Der Zweck heiligt die Haare

Transcription

Der Zweck heiligt die Haare
MIZWA-TAG
Der Zweck heiligt die Haare
Kanada: Am Mizwa-Tag in Ottawa soll man Locken für kranke Kinder spenden
04.12.2008 - von Gerd Braune
von Gerd Braune
Nur noch wenige Tage, dann wird sich die vierjährige Talia ihr langes lockiges Haar abschneiden
lassen – freiwillig. Sie ist stolz auf ihr Haar, das ihr über die Schultern fällt, und dennoch gibt sie
es gern her. Denn es ist für einen guten Zweck. „Dann fühlen sich andere Kinder wohler“, sagt sie.
Die Haarpracht wird der in den USA ansässigen gemeinnützigen Organisation „Locks of Love“
(Locken der Liebe) gespendet, die daraus Perücken für Kinder, die ihr Haar verloren haben,
anfertigen lässt.
Auch Talias Mutter Stacey Segal und ihre Freundin Lindsay Rothenberg lassen sich ihr Haar
abschneiden. Sie sind Mitglieder der jüdischen Gemeinde Ottawas, die am 7. Dezember den
Mizwa-Tag begeht. An diesem Tag, zu dem die Jewish Federation of Ottawa zum vierten Mal
aufgerufen hat, soll durch verschiedene Aktionen Mitgefühl für andere gezeigt werden. Erstmals
ist „Locks of Love“ eine dieser Aktionen. „Es geht nicht um große Gesten, sondern um kleine
Zeichen der Zuneigung, die dem anderen zeigen, dass sich jemand um ihn kümmert“, sagt Stacey
Segal, die zusammen mit Lindsay Rothenberg zu den Hauptorganisatoren des Mizwa-Tages
gehört.
Das vor zehn Jahren errichtete Soloway Jewish Community Center im Westteil der kanadischen
Hauptstadt ist das Zentrum der 15.000 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde. Gegenüber
liegt die Hillel Lodge, ein hundert Betten zählendes jüdisches Alten- und Pflegeheim. Im
Gemeindezentrum laufen die Vorbereitungen für den Mizwa-Tag auf vollen Touren. Zahlreiche
jüdische Gemeinden in den USA und Kanada begehen ihn. Im Jahr 2004 hatte die Sektion
„Junge Erwachsene“ der Gemeinde, zu der Mitglieder im Alter von 25 bis 45 Jahren zählen,
beschlossen, auch in Ottawa einen Mizwa-Tag zu veranstalten. Es gehe darum, im Sinne der 613
Gebote, der Mizwot, Gutes zu tun, erläutert Segal. Jüdische und nichtjüdische Organisationen
sollen davon profitieren.
„Die ganze Gemeinde ist eingeladen“, sagt Lindsay Rothenberg, die die verschiedenen
© Jüdische Allgemeine - Wochenzeitung für Politik, Kultur und Jüdisches Leben
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/1807
Seite (1/3)
Veranstaltungen koordiniert. Mehrere Workshops werden an diesem Tag angeboten. So ist
geplant, Päckchen zusammen- zustellen, die alles enthalten, was man für
Kindergeburtstagspartys braucht. Sie werden in Frauenhäusern verteilt, in denen Mütter mit
ihren Kindern Unterkunft gefunden haben, die vor häuslicher Gewalt geflohen sind.
Für Einwanderer, die nach Ottawa ziehen, möchten Segal und Rothenberg „Welcome Kits“
packen lassen, die unter anderem einen Stadtplan und ein kleines Wör- terbuch enthalten. Weiter
ist geplant, dass Kinder oder junge Erwachsene in die Hillel Lodge gehen, um mit den kranken
und betagten Bewohnern zu singen und ihre Zimmer für Chanukka zu schmücken.
