Millie auf Klassenfahrt
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Millie auf Klassenfahrt
Unverkäufliche Leseprobe aus: Dagmar Chidolue Millie auf Klassenfahrt Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Ver vielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Inhalt Pest und Cholera – 7 Koffergeschichten – 17 Nix für kleine Kinder – 26 Rein in die gute Stube – 34 Ritter Ruppig – 45 Burger – 57 Der Heulmichel – 66 Mäusespeck – 79 Fritzi – 90 Wühlmäuse – 98 Hornissen – 111 Das Ameisenmännchen – 122 Brüllcreme – 134 Mädchenkram – 147 Ein lustiger Abend – 155 Klatsch, klatsch, peng – 164 Stockdunkel – 176 Die Mondnacht – 185 Harry Potter und Mister X – 197 Und tschüs! – 208 5 Pest und Cholera In der letzten Schulstunde an diesem Freitag haben sie Sachkundeunterricht. Das kann langweilig werden. Wie letzte Woche, wo sie alles über Käferfamilien lernen mussten, über Waldmistkäfer, Punktkäfer und Hirsch käfer. Das sind die mit den Hörnern am Kopf, nee … mit den Geweihen. Heute erzählt Frau Heimchen, Millies Lehrerin, ihren Schülern vom Mittelalter. Das ist doch schon sooooo lange her! Huah! Millie muss gähnen. Und weil es die letzte Stunde ist und sie sowieso schon müde wird, gähnt sie noch einmal, zweimal, dreimal. Huah! Huah! Huah! Sie kann gar nicht mehr aufhören damit. »Langweile ich dich vielleicht, Millie?«, fragt Frau Heim chen mit scharfer Stimme. Hups! Schlagartig ist Millie wieder hellwach. Bevor ihre Lehrerin noch damit droht, einen Text in ihr Merkheft zu schreiben! So eine blöde Mitteilung an die Eltern. Hat Millie schon ein paarmal gekriegt: 7 Millie ist eine große Schwätzerin. Millie hat WIEDER EINM A L den Unterricht gestört. Millie kann sich nicht konzentrieren. Millie macht Quatsch. Millie ist eine Quasselstrippe! Hin und wieder kommt Frau Heimchen auch auf die Idee, Millie woandershin zu setzen. Weg von ihrer Freundin Kucki! Das geht schon mal gar nicht! Wenn die Lehrerin Anstalten macht, die beiden Freundinnen zu trennen, dann fängt die große Heulerei an. Bei beiden! Bei Millie und Kucki. Und Frau Heimchen seufzt und gibt ihr Vor haben auf. Sie kann Heulerei nicht gut ertragen. In dieser letzten Schulstunde macht die Klasse einen Streifzug durch das Mittelalter. So nennt die Lehrerin das. 8 Streifzug! An der großen Wandtafel vorne hängt ein Bild von einer mittelalterlichen Stadt. Stolperstraßen, enge Gassen, dunkle Ecken. Die Leute haben damals ihren Müll einfach vor die Tür gekippt. Mann, muss das gestun ken haben! Im Mittelalter gab es aber auch hohe Herrschaften, die es besser hatten als die Bürger in der Stadt oder die Bauern auf dem Land. Das waren die Könige, die Fürsten und die Ritter. Die ließen Bürger und Bauern für sich schuften und residierten weit weg von dem Gestank in ihrem Schloss oder in einer Burg, wo ihre Burschen, die Knappen oder Pagen, sie von vorn bis hinten bedienen mussten. Die Rit ter hatten allerdings auch was zu tun. Ihre Aufgabe war es, die Stadt zu verteidigen, wenn irgendwelche Feinde k amen, die ihnen Land und Leute wegnehmen wollten. Das waren die Kampfritter. Wenn kein Krieg war und sie auf der Burg bleiben konnten, vertrieben sie sich die Zeit mit Kampf spielen, um im Training zu bleiben. Sie kämpften gegen einander mit Schwert, Pfeil und Bogen und mit Speeren. Nebenbei lernten sie ein