warum dies gut so ist. Auf dass die Beteiligten dem auf die Spur kommen, was sie selbst Bedeutsames mit ihrer Trauung – oder der Taufe und Konfirmation ihrer Kinder – verbinden. „Aber dann hätte ich ja gar kein Bild von meiner Trauung“, entsetzt sich eine junge Frau. „Doch“, erwidert die Pfarrerin, „ein Herzensbild.“ Solche Gespräche werden beileibe nicht immer gelingen. Was, wenn die Überlegungen gar keine Resonanz finden? Dann ist es gut zu wissen, dass die Frage, ob fotografiert wird oder nicht, wichtig ist, aber nicht entscheidend. FOTOS: F1 ONLINE; BONNER MÜNSTER; FREDERIKA HOFFMANN; PRIVAT (2) Stört das, oder gehört Fotografieren zur Feier? An der Frage scheiden sich die Geister. Unser Autor meint: Der Blick durch den Sucher hat im Gottesdienst nichts verloren So sieht die Wirklichkeit aus Pfarrer haben gut reden Dankbar fürs Digitale Dezent dabei Grundsätzlich bin ich dafür, dass das Fotografieren diskret geschieht; also nicht zur Hauptsache wird. Die Handlung darf nicht zur Inszenierung für die Kamera „verkommen“. Im Bonner Münster gilt bei der Hochzeit: Ein- und Auszug des Paares dürfen fotografiert werden; ebenso die eigentliche Trauungshandlung; wobei der Fotograf darauf achten muss, dass er nicht zwischen Brautpaar und Priester steht. Bei Taufen gilt ebenfalls die Regelung: Bei den einzelnen Riten darf fotografiert werden, beim Wortgottesdienst, der Predigt und dem Taufbekenntnis nicht. Da stört das Fotografieren die Sammlung der Beteiligten. Als ich noch in einer kleineren Pfarrei war, hatte ich bei der Erstkommunionfeier immer einen Fotografen für alle. Aber im Zeitalter der Handy-Fotografie ist das kaum noch umzusetzen. Heute hängt sehr viel vom Gespräch mit den Beteiligten ab, damit das nicht als Verbot wahrgenommen wird. Also frage ich: Möchten Sie wirklich, dass plötzlich zehn Leute aufspringen und ihr Handy zücken? Auch Taufeltern und Brautpaare sind ja nicht nur an schönen Fotos, sondern auch an einer „ungestörten“ Feier interessiert. Fotografen, die sich nicht daran halten, werden von mir während der Feier auf die Absprache mit dem Brautpaar hingewiesen. Ich könnte aber nicht behaupten, dass früher in dieser Hinsicht alles besser war. Manchmal bin ich für die Digitalisierung dankbar: Früher spulten die Kameras den Film ziemlich lautstark zurück. Ich habe einmal erlebt, dass dieses Geräusch während des Jawortes losging. Das hat sehr gestört. Als ein neuer Film drin war, war das Versprechen vorbei. Ein solcher Moment lässt sich nicht neu aufnehmen wie eine missglückte Filmszene. Mir ist es wurscht, ob in der Kirche fotografiert werden darf. Als Bräutigam muss ich mich um so vieles kümmern, da bin ich eigentlich dankbar für jede Entscheidung, die mir abgenommen wird. Meine Freundin sieht das ähnlich: Ständig schickt sie mir Foren-Berichte, in denen traumatisierte ExBräute von ihren Unfällen auf dem Weg vom oder zum Altar berichten (mein Highlight: „Mollige Braut bricht vor Kirche durch Kutsche“). Sollte meiner Freundin in der Weinmeile ums Jawort also ein Stolperer passieren, ist sie sicher froh, wenn es nicht für die Ewigkeit festgehalten wird. Doch ums Brautpaar geht es bei einer Hochzeit eh nur am Rand. Alle meine Freunde etwa wollten es bei ihrer Hochzeit anders machen, am liebsten romantisch auf einer Berghütte. Oder allein am Südseestrand. Und dann haben sie doch mit Schwippschwager Kurt und dem Rest der Großfamilie gefeiert, weil es eben das ist, was die Familie erwartet. Die Hochzeit ist der Beweis dafür, dass der Mensch in den glücklichsten Momenten des Lebens eben doch ein Herdentier ist. Will die Familie also das Ja mit der Handykamera dokumentieren, wäre es gefährlich fürs Brautpaar, sie daran zu hindern. Das wäre, als würde man ein Rudel hungriger Wölfe zum Fasten auffordern, wenn es Blut wittert. Ein Pfarrer ist da fein raus: Seine Familie ist es ja nicht. Verbietet er den Angehörigen, zu fotografieren, hat am Ende das Brautpaar das Problem. Dann heißt es: „Was für einen Fundi haben die sich denn ausgesucht?“ In solchen Fällen wird gern umso hämischer geknipst, wenn die Braut durch die Kutsche bricht. Zum Glück haben wir keine Kutsche. Meine Freundin ist schlank, unser Priester nett und unsere Eltern, Tanten und Großeltern sind es auch. Handys sind für sie unheimliche Wesen aus einer fremden Welt. Nicht nur deshalb sind wir glücklich. Wenn Victoria von Schweden ihren Daniel heiratet oder William seine Kate, dann sind Millionen von Zuschauern weltweit öffentlich-rechtlich live dabei. Wenn sie ihre Kinder taufen, kann ich mir die Bilder davon anschließend in der Tageszeitung ansehen. Ich kann daher gut verstehen, dass Menschen sehr irritiert sind, wenn sie bei ihrer Hochzeit oder bei der Taufe ihrer Kinder nicht fotografieren dürfen. Der Adel darf’s, die Bürgerlichen nicht – als eingefleischte Demokratin sage ich schon einmal: Das geht gar nicht. Allerdings sind diese adligen Hochzeiten und Taufen perfekte Inszenierungen, und als praktische Theologin weiß ich, dass auch jeder Gottesdienst eine Inszenierung ist. Film und Foto dürfen diese Inszenierung gerne dokumentieren, sie dürfen sie jedoch nicht stören. Jetzt sind begeisterte Großväter oder engagierte Paten in der Regel keine professionellen Kameramänner oder Fotografen, sie sind auch meistens nicht in das Drehbuch des Gottesdienstes eingeweiht, und ihnen ist sogar der Drehort häufig fremd. Da ich als Pfarrerin für die Regie zuständig bin (hoffentlich mit Unterstützung des Heiligen Geistes), sehe ich es als meine Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass die Filmenden und Fotografierenden wissen, wann und wo sie das am besten tun können und wann nicht. Das gibt den Menschen ein sicheres Gefühl und weist ihnen einen Spielraum zu. Pannen wird es trotzdem geben, das ist menschlich. Meine Erfahrung ist: Mit einem Schuss Humor lässt es sich regeln. Wilfried Schumacher ist Stadt- Raoul Löbbert will nächstes Angela Rinn ist Pfarrerin in Jahr heiraten. Mainz-Gonsenheim. dechant in Bonn. Humor hilft Fotografieren und Filmen im Gottesdienst – da könnte man schrecklich grundsätzlich werden. Aber was hilft das Grundsätzliche mir als Pastor, wenn ich ganz praktisch eine Balance finden muss zwischen einer würdig-konzentrierten Feier und den Bedürfnissen der Menschen, mit denen ich es zu tun habe? Allgemeine Regeln sind sinnvoll, entlasten