Vortrag Emanzipation und Verfolgung homosexueller Männer im
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Vortrag Emanzipation und Verfolgung homosexueller Männer im
1 1 Geschichte der Homosexuellen in Hessen: Emanzipation und Verfolgung homosexueller Männer vom 19. Jahrhundert an bis heute mit den Schwerpunkten NS-Zeit und Rechtsgeschichte (Texte zum Power-Point-Vortrag von Rainer Hoffschildt am 04.04.2014 im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration Wiesbaden) 2 Der Kassenbote Martin Landgrebe aus Kassel wurde vom dortigen Landgericht im November 1942 wegen „Sittlichkeitsverbrechens §175“ zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt. Im Urteil hieß es zum einschlägig Vorbestraften: „Der Angeklagte … gibt zu, … widernatürliche Beziehungen zu dem ihm als homosexuell bekannten Zeugen S. aufgenommen … zu haben. Sie begrüßten sich nach der Art der Homosexuellen bei der Begegnung mit ‚Mieze‘ und ‚Agathe‘ und fassten sich gegenseitig beim Abschied über der Hose an das Glied. Das kam wiederholt vor. … Weitere widernatürliche Handlungen sind nicht festgestellt worden. … Das Anfassen des Gliedes eines anderen ist, wenn es, wie hier, aus homosexueller Einstellung heraus erfolgt, widernatürliche Unzucht … Der Angeklagte war deshalb nach §175 zu bestrafen. … Sein persönlicher Eindruck, den er in der Hauptverhandlung vermittelte, kennzeichnete ihn als Psychopathen, dem die nötigen Hemmungen fehlen und der deshalb leicht in sein Laster zurückfällt. … Das erfordert eine strenge Bestrafung, wenn der Strafzweck des Schutzes der Volksgemeinschaft vor dieser Seuche erreicht werden soll.“ Seine Strafe verbüßte er im Gefängnis Wolfenbüttel, das 1943 von der Kriminalpolizeistelle Kassel die Anordnung der polizeilichen Vorbeugungshaft erhielt. Und so wurde er zum Strafende im Juni 1943 in das Polizeigefängnis Kassel transportiert. Im August kam er im KZ Buchenwald an. Im Januar 1944 transportierte man ihn in das KZ Mittelbau-Dora, wo die Häftlinge in unterirdischen Stollen Zwangsarbeit bei der Produktion von V-Waffen leisten mussten. Dort starb Martin Landgrebe im Juni 1944 im Alter von 44 Jahren angeblich an einer Krankheit des Verdauungstrakts, tatsächlich aber doch wohl an den Strapazen der Haft und der Unterversorgung im KZ. Da 2002 seine Verurteilung nach §175 vom Deutschen Bundestag aufgehoben wurde, war seine Haft rückblickend widerrechtlich. 3 Kapitel I. Zur Vorgeschichte 4 Reichsweit galt für das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ – also auch für Hessen – ab 1532 die „Constitutio Criminalis Carolina“. Im Artikel 116 sah sie die Todesstrafe durch Verbrennung für Homosexuelle vor. 5 Zur Rechtslage der Verfolgung homosexueller Männer in den 1840er Jahren in der Deutschland schrieb Karl Heinrich Ulrichs: „In 11 Ländern und Landestheilen Deutschlands war in den 1840er Jahren Urningsliebe … bereits straffrei, …Ueberall war die Bestrafung gewichen dem Zuge der Humanität und zugleich den Ideen des Jahrhunderts vom Rechtsstaat. Der Staat, der den Anstoß gab, diese mildere und freiere Anschauung wieder zu verdrängen, war Preußen." Hessen Darmstadt und Hessen-Nassau führten folgende gleichlautenden Bestrafungen 1842 und 1849 ein: „Wer sich widernatürlicher Unzucht schuldigt macht, soll, …, mit Correctionshaus bis zu drei oder Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft werden. …“ Und für den preußischen Teil des Landes galt ab 1866-1870, dass die widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu vier Jahren bestraft wurde. 