Das christlich-konservative Modell
Transcription
Das christlich-konservative Modell
Widersprüchliche Neutralität. Eine geschlechtersensible Analyse der derzeitigen juristischen und politischen Kopftuchdebatte(n) Sabine Berghahn und Petra Rostock EU-Projekt VEIL = Values, Equality & Differences in Liberal Democracies Debates About Female Muslim Headscarves in Europe A 6th Framework Project of the European Commission Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 1 Warum ist die Bildkonstellation Kopftuch/ FrauenUnterdrückung zu wirkmächtig? Geschlechterfragen im Allgemeinen und das Kopftuch im Besonderen dienen als Abgrenzungsmechanismen gegenüber dem Islam als Religion vieler MigrantInnen in Deutschland. Das Kopftuch deckt den „unvollständigen Universalismus“ rechtlicher und politischer Standards auf. Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 2 Regelungen in Deutschland zu religiöser Bekleidung von LehrerInnen: Das christlich-konservative Modell: Verbot religiöser Kleidung mit christlich-abendländischer Ausnahmeklausel Baden-Württemberg (CDU/FDP) Bayern (CSU) Saarland (CDU) Hessen (CDU) Nordrhein-Westfalen (CDU/FDP) Das säkulare Modell: Verbot sichtbarer religiöser Kleidung u. Symbole Berlin (SPD/Die Linkspartei.PDS) Bremen (SPD/CDU) Niedersachsen (CDU) Keine Neuregelungen: Es gilt das allgemeine Neutralitäts- und Mäßigungsgebot für den öffentlichen Dienst (Einzelfallprüfung) Brandenburg (SPD/CDU) Hamburg (CDU) Mecklenburg-Vorpommern (SPD/CDU) Rheinland-Pfalz (SPD) Sachsen (CDU/SPD) Sachsen-Anhalt (CDU/SPD) Schleswig-Holstein (CDU/SPD) Thüringen (CDU) Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 3 Der deutsche staatliche Umgang mit dem „Kopftuch der Lehrerin“ ist widersprüchlich, weil die Möglichkeit zum Verbot des Tragens religiöser Symbole oder Kleidungsstücke von einigen Bundesländern in einer Weise umgesetzt wurde, die der individuellen Religionsfreiheit, der Gleichbehandlung der Religionen, der Förderung der Integration und der beruflichen Gleichstellung von Frauen mit muslimischem Hintergrund zuwiderläuft. Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 4 Warum wurde für den Umgang mit der Kopftuchfrage solch eine widersprüchliche Neutralität gewählt und nicht eine pluralistisch-liberale Lösung gefunden? ● Keine Mehrheit im Bundesverfassungsgericht ● Profilierungsmöglichkeit für Bundesländer als Verteidiger des „Eigenen“ ● „Retourkutsche“ wegen des Kruzifixbeschlusses von 1995 ● Hegemoniale Stellung der beiden großen christlichen Kirchen ● Diffuse Struktur des Islam Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 5 Entsprechend dem deutschen Verständnis von staatlicher Neutralität gegenüber Religion(en), welches traditionell ein „offenes“ und „ermutigendes“ ist, hätte die Chance bestanden, Konflikte um das „Kopftuch der Lehrerin“ in einem liberal, toleranten Sinne auf der individuellen Ebene zu lösen. Diese Chance wurde verpasst. Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 6 ● Deutschland im VEIL-Vergleich: als einziges Land mit Neutralitätsprinzip handelt D. widersprüchlich (die anderen: Niederlande, Österreich) ● Selbst Länder mit Staatskirche (England/Schottland, Dänemark, Griechenland) halten sich an das Gebot der NichtDiskriminierung anderer als christlicher Religionsgemeinschaften und ihrer Mitglieder und praktizieren liberalen Umgang. ● „Laizitäre“ Lösung in Frankreich und der Türkei erscheint konsequent, verletzt aber auch das Recht auf Religionsfreiheit und provoziert identitäre Selbstbehauptungskämpfe. Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 7 Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 8 Zusätzliche Folien Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 9 Widersprüchliche Neutralität ►Deutsche Verfassungstradition: staatliche Neutralität ist eine offene, ermutigende und kooperative Neutralität: • Der Staat ermutigt seine BürgerInnen zur Ausübung jedweder Religionen und Glaubensrichtung – auch im öffentlichen Raum • Das „säkulare Modell“ fördert ein „geschlossenes“ statt eines „offenen“ Verständnisses von Neutralität • Demgegenüber identifiziert sich das christlich-konservative Modell eindeutig mit einer, der christlichen Religion Ergebnis: • Erosion des offenen und kooperativen Neutralitätsverständnisses des deutschen Staates • Provokation einer religiöse Fundamentalisierung von MigrantInnen ● Abkopplung von Entwicklung in europäischen Nachbarländern mit ähnlich „offener“ Haltung zum Islam, aber betont liberaler Tradition in der Behandlung von Einzelfällen. Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 10 Die Regelungen der einzelnen Bundesländern Das christlich-konservative Modell: Baden-Württemberg (CDU/FDP) Bayern (CSU) Saarland (CDU) Hessen (CDU) Nordrhein-Westfalen (CDU/FDP) Das säkulare Modell: Berlin (SPD/Die Linkspartei.PDS) Bremen (SPD/CDU) Niedersachsen (CDU) Keine Neuregelungen Brandenburg (SPD/CDU) Hamburg (CDU) Mecklenburg-Vorpommern (SPD/CDU) Rheinland-Pfalz (SPD) Sachsen (CDU/SPD) Sachsen-Anhalt (CDU/SPD) Schleswig-Holstein (CDU/SPD) Thüringen (CDU) Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 11 Beispiel Berlin: Das säkulare Modell § 1 des Gesetzes zu Art. 29 der Verfassung von Berlin: Beamtinnen und Beamte, die im Bereich der Rechtspflege, des Justizvollzugs oder der Polizei beschäftigt sind, dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt im Bereich der Rechtspflege nur für Beamtinnen und Beamte, die hoheitlich tätig sind. §2 Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht. Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 12 Beispiel Baden-Württemberg: Das christlich-konservative Modell § 38 SchulG „(2) Lehrkräfte an öffentlichen Schulen nach § 2 Abs. 1 dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrkraft gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 12 Abs. 1, Artikel 15 Abs. 1 und Artikel 16 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. (...) Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 13 Rechtliche Auswirkungen • Die Gesetze mit Ausnahmeregelungen widersprechen sowohl der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als auch dem Gleichheitsgebot des deutschen Grundgesetzes (Artikel 3, Absatz 1) • Die streng säkular ausgerichteten Schulgesetze könnten ebenfalls angefochten werden mit dem Verweis auf die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit (Artikel 4) • Damit ist zu erwarten, dass neue Fälle vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden ►Mittlerweile gibt es Gerichtsentscheidungen zu neuen Fällen in einigen Bundesländern, also steht irgendwann neues Verfahren beim BVerfG an. Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 14 Neue Entscheidungen nach dem Urteil des BVerfG von 2003: Bundesverwaltungsgericht: Fereshta Ludin hat (trotz erfolgreicher Verfassungsbeschwerde) keinen Anspruch auf Einstellung, denn das neue Schulgesetz von Baden-Württemberg enthält Kopftuchverbot. Ausnahme für christlich-abendländische Werte berührt nicht die Kleidung der Lehrkräfte (24.6.04). Baden-Württemberg: Konvertierte und schon seit langer Zeit mit Kopftuch unterrichtende Lehrerin, Doris Gruber, darf weiter mit Bedeckung arbeiten, VG Stuttgart (7.7.06) wendet neues Gesetz wegen Ungleichbehandlung der Religionen nicht an. Bremen: Referendarin klagte gegen Nichtzulassung, OVG Bremen weist sie ab (26.2.07). Neutralitätsgebot gilt auch für den Vorbereitungsdienst, soweit dort Unterricht erteilt wird. Bayern: Bayerischer Verfassungsgerichtshof weist Popularklage der Islamischen Religionsgemeinschaft (aus Berlin) ab (15.1.07). Neues Schulgesetz steht im Einklang mit Bayerischer Verfassung. Klausel bzgl. Christlicher Werte meint nur humanistische Traditionen, keine Glaubenssätze Nordrhein-Westfalen: Klage von Filiz Mutu am 5.6.07 vom VG Düsseldorf abgewiesen, es fehle ihr die „Eignung“ zur Beamtin auf Probe (Lehrerin), weitere Fälle sind anhängig Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 15 Der Blick über die Grenzen: Die vom EU-Projekt VEIL untersuchten acht Länder: Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Niederlande, Österreich, Türkei Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 16 Stellenwert der Kopftuchdebatte • Wichtige Debatte derzeit v.a. in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden • In der Türkei gibt es einen Konsens, nicht über das Kopftuch zu sprechen, es gibt keinen Raum für Debatten obwohl das Kopftuch das Land in zwei Lager spaltet • In Österreich und Griechenland gilt das Kopftuch nicht als ein wichtiges Thema von gesellschaftlicher Bedeutung Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 17 Rolle des Kopftuches • In fast allen Ländern geringe bzw. unbekannte Zahl an Kopftuchträgerinnen vs. Sichtbarkeit/Bedeutsamkeit des Symbols • Mit Ausnahme der Niederlande wird das Kopftuch auch als Symbol der Unterdrückung von Frauen diskutiert während Gleichberechtigung der Frauen der Mehrheitsgesellschaft kein Thema ist (v.a. in Dänemark, Deutschland und Frankreich) • In den Niederlanden wird das Kopftuch lediglich hinsichtlich der liberalen Werte Neutralität und Religionsfreiheit diskutiert • Vor allem in der Türkei (aber auch in anderen Ländern) werden die von den Kopftuchträgerinnen vorgebrachten Motive nicht ernst genommen, da ihnen eine „hidden agenda“ unterstellt wird. Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 18 Rechtliche Regelungen in den Vergleichsländern Keine Regelungen • Österreich (keine Konfliktfälle) • Griechenland (keine gerichtlichen Konfliktfälle, Caféverbot für Kopftuchträgerinnen) • Dänemark (individuelle Lösung von Einzelfällen die Verkäuferinnen betrafen, 2006: verschleierte Fernsehmoderatorin Asmaa AbdolHamid) • Großbritannien (individuelle Lösung von Einzelfällen, aber auch gerichtliche Konfliktfälle, z.B. einer Schülerin und einer Lehrerin) • Niederlande (Ausnahmeregelungen für Polizei und Gerichte) Einheitliches Kopftuchverbot • Frankreich, Gesetz von 2004, vorher Fälle wie z.B. Alma & Lila • Türkei, Streitfälle von Abgeordneten und Studentinnen Mischregelung • Deutschland: weder liberal-tolerant noch laizistisch konsequent Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 19 Besteht ein Zusammenhang zwischen der „Religionsverfassung“ eines Staates und der Art der Regelung zum Kopftuch? Länder mit Staatskirchen und/oder starker liberaler Tradition müssen wegen ihrer „christlichen Gebundenheit“ verfassungsrechtlich einen Ausgleich schaffen durch weite Auslegung der Religionsfreiheit der „Anderen“ (Griechenland, Großbritannien, Dänemark). Ähnliches gilt für Länder mit Neutralitätsanspruch, aber starker religiöser Gebundenheit der Bevölkerung und kooperativem Verständnis von Neutralität des Staates, d.h. Zusammenarbeit des Staates mit christlichen Kirchen (Österreich, Niederlande). Auch Deutschland würde hier hineinfallen, verhält sich aber widersprüchlich! Kontrastprogramm Laizismus: Wo zwar eine starke Mehrheitsreligion und Gebundenheit in der Bevölkerung existiert, aber durch eine radikale politische Entscheidung (Revolution) eine Loslösung der Politik und des Öffentlichen von den Einflüssen der Kirchen und Geistlichkeit stattgefunden hat, wird das Kopftuch im öffentlichen Raum weitgehend untersagt (Frankreich, Türkei). Sabine Berghahn und Petra Rostock: Widersprüchliche Neutralität 20