Die Premieren des Wochenendes Als wäre es gestern Nacht gewesen

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Die Premieren des Wochenendes Als wäre es gestern Nacht gewesen
38 FEUILLETON
F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N TAG S Z E I T U N G , 1 6 . F E B RUA R 2 0 1 4 , N R . 7
Die Premieren
des Wochenendes
In Wien wurde ein altes Ehedrama in die neue Welt gestellt, im MaximGorki-Theater das türkische Nibelungenlied gesungen, in einem alten Saal
ein Yoko-Ono-Happening versucht, und Scorsese präsentierte James Dean
Berlin, Theater
Berlin, Happening
Der Fluch des
Monsterkinds
This is so
Berlin!
Dede Korkuts „Die
Kunde von Tepegöz“
als Musikstück am
Maxim-Gorki-Theater
Als sich Lars Eidinger
mal nach den
Anweisungen Yoko
Onos ausziehen ließ
Nichts als Grauen! Unter brennender Sonne, irgendwo in der kaukasischen Steppe hütet ein einsamer
oghusischer Hirte seine Ziegen.
Gegen Abend entdeckt er an einem
Brunnen eine Gruppe ausgelassen
tanzender Nymphen. Voller Gier
fällt er über sie her, reißt eine von
ihnen mit Gewalt an sich und
schändet sie so lange, bis ihr Körper nur noch Blut und Schmutz ist.
Zur Strafe verflucht die Vergewaltigte den Hirten samt seinem ganzen Volk. Neun Monate später
bringt sie „Tepegöz“, ein einäugiges Monsterkind, zur Welt, das
ihre Schmach rächen, den Oghusen auf ewig Qualen bereiten soll.
Im achten Gesang der mythischen
Erzählungen des Dede Korkut, des
„zentralasiatischen Homer“, bricht
eine solche Menge Greuel, Untat
und Hass über die schuldhafte
Menschheit herein, dass jede gutgemeinte Auslegung, jeder Versuch,
aus der Geschichte pädagogisches
Kapital zu schlagen, hoffnungslos
verfehlt wäre: „Das Sein richtet
den Menschen hin“, heißt es zu Anfang und am Ende: „Nur das Sterben reinigt von Schuld.“
Was macht man mit so einem
tiefdämmrig-seelenzerklüftenden
Stoff? Der Gitarrist Marc Sinan
hat es gewagt, ihn in Töne zu fassen, und, angereichert mit Text-,
Bild- und Körperelementen, eine
ungeheuer beeindruckende Theaterkomposition geschaffen. Gemeinsam mit usbekischen und kasa-
Ein „Happening“ war das also, was
da am Freitagabend in dem putzbröckelnden Saal im denkmalgeschützten Stammhaus der ehemaligen Eisenwarenhandlung Lademann in der Berliner Wallstraße
stattfand und versuchte an die improvisierten Ereignisse der 1960er
Jahre anzuknüpfen. Zu Ehren von
Yoko Ono. Der Künstlerin.
Die hat nämlich gerade ihr neues Buch „Acorn“ (zu Deutsch: Eichel) veröffentlicht, mit konzeptuellen Handlungsanleitungen und
Instruktionen zum Leben. Eine
Weiterführung von „Grapefruit“.