2 6 Ab 1871 kriminalisierte dann §175 im Norddeutschen Bund und ab 1872 im ganzen Deutschen Reich. Er war fast wortgleich mit dem preußischen Recht. In den Preußischen Provinzen Hessen-Nassau und Sigmaringen, im Großherzogtum Hessen und im Fürstentum Waldeck kam es zwischen 1882 und 1915 zu 734 Verurteilungen nach §175 StGB wegen Homosexualität und Sodomie. Zwischen 1902 und 1914 kam es in den Oberlandesgerichtsbezirken Frankfurt/M., Kassel und Darmstadt zu 244 Verurteilungen nach §175 StGB wegen homosexueller Handlungen. 7 Hinter den statistischen Zahlen stehen Menschen: Die jeweiligen Staatsanwaltschaften schrieben folgende Personen zur Fahndung wegen „widernatürlicher Unzucht“ aus : • Den geflüchteten 16-jährigen Kaufmannslehrling Moritz Cornelius aus Rotenburg. • Den 28-jährigen Schlosser Johann Reiser. • Den 41-jährigen Johann Christian Delcher. • Den geflüchteten 35-jährigen Tagelöhner Wilhelm Fritzke aus Preungesheim. • Den 16-jährigen Schmiedelehrling Heinrich Wölfert. • Den 22-jährigen Dienstknecht Johannes Schepp aus Birstein. • Den 22-jährigen Arbeiter Friedrich Dietz. • Den 45-jährigen Melker Johann Allmann. • Den 29-jährigen Schreiner Stefanus Aloysius Josef Thienelt aus Bad Vilbel. • Den 20-jährigen Arbeiter Joseph Lepsie aus Hofgeismar. • Den 20-jährigen Tagelöhner Karl Georg Gasser aus Wiesbaden. • Der 22jährig Mechaniker Wilhelm Gebhard aus Gießen betätigte sich in Frankfurt/M als Strichjunge und bestahl und erpresste auch seine Opfer. Im Oktober 1913 wird er deshalb in Frankfurt/M. wegen versuchter Erpressung, Diebstahls und Betrugs zu einem Jahr und neun Monaten Gefängnis verurteilt. • 1912 wurde in Frankfurt der Erpresser Johannes Rehm wegen Erpressung und „widernatürlicher Unzucht“ festgenommen. • 1914 beging der 54jährige Rentner August Lipp aus Wiesbaden einen Selbstmordversuch vermutlich, weil ihn Walter Stanzfeld erpresste. Einen Artikel aus 1914 möchte ich vorlesen: „Als der ‚Dieb auf homosexuellem Hintergrunde‘ erschien der 25-jährige Kellner Franz Rauth aus Offenbach auf der Anklagebank. Er kam am 27. Oktober aus dem Gefängnis. Bis zum 13. November hatte er seinen Arbeitsverdienst aus der Strafanstalt klein gemacht. Da musste wieder Geld hergeschafft werden, und Rauth ließ sich abends von einem Homosexuellen ins Schlepptau nehmen und kampierte bei ihm. Als er morgens fortging wechselte er seinen schlechten Anzug mit einem besseren des Zimmerherrn. Dass in dem Anzug auch eine Taschenuhr steckte, störte ihn dabei nicht. In der Nacht zum 7. September schlief er wieder bei einem Mitbürger. Diesem mauste er 30 Mark bar und verschiedene Sachen. Nun muss er wieder auf 15 Monate nach Preungesheim.“ (Der Artikel zeigt eine typische Situation von Homosexuellen, die von Strichjungen bestohlen und erpresst wurden, dass sich aber doch einer wehrte, was wohl selten vorkam und dass die Presse das damals noch mit Humor oder Häme darstellte.) 8 Das 1897 gegründete „Wissenschaftlich humanitäre Komitee“, die weltweit ersten Vereinigung überwiegend homosexueller Männer, organisierte den Widerstand gegen §175 durch eine Petition an den Reichstag, die Magnus Hirschfeld entwarf. 9 Mindestens 148 Prominente aus Hessen zeigten Solidarität mit dem Widerstand: 33 Unterschriften unter die Petition kamen aus Frankfurt/M., 23 aus Wiesbaden, 17 aus Gießen, 14 aus Darmstadt, 9 aus Kassel und 8 aus Marburg. 10 Kapitel II.: Nicht alles ist Gold was glänzt in den „Goldenen Zwanzigern“ Zu den Früchten der Revolution von 1918 gehörte auch die Pressefreiheit. Mit den neuen 3 Zeitschriften für Homosexuelle entwickelte sich eine Kommunikationsstruktur, die identitätsbildend das Selbstbewusstsein stärkte, eine politische Gruppenvernetzung ermöglichte und auch die individuelle Einsamkeit durch Kontaktanzeigen verringerte. Treffpunkte für Homosexuelle wurden erstmals öffentlich genannt. 