sie mich doch davon, jede Entscheidung stets von Neuem durchdiskutieren zu müssen. Aber möchte ich die Beziehung zu einem Brautpaar damit beginnen, dass ich ihm eine Verbotsliste überreiche? Oder will ich einen Gottesdienst mit solch einer autoritären Geste eröffnen? Wichtig ist mir, dass der Gottesdienst ohne falsche Ablenkungen gefeiert wird. Deshalb wehre ich mich dagegen, wenn Menschen diesen Ander-Ort nicht respektieren und fotografierend herumlaufen oder Täuflinge mit Blitzlichtgewittern verschrecken. Andererseits weiß ich, dass andere Menschen andere Bedürfnisse haben, zum Beispiel nach visueller Erinnerung. Da gehöre ich einfach einem anderen Milieu an. Aber es gibt eine einfache Lösung: Einer wird beauftragt, nach vorheriger Absprache dezent Bilder für alle zu machen, so können sich die anderen entspannen. Dies verbinde ich dann noch mit einem freundlich-humorvollen Hinweis darauf, dass es eine sehr schöne Erfahrung ist, wenn man ein besonderes Ereignis direkt, mit den eigenen Augen und nicht durch einen Bildschirm hindurch wahrnimmt. Das versteht eigentlich jeder. Denn der Gottesdienst ist eben auch eine einmalige Gelegenheit, aus der visuellen Dauerberieselung auszusteigen, um für sich und gemeinsam etwas ganz anderes zu erfahren. Johann Hinrich Claussen ist Hauptpastor an St. Nikolai in Hamburg und Propst für die Propstei Alster-West im Kirchenkreis Hamburg-Ost. C&W 4 GROSSAUFNAHME C H R I S T & W E L T | 29/2014 Jesus hätte fotografiert „Das ist mir zu nah!“ RANDBEMERKUNG Ein bekannter Fotograf erklärt, warum Protestanten schwieriger abzulichten sind als Katholiken SITTENBILD Die Kirchen sind Dienstleister, die Kunden wollen Events. Na und? Der Theologe Heinzpeter Hempelmann sieht in der Entwicklung eine Chance FOTOS: PRIVAT; ACK; EPD/IMAGO; DEPI Christ & Welt: Hält die Ehe besser, wenn ich mir den Moment des Jawortes immer wieder auf einem Foto angucken kann? Heinzpeter Hempelmann: Theologisch betrachtet nicht, weil es ja auf den Segen Gottes ankommt, und der ist unabhängig vom Bild. Wenn ich den menschlichen Faktor in Betracht ziehe, glaube ich, dass eine aktive Erinnerungskultur dazu beiträgt, dass ein solches Ereignis wichtig bleibt. C & W: Die Zahl der Fotos pro Hochzeit steigt, die Zahl der Ehejahre sinkt. Wie passt das zusammen? Hempelmann: Es stimmt, viele kirchliche Eheschließungen werden heute so inszeniert, als würden sie wie eine Königshochzeit im Fernsehen übertragen. Und das bei Paaren, die jahrelang vorher zusammengelebt haben. Das lässt darauf schließen, dass die Kirche für das emotionale Event zuständig ist. Ich kann das nicht nur negativ finden. Events haben in der Heiligen Schrift eine große Rolle gespielt, in Israel gab es eine ausgeprägte Festkultur. Fotografieren ist doch ein Hinweis darauf, dass die Menschen dieses Ereignis ernst nehmen. Dass Ehen trotzdem nicht so lange halten wie in der vermeintlich guten alten Zeit, hat nichts mit der Zahl der Fotos zu tun. Es gibt eben nicht mehr den sozialen Druck, eine Ehe um jeden Preis aufrechtzuerhalten. C & W: Was sind die angesagten Wünsche an kirchliche Feiern in modernen Milieus? Hempelmann: Das Allerwichtigste ist: Die Feier muss individuell sein. Unterwassertaufen im Schwimmbad sind angesagt oder Trauversprechen während eines Fallschirmsprungs. Es gibt Pfarrerinnen und Pfarrer, die auch bei so etwas mitmachen. Die Eventisierung ist aber nicht allein in den modernen Milieus zu beobachten. Auch bürgerliche und traditionelle Kirchenmitglieder betreiben einen ziemlich hohen Aufwand für die Feiern, auch finanziell. Es gibt das Gefühl, die Freunde und Bekannten übertrumpfen zu müssen. Nur ein solides Essen nach dem Gottesdienst, das reicht nicht mehr. Wir wissen aus Befragungen, dass es in prekären Milieus viele Taufaufschübe gibt. Die Eltern möchten eigentlich ihre Kinder kirchlich taufen lassen, fürchten aber die Kosten. Manche Gemeinden organisieren deshalb Tauffeste, da wird gemeinsam gefeiert. Das ist nicht so individuell, aber es gibt einem die Möglichkeit, dazuzugehören. C & W: Wo sind die meisten Konfliktpunkte bei individuell gestalteten Feiern? Hempelmann: In der Ästhetik. Das ist bei der Taufe tatsächlich die Frage: Wer darf wann wo fotografieren? Es ist kaum vermittelbar, dass überall geknipst wird, aber bei einem solchen Ereignis nun gerade nicht. Bei Hochzeiten und Beerdigungen steckt in den Musikwünschen der meiste Konfliktstoff. Wir haben bei der jüngsten Mitgliederbefragung in der evangelischen Kirche festgestellt, dass Menschen aus postmodernen Milieus gegenüber den Pfarrerinnen und Pfarrern sehr selbstbewusst auftreten. Wenn ihre Wünsche nicht erfüllt werden, sind viele zwar enttäuscht, aber sie diskutieren nicht lange, sondern suchen sich eine andere Kirche. Es gibt aber gerade in der modernen Oberschicht die Haltung: Mein Smartphone und mein iPad gehören zu mir, wenn der Pfarrer das in der Kirche ablehnt, fühle ich mich mit meiner Lebenswelt abgelehnt. Diese Leute gehen nicht in eine andere Kirche, sondern treten aus. Man kann sich auf den Standpunkt stellen: „Um solche Leute ist es nicht schade, die haben ohnehin nicht begriffen, worum es geht.“ Da würde ich entgegnen: Jesus hat sich auf sein Gegenüber eingelassen, die Pharisäer dagegen nicht. Die Kirche hat keinen Selbstzweck, sondern dient dazu, Menschen in Kontakt mit dem Evangelium zu bringen. Über allem steht der sogenannte Missionsbefehl nach Matthäus 28. Der bedeutet: Alle sind willkommen, so wie sie sind. C & W: Wenn sich der Bräutigam „Sex Bomb“ von Tom Jones wünscht, soll der Organist dieses Lied also spielen? Hempelmann: Warum nicht? Ich würde als Pfarrer ein solches Lied als Herausforderung empfinden und den Bräutigam darum bitten, diesen Wunsch zu erklären. Sexualität ist zudem nichts Unbiblisches. Das muss dann in das Ganze der Liturgie eingebunden werden und stimmig sein. C & W: Ist Gottesdienst Kundendienst? Hempelmann: Kundendienst ist überspitzt, aber die Kirche darf sich als Dienstleisterin verstehen, wenn sie ihr Hauptanliegen, das Evangelium zu verbreiten, im Auge behält. Wir sind keine obrigkeitsstaatliche Behörde, wir sind Gehilfen der Freude. Die Kirche sollte sich bei den Kasualien ein gewinnendes Gesicht geben. C & W: Hat, wer Kirchensteuer zahlt, den Anspruch, dass seine Wünsche erfüllt werden? Hempelmann: So zugespitzt würde ich es nicht sagen. Die