bisschen lesen und schreiben. Und natürlich reiten. Singen und tanzen war auch nicht schlecht. Weil sie ja die Damen beeindrucken wollten! Bezahlt wurden die Burgherren von den Bauern. Die mussten Getreide und Milch und Vieh abgeben, zum 9 eispiel ein Huhn. Wie viel genau, das wurde ausgerech B net. Es sollte immer ein Zehntel sein. Wenn sie nicht ge nug zusammenbekamen, waren die Bauern verpflichtet, zusätzlich auf den Feldern der Burgherren zu arbeiten. Und die Bürger, meistens Kaufleute und Handwerker, wurden ebenfalls zur Kasse gebeten, das heißt, die muss ten auch einen Teil ihrer Einkünfte rausrücken. Die Burg besteht aus einem düsteren Gemäuer. Gruselig! Wird bestimmt nicht so toll gewesen sein, dort zu hausen. Die armen Frauen und Mädchen, die in der Burg lebten, mussten wahrscheinlich den lieben langen Tag Teppiche knüpfen, Kopfkissen besticken oder Wolle spinnen. 10 »Die hygienischen Verhältnisse damals waren katastro phal«, fährt Frau Heimchen mit ihrem Streifzug fort. Millie versucht, sich das vorzustellen: Wo gingen die Leute eigentlich aufs Klo? Wenn es so was überhaupt schon gab! Vielleicht mussten sie dafür aus dem Haus und in den Wald gehen. Oder es gab eine Jauchegrube hinterm Haus. Und die Ritter? Die haben sich doch bestimmt keinen Busch gesucht, wenn sie mal … hmhmhmhmhm … wenn sie mal mussten. Ach so, die hatten oben im Turm einen gemauerten Vorsprung, in den sie verschwinden konnten. Und dann … plumps, plumps, plumps … rauschte alles durch einen Schacht in den Burggraben. Millie kann sich gut was vorstellen. Deshalb ist sie auch nicht immer bei der Sache, wenn die Lehrerin mit ihren Streifzügen schon ein gan zes Stück vorangekommen ist. Jetzt ist Frau Heimchen jeden falls bei der Jauchegrube ange langt, wie das also funktio nierte, wenn die Menschen damals mussten. Es funk tionierte genau so, wie Millie sich das gedacht hat! Und weil es über all roch und stank und der ganze Dreck von den Leuten durch die Straßen floss, gab es viele Krank heiten. Und Ratten! Brrr! »Pest und Cholera!«, ruft Mario einfach so in die Klasse hinein. Und? Kriegt er nun einen Eintrag in sein Merkheft? Mario ruft ungefragt in die Klasse hinein. Mario muss lernen, sich zu melden. Mario stört zum wiederholten Male den Unterricht. Nee. Kein Eintrag. Millies Lehrerin reagiert sogar auf Marios Zwischenruf. »Also … Cholera, mein lieber Mario, gab es im Mittelalter noch nicht in Europa.« »Aber man sagt das so!«, brummt Mario. »Vielleicht war es auch nur Schnupfen.« Mario ist sooooo doof. Frau Heimchen erzählt das alles doch nicht nur wegen Schnupfen! Die schlimmsten Krankheiten im Mittelalter waren Pest und Aussatz. Wer die Pest hatte, den Schwarzen Tod, der starb schnell. Wer aussätzig war, musste raus aus der Stadt und in ganz armen Verhältnissen leben, in einer Hütte oder in einer Felsenhöhle mit anderen Aussätzigen zu 12 sammen! Leute, die Mitleid mit den Kranken hatten, stellten ihnen hin und wieder eine Schüssel mit Rübensuppe oder Getreidebrei hin. Man durfte aber nicht in ihre Nähe kommen. Alle hatten große Angst, von einem Aussätzigen angesteckt zu werden. Die waren nämlich schlimm dran. Sie hat ten Beulen im Gesicht und ver krüppelte Hände und Füße. Oje! Millie ist wieder ganz bei der Sache. Der Streifzug durchs Mittelalter ist doch spannend gewesen! Schon ertönt der Pausengong, und zack, zack, zack wer den die Schulsachen eingepackt. »Halt!