11 Auch Hessen geben zahlreiche Kontaktanzeigen auf. Aus Bad Homburg, Darmstadt, Frankfurt, Fulda, Kassel und Wiesbaden. Die meisten Anzeigen stammen aus dem Anfang der 1920er Jahre. 12 1920 erschien der 1. Reiseführer für Homosexuelle. Vereine und Treffpunkte wurden auch für Hessen genannt. 13 In Frankfurt bildete sich 1920 ein Freundschaftsbund, der dem „Deutschen FreundschaftsVerband“ angehörte. Später schloss sich die Gruppe dem „Bund für Menschenrecht“ an und existierte noch Ende 1932. 1926 besuchte Friedrich Radszuweit die Gruppe und hielt zum 7. Stiftungsfest eine Rede. 14 Der Freundschafts-Klub-Kassel wurde am 28. August 1920 gegründet, hatte im September 1920 seinen ersten offiziellen Abend und lud alle Freunde des Verbandes zum 18. September 1920 zum „Bunten Abend“ ein. Man sammelte auch Spenden, um „ein eigenes Heim zu gründen.“ In der „Freundschaft“ stand: „Unser glänzend verlaufener erster Ball übertraf unsere Erwartungen. Es herrschte die gemütlichste Stimmung. Hoch und niedrig fühlte sich eins.“ Und:„Einen würdigen Verlauf nahm unsere Weihnachtsfeier [1920]. Der Saal unseres Klublokals war besetzt. Aus Waldeck und Großthüringen hatten sich Freunde eingefunden. … Die Bescherung fand allgemeine Bewunderung.“ Ernst Nobis berichtete, dass „Aufklärungsabende“ genauso zum Vereinsleben wie „Landpartien“ und Tanzveranstaltungen gehörten. Im März 1921 veranstaltete die Kasseler Gruppe den ersten gemeinsamen Verbandstag des „Deutschen Freundschaftsverband“ aller deutschen Gruppen aus Hamburg, Frankfurt/M., Stuttgart und Berlin. 1922 traf man sich sogar an drei Tagen in der Woche im „Klublokal Cölnischestraße 23.“ Für Sonnabend den 21. Oktober 1922 wurde im Schloß Schönfeld in Kassel das Stiftungsfest angekündigt. Darüber berichtete Nobis: Man habe den aufsichtführenden Polizisten Schnäpse gereicht, damit sie einschliefen. Dann hätte man umso unbekümmerter tanzen können und erst dann wäre auch ein Kuss möglich gewesen. Doch 1924 muss die Gruppe eingegangen sein. Erst 1930 wurde wieder eine Ortsgruppe gegründet. Vorsitzender wurde Karl Schmidt. Doch der entpuppte sich als Betrüger, der Mitgliedskarten des Bundes fälschte und monatelang die Beiträge unterschlug. Aus einem Rückblick: „In Kassel gab es vor 1933 keine von schwulen Wirten geführte Bars, sondern ein Kreis von Schwulen mietete sich für einen Abend in einer Gastwirtschaft ein Vereinszimmer. Zutritt hatten nur diejenigen, die sich durch eine Clubkarte ausweisen konnten. Ein solcher Treffpunkt war im ‚Frankfurter Eck‘... Nach der Machtübernahme waren nur noch gelegentliche Treffs in Privatwohnungen möglich.“ 15 Kapitel III.: Den ideologischen Hintergrund der NS-Schwulenverfolgung bildeten der Rassenwahn und die Überhöhung der Idee der Volksgemeinschaft. Dies bewirkte zunächst die Ausgrenzung und später die „Ausmerzung“ von „Andersartigen“, „Minderwertigen“ und „Volksschädlingen“. Schwule seien „bevölkerungspolitische Blindgänger“. Sie verminderten damit die „Aufrassung“ der „Arier“. Ihr Verhalten könne sich durch Verführung „seuchenartig“ ausbreiten. Sie seien damit Staatsfeinde. Schwule seien minderwertig wie Kranke, Asoziale und Kriminelle. 4 Wohlweislich versteckten sich die meisten Homosexuellen und sind nie aufgefallen. Durch die Nazi-Ideologie wachsen der staatliche Verfolgungsdruck und auch die Bereitschaft zur Denunziation. Sämtliche Zeitschriften der Schwulen und Lesben wurden innerhalb kürzester Zeit verboten. Die Schwulenlokale, soweit bekannt, wurden geschlossen. 