Die Berliner Kuratorin Bettina
Springer, Ono als „einflussreichste
Künstlerin des 20. und 21. Jahrhunderts“ bezeichnend, nahm die
Buchpremiere zum Anlass, Onos
Schriftgut umsetzen zu lassen. Von
Künstlern, Schauspielern, Musikern und Performern wie Monica
Bonvicini, Lars Eidinger, Inga
Humpe und Peaches. Sieben der
Natalie Wood (1938–1981) und James Dean (1931–1955) in „Rebel without a Cause“
Foto Berlinale
Berlinale
Als wäre es gestern Nacht gewesen
Wenigstens er weiß,
was er tut: Martin
Scorsese war in Sachen
James Dean in Berlin
Im Anschluss an die Vorführung
des Filmklassikers „Rebel without
a Cause“ („Denn sie wissen nicht,
was sie tun“) saßen ein paar Berlinale-Besucher in einer Limousine,
die sie zur anschließenden Party
bringen sollte, und seufzten. „Ja,
so war das damals“, sagte schließlich jemand in die einvernehmliche
Stille, und alle wussten, was gemeint war. In nur 111 Minuten
steckt so viel drin: sterben junge
Menschen, lernen die Liebe kennen, lehnen sich gegen ihre Eltern
auf, sind verzweifelt, hoffnungsvoll, hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht und Trotz und gepeinigt von der Frage, wie das eigentlich gehen soll: erwachsen wer-
den. Aus heutiger Sicht mutet es etwas seltsam an, wie schnell die junge Frau, die Natalie Wood spielt,
über den tragischen Unfalltod
ihres Boyfriends hinwegkommt –
das dauert nicht länger, als es
braucht, sich die Lippen neu nachzuziehen –, doch dann wiederum,
wer würde nicht jeden jungen
Mann auf der Stelle vergessen,
wenn auf einmal James Dean vor
einem stünde, in Jeans, weißem
T-Shirt und roter Windjacke, es irgendwie fertigbringend, obwohl einen Kopf größer, so von schräg unten auf einen herabzugucken, eine
Zigarette lässig zwischen den Lippen steckend und so jugendlich
schön und gleichzeitig viel älter
aussehend, als James Dean jemals
werden sollte.
Gedreht wurde der Film von
März bis Mai 1955; als er Ende Oktober desselben Jahres in die amerikanischen Kinos kam, war sein
Hauptdarsteller bereits seit knapp
einem Monat tot. Er starb bekanntlich in seinem Porsche, und man
kann sich vorstellen, dass die Filmszene, in der er sich mit einem anderen jungen Mann eine Mutprobe liefert, die mit Autos und Geschwindigkeit zu tun hat, auf das
damalige Filmpublikum gewirkt
hat wie ein Schock.
Martin Scorsese, dessen Film
Foundation mit Unterstützung von
Gucci „Rebel without a Cause“
nun sehr aufwendig restauriert hat,
hat den Film als Dreizehnjähriger
im Kino gesehen. 58 Jahre später
steht er im Haus der Berliner Festspiele vor einem riesigen roten
Samtvorhang und wirkt immer
noch elektrisiert. „Dieser Film war
1955 überwältigend, und die restaurierte Fassung hat mich wieder
überwältigt. Damals schien er direkt zu uns Jugendlichen zu sprechen. Wie eine Geheimsprache.“
Scorseses schwarze Hornbrille
sieht in Echt noch größer aus als
auf Fotos. Am Nachmittag wurde
im selben Saal sein neuestes Filmprojekt gezeigt, eine Dokumentation über die „New York Review of
Books“, die aber noch nicht ganz
fertig ist, weshalb niemand darüber etwas schreiben darf. Lang anhaltender warmer Applaus begleitet den Regisseur nach ein paar Minuten wieder von der Bühne, dann
hebt sich der Vorhang, und es beginnt der Film, dessen Farben jetzt
wieder so leuchten, wie sie sollten,
und dessen Tonqualität so glasklar
ist, dass alles wirkt wie von heute
oder höchstens gestern Nacht und
man gar nicht fassen kann, wie lebendig dieser James Dean, dessen
Name doch längst einen musealen
Klang angenommen hat, auf der
Leinwand ist, wie direkt seine Ausstrahlung einen berührt, wie unbemüht und modern er seine Rolle
spielt und wie verdammt gut er aussieht in dieser verdammt roten Jacke. Mit einem anderen Hauptdar-
steller wäre der Film vermutlich relativ unerträglich, jedenfalls streckenweise, aber er ist ja nun mal
da, und es ist anzunehmen, dass alleine seinetwegen in diesem Film
Tausende, Abertausende junger
Menschen das Rauchen angefangen haben. Nachher auf der Party
jedenfalls wurde viel geraucht.
Und ansonsten festlich gekleidet
um eine Bar herumgestanden, die
sich in einem Hotel befindet, das
sich in Berlin befindet, das ab heute wieder etwas dunkler werden
wird, weil die Berlinale vorbei ist
und mit ihr der Glanz, der diese
Stadt jedes Jahr, wenn es am härtesten ist, für ein paar leuchtende
Nächte aus dem Wintertief reißt.
Tja, und jetzt sind sie alle wieder
weg, die Scorseses und von Triers
und Andersons, und wir müssen
schauen, wie wir das restliche Jahr
mit Gallery Weekends und Fashion Weeks alleine rumbringen.
