Der Computer, dein Freund und Helfer? - MediaCulture

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Der Computer, dein Freund und Helfer? - MediaCulture
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Autor: Hain, Hans Dieter.
Titel: Der Computer, dein Freund und Helfer?
Quelle: Kriegsblindenjahrbuch. 2002. S. 103-105.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Hans Dieter Hain
Der Computer, dein Freund und Helfer?
Ende 1986 bekam ich im Rahmen einer Berufsförderungsmaßnahme meinen ersten
Computer samt Braillezeile und Punktschrift-Drucker. Die Anlage sollte mir meine
richterliche Tätigkeit erleichtern. Davon, dass dieses Ziel schnell erreicht und ich bald viel
Zeit sparen würde, war ich anfangs auch fest überzeugt. Der Mitarbeiter der Firma, die die
Anlage lieferte, gab mir eine kurze Einweisung und überließ mich nach einigen Stunden
meinem Schicksal. Nun saß ich vor dem gewichtigen Kasten wie der Ochs vorm Berg.
Alles das, was der besagte Mitarbeiter eindrucksvoll demonstriert hatte und was ganz
einfach erschien, vermochte ich nicht mehr zu reproduzieren. Zwar wusste ich jetzt dank
der Einweisung, dass Menüs nicht nur auf der Speisekarte zu finden sind, sondern Menüs
auch auf dem Bildschirm bzw. der Braillezeile erscheinen können; aber diese Menüs
beinhalteten nicht nur drei oder vier Gänge, sondern eine Vielzahl unverständlicher
Begriffe und ein Kellner, bei dem man die Bestellung hätte aufgeben können, war auch
nicht da. Die zu Rate gezogene Ehefrau, die Speisekarten vorzüglich vorzulesen und zu
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erläutern vermag, war mit derartigen Menüs ebenfalls überfordert. Also was tun. Na klar,
die mitgelieferten Handbücher lesen. Der Karton, in dem sich die sog. "Handbücher"
befanden, erwies sich bereits als erschreckend schwer und von handlichen Büchern
konnte keine Rede sein. Die Anleitung zu dem auch heute noch bei blinden Nutzern
beliebten Programm F&A war mehr als acht cm dick, und dieses Volumen veranlasste die
Ehefrau sogleich zur Abgabe einer Kapitulationserklärung. Mit dem Hinweis, dass
zunächst „ja nur" das zu lesen sei, was man zum Schreiben eines kleinen Textes wissen
müsse, ließ sie sich aber überreden, und wir begannen mit dem Studium. Doch das
Wörtchen „nur" hätte ich lieber nicht gebrauchen sollen; denn gegen Mitternacht stand
zwar ein kleiner Text auf dem Bildschirm und auf der Braillezeile; aber wie sollte man den
speichern? Als ich vorsichtig andeutete, dass wir das Kapitel „Speichern" wohl auch noch
lesen müssten, berief sich meine Ehefrau auf Dante und erklärte: „An jenem Tage lasen
sie nicht weiter."
In den folgenden Wochen und Monaten habe ich Bekannte und Freunde, die bereits über
einen Computer verfügten, telefonisch mit meinen immer aufs Neue anfallenden
Problemen genervt. Aber meine Nerven blieben auch nicht verschont; denn meistens
wurde die Problemlösung von der Gegenseite mit dem Satz eingeleitet: "das ist doch ganz
einfach ...". Trotz dieser entmutigenden Äußerungen gelang es mir aber nach und nach,
den Computer in den Griff zu bekommen. Ein Problemfall blieb für lange Zeit aber der
Punktschrift-Drucker. Der wollte partout nicht die Zeilenlängen und Seitenlängen
übernehmen, die der Bildschirm und die Braillezeile zeigten, von der Platzierung der
Seitenzahlen ganz zu schweigen. Auf Grund der vielen Testausdrucke kletterte der Stapel
des dicken Punktschrift-Papiers in gigantische Höhen und mir war klar, dass das mit dem
damals noch propagierten papierlosen Büro wohl nichts werden würde. Nach einigen
Monaten gehorchte mir aber auch der Punktschrift-Drucker und druckte fein säuberlich die
ihm aufgetragenen Texte aus.
Die eingangs gestellte Frage, ob mir der Computer zum Freund und Helfer geworden ist,
kann ich uneingeschränkt bejahen. Ohne den Einsatz eines Computers hätte ich mein
berufliches Pensum, das dem der sehenden Kollegen entsprach, sicherlich nicht
geschafft. Gesetzestexte und Entscheidungen, die nicht in Punktschrift vorlagen, konnte
ich aus einer juristischen Datenbank herunterladen und mit der Braillezeile lesen.
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Urteilsentwürfe konnte ich mit Hilfe eines Textprogramms schreiben und bearbeiten. Seit
meiner Pensionierung weiß ich die Vorteile des Computers aber auch im privaten Bereich
zu schätzen. Zu warnen ist jedoch, was blinde Nutzer anbelangt, vor zu großen Illusionen.