16 Noch 1933 zeigte sich Hitler mit seinem Duzfreund und bekanntermaßen homosexuellen SA-Chef Ernst Röhm. Viele Homosexuelle dachten noch, so schlimm kann es ja nicht werden. Neun Monate später ließ Hitler ihn und anderen politischen Gegner ermorden. Er wollte die Konkurrenz zwischen SA und Reichswehr beenden und die SA Röhms entmachten. Zur Rechtfertigung der Morde wurde die Propagandalüge vom „Röhm-Putsch“ erfunden und seine Homosexualität betont. Die Nationalsozialisten stilisierten sich als „Saubermänner“ und „Retter der Nation“, fischten aber in den trüben Quellen des „gesunden Volksempfindens“. 17 In der Zeitschrift der SS „Das Schwarze Korps“ aus 1937 wurde es klar dargestellt: „Das sind Staatsfeinde“ – gemeint sind die Schwulen. Erwähnt wurde, dass man diese „Anomalen“ „sehr wohl aus der Volksgemeinschaft ausscheiden könnte“. Das geschah verstärkt in Gefängnissen, Zuchthäusern, Strafgefangenen- und Konzentrationslagern. Im Buch „Kriminalität und Gefährdung der Jugend, Lagebericht bis zum Stande vom 1. Januar 1941“ wurde eine Art Soziogramm des Sexualverhaltens dargestellt als ein „Musterbeispiel der homosexuellen Verführung durch einen erblich belasteten verdorbenen Jugendlichen und für die seuchenartige Ausbreitung der Homosexualität von einem einzigen Gefahrenherd aus“. Der „weichlich[e], triebhaft[e], psychopathisch[e]“ „Hauptverführer E., Hasso“ habe in Wiesbaden-Erbenheim „40 junge Menschen“ verführt. Unter diesen gab es dann ein vermeintliches Netzwerk weiterer Sexualkontakte. Hasso E. wurde zu einem Jahr Gefängnis und Fürsorgeerziehung verurteilt. Weitere fünf Jugendliche wurden ebenfalls zu Gefängnis verurteilt und mindestens 17 gerieten in „Schutzaufsicht“. 18 1935 wurde § 175 radikal verschärft zu einem Totalverbot. Früher wurden homosexuelle Männer wegen eines Vergehens mit höchstens 5 Jahren Gefängnis bestraft, nun aber mit bis zu 10 Jahren Zuchthaus. Selbst ein Mann, der aus einem Versteck heraus einen heterosexuellen Beischlaf beobachtete und zugab durch den Mann erregt worden zu sein, wurde verurteilt. Es musste keine sexuelle Handlung mehr vorliegen, auch der bloße Versuch konnte strafbar sein. Die Verurteilungen nach § 175 in den Oberlandesgerichtsbezirken Frankfurt/M., Kassel und Darmstadt konnten nur geschätzten werden, da für 1931-1936 nur die Verurteilungen mit den Sodomie-Fällen und danach nur die Anklagen wegen Homosexualität bekannt sind. Für 1939 lag auch nur der Wert des 1. Halbjahres vor. Die Zahl der geschätzten Verurteilungen steigerte sich zwischen 1933 und 1939 auf das 23fache. Es kam zu rund 2.500 Verurteilungen. 19 Die Schätzwerte der Verurteilungen in den einzelnen Bezirken zeigen, dass im Bezirk Kassel bereits 1937 ein Maximum erreicht wurde, dass im Bezirk Darmstadt immer noch Verurteilungen auf hohem Niveau stattfanden und dass es im Bezirk Frankfurt/M. immer noch zu einem enormen Anstieg kam. Im Zuge der reichsweiten Neuorganisation der Kriminalpolizei wurde die Kriminalpolizeileitstelle Frankfurt/M. eingeführt. Ihr zugeordnet waren Kriminalpolizeistellen in Frankfurt/M., Kassel und Darmstadt. Ab 1937 bis zum 1. Vierteljahr 1939 sind die nach §§°175, 175a und b erfolgten 5 Täterermittlungen als Vierteljahresstatistik bekannt. Insgesamt kam es in diesem Zeitraum zu 1.837 Täterermittlungen. 