«, ruft Frau Heimchen. »Ihr wisst, dass wir nächs ten Dienstag unsere Klassenfahrt antreten.« Ja, ja, ja. Die Lehrerin teilt noch Zettel aus. »Dieses Merkblatt müssen sich eure Eltern genau durchlesen. Und die Ein verständniserklärung bitte unterschreiben.« »Wer? Ich?«, fragt Millie. Kucki stößt ihr den Ellbogen in die Seite. Als ob Millie eine freche Bemerkung gemacht hätte! Und die Lehrerin 13 wirft ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Na ja, hätte doch sein können! Ab mit dem Zettel in den Rucksack. Reißverschluss zu ziehen! Clip-Verschluss einrasten! Klickklack! »Schönes Wochenende!«, ruft Frau Heimchen ihnen nach, als sie schon im Flur sind und die Schuhe wechseln. Weg mit den Clogs, den Crocs und den Schlappen! Rein in die Sneakers und die Sandalen. Feierabend! Millie und Kucki gehen ein Stück gemeinsam nach Hause, bis zur nächsten Ecke. Dann … tschau, Baby! Der doofe Mario muss zum Glück in die ganz andere Richtung. An Millies Seite traben nun Gus und Wulle, die bei ihr gegenüber wohnen. Auf der anderen Seite vom Wendeplatz. Gus und Wulle sind ihre Freunde, Wulle immer und Gus nur manchmal. Gus und Wulle sind auch nicht immer gut befreundet. Es gibt Tage, da setzen sie mit ihrer Freund schaft aus. Und was erzählen die sich jetzt? Ihre Klasse geht mit auf Klassenfahrt? Wieso denn das? Wulle sagt: »Nur die Erstklässler kommen nicht mit. Alle anderen sind dabei. Hast du denn nicht zugehört?« Hm, jedenfalls passt Wulle anscheinend immer im Unter richt auf. 14 »Und wir fahren mit zwei Bussen hin«, fügt er hinzu. Moment, Moment! Heißt das etwa, dass Marios blöde Schwester auch mitfährt? Ach du Schreck! Mercedes ist eine eingebildete Ziege. Mit der will Millie gar nichts zu tun haben. Wenn die mitfährt, ist Jocko ebenfalls dabei. Sie sind in derselben Klasse. Jocko ist in Ordnung. Aber der Uhu kommt dann auch mit! Und der nervt Millie. Schon seit ihrem ersten Schultag. Er ist nämlich hinter ihr her. Puh! Sie alle sollen fünf Tage lang zusammen sein? Wenn das mal gutgeht! Wo werden sie denn überhaupt untergebracht sein? Millie hat wohl wirklich nicht zugehört. »In einer richtigen Gruselburg«, sagt Gus. »Damit du’s weißt.« Er zieht eine fürchterliche Grimasse und formt seine Hände zu Krallenpfoten, mit denen er vor ihrem Gesicht herumfuchtelt. »Lass das!«, schnauzt Millie ihn an. Vor gruseligen Din gen hat sie Angst. Nie wieder würde sie zum Beispiel in eine Geisterbahn steigen. Da hat sie sich schon einmal fast in die Hose gemacht. »Aber das mit der Burg stimmt«, sagt Wulle. »Das ist nämlich Burg Grottenfels. Und die ist echt aus dem Mit telalter.« 15 Mittelalter? Mit Pest und Cholera? Oder … wie heißt die andere Krankheit? Nee … nicht Schnupfen … Aussätzig keit oder so … Aussatz. »Jetzt ist die Burg nur noch eine Jugendherberge«, will Wulle sie beruhigen. Aha, eine mittelalterliche Jugend herberge. Mit Grusel oder ohne? Mit Klo oder ohne? »Mit Gespenstern«, sagt Gus. »Mit mittelalterlichen Gespenstern.« Es muss zwar nicht immer alles stimmen, was Gus so von sich gibt, aber trotzdem macht Millie sich nun Sorgen. Wegen der blöden Schwester von Mario und dem Uhu und wegen der Klos. Muss sie dann auf der Grusel burg nachts rausgehen und sich einen Busch suchen? 16