Pfarrer sind Boten des Heinzpeter Hempelmann ist Professor für Evangelische Theologie. Einer seiner Schwerpunkte ist die milieugerechte Seelsorge. Evangeliums, diese Aufgabe sollten sie milieugerecht erfüllen. Im Blick auf die Ästhetik gibt es nicht den allein gültigen christlichen Standpunkt. C & W: Fotografieren ist alltäglich geworden. Sollte nicht gerade die Kirche der Ort des nicht Alltäglichen sein? Hempelmann: Das sollte sie zweifellos, sie macht ja auch Angebote der Stille und des Rückzugs. Aber Lebensfeste sind nicht der richtige Anlass für Kontemplation. Das würde doch jede Erwartung konterkarieren. Pfarrerinnen und Pfarrer sollen sich nicht anbiedern, aber sie sollen auch nicht ästhetische Fragen überhöhen. Sich an der Tradition festzuhalten und neue Entwicklungen aus dem Kirchenraum fernzuhalten, das garantiert nicht, dass die Botschaft verstanden wird. C & W: Darf die Kirche als Anbieter einer Dienstleistung auch Wünsche formulieren? Zum Beispiel könnte ein Pfarrer zum Brautpaar sagen: Ich gestalte die Hochzeit nach Ihren Vorstellungen, aber dafür möchte ich Sie an den nächsten zehn Sonntagen im Gottesdienst sehen. Hempelmann: Eine tolle Idee! Ich würde es nur nicht als Pflicht verpacken, sondern als Chance. Natürlich kann man sagen: Wer bei uns getauft oder getraut wird, der wird auch weiter begleitet. Die Erfahrungen mit solchen Angeboten sind sehr gut. In der Theologie spricht man von der „gestreckten Kasualie“. Das heißt, der Pfarrer belässt es nicht bei der einen punktuellen Begegnung, sondern besucht die Taufeltern oder das Brautpaar. Nach einem Jahr kann man zum Beispiel zu einem Tauferinnerungsgottesdienst einladen. C & W: Welche Rolle spielt bei kirchlichen Feiern der Respekt vor dem Heiligen? Hempelmann: „Heilig“ heißt für mich nicht, dass Gott unfähig ist, sich auf die Lebenswirklichkeit von Menschen einzulassen. Er ist selbst Mensch geworden. Heiligkeit ist die Kehrseite der Liebe Gottes zu den Menschen. Jesus hat unsere Lebensverhältnisse geteilt. Ich habe theologisch bei dieser Sicht der Dinge ein sehr gutes Gewissen. C & W: Wann hätten Sie ein schlechtes? Was wäre Anbiederung? Hempelmann: Zum Beispiel, Kinder zu taufen, wenn nicht erkennbar ist, dass die Eltern tatsächlich eine christliche Erziehung wollen. Die Auswahl der Paten ist sehr viel substanzieller als die Frage, ob fotografiert werden darf oder welche Lieder gesungen werden. C & W: Hätte Jesus bei einer Taufe fotografiert? Hempelmann: Da bin ich mir sicher. Das Gespräch führte Christiane Florin. Buchtipp: Heinzpeter Hempelmann u. a.: Handbuch Taufe. Impulse für eine milieusensible Taufpraxis. Neukirchener Theologie, Neukirchen-Vluyn 2013. 149 Seiten, 16,99 Euro. Von Maurice Weiss E s ist ein großer Unterschied, ob man einen Katholiken oder einen Protestanten fotografiert. Das lässt sich gut am Beispiel Bayerns erklären. Das ist ein geteiltes Land, in Franken etwa gibt es protestantische Gegenden wie Hof und katholische wie Bamberg. Wenn man jemanden in Hof fotografieren will, wird meist alles kontrolliert, wird aufgeräumt, geordnet, ein Schein erzeugt, da herrscht große Unsicherheit. Der Fotograf wird genutzt, um das eigene Bild von sich zu entwerfen, das Bild, das man von sich in die Welt lässt. Dem Fotografen wird die Autorenschaft abgesprochen. In Bamberg ist es ganz anders – den Leuten ist es einfach egal, wie sie abgelichtet werden. Dazwischen liegen nur ein paar Kilometer, aber das Verhalten mir als Fotografen gegenüber ist komplett anders. Unabhängig vom Geschlecht. Obwohl Frauen allgemein etwas schwieriger sind, sie machen sich meist mehr Gedanken über ihr Erscheinen; dabei geht es nicht um Schönheit, sondern um Ideale, um die Bilder, die man von sich selbst hat. Jeder Mensch hat ein Bild von sich: Dicke sehen sich oft als dünner, als sie sind, Schwache als kräftiger. Wie tolerant ist man gegenüber dem Außenbild, das vom Innenbild abweicht? Darin sind Katholiken deutlich entspannter als Protestanten, die oft nur schwer zulassen können, dass das, was ich sehe, auch abgebildet werden darf, unabhängig davon, ob diese Leute nun religiös sind oder nicht. Die Pastorentochter Angela Merkel ist dafür ein gutes Beispiel. Sie hat totale Kontrolle über das Bild. Sie weiß um die Macht des Bildes, und sie misstraut ihr. Statt dem Fotografen seinen eigenen Blick zu lassen, versucht sie, ihn zu kontrollieren. Ich war oft bei ihr im Büro, sie sitzt dann immer an der gleichen Stelle, es gibt die gleichen Regeln, und es gibt immer den gleichen Bildaufbau: Da steht der Schreibtisch, da hängt der Adenauer, draußen ist der Reichstag und so weiter. Zuletzt habe ich versucht, mir eine neue Perspektive zu erobern, indem ich die Kamera über den Kopf hob – sie blickt dann nicht mehr aus 1,50 Meter oder 1,80 Meter Höhe, sondern aus 2,20 Meter. Das führte sofort zu heftigsten deutlichen Verwerfungen. Was ich denn für einen Sport treibe, fragte mich Merkel. Selbst in intensivsten Gesprächen und Interviews achtet sie darauf, ihr Erscheinen zu kontrollieren. Horst Seehofer dagegen ist total anders. Er hat auch ein starkes Ego – aber ihm ist es völlig egal, wie er rüberkommt. Ob man ihn fotografiert oder nicht, das perlt einfach an ihm ab. Katholisch halt. So ist das auch im europäischen Rahmen. In Italien etwa spielt das Optische eine große Rolle – aber ob reich, ob arm, ob Bauer oder Städter, es gibt eine große Souveränität im Umgang mit sich selbst. Wenn jemand sie fotografieren möchte, sehen die Italiener das als Auszeichnung. „Ich werde dir meine beste Seite zeigen“, sagen sie. Sie wollen das Beste zeigen, und darauf sind sie stolz. So ist es auch in Frankreich, da kann man die Leute fragen, ob man ein Porträt machen darf – sie sagen eigentlich immer Ja. In Mecklenburg-Vorpommern ist das ganz anders. Ich wollte dort in einem Krankenhaus Porträts von Krankenschwestern machen. Aber die waren einfach immer weg. Ich stand in einem leeren Saal, und wenn ich schließlich doch eine aufspürte So sieht die Wirklichkeit aus und sie fragte, ob ich sie fotografieren dürfte, hieß es nur: „Ne, ne, mach mal die anderen.