20 Die Eskalation der Struktur der Unmenschlichkeit: Polizeiaktivitäten In Todesgefahr gerieten Schwule zunehmend durch Polizeiverordnungen. Eine Vorstufe zur Kriminalisierung ist die Sammlung von Informationen: 1934 mit dem Gestapo-Erlass zur namentlichen Erfassung Schwuler und 1936 mit dem Erlass zur Errichtung der „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung“. Am einschneidendsten war die Verordnung des Reichsführers SS, Heinrich Himmlers, aus dem Jahre 1940, die bestimmt, dass alle Schwulen, die mehr als einen Partner „verführt“ hatten, nach der Strafhaft in ein KZ einzuweisen seien. Hinzu kam 1942 eine Vereinbarung zwischen Himmler und dem Reichsjustizminister Thierack: Sicherungsverwahrte, darunter viele Schwule, seien in ein KZ zu überführen. Thieracks Ziel war, Sicherungsverwahrte Zitat: „durch einen Einsatz dort, wo sie zugrunde gingen“ zu vernichten. Die Entscheidungen über die KZ-Einweisungen wurden meist in den Kriminalpolizeileitstellen getroffen. 21 Seit 1987 arbeite ich an meinem Projekt „Namen und Gesichter“ mit dem ich versuche, so viele durch den NS-Staat verfolgte homosexuelle Männer wie möglich namentlich zu ermitteln und ihr Schicksal zu klären. Ich versuche auch Fotografien der Personen zu erhalten und ihnen so ihr Gesicht zurückzugeben. Bis Anfang 2014 habe ich rund 18.000 Personen ermittelt. Insgesamt sind mir 989 §°175-Opfer aus der NS-Zeit mit Bezug zum heutigen Land Hessen bekannt. Bezug zu Hessen heißt, sie sind hier geboren oder wohnten hier oder wurden hier verhaftet, verurteilt oder verbüßten hier ihre Strafe, wobei aber das Strafgefangenenlager Rodgau, in das Häftlinge aus ganz Deutschland kamen, nur in Einzelfällen einbezogen wurde. [Beruf: Sie waren überwiegend Arbeiter und Handwerker (56%) und zu 26% Angestellte und Kaufleute. 18% gehören zu anderen Berufen, wie Akademiker, Beschäftigte im öffentlichen Dienst oder bei der Kirche, Künstler und Selbständige. Familienstand; sie waren nur zu 76% ledig. Religion: 63% evangelisch, 32% katholisch. Die Verfolgung wuchs nach 1933 langsam bis 1937 zu einem ersten Gipfel mit 163 Verurteilungen, erreichte 1939 einen zweiten Gipfel mit 166 Verurteilungen und sank dann schnell ab. Die Erstnachweise in der Haft verliefen ähnlich, erreichten aber bereits 1936 einen Gipfel und dann 1939 mit 189 Erstnachweisen ein Maximum. Sie wurden vermutlich überwiegend, zu fast 70%, nach §°175 verurteilt, ¼ nach §175a und 6% auch nach §°176. Von rund 650 Personen ist die Art der Strafe bekannt: 71% wurden mit Gefängnis, 29% mit Zuchthaus bestraft. Beim Urteil waren sie im Durchschnitt fast 34 Jahre alt und es erwartete sie eine durchschnittliche Haftstrafe von fast 22 Monaten.] 221 kamen in ein Strafgefangenenlager der Justiz, 109 in ein KZ und 56 in beide Lagerarten. Von 569 (58%) ist auch ihr Haftschicksal bekannt: 104 (18%) starben, 408 (72%) wurden entlassen bzw. flüchteten, wobei nicht auszuschließen ist, dass sie später erneut in Haft kamen, dies aber nur nicht bekannt ist. Weitere 57 (10%) überlebten bzw. wurden aus den KZ befreit. 22 Die Grafik zeigt die Anzahl der bekannten §°175-Opfer nach Haftorten. Zu Rodgau wurde bisher am meisten geforscht. Freiendiez, Mainz und Zweibrücken gehörten damals zu Hessen. Für Frankfurt und Kassel sind noch Hunderte von Häftlingen zu erwarten. 104 Personen mit Bezug zum heutigen Hessen starben, 80% von ihnen im KZ und davon allein 20 im KZ Sachsenhausen. Die letzten Wohnorte der Toten in Hessen zeigt diese Grafik. 23 Auszug aus den R i c h t l i n i e n zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung der Kriminalpolizeistelle Kassel vom 11.