Johanna Adorján
Wien, Theater
Da ist kein Platz für Schrei-Theater und große Auftritte
Jelena Kuljić ist Tepegöz, einäugige
Foto J. L. Diehl
Schreckgeburt
chischen Musikern spielen die
Dresdner Sinfoniker eine Musik,
die einen schaudern lässt. Aus wildwüchsiger Gemengelage, in der die
Töne wie Geschosse kreuz und
quer durch die Luft jagen, kristallisiert sich immer wieder eine liebliche Melodie heraus, die einen einlullt und verführt, um im nächsten
Moment wieder mit voller Wucht
in den psychedelischen Akustik-Albtraum zu stürzen, wo Querflöten
jaulen wie weinende Kamele und
Kontrabässe quietschen wie steinharte Schwämme auf Schultafeln.
Darüber erhebt sich die Stimme
von Jelena Kuljić, die mit kurzgeschorenem Haar im weißen Unschuldskleid die einäugige Schreckgeburt gibt, sie fluchen, kreischen
und zetern lässt. Hasserfüllt, bitterböse ist sie, voller Ekel vor sich
selbst, gepeinigt von unendlicher
Einsamkeit und ewig rachsüchtig,
säuft sie schmatzend das Blut ihrer
Peiniger. Bis auch hier endlich ein
Held die Menschheit von ihrem Antichrist befreit. Wenn am Ende dieses Geist und Gemüt aufrührenden
Abends zum strahlenden Finale ausgeholt wird und die Trompeten
den anbrechenden Tag, das wiedergewonnene Leben begrüßen, dann
sind nicht wenige Zuschauer schon
mit dröhnendem Kopf auf und davon gelaufen. Aber die, die geblieben sind, wollen nicht mehr aufhören, Bravo zu rufen. Simon Strauß
Am Volkstheater wird
Karl Schönherrs
„Kindertragödie“
neu entdeckt
Das Volkstheater war zur Nazizeit
offizielles KdF-Theater und besaß
ein braungetäfeltes Führerzimmer,
das eigens für Adolf Hitler gebaut
worden war. Bereits 1937 feierte
man den Autor Karl Schönherr
(„Der Weibsteufel“) als Blut-undBoden-Dichter, der es aber womöglich gar nicht war. In seinem
1905 begonnenen Stück „Kindertragödie“ beschäftigte er sich mit anderen, heute noch interessanten
Fragen: Sind Frauen, die den Vater
ihrer Kinder mit einem sexuell attraktiveren Mann betrügen, böse?
Und vor allem: Wie geht es den
Kindern dabei?
Ja genau, und heute?, hakte das
Volkstheater am Freitagabend
nach. Heute mehr denn je, weil
Ehebruch zum Massenphänomen,
ja fast zur Regel geworden ist?
Karl Schönherr hatte ein eher
konservatives Frauenbild. Die
fremdgehende bürgerliche Frau
und Mutter war für ihn wohl die
absolute Schreckensvorstellung.
Nur kam es damals kaum vor! Im
Grunde ist „Kindertragödie“ erst
jetzt aktuell.
Tatsächlich wirkte vorgestern
die Beklommenheit der Kinder,
nachdem sie alles begreifen, ihre
Ohnmacht bestürzend echt. Über
Die Kinder der Tragödie auf dem Dachboden ihrer Traurigkeit: Andrea Bröderbauer, Roman Schmelzer, Annette Isabella Holzmann
Stunden vernimmt man nur diesen
Ton. Der Autor hat in seiner Version von 1918 nur die drei Kinder übriggelassen. Ursprünglich standen
fünfzehn Figuren auf der Bühne.
Für die wahre Katastrophe brauchte er die restlichen zwölf nicht
mehr.
Regisseur Philip Jenkins inszeniert weder historisch noch aktuell, sondern bleibt unentschieden
in der Mitte stehen. Die drei pubertierenden Kinder werden von
Schauspielern gespielt, die doppelt
bis dreimal so alt sind wie ihre Vorlagen: Roman Schmelzer, den vierzig näher als den dreißig und mit
Altmännerbart, gibt den einen Bruder. Der andere Bruder ist mit einer Frau besetzt, Annette Isabella
Holzmann (33). Nur die Schwester
hat noch Spuren von Kindlichkeit,
trotz feministischer Kurzhaarfrisur: Andrea Bröderbauer (28). Die
Synthetik-Klamotten kommen aus
einem Hartz-4-Haushalt oder aus
Lampedusa. So weit das sogenannte Regietheater. Aber am Text vergreift sich der Regisseur nicht.