“ Ans Licht gezerrt zu werden, sich zu präsentieren, empfindet der Protestant in seiner egalitären Vorstellung als unangenehm. Das gilt als unbescheiden, das macht man nicht, man zeigt sich nicht. Während der Katholik stolz darauf ist. Katholiken halten größere Unterschiede aus – extremer Reichtum, extreme Armut, man zeigt einfach mehr. Das fängt bei den Kirchen an. Ich bin, als Protestant, zunächst in Südfrankreich aufgewachsen und kenne beide Seiten: Die protestantischen Kirchen sind weiß, katholische Kirchen riechen, sprechen alle Sinne an, das Auge, das Ohr, die Nase … Das hat mich sehr beeindruckt. Umso frustrierender war es, nach Deutschland zu kommen. Ich saß als Konfirmand in Darmstadt in einer kalten Kirche aus dem 19. Jahrhundert ohne jeglichen Charme, perfekt renoviert, da lag kein Krümel rum. Die totale Abwesenheit jeder Form von Gefühl. Es ging alles über das Wort. Die Worte und Gesänge waren toll, aber sonst: Alles klein-klein, ohne Großzügigkeit. Dagegen die katholischen Kirchen in Frankreich mit ihren überbordenden Gemälden von Christi Leiden, da vermittelt sich doch eine ganz andere Wahrnehmung. Jede Generation versucht den folgenden etwas zu erzählen. Der Protestant tut das mit Worten, mit Geschichten, selten mit Bildern. Die Renaissance und ihre Malerei wären ohne das Katholische undenkbar. Die Fähigkeit, Gesichter und Landschaften zu erforschen und auch darstellen zu wollen, mit Emotionen, ist eng mit dem römisch-katholischen Kulturkreis verbunden. Die Fotografie, die sich in Deutschland mit Becher und anderen entwickelt hat, ist extrem misstrauisch und distanziert – und meistens untermauert mit Worten, mit viel Konzeption. Viele Bilder sind Strukturaufnahmen. Im Grunde erzählen sie herzlich wenig, das Konzept dahinter ist entscheidend. Fotografen aus der Generation Antoine D’Agata aus Frankreich dagegen leben von purer Emotionalität, bis hin zur Überinszenierung. Da wird dann mit nackten Körpern und großen Brüsten gespielt, und immer wieder werden die menschlichen Grenzen ausgelotet, das menschliche Gefühl. Das ist den Deutschen zu fremd, die sagen: „I, das ist mir zu nah!“ In Deutschland pflegt man generell ein zutiefst misstrauisches Verhältnis zur Fotografie. In Frankreich gilt: „Ohne Bild keine Nachricht.“ Dort ist der Fotograf der „témoin“, das heißt der Zeuge, der tatsächlich dabei war. Wenn irgendwo etwas passiert, rufen die Franzosen tendenziell einen Fotografen an, um zu recherchieren. Die Deutschen rufen immer den Redakteur an, den Wortmenschen. Der recherchiert eine komplizierte Geschichte – und eine Woche vor Drucklegung fällt ihnen ein, dass sie ja noch Bilder brauchen. Italienische Magazine schicken mich los, um lange Bildstrecken zu fotografieren – und am Ende bitten sie mich, ein paar Zeilen dazuzuschreiben. Ich bin der Zeuge, ich war dabei. Aufgezeichnet von Hans-Joachim Neubauer. Der international renommierte Fotograf und Fotoreporter Maurice Weiss wurde 1964 in Perpignan geboren; er lebt in Berlin. Er arbeitet für große europäische Magazine und Zeitungen. Soeben erschienen: Maurice Weiss: Facing Time. Hg. Jürgen B. Tesch, Hirmer Verlag, 39,80 Euro. Blitzen tut weh Zu Beginn meiner Tätigkeit als orthodoxer Pfarrer in Deutschland hielt ich es wie mein großer Landsmann Sergiu Celibidache, der bekanntlich von der Musik sagte, man könne sie nicht konservieren, und deshalb Aufzeichnungen jeglicher Art in seinen Konzerten ablehnte. Auch für mich war die Einmaligkeit des Moments so wichtig, dass ich glaubte, das Mysterium der jeweiligen Taufe oder Trauung schützen zu können (und zu müssen!). So weit die Theorie. Als Pfarrer einer Auslandsgemeinde wurde ich aber schon bald mit dem realen Leben meiner Gemeindemitglieder konfrontiert, die auf Ton- und Bildaufnahmen insistierten. Das letzte Argument, mit dem mein Widerstand und der meiner Kollegen gebrochen wurde, lautete: Wie sollen wir denn unseren Verwandten in der Heimat von diesem Gottesdienst berichten? So wurde aus der Ausnahme einer Aufnahme die Regel, und seitdem hecheln wir der technologischen Aufrüstung der Fotobranche hinterher. So war es wohl kurz nach der Einführung der Camcorder, dass ich mich bei einer Taufe von einem Dutzend gebannt auf ihr neues technisches Spielzeug starrender Männer (!) umgeben sah, die selbiges in Augenhöhe vor mich hielten und mir so den Blickkontakt zur Gemeinde verwehrten. Es blieb mir nur übrig, den Gottesdienst zu unterbrechen und darum zu bitten, einen einzigen Fotografen beziehungsweise Kameramann zu bestimmen, um den Gottesdienst einigermaßen konzentriert feiern zu können. So halte ich es übrigens bis heute – und trauere im Grunde meines Herzens Celibidache nach, insbesondere seit der Einsatz des Smartphones zur Standardbeschäftigung auch der Kirchgänger gehört. „Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist zuträglich“ (1. Brief des Paulus an die Korinther, 6,12). Damit ist zu möglichen Abbildungsorgien alles gesagt. Ein striktes Film- und Fotoverbot mag Ausdruck eines die Kerngemeinde beeindruckenden geistlichen Machtwortes sein. Es läuft jedoch Gefahr, stellvertretend für andere klug zu sein. Das ist pfäffisch. Die Berufung auf ablenkende Blitzlichtgewitter, auf Verschlussklappern und Kamerasurren ist verlogen. Bild und Film können blitzfrei das plätschernde Taufwasser und die Schweißperlen der Aufregung auf den Stirnen des Brautpaars ablichten. Das ist nicht das Problem. Entscheidend ist, gemeinsam mit jenen, die im Zentrum der Kasualie stehen, herauszufinden, was ihnen „zuträglich“ ist. Dafür gibt es bewährte Testfragen: Habt Ihr den Schwiegervater derart lieb, dass er während des Jawortes im Altarraum auf der Jagd nach der besten Perspektive herumgeistern soll? Soll die Freundin des Taufpaten vor dem Taufstein knien, um das Plätschern des Taufwassers in Nahaufnahme abzufilmen? Die Intimität und Konzentration des Erlebens eines Kasualgottesdienstes ist stark. Das bietet Erholung von einem unausweichlich erscheinenden Dokumentationsdrang. Was also auch immer mit Leidenschaft fotografiert und gefilmt werden mag: Die einmaligen Bilder im Kopf während der Feier dürfen dadurch nicht irritiert werden. In der Wieskirche (Weltkulturerbe der UNESCO seit 1983), die von zirka einer Million Touristen und Pilgern jährlich besucht wird, ist das Fotografieren grundsätzlich erlaubt. Einschränkungen gibt es bei der Feier der Liturgie und kirchlichen Feiern wie Hochzeiten und Taufen. Auf Hinweisschildern wird mit Piktogrammen darauf aufmerksam gemacht, dass das Fotografieren während der oben genannten liturgischen Feiern nicht erlaubt ist, weil das den