°Mai 1937: 6 „2. Erforderlich ist: a) eine ständige Kontrolle der Hotelfremden und Pensionsgäste, insbesondere in Sommer- und Winterfrische. Homosexuelle nehmen gern Doppelzimmer. b) eine Überwachung des Anzeigenteils der Tageszeitungen in Bezug auf verfängliche Angebote usw., deren Aufgeber vermutlich Homosexuelle sind. c) alle männlichen Personen zu erfassen, die im Verdacht stehen, homosexuell veranlagt zu sein. ... d) ... e) die sorgfältige Führung von Karten oder Nachweisungen, aus denen der Name des Homosexuellen, der Wohnort, die Straftat und deren Zeitpunkt und der Sachverhalt zu ersehen sein muß. Strichjungen, Erpresser, Jugendverderber müssen als solche besonders gekennzeichnet sein. ... Etwa im Mai 1937 begann in Kassel eine Verhaftungswelle, der zahlreiche Homosexuelle zum Opfer fielen, die dann im Juni vom Schöffengericht Kassel verurteilt wurden. Über die Prozessflut berichtete dann der Kasseler Bote mit einem hämischen Artikel unter dem Titel: „Einige aus dem Klub für Menschenrechte Weitere Sittenverderber abgeurteilt.“ Im Text hieß es: „Daß der Staat und die Justiz gegen die Sexualverbrecher mit der rücksichtslosesten Strenge vorgeht, beweisen wieder einige Prozesse, die in den letzten Tagen vor dem Schöffengericht verhandelt wurden.“ Dann wurden die Opfer, ihre Vergehen und Strafen, namentlich aufgeführt und so an den Pranger gestellt. Einer wurde beschrieben als ein „vollkommen verdorbener Mensch, der vom Jahre 1929 bis 1934 seinem Laster nachging.“ Ein anderer sei „in den Jahren 1926 bis 1936 in Kassel und Göttingen dem Laster nachgegangen. Nunmehr hat er ein Jahr Zeit, im Gefängnis über seine Schandtaten nachzudenken.“ „In fast allen Prozessen wurde der ‚Klub der Menschenrechte‘, …erwähnt.“ In einer dienstlichen Beurteilung eines Kasseler Gestapobeamten hieß es lobend: „… in vorbildlicher Pflichterfüllung unter Aufopferung seiner Gesundheit … Auch bei der großen Aktion gegen homosexuelle Kreise hat er seine unermüdl. Tatkraft bewiesen. Seinem energischen Zugreifen war es damals zu verdanken, dass gerade in Kassel die führenden homosex. Kreise nahezu ausnahmslos erfasst und zur gerichtlichen Aburteilung gebracht werden konnten.“ Ernst Nobis gehörte zu den Opfern. Ernst Nobis wurde 1899 in Kassel geboren. Anfang der 1920er Jahre trat der gelernte Kaufmann der in Kassel gerade gebildeten Gruppe des Deutschen Freundschaftsverbandes bei. Im Mai 1937 wurde er verhaftet und im Juni nach §175 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Im Schnellverfahren wurden zahllose Homosexuelle verurteilt. Später berichtete er, dass etwa 200 Schwule im Gefängnis einsaßen. 1942 wurde erneut wegen Homosexualität in Kassel verhaftet und im August 1942 verurteilt. Nachzuweisen war ihm die Berührung des Geschlechtsteiles eines anderen Mannes auf einer Toilette. „Dieser Griff ... währte jedoch nur wenige Augenblicke. ...“, außerdem ein Kuss auf den Mund und einen auf die Wange des Mannes. Die 18 Monate Haft verbüßte er im Gefängnis Wolfenbüttel. Gegen Ende der Haft teilten ihm Gestapobeamte mit, dass er nach der „Strafe … wahrscheinlich in das Konzentrationslager Buchenwald überführt werde.“ Daraufhin setzte sich ein Regierungsrat aus Wolfenbüttel für ihn ein und schrieb an die Staatsanwaltschaft: „Nobis hat zunächst in schwerer Außenarbeit, der er körperlich kaum gewachsen ist, willig und mit großer Ausdauer fleißig gearbeitet. Seit Mai 1943 als Verwaltungshausarbeiter beschäftigt, habe ich Gelegenheit gehabt, ihn täglich zu beobachten. Nobis ist ein gutgebildeter, sauberer und unermüdlich fleißiger Mann mit guten Umgangsformen. Seine Führung war und ist tadellos. Er ist sehr feinfühlig und hat 7 offensichtlich unter der Strafe sehr gelitten. Dass es ihm mit seinem Entschluss, sich nun endgültig von dem unsittlichen Lebenswandel abzuwenden und Herr über sich zu werden, Ernst ist, verdient Glauben.“ Dieses Schreiben rettete Ernst Nobis wahrscheinlich das Leben, denn Anfang September 1943 eröffnete ihm die Staatspolizeistelle, dass sie auf eine Einweisung in ein KZ verzichten würde, wenn er sich entmannen lasse. Er musste sich schriftlich dazu bereit erklären und wurde im September 1943 entlassen. Zurück in Kassel empfing ihn der SS-Obersturmführer Hellwig mit den Worten: „Na, man hat sie ja leben lassen.