Die drei Mimen vermitteln wunderbar die besondere Vertrautheit,
die Geschwister zu allen Zeiten untereinander haben. Dazu müssen
sie nicht zwölf oder vierzehn sein,
wie man seit dem Film „Das Fest“
weiß. Sie verkrümeln sich auf dem
Dachboden und verständigen sich
leise, eher gedämpft-nüchtern als
theatralisch, über den immer manifester werdenden Horror. Der
Sachstand ist niederdrückend: Mutti fickt den jungen Förster, Vatis
Identität wird zu Staub zermahlen.
Da ist kein Platz für Schrei-Theater und große Auftritte – zu grässlich ist die zu konstatierende neue
Wirklichkeit. Wahrscheinlich kennen die meisten deutschen Jugendlichen diese Gefühle.
Da wird es eher still im einst
trauten Heim, in der bis eben
noch turbulent-lustigen Kleinfamilie. Die Schauspieler sprechen so
kraftlos, dass man sie minutenlang
nicht mehr versteht. Und das ist
gut so. Man versteht sie auf andere
Weise.
Nur manchmal plärrt ein Kind
los, wird aber gleich wieder eingefangen. Gefühlsausbrüche sind
Foto Marko Lipuš
peinlich in dem Alter. Der ältere
Bruder putzt stundenlang das Gewehr des seelisch kastrierten Vaters; ein Relikt aus der Vorlage des
Autors. Das Gewehr muss sein, damit erschießt sich am Ende der jüngere Bruder. Auch das, Waffen in
Schülerhand, klingt eher nach
Winnenden als nach Kaiserzeit,
wirkt trotzdem unnötig. Man hat
schon verstanden, dass die vielgepriesene sexuelle Freiheit der Mutter das Leben der Kinder zerstört,
zumindest ihr Glück. Für den Stückeschreiber erweist sich der Ehebruch als grenzenlos unmoralisch.
Und Schuld kann nur die Frau haben, natürlich die mit dem Teufel
im Leib. Aber um die geht es ja
nicht.
Joachim Lottmann
Kann sich hier mal einer ausziehen?
Yoko-Ono-Dienst, verwischt Foto Würfel
insgesamt acht Interpreten waren
Frauen, weil die meisten von Springer angefragten Männer eine Teilnahme direkt ablehnten. „Give me
a chance“-Schmus gefällt nicht jedem.
Das Wichtigste an einem Happening ist es, das Publikum zu
schocken. Durch das Werfen von
Gegenständen, Exhibitionismus,
Blut- und Farborgien, Zerstören,
Zerreißen, Verdrecken. In der
Wallstraße 85 passierte leider
nichts dergleichen. Na ja, ein bisschen Exhibitionismus gab es
schon, aber den Eidinger hat nun
wirklich schon jeder nackt gesehen. Begrüßt wurden die, die kamen – alle, außer der Berliner
Kunst-Glitterati – von Yoko Onos
übergroßem Leinwandbild: „Hi
this is Yoko. What a great celebration. This is so Berlin – I love it“.
Als könnte sie uns sehen: gedrängt
biertrinkend. Nur rauchen durfte
man nicht. Leider kamen weder
Malerin Katharina Große noch Italienerin Monica Bonvicini zum
großen Fest. Und auch Karin Sander schrieb nur eine Anleitung und
übergab ihre „Overtone“-Performance an Jungs mit Schiebermütze und Kapuzenpullover. Nur Lars
Eidinger, das Schaubühnen-Monster, ließ sich offenbar erweichen
und stellte sich wie gewohnt selbstzerstörerisch zur Verfügung. Sein
re-inszeniertes „Cut-Piece“ war
aber leider alles andere als unterhaltsam und wirkte fast ein halbes
Jahrhundert später reichlich bieder. Das Publikum fand die Einlage trotzdem toll und grölte, als
die Erste mit der Schere sein Shirt
zerschnitt und den Bauchnabel
freilegte. Dem Zufall wurde an
dem Abend nichts überlassen, das
Ende kam brav und wie versprochen, als auch das letzte Kleidungsstück fiel.
Carolin Würfel