Und dann gibt es noch den „Snowsuit Fund“. Gut erhaltene Winterkleidung oder Geldspenden
werden für eine lokale Organisation gesammelt, die im vergangenen Jahr 15.000 Schneeanzüge
und andere Winterkleidung an Bedürftige verteilt hat. In Ottawa, wo die Temperatur im Winter
bis minus 40 Grad Celsius fallen kann, ist warme Kleidung überlebensnotwendig.
Und erstmals sollen beim diesjährigen Mizwa-Tag für „Locks of Love“ die Locken fallen. Für
Stacey Segal ist es bereits das vierte Mal, dass sie sich für den guten Zweck einen Kurzhaarschnitt
verpassen lässt. Für Talia wird es das erste Mal sein. „Als sie im vergangenen Jahr sah, wie ich
mir das Haar für ,Locks of Love‘ abschneiden ließ, wollte sie es auch tun“, erzählt Segal. „Das
Haar kommt auf die Köpfe anderer Kinder und hilft ihnen“, sagt Talia.
„Locks of Love“ wurde vor etwa zehn Jahren als gemeinnützige Organisation auf Initiative der
Krankenschwester Madonna Coffman gegründet, die als junge Frau nach einer
Hepatitis-Impfung ihr Haar verlor und zudem mit ansehen musste, wie ihre kleine Tochter an
der Haarausfallerkrankung Alopecia litt. Jetzt werden über „Locks of Love“ Perücken für Kinder
aus wirtschaftlich benachteiligten Familien hergestellt.
Am Sitz der Organisation in West Palm Beach treffen jährlich Tausende Haarspenden ein, „die
meisten von Kindern“, wie Pressesprecherin Lauren Kukkamaa berichtet. Eltern, die sich an
„Locks of Love“ wenden, bekommen Material zugeschickt, um selbst einen Abdruck vom Kopf
ihres Kindes zu machen. Ein professionelles Unternehmen in Florida fertigt dann im Auftrag von
„Locks of Love“ die Perücke. Etwa alle 18 Monate braucht das Kind eine neue Perücke, weil der
Kopf wächst oder das Haar bei Sport und Spiel beschädigt wurde. Je nach finanzieller Lage erhält
die Familie des Kindes den Haarersatz kostenlos oder beteiligt sich an den Kosten, die sich auf
3.500 bis 6.000 Dollar pro Perücke belaufen.
Die meisten Kinder, die eine Perücke über „Locks of Love“ erhalten, leiden an Alopecia Areata,
einem entzündlichen Haarausfall, der auch als „kreisrunder Haarausfall“ bezeichnet wird, da er
zunächst durch kreisrunde haarlose Flecken auf dem Kopf auftritt. Aber auch Strahlen- und
Chemotherapie, Verbrennungen und genetische oder Hautkrankheiten können Ursache von
© Jüdische Allgemeine - Wochenzeitung für Politik, Kultur und Jüdisches Leben
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/1807
Seite (2/3)
Haarausfall ein. „Die Perücken helfen den Kindern, ihr Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein
wiederzuerlangen“, sagt Lauren Kukkamaa. Sechs bis zehn Haarspenden werden für eine Perücke
gebraucht.
Talia freut sich, diesen Kindern helfen zu können. Die Voraussetzungen für eine „Haarspende“
erfüllt sie: Mindestens 25 Zentimeter lang muss das Haar sein, und zusammengebunden zu
einem Pferdeschwanz. Etwa fünf Zentimeter gehen bei der Herstellung verloren, so dass noch 20
Zentimeter bleiben. Die meisten Empfänger der Perücken sind Mädchen, die längeres Haar
lieben. Kürzeres Haar dient zur Herstellung von Jungenperücken.
Im Friseursalon der Hillel Lodge wird die Lockenpracht fachgerecht abgeschnitten. Bisher haben
sich etwa zwölf Gemeindemitglieder angemeldet. „Wir hoffen, dass am Sonntag noch viel mehr
kommen“, sagt Stacey Segal.
© Jüdische Allgemeine - Wochenzeitung für Politik, Kultur und Jüdisches Leben
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/1807
Seite (3/3)