“ Der Gestapobeamte Dittmar teilte ihm den Tod einiger schwuler Bekannter mit und drohte: „Das kann Ihnen auch blühen.“ Am 15. Februar 1944 wurde die Kastration in der Marburger Universitätsklinik vorgenommen. In der Nachkriegszeit beantragte er erfolglos bei der Stadt Kassel eine Entschädigung. 1949 ergriff er eine Initiative zur Abschaffung des §175, indem er in der Homosexuellenzeitschrift, in „Der Kreis“ aus der Schweiz, den Artikel „Der Kampf um ein neues, deutsches Recht“ veröffentlichte. Der Schlusssatz: „Wer in Deutschland hilft mit?“ Erst 1972 wurde in Kassel wieder eine Schwulengruppe gebildet und ein Artikel darüber veranlasste ihn, sie zu besuchen und über sein Schicksal zu berichten. 24 Paul Bäumer war schon zweimal nach §175 bestraft, als er im Mai 1936 nach Kassel zog. Dort lernte er einen vermeintlichen Homosexuellen kennen. Als er sein sexuelles Interesse bekundete, forderte dieser Geld dafür, lockte ihn in eine Falle und ließ ihn verhaften. Obwohl es überhaupt nicht zu sexuellen Handlungen gekommen war, wurde er im Juni 1937 wegen „widernatürlicher Unzucht“ zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. 1939 passierte ihm in Bielefeld ähnliches. Aus dem Urteil: „So ist er auch dieses Mal wie in Kassel auf einen Mann hereingefallen, der es darauf abgesehen hatte, gleichgeschlechtlich veranlagte Menschen der Polizei zu übergeben.“ 1940 wurde er als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt. Er kam in die Strafgefangenenlager Walchum und Brual-Rhede. Dort wurde seine Gesundheit ruiniert. 1941 kam er wegen „Mooruntauglichkeit“ in das Zuchthaus Celle, wo er am 9. Dezember 1942 im Alter von 43 Jahren starb. Dr. Werner Hesse, 1906 in Kassel geboren, studierte Jura und wurde Rechtsassessor in Berlin. 1937 wurde er in Kassel wegen „widernatürlicher Unzucht“ zu 1 1/2 Jahren Gefängnis verurteilt, kam über das Gefängnis Wolfenbüttel in das Lager Neusustrum. Sein Titel wurde ihm aberkannt. 1944 kam er für kurze Zeit in das KZ Sachsenhausen. Auf Intervention seines Vaters, eines einflussreichen Bankiers, kam er frei. In der Nachkriegszeit engagierte er sich in der Homophilenbewegung in Berlin. Er vertrat viele Homosexuelle vor Gericht. Der einschlägig vorbestrafte kaufmännische Angestellte Heinrich Hassenpflug, wohnte 1938 in Kassel und wurde erneut nach §°175a verurteilt, diesmal zu 2 Jahren Gefängnis. Zur Haft kam er in das Gefängnis Wolfenbüttel. Im Dezember 1939 ordnete die Gestapo Kassel Schutzhaft für ihn an und so wurde er im Januar 1940 zur Gestapo Kassel überstellt. Keine zwei Monate später, am 8. März 1940, starb er im KZ Sachsenhausen im Alter von 33 Jahren. 25 Ähnliche Artikel wie in Kassel wird es in auch in anderen Städten gegeben haben. Hier ein Beispiel aus Darmstadt: Der genannte Arbeiter Gerhard Jackisch wurde 1942 in Darmstadt wegen „widernatürlicher Unzucht“ zu 1 Jahr und 6 Monaten Zuchthaus verurteilt. Er habe „fortgesetzt einen Jugendlichen zu unzüchtigen Handlungen verführt“, was nur bedeuten kann, dass sie eine längere Freundschaft hatten. 1943 transportierte man ihn in das Zuchthaus Butzbach und 1944 in das KZ Buchenwald, wo er am 11. September 1944 im Alter von 43 Jahren starb. 