liturgischen Ablauf und die Gottesdienstbesucher sehr stört. Die meisten halten sich allerdings nicht daran, weil sie entweder die Hinweisschilder nicht lesen, sich in ihrer „Freiheit“ nicht einschränken lassen wollen oder sehr egoistisch geprägt sind. Für Trauungen haben wir die Regelung, dass ein Fotograf vom Brautpaar beauftragt wird, der bis zum Abschluss des Trauaktes dezent fotografieren kann. Bei der Eucharistiefeier zur Trauung – zum Beispiel beim Kommunionempfang des Brautpaares, einem intimen Akt des Glaubensvollzuges! – darf nicht fotografiert werden. Das Brautpaar wird bereits beim Traugespräch auf diese Regelung hingewiesen. Die meisten Fotografen kommen vorher in die Sakristei, besprechen die „Spielregeln“ mit dem Zelebranten und halten sich auch daran. Fotografen, die sich nicht an die abgemachten „Spielregeln“ halten und den Zelebranten fast auf die Seite schieben, ständig hin und her springen, um möglichst nahe Bilder aufnehmen zu können, werden dezent weggeschickt. Wir verstehen, dass bei einer so persönlichen Feier wie Trauung und Taufe fotografiert werden soll; dem wollen wir entsprechen. Allerdings müssen die genannten „Spielregeln“ eingehalten werden. Viele Laienfotografen fotografieren mit Blitz. Sie wissen nicht, dass für einen so großen Raum ein Blitz keine Bedeutung hat. Ein dezenter Hinweis darauf von „Wächtern“ in der Kirche wird mit großem Unverständnis aufgenommen und es wird trotzdem munter weiter geblitzt. Das „Blitzlichtgewitter“ ist eine starke Beeinträchtigung für den Zelebranten, der ins „Volk“ schauen muss. Constantin Miron ist Erzpriester der Griechisch- Stephan Schaede leitet die Monsignore Gottfried Fellner ist Wallfahrtspfarrer Orthodoxen Metropolie Brühl. Evangelische Akademie Loccum. der Wieskirche. Wir hecheln hinterher Verbote sind pfäffisch GEISTESGEGENWART C&W 5 C H R I S T & W E L T | 29/2014 Die rote Linie SKANDAL Der Fall Tebartz-van Elst bleibt strafrechtlich folgenlos, hat aber Konsequenzen für alle Bischöfe, glaubt Papstberater Gregor Maria Hoff. Eine Amtshilfe 26. März 2014. Der Papst nimmt den Rücktritt des Limburger Bischofs an. Allgemeines Aufatmen macht sich breit – nicht zuletzt im deutschen Episkopat. Als ließe sich zur Tagesordnung übergehen, beginnt das Warten auf den nächsten Bischof, von dem man sich eine bessere Zukunft verspricht. Dabei hinterlässt der Fall Limburg Fragen, die grundsätzlich das Amt und nicht nur Franz-Peter Tebartzvan Elst betreffen. Von einem Aufatmen ist unter Bischöfen in letzter Zeit häufiger die Rede. Bischöfe fühlen sich freier. Bischöfe sprechen offener. Mutige Thesen machen die Runde, hinter denen man vor anderthalb Jahren noch redaktionelle Fehler vermutet hätte. Im Spiegel des Pontifikatswechsels lesen sich Aussagen einiger Oberhirten wie seitenverkehrt. Homosexualität, Kommunionempfang wiederverheirateter Geschiedener, Beteiligung der Ortskirchen: Vieles ist mit anderem Strich geschrieben und liest sich wie gegengebürstet. Eine nervöse Lernfähigkeit macht sich im Episkopat bemerkbar, die eine vibrierende Unruhe in der bischöflichen Amtsführung belegt. Antworten auf drängende Fragen stehen an, und die Zukunftsfähigkeit der katholischen Kirche hat niemand im Patent. Angesichts des nautischen Bilds von der Kirche als Schiff verdichtet sich der Eindruck, man müsse es auf offener See umbauen. Für den Mann am Steuer keine lukrativen Aussichten, weil die kirchliche Navigation Positionsbestimmungen bei hohem Wellengang verlangt. Für konservative Behaupter unter den Bischöfen kein Problem. Beißfeste Wortmeldungen markieren öffentlich weiterhin kirchliches Gelände. Wer laut genug schreit, den nimmt man auch im postmodernen Nebel unterscheidungssicher wahr. Was fest daherkommt, erscheint allerdings gelegentlich blicktrüb. Auch ehrenwert laute Stimmen können kaum überdecken, dass es um Standfestigkeit in Hanglage geht. Stehenbleiben ist indes keine kirchliche Disziplin, und das spüren viele Bischöfe, weil sie um ihre Verant- wortung wissen. Im Umbruch kirchlicher Realitäten müssen sie ihre Rollen neu finden, nicht nur weil Franziskus andere Akzente setzt als sein Vorgänger, sondern weil der lebensweltliche Druck zunimmt, der die Kirche vor Ort belastet. Im katholischen Treibhauseffekt, den das hierarchische Kirchenmodell mit starker Innenbindung erzeugt, mit linearen Zuschreibungen von klerikaler Macht und hohen Erwartungen an die Amtsträger, trifft die Dauerschmelze der Gemeinden gerade die Bischöfe. Ihnen ist eine pastorale Verantwortung zugemutet, die sie an den Rand ihrer organisatorischen Leitungsmöglichkeiten wie ihrer persönlichen Kräfte führt. Aber dass aufatmende Bischöfe so schnell so anders sprechen, macht auch aus einem anderen Grund nachdenklich. Wie stand und steht es um ihren apostolischen Freimut, um die Einspruchsfähigkeit aus dem Geist des Evangeliums, um Auseinandersetzungsbereitschaft weniger mit dem Papst als mit der Kurie? Wenn freilich kritische Bischöfe, die ihre Eigenverantwortung diözesan zur Geltung bringen, nach Rom gebeten werden (und das ist nachweislich nicht nur in Einzelfällen geschehen), stimmt etwas mit der Koordination des Bischofsamtes nicht. Die Systemstörung bischöflicher Energiehaushalte trat nirgendwo so deutlich zutage wie in Limburg. Eine durchgreifende Krise des Bischofsamtes zeigte sich am Missmanagement einer Person, mit der sich die Frage nach der Theologie dieses Amtes verbindet. Der Fall „Limburg“ hängt ganz sicher mit der Persönlichkeitsstruktur des Bischofs zusammen, betrifft aber weit mehr. Nicht nur Tebartz-van Elst hat versagt, sondern mit ihm auch das Domkapitel und diverse Aufsichtsgremien. Infrage steht das Ensemble bischöflicher Leitung, wie es theologisch beansprucht und kirchenpolitisch auf die Bühne gebracht wird. Bischöfe handeln in personaler Stellvertretung. Sie treten als Nachfolger der Apostel auf und setzen deren Mission fort. In der Form der apostolischen Sukzession sind sie mit Jesus Christus verbun- den. Die Bischöfe vertreten ihn, wenn sie das Evangelium verkünden und ihm eine Stimme geben; wenn sie im Gottesdienst an seiner statt handeln; wenn sie die Kirche leiten, indem sie dem Geist Jesu Raum geben. Das Amt des Bischofs wird über den Singular dieser personalen Repräsentanz Christi begründet. In ihrer Autorisierung zeigt sich freilich auch ein Gefahrenmoment bischöflicher