Ist Unterhaltung unser neues American Idol?
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Ist Unterhaltung unser neues American Idol?
Ist Unterhaltung unser neues American Idol? Wenn die meisten Menschen das Wort „Idol“ hören, denken Sie entweder an eine Reality-TV-Show, in der nach der nächsten musikalischen Sensation gesucht wird oder sie denken vielleicht an einen bekannten Star oder Sportler. Je nachdem wie alt man ist oder welchen Musikgeschmack man hat, wird man vielleicht sogar an den Punkrocker Billy Idol denken. Wenn man aber ein Wörterbuch aufschlägt (oder schnell bei Google sucht), findet man heraus, dass „Idol“ als eines der folgenden vier Dinge definiert wird: als ein Bild, das als Anbetungsobjekt benutzt wird; als ein falscher Gott; als jemand, der oft blind und übertrieben angebetet wird; als etwas, das man zwar sehen kann, das aber ohne Substanz ist. Wenn man diese Definitionen im Hinterkopf behält, was sagen dann die folgenden Zahlen über unsere Kultur aus? Vergangenen Sonntag lief im Fernsehen die neueste Folge der Serie „The Walking Dead“ – einer Serie über die Zombie-Apokalypse –und bescherte dem US-Sender AMC die höchsten Zuschauerzahlen in der Geschichte der TV-Serien: 12,3 Millionen Zuschauer. In der gleichen Nacht sahen 28,37 Millionen Amerikaner die 55. Grammy-Award-Verleihung und machten die Show damit zum bisher meistgesehenen Programm in diesem Jahr. Die Staffelpremiere der Show „American Idol“ brachte es auf ein Rekord-Tief von 17,9 Millionen Zuschauern. Den Super Bowl 2013 hingegen sahen überwältigende 108,4 Millionen Sportfans. Unterhaltung ist das neue American Idol. Und ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass unsere kulturelle Besessenheit von Unterhaltung schon quasi eine Ersatzreligion ist. Meine jüngste Tochter wollte zum Beispiel vor einigen Jahren nichts mehr als zu einem Football-Spiel der „Colts“ in Indianapolis gehen. Die Wahrheit ist, dass ich selbst ein großer Sportfan bin und sie diese Begeisterung für die NFL (Anm.: National Football League) vererbt bekommen hat. Es war ein Sonntagnachmittagspiel, aber wir sind bereits am Samstagabend hingefahren, um sicher zu gehen, dass wir richtig viel Zeit vorher am Stadion hatten. Am Sonntag sind wir dann früh aufgestanden und gingen in eine örtliche Kirche in den Gottesdienst. Einige Stunden später saßen wir zwischen 80.000 Fans im Lucas Oil Stadion und, ja, ich hatte mir sogar mein eigenes Gesicht bemalen lassen. Wir beide schrieen mit den anderen Fans bis unsere Stimmen versagten. Als meine erschöpfte Tochter auf der Heimfahrt irgendwann schlief, konnte ich wirklich nicht anders, als daran zu denken, dass ich an diesem Tag an zwei Gottesdiensten teilgenommen hatte. Die Frage, die ich mir stellte war: „Wofür war meine Leidenschaft größer?“ Wenn Football jetzt nicht so sehr dein Ding ist, dann denk mal an die vielen unterschiedlichen Formen von Unterhaltung, die in unser tägliches Leben eindringen und es manchmal sogar bestimmen. Planst du deine Termine so, dass du die neueste Episode von „Modern Family“ nicht verpasst? Ist ein Smartphone-Vertrag ein absolutes Muss in deinem Budget, sodass du ständig mit deinen „Freunden“ auf Facebook verbunden bist? Mit welchen Aktivitäten verbringt deine Familie meistens ihre gemeinsame Zeit? Mit Fernsehen? Mit Videospielen? Seid ihr so eine Familie, die beim Abendessen kein einziges Wort miteinander spricht, weil ihr lieber SMS schreibt, Angry Birds