Bevor uns der Computer die Arbeit erleichtert und Zeit erspart, ist viel Fleiß und viel Zeit
aufzuwenden. Zu überwinden sind nicht nur die Schwierigkeiten, mit denen auch jeder
sehende Computernutzer zu kämpfen hat, sondern hinzu kommen noch die nicht
unerheblichen Schwierigkeiten mit dem Betrieb der Braillezeile und anderer
blindentechnischer Zusatzgeräte. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der rasanten
Fortentwicklung der Betriebssysteme und der nur schleppend nachhinkenden Entwicklung
blindengerechter Adaptionen. So war das bis vor einigen Jahren gebräuchliche und
textorientierte Betriebssystem DOS für Blinde mit einer Braillezeile gut beherrschbar. Mit
der Verbreitung des grafisch gestalteten Betriebssystems Windows ergaben sich für
unseren Personenkreis aber erhebliche Probleme. Als dann die Adaption von Windows
3.1 an unsere Bedürfnisse endlich gelungen war, kam schon Windows 95 mit einer ganz
anderen Technologie auf den Markt. Als man für dieses Betriebssystem blindengerechte
Lösungen entwickelt hatte, folgten Windows 98, Windows 2000, Windows XP usw. Für
diese Systeme mussten wiederum Anpassungen entwickelt werden, was natürlich einige
Zeit in Anspruch nahm.
Eine der besten und erfolgreichsten Softwarelösungen zur Darstellung grafischer
Oberflächen für Blinde ist das von einer amerikanischen Firma entwickelte Programm
„JAWS". Dieses Programm beinhaltet unter anderem eine deutschsprachige
Sprachausgabe und erlaubt zusätzlich die Ansteuerung von Braillezeilen verschiedener
Fabrikate. Bewegt man den Cursor auf einen Menüpunkt, wird dieser Menüpunkt über die
Sprachausgabe angesagt und der entsprechende Text - z. B. „speichern unter" - erscheint
auch auf der Braillezelle. Darüber hinaus kann man sich Textdokumente fließend vorlesen
lassen. Über einen angeschlossenen Scanner können auch Schriftstücke, deren
Druckqualität allerdings gut sein muss, "hörbar" und auf der Braillezeile lesbar gemacht
werden. Die bisher verfügbaren Computerstimmen sind zwar gewöhnungsbedürftig und
nicht gerade charmant, andererseits aber unermüdlich und sehr geduldig. Sie müssen im
Gegensatz zu menschlichen Vorlesern nicht ständig mit Mineralwasser betankt werden,
sie gähnen nicht und schwer verständliche Textpassagen lesen sie - wenn gewünscht auch zehnmal vor.
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Im Allgemeinen kann ein geübter blinder Computernutzer mit Hilfe der Sprachausgabe
und der Braillezeile ohne besondere Schwierigkeiten Texte schreiben, lesen und
bearbeiten. Bei der Arbeit mit Tabellenkalkulationen und Datenbanken tauchen aber
bereits Probleme auf. Das gilt auch für die Nutzung des Internets. Hier führt die Vielzahl
der angebotenen "Links" oft dazu, dass der blinde Nutzer - im wahrsten Sinne des Wortes
- die Übersicht verliert. Dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich Link um Link
ansagen zu lassen, um so einen Eindruck von der Gestaltung der Webseite zu gewinnen.
Das kann bei mehr als 100 Links, die oftmals auf einer Webseite erscheinen, ein
beschwerliches Geschäft sein. Kennt man jedoch den Aufbau einer bestimmten Webseite,
lassen sich die gesuchten Links mit Hilfe der Suchfunktion durchaus schnell finden und
aufrufen.
Trotz der geschilderten Mühen und Plagen ist und bleibt der Computer für unseren
Personenkreis aber ein hervorragendes Hilfsmittel. Wir können endlich selbst prüfen, was
wir geschrieben haben. Die Zeiten, in denen wir „blind" Texte in die Schreibmaschine
tippen mussten, sind vorbei. Mit Bekannten und Freunden können wir ohne fremde Hilfe
korrespondieren. Die Peinlichkeit, sich einen Liebesbrief vorlesen lassen zu müssen,
gehört der Vergangenheit an. Über das Internet können wir uns nun eine Fülle von
Informationen beschaffen, was früher nur mit Hilfe einer geduldigen Vorlesekraft möglich
war. So lese ich seit meiner Pensionierung morgens Artikel aus der Süddeutschen
Zeitung oder der Frankfurter Rundschau, die kostenlos im Internet angeboten werden.
Auch Gedichte und Texte ganzer Bücher, soweit diese keinem Urheberrechtschutz mehr
unterliegen, lassen sich im Internet finden. Das Abrufen von Telefon-Nummern und
Zugverbindungen ist für uns nun ebenso möglich wie das Bestellen von Waren, die ins
Haus geliefert werden. Wer hätte von uns vor der Computerzeit davon zu träumen gewagt,
in einem Warenhauskatalog "blättern" zu können.
Doch ein blindengerecht ausgestatteter Computer ist ein teurer Freund und Helfer. Für
eine Anlage mit Sprachausgabe, Braillezeile und Punktschrift-Drucker fallen Kosten von
über 20.000 Euro an. Ein Preis, den sicherlich nur sehr wenige von uns aus eigener
Tasche aufbringen können. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass die Krankenkassen und
Fürsorgestellen die Bedeutung, die der Computer für uns hat, erkennen und es nicht zu
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einem Abbau, sondern zu einer Erweiterung der bisherigen finanziellen Unterstützung
kommt.
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