Ermächtigung: die Versuchung, die Stellvertretung ohne ihre relativierenden Momente wahrzunehmen. Der Christusbezug im Bischofsamt ist aber an Bezeugungsformen seiner Gegenwart im Plural gebunden. Im „priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Christi“, an dem alle Getauften teilhaben, bestimmt das Zweite Vatikanische Konzil die Aufgabe des Bischofs. Sein Zeugnis bleibt auf das Zeugnis aller Christinnen und Christen verwiesen. Das schließt Einspruchsrechte ein und verweist auf die Kompetenzen der Laien, die über die der Bischöfe hinausführen können. Ein Bischof, der sich einseitig auf seine apostolische Vollmacht beruft und seine Diözese monarchisch beziehungsweise autoritär leitet, nimmt die ihm zustehende Leitungsmacht auf eine Weise in Anspruch, die sich am Singular der Stellvertretung festmacht, aber den Plural der Bezeugungsinstanzen außer Acht lässt, ohne die sein Zeugnis nicht zustande kommt. Der kirchliche Nennwert des Falls Limburg lässt sich unter diesem Gesichtspunkt bestimmen. Systematisch wurden zuständige Gremien übergangen, konsequent alle Entscheidungen auf die Interessen des Bischofs konzentriert, den das eigene Führungsmodell überfordern musste. Tebartz-van Elst ist ein Opfer des eigenen Systems, das in seiner hierarchischen Zuspitzung das Bischofsamt um seine diakonale Identität bringt. Auf dieser Linie zeigten sich einige Bischöfe öffentlich mit ihrem Amtsbruder solidarisch, ohne die Loyalität gegenüber dem betroffenen Volk Gottes auch nur in Erwägung zu ziehen. Diese episkopale Gruppenbindung droht in klerikaler Selbstverzauberung zu erstarren. Es nimmt nicht wunder, dass die entspre- chenden Akteure ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Rolle der Medien äußerten. Außenperspektiven auf die Kirche haben im Modell der Kirche als einer societas perfecta, eines in sich geschlossenen Systems, bestenfalls eine nachrangige Bedeutung, besitzen jedenfalls kein konstitutives Mitspracherecht. Das aber ist eine Illusion. Die Kirche kann sich selbst nicht angemessen kontrollieren – das offenbarte schon der Missbrauchsskandal. Eine Lehre aus den Limburger Vorkommnissen besteht in der notwendigen Bereitschaft, sich kirchlich auf externe Beobachtungen und einmischungsfähige Expertisen einzustellen. Das empfiehlt sich noch aus einem anderen Grund, der die Bischöfe in ihrer Amtsführung direkt betrifft. Angesichts von Entscheidungszumutungen auf zu vielen Ebenen, die sie mit Letztverantwortung zu treffen haben, stehen sie unter dem Zeitdruck struktureller Überforderung, weil jede ihrer Bestimmungen immer zu schnell und zugleich zu spät kommen muss. Deshalb ist mehr Beteiligung am bischöflichen Dienst gefordert. Ein erster Schritt bestünde in einer Umstellung der Wahlverfahren. Die jüngsten Ernennungen von Erzbischöfen im deutschen Raum, in Salzburg und Freiburg, machen nachdenklich. Offensichtlich wurden ortskirchliche Vorschläge ausgeblendet oder übergangen oder gar bewusst kon- Gregor Maria Hoff ist Professor für katholische Theologie in Salzburg und Mitglied der päpstlichen Kommission fürdie Beziehungen zum Judentum. terkariert. Das geregelte Miteinander als shared responsibility von Volk Gottes und apostolischer Leitung wird zu einem Probestein jener Reformen, die Papst Franziskus im Blick zu haben scheint. Dabei ist ein Qualitätssprung im Bischofsmanagement schon deshalb erforderlich, weil immer mehr Herausforderungen auf die Bischöfe zukommen und der pastorale Notstand zunimmt. Nach Limburg ist mehr zu erwarten: 1. Ein Mehr an historischem Bewusstsein, nämlich die offene Anerkennung der Wandelbarkeit des Bischofsamtes, das unter veränderten geschichtlichen Bedingungen Gestaltungsmöglichkeiten lässt: bei der Bestellung der Bischöfe wie hinsichtlich ihrer Aufgabenbeschreibung. 2. Ein Mehr an theologischem Profil, gerade im Blick auf die öffentliche Sprachfähigkeit der Kandidaten, die sich in der Arena gesellschaftlicher Debatten zu behaupten haben: mit sensibler Akustik für offene Fragen, mit kritischem Weitblick und informierter Einmischungsfähigkeit, ohne einseitig von vorab entwickelten kirchlichen Positionen abzuhängen. 3. Ein Mehr an Kreativität bei der Kandidatenkür – mit größerer Typenvarianz, für die nicht römische Gehorsamsnachweise oder erwiesene Unauffälligkeit in der theologisch-kirchlichen Meinungsbildung den Ausschlag geben. 4. Ein Mehr an Transparenz in der Entscheidungsfindung, und zwar sowohl im Blick auf die Bischofswahlen wie auf die Amtsführung, um der Beteiligung des Volkes Gottes in seinem charismatischen Eigensinn mehr Raum zu geben. Wenigstens aus Klugheitserwägungen wäre hier nachzubessern, denn angesichts der medialen Möglichkeiten bleibt nichts hinter verschlossenen Türen, was kirchlicher Geheimhaltung unterliegt. 5. Ein Mehr an Eigenständigkeit in pastoralen Erfordernissen für die Kirchen vor Ort, was Regelungen ad experimentum angesichts von kirchlichen Notsituationen einschließt (Gemeindeleitung, Zulassung zu den Sakramenten, pastorale Initiativen). Eine wirkliche Wechselwirkung zwischen Ortskirchen und römischer Lei- FOTOS: ALESSIA PIERDOMENICO/REUTERS; HE RBERT ROHRER/WILDBILD/PICTURE ALLIANCE Von Gregor Maria Hoff tung, die Freiheitsrechte auch formell garantiert, ohne Beliebigkeiten Tür und Tor zu öffnen (und also neue Missstände und Einseitigkeiten zu produzieren), könnte beide Seiten stärken. 6. Ein Mehr an Gewaltenteilung und Entlastung in der Ausübung des bischöflichen Dienstes, mit unabhängigen Einspruchsrechten und handlungsfähigen Kompetenzen für Mitarbeiterinnen, die etwa die Personalführung und die Finanzorganisation betreffen. 