spielt oder Fotos vom Essen twittert? Wie wirkt sich diese regelrechte Ersatzreligion der Unterhaltung auf uns Amerikaner als Gesellschaft aus? Ein Beispiel: Nahezu eines von 10 Kindern im Alter zwischen 8 und 18 könnte als klinisch abhängig von Videospielen eingestuft werden. Ein 15-jähriger Videospielsüchtiger wird so charakterisiert, dass er „all die Eigenschaften eines Heroinabhängigen an den Tag legt. Er muss sich also nicht mal die Nadel in den Arm stecken um high zu werden, aber er hat all die verräterischen Folgeschäden eines Heroinsüchtigen: Rückzug von seiner Familie, Rückzug von seinen Freunden, Lügen, um seine Abhängigkeit zu verschleiern.“ 1 Was Facebook angeht, verbringen wir durchschnittlich 8 Stunden im Monat auf der Website. Laut einer Studie, die vor Kurzem veröffentlicht wurde, fühlen sich 36,9% der Facebook-Nutzer nach einem Besuch auf der Seite schlimmer als vorher. Einige der empfundenen Emotionen waren Langeweile, Wut, Frustration, Schuld, Traurigkeit, Einsamkeit und Neid. Warum verbringen wir dann so viel Zeit auf einer Website, die negative Ergebnisse produziert? 2 Der Durchschnittsamerikaner sieht jeden Tag mehr als 4 ½ Stunden fern. Im amerikanischen Durchschnittshaushalt ist der Fernseher täglich mehr als 8 Stunden an und bietet mehr als 100 Sender. Während solch eines langen Zeitraumes und bei so vielen Kanälen muss jeder irgendwann irgendwas finden, das einen amüsiert. Das Wort „Amüsement“ stammt sogar aus der Welt der Anbetung. Amüsement hat seine Wurzeln in dem Wort „Muse“. Die Musen waren griechische Göttinnen, denen nachgesagt wird, dass sie große Errungenschaften in der Schriftstellerei, Wissenschaft und Kunst inspiriert hätten. Sie waren Göttinnen der Besinnung. Wenn man jetzt das „a“ als Vorsilbe hinzufügt, kommt die Idee von „Fehlen“ dazu. Also ist „Amüsement“ das Fehlen von Inspiration, das Fehlen von Besinnung. Oft suchen wir Amüsement, weil wir einfach nicht denken wollen. Anstatt etwas gegen unser gelangweiltes und apathisches Dasein zu tun, verstärken wir es durch das Idol der Unterhaltung nur noch. Anstatt unterhalten zu sein, erleben wir zunehmend das Gegenteil – wir sind gelangweilt. 3 Wenn jetzt Ende diesen Monats der Großvater aller Awards-Shows wieder abgehalten wird, das Videospiel zu „The Walking Dead“ im März veröffentlicht wird und unsere Smartphones wie immer an unseren Hüften kleben, ist es vielleicht wirklich an der Zeit, dass wir alle einmal unsere Beziehung zum Idol, ja, Götzen der Unterhaltung überdenken. Versteht mich nicht falsch. Ich bin nicht gegen Unterhaltung oder die Unterhaltungsindustrie. Ich frage mich nur, ob wir inzwischen vom bloßen Anschauen zum Anbeten übergegangen sind. Übersetzung des Online-Artikel: Is entertainment our new American Idol? von Kyle Idleman. Erschienen am 19. Februar 2013 in der Washington Post. Abgerufen am 20.02.2013 Aus dem Amerikanischen von Stefanie Spitzer 1 Laut einem Artikel der Financial Times Deutschland verbringen Deutsche im Durchschnitt 54 Minuten täglich in Sozialen Online-Netzwerken. Vgl. http://www.ftd.de/it-medien/medien-internet/:facebook-twitter-co-fast-eine-stunde-pro-tag-fuer-dasonline-netzwerk/70079032.html 2 Im Vergleich dazu sehen Deutsche mit 3 ¾ Stunden pro Tag sogar noch recht wenig fern. Vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/2913/umfrage/fernsehkonsum-der-deutschen-in-minuten-nach-altersgruppen 3 Gemeint ist die Oscarverleihung, die seit 1929 abgehalten wird