7. Ein Mehr an professioneller Begleitung der Bischöfe – mit offener Kritik in geschützten Räumen, die von Außenperspektiven bestimmt ist und strukturell festgelegt wird. 8. Ein Mehr an pastoraler Programmatik, das mit einer theologischen Idee echte Entwicklungsoptionen verbindet. Wer Bischof werden will und soll, muss die Zielperspektive bestimmen, mit der er antritt: Wo soll die Ortskirche in zehn, in zwanzig Jahren stehen, der der Bischof vorsteht? Und welche strukturellen Schritte und Schnitte sind erforderlich? Der Fall Limburg legt eine Krise frei, in der sich das bischöfliche Amt der katholischen Kirche befindet. Es handelt sich um eine Vertrauenskrise, die über die Personen hinaus die kirchliche Anlage des Amtes betrifft. Dass es als Dienst ausgewiesen und zugleich wie ein Aufstieg behandelt wird, mit bischöflichen Beförderungen auf kurialen Posten, zeigt ein exemplarisches Problem an. Die pastorale Autorität des diakonalen Amtes wird von der kirchlichen Macht einer klerikalen Position überlagert. Für die Versuchungen, die sich damit verbinden, liefert Tebartz-van Elst Anschauungsmaterial. Mit dem Abschied von einer ambivalenten Karriere-Codierung steht aber die klerikale Ordnung hierarchischer Kirchenleitung selbst auf dem Prüfstand. Zum Weiterlesen: „Der ,Fall‘ Tebartz-van Elst: Kirchenkrise unter dem Brennglas“, herausgegeben von Joachim Valentin. Mit Beiträgen von Gregor Maria Hoff, Thomas Schüller, Christian Klenk, Johannes zu Eltz u. a. Das Buch erscheint nächste Woche im Herder Verlag. C&W 6 GESELLSCHAFT C H R I S T & W E L T | 29/2014 SAMMLUNG EIN BILD, EIN SATZ, EIN WUNDER Heute kuratiert von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Ihre Empfehlung: Gabriele Münter: Staffelsee (1934) Warum haben Sie dieses Bild ausgewählt, Frau LeutheusserSchnarrenberger? »Mit den scharfen Konturen, starken Kontrasten und kräftigen Farben macht Gabriele Münter sich die Landschaft ihrer und meiner Wahlheimat zu eigen. Sie bewältigt sie, ohne sie zu vergewaltigen, und bringt eine Schönheit der Landschaft zum Ausdruck, die über das fotografisch Sichtbare weit hinausreicht.« Kurator im Monat Juli ist die frühere Bundesjustizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger. DER ATHEIST, DER WAS VERMISST DAS WESENTLICHE: POLITISCHE HEIMAT HALTUNG , BITTE! Ist die AfD eine christliche Partei? Fehlerquote Passion im August WECHSEL Der evangelische Theologe und Buchautor Sebastian Moll war FDP-Mitglied, seit Martin Ahrends lebt als Schriftsteller in Berlin. I ch habe mir schon vor langer Zeit abgewöhnt, ponem gesunden Rechtsempfinden nicht vereinbar ist. Und litische Stellungnahmen mit den Worten „als ich verstehe nicht, warum man ein Christ sein muss, um Christ“ zu beginnen. Meiner Ansicht nach haben zu erkennen, dass die Finanzierung ausländischer Staatssie dort in den meisten Fällen nichts verloren. Zu und Bankensysteme mit dem Geld deutscher Sparer und den Stellungnahmen, die mit „als Christ“ begonnen Rentner an Verantwortungslosigkeit kaum zu überbieten werden können, gehören unter anderem: „Als Christ ist. Für diese Erkenntnisse braucht man weder Bibel noch glaube ich an die Erlösung durch den Kreuzestod Jesu“ Gesangbuch, es genügen Verantwortungsbewusstsein oder „Als Christ versuche ich, nach dem Willen Gottes und Mut zur Wahrheit. zu leben“. Ein Satz wie „Als Christ befürworte ich die Vielleicht sind es genau diese beiden Elemente, die eiEinführung eines flächendeckenden gesetzlichen Minne christliche Partei ausmachen. „Der Politiker denkt an destlohns“ käme mir hingegen niemals über die Lippen, die nächste Wahl, der Staatsmann an die nächste GeneraMan muss unabhängig davon, ob ich den Mindestlohn für eine tion“, lautet ein berühmtes Zitat des britischen Premiersinnvolle wirtschaftspolitische Maßnahme halte oder kein Christ ministers William Ewart Gladstone (1809–1898), der beinicht. Aber genau darum geht es. Es gehört zu den be- sein, um nahe Priester der anglikanischen Kirche geworden wäre, liebten Tricks von Politikern, politische Sachfragen auf der sich aber auch als Staatsmann stets von seinem christeine moralische Ebene zu erheben. Bei der Debatte um Abtreibung lichen Verantwortungsbewusstsein leiten ließ. Daher den Mindestlohn konnte man mitunter den Eindruck für Unrecht könnte man in dem oben angeführten Zitat den Begriff gewinnen, als ginge es um einen Streit zwischen kalt„Staatsmann“ auch durch den Begriff „Christ“ ersetzen. herzigen Sklavenhaltern und Kämpfern für die Men- zu halten. Christen nehmen ihre Verantwortung für ihre Mitmenschenrechte, was viele Bürger dazu veranlasste, sich „als schen ernst, handeln sub specie aeternitatis. Auch ihren Christen“ für den Mindestlohn einzusetzen, nicht zuletzt die Sy- Mut zur Wahrheit haben die Christen im Laufe der Geschichte imnode der Evangelischen Kirche im Rheinland. Dabei geht es beim mer wieder unter Beweis gestellt. Seit es Christen gibt, haben sich Mindestlohn, wie bei so ziemlich allen politischen Projekten, ein- diese mutig zu ihrem Glauben bekannt und dafür nicht selten mit zig und allein darum, Vor- und Nachteile für die Bevölkerung ihrem Leben bezahlt. In vielen Teilen der Welt tun sie das bis heusorgsam gegeneinander abzuwägen – und zwar mit Sachverstand, te. Nun sollte freilich niemand sein politisches Engagement bei der nicht mit Glaubenseifer. Alternative für Deutschland mit einem christlichen Martyrium Insofern ist die Frage, ob es sich bei der AfD um eine christliche gleichsetzen. Fest steht jedoch, dass auch ein Bekenntnis zu politiPartei handelt, für mich schwer zu beantworten. Zwar werden ei- schen Wahrheiten mit persönlichen Nachteilen einhergehen kann. nige ihrer Positionen in den Medien des Öfteren als christlich be- Wieder zeigt sich der entscheidende Unterschied. Politiker mögen zeichnet, um nicht zu sagen: gebrandmarkt. Ich verstehe aber nicht, die Wahrheit mitunter als „nicht hilfreich“ empfinden. Als Christ ist warum man ein Christ sein muss, um zu erkennen, dass eine staat- sie mir etwas Heiliges. liche Privilegierung der „Homo-Ehe“ nicht notwendig ist, da das Ausleben homosexueller Neigungen für die Zukunft der Gesell- Sebastian Moll ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelischschaft keinerlei Relevanz hat. Ich verstehe auch nicht, warum man Theologischen Fakultät der Universität Mainz. Zuletzt erschien von ein Christ sein muss, um zu erkennen, dass ein Recht auf Abtrei- ihm „Du sollst nicht atmen: Warum wir am besten das Atmen einstelbung, also ein Recht auf Vernichtung menschlichen Lebens, mit ei- len sollten und andere Erkenntnisse aus dem Jetzt“ (adeo). DAS UNWESENTLICHE: EMPÖRUNG Ein Lächeln für Putin Liebe Amerikaner – ihr glaubt, wir würden nur fest mit dem Fuß aufstampfen, wenn wir für euch vor dem Neuschwansteiner Märchenschloss Schuhplattler tanzen! Ihr haltet uns wohl ansonsten für Leisetreter?! Aber jetzt mal ganz ungeschützt: Wenn wir so laut marschieren würden wie unsere Väter und Großväter, wäre es euch doch auch nicht recht. Wir wollen niemandem auf die Füße treten. Und: ja, ja, ja. Luftbrücke, Rosinenbomber, Carepakete – Berlin bleibt frei – Ich bin ein Berliner. Wir sagen Dank, Dank und immer wieder Dank!!! Aber nun sagen wir euch doch auch mal mit ein bisschen Entschiedenheit: Wir sind ein wenig gekränkt, dass ihr euren Geheimdienst nicht an die Leine nehmt. Wir wissen, er will doch nur spielen. Er beißt auch keine Freunde. Aber dass er überall herumschnüffelt, finden wir irgendwie auch nicht so okay. Nichts für ungut, aber stellt euch mal vor, wir würden dasselbe mit euch machen. Jetzt hat auch noch ein Mitarbeiter unseres Bundesnachrichtendienstes Informationen an euch geliefert – da wird es aber langsam Zeit für eine lückenlose Aufklärung. Natürlich nur, wenn es sich einrichten lässt. Unser Präsident will auch nur spielen – und zwar den Beleidigten. Dass er es gar nicht soo ernst meint, bleibt aber streng vertraulich! Wir empören uns jetzt also in aller Form und bitten, mit der Spionage nun mal ein bisschen aufzuhören. Wir müssen sonst zu ernsteren Maßnahmen greifen und beim nächsten G-8-Treffen zu Putin gucken, wenn euer President uns anlächelt. Andreas Öhler FOTOS: ARTHOTHEK/VG BILD-KUNST, BONN 2014; PRIVAT (2) Nach einem enttäuschenden WM-Spiel wollen wir die verlorene Zeit nicht verloren geben und immerhin Erkenntnis daraus ziehen: „Was hast du denn erwartet?“, fragt mein Freund, ein Hirnchirurg. Ich zucke die Schultern. „Jedenfalls nicht das, wovon der Kommentator zuletzt sprach: eine ‚geringe Fehlerquote‘. Wenn sie nach Brasilien fahren, um keine Fehler zu machen, sollten sie lieber daheimbleiben.“ – „Wenn es um so viel geht: Was ist daran verkehrt, wenn man Fehler vermeidet? Immerhin sind sie weitergekommen. Das ist für sie dasselbe wie für mich eine komplizierte OP: Ende gut, alles gut.“ – „Deine Chirurgie ist kein Spiel und wird nicht als Event in die Welt übertragen. Es kann schnell langweilig werden, jemandem bei der Fehlervermeidung zuzusehen.“ – „Es sei denn, ich entschärfe zum Beispiel eine Zeitbombe: Soll ich das blaue oder das rote Kabel trennen?“ – „Das ist zwar für jeden erkennbar spannend, aber auch kein Spiel. Man darf keinen Fehler machen.“ Auf dem – „Beim Fußball soll man das?“ – „Wir haben beide kei- Rasen spielt ne Ahnung davon. Ich vermu- immer ein te, hier soll es offene Räume geben für das Unvorhersehba- Drittes mit. re. Die füllen sich mit so Das ist nicht schwer definierbaren Dingen wie Teamgeist und Tages- kalkulierbar. form, mit Intuition und Gottvertrauen. So wird das Spiel spielerisch und schön anzuschauen.“ – „Das ist kein Volkstanz. Da kämpfen Profis um Sieg oder Niederlage!“ – „Wenn die Mannschaft ‚geschlagen‘ vom Platz geht, sollte niemand ernsthaft verletzt sein.“ – „Aber es geht doch um etwas Großes.“ – „Um einen großen Modellversuch. Der aufrechte Gang wird befragt. Er wirkt komisch, wenn er nicht dazu dient, die Hände zu gebrauchen. Modellhaft ist auch, dass man auf dem Rasen nie alles richtig machen kann. Dass immer ein unkalkulierbares Drittes mitspielt.“ – „Denn erstens kommt es anders …“ – „All die Absicherungsstrategien, die in unserem Leben überhand genommen haben, erweisen bei einem missglückten Kopfball ihre Komik.“ – „Schlimm wär’s allerdings, wenn beim Fußball nicht gelacht werden dürfte.“ – „Niemand würde über deine Hirn-OP lachen, wenn sie schiefgegangen ist. Niemand würde lachen, wenn die Bombe bei der Entschärfung hochgeht. Aber das Spiel beraubt sich selbst, wo es das Schicksal eliminieren will, das auf dem Rasen so gern den Clown spielt.“ – „Humor und Gottvertrauen? Das ist deine ganze Philosophie?“ Ich nicke. „Ich liebe klassische Musik und fahre gern auf die Sommerfestivals, die überall hier bei uns im Norden stattfinden. Beim Durchblättern der Programme fällt mir aber auf, dass immer mehr Musik zur Aufführung kommt, die vom Kirchenjahr her in die Passions- oder Adventszeit gehört. Mich ärgert das so, dass ich der Festivalleitung einen geharnischten Brief geschrieben habe. Meine Freunde finden Walter K., Lübeck das übertrieben. Sie auch? Kurzem gehört er der Alternative für Deutschland an Pfeffernüsse und Elisenlebkuchen gibt es ab August in den Läden. Wen wundert es, dass zur gleichen Zeit auch schon mal die Weihnachtskantaten erklingen? Der Kulturbetrieb agiert seltsam kulturlos, wenn es darum geht, die Wünsche des Publikums zu erfüllen. Oder ist es nur die Art Gedankenlosigkeit eines professionellen Musikbetriebs, die der geistlichen Musik den Geist austreibt, weil sie nur auf die künstlerische Herausforderung oder die emotionalen Effekte aus ist? Es gibt Experten, die behaupten, die Musik, die für die dunklen Jahreszeiten und dunklen Momente des Christentums komponiert wäre, sei schlicht die bessere. Vielleicht ist das eine Ausrede. Kunstreligiöse Erbauung, die bei Hitzegewittern das Schaurig-Erhabene von „O Haupt voll Blut und Wunden“ hervorruft, verkauft sich nicht nur gut, sie gibt den Festivals auch den nötigen „existenziellen Ernst“, wie es in einem Programm für ein berühmtes Sommerfestival heißt. Der Musikbetrieb orientiert sich längst nicht mehr am Kirchenjahr. Das bürgerliche Milieu ist vom religiösen Gedächtnisverlust genauso befallen wie die, die am Karfreitag für jeden Rummel zu haben sind. Nun gebe ich freimütig zu, dass ich die Matthäuspassion auch im Sommer höre. Ich höre sie zu allen Zeiten und in allen Lebenslagen. Hundertprozentige Kirchenjahrstreue ist für meine privaten Hörgewohnheiten nichts. So geht allerdings nicht nur der Sinn für den Horizont des christlichen Heilsgeschehens verloren, wir verlieren auch ganz profan den Sinn für die Geschichtlichkeit des Lebens, für Abfolgen, Spannungsbögen und Zeitrhythmen. Im Grunde zahlen wir einen hohen Preis für die Mentalität des Immer-alles-wann-immer-wir-Wollen; Hauptsache, es klingt schön. Wir vergessen die Erfahrung des Wartenkönnens und leiden an – nun auch hochkultureller – Verfettung. Also doch kein Passionsspektakel im August. An den Elisenlebkuchen gehen wir doch schließlich auch vorbei. Oder nicht? Die Pastorin Dr. Petra Bahr ist Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ihre Kolumnen sind gerade in der Edition Chrismon als Buch erschienen: „Haltung, bitte!“ Wenn Sie vor einem Dilemma stehen und einen Ausweg mit Anstand suchen, schreiben Sie Dr. Petra Bahr. Leserpost bitte an: Christ & Welt, Heinrich-Brüning-Straße 9, 53113 Bonn. Stichwort „Haltung“. E-Mail: [email protected]