26 Der Landvermessungstechniker Fritz Lembke aus Wiesbaden wurde 1940 in Frankfurt/M. 8 nach §175a zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt. Das Gericht stellte auch fest, dass er „Kriegstäter“ sei. Diese blieben zwar in Haft, sollten ihre Strafe aber erst nach Kriegsende verbüßen können. Die Gestapo Frankfurt/M. hatte ihn außerdem in Verdacht, er habe „sich an der illegalen Fortführung des Nerotherbundes beteiligt“, eines verbotenen WandervogelBundes. Im November 1940 transportierte man ihn in das Strafgefangenenlager Börgermoor. Von dort aus wurde er 1941 nach Bremen Neuenlanderfeld transportiert, einem Außenlager des Zuchthauses Bremen. Dort wurden Häftlinge beim Flugplatzbau eingesetzt, heute City Airport Bremen. Der Flugplatz war laufen das Ziel alliierter Bombenangriffe. Sein weiteres Schicksal ist nicht bekannt. Der 16jährige Metzgerlehrling Willy Bachmann aus Hofheim stand 1938 bei der Gestapo Frankfurt/M. unter Verdacht, gegen §175 verstoßen zu haben. Bekannt ist nur noch, dass er 1944 in der Ukraine gefallen ist. Sein Partner, der in Hofheim lebende Schuhmacher Karl M. wurde 1938 nach §175 zu 2 1/2 Jahren Gefängnis verurteilt, kam zunächst nach Preungesheim und dann nach Darmstadt, wo er 1940 entlassen wurde. Der Artist und Zirkusdompteur Ludwig Gömpel wurde 1936 und 1938 in Frankfurt/M. nach §§°175 und 175a zunächst zu Gefängnis und dann zu Zuchthaus verurteilt. Er war in einigen Emslandlagern, im Zuchthaus Celle, in den KZ Sachsenhausen, Großrosen und Dachau, wo er 1942 starb. Oswald Köhler wohnte Zuletzt in Wiesbaden. Im März 1940 befand sich der 37-Jährige als homosexueller „Berufsverbrecher“ im KZ Sachsenhausen. Von dort transportierte man ihn im April 1940 in das KZ Flossenbürg. Weiter ging es im Februar 1941 in das KZ Dachau, wo er in das Krankenrevier kam. Im Januar 1942 kam er auf einen „Invalidentransport“. Auf solche Transporte kamen kranke, nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge, die dann z.B. in Schloss Hartheim vergast wurden. Deswegen sind die offiziellen Angaben zu seinem Tod wahrscheinlich gefälscht. Angeblich starb er am 1. April 1942 im KZ Dachau im Alter von 39 Jahren an Versagen von Herz- und Kreislauf bei Darmkatarrh. 27 Hessen kamen in großer Zahl in die Emslandlager: Der Soldat Georg B. aus Wiesbaden wurde 1941 wegen „fortgesetzter Unzucht mit Männern verurteilt. Er kam in das Lager Esterwegen im Emsland und dann in das Lager Nord in Norwegen. Er überlebte. Der Kaufmann Felix B. aus Wiesbaden, 1941 in Mainz wegen „widernatürlicher Unzucht“ verurteilt, kam in das Lager Börgermoor. 1945 wurde er aus dem Zuchthaus Celle entlassen. Der kaufmännische Angestellte Walter K. aus Wiesbaden wurde dort 1941 wegen „Unzucht mit Männern“ verurteilt und kam in das Lager Esterwegen. Er überlebte im Gefängnis Wolfenbüttel. Der Kraftfahrer Johannes K. aus Witzenhausen wurde 1938 in Kassel wegen „widernatürlicher Unzucht“ verurteilt. Er kam in die Emslandlager Börgermoor und Bathorn und die Zuchthäuser Lingen, Celle und Hameln. Dort wurde er 1942 entlassen. 28 In den etwa 9.000 Karteikarten des 1938 errichteten Systems von Strafgefangenenlagern bei Rodgau fanden sich auch 634 von §175-Opfern. Ihr Anteil von etwa 7% an allen Häftlingen ist enorm hoch und wahrscheinlich viel höher als in anderen Lagern. Hinzu kommen weitere Quellen, so dass insgesamt 683 §175-Opfer aus den Lagern Rodgau bekannt sind. Über 120 kamen auch in ein KZ. Von 2/3 der §175-Opfer ist auch ihr Haftabschluss bekannt: 76% wurden entlassen, wobei nicht auszuschließen ist, dass sie später doch noch wieder verhaftet wurden, dies aber nicht bekannt ist. 16% starben, fast alle im KZ, das sind 70 Personen. 8% überlebten, fast alle im KZ. 29 So sehen die Karteikarten aus Rodgau aus. 9 Ich habe die ausgewählt, die kurz nach ihrer Entlassung in ein KZ kamen und dort umkamen. Kurt Demmel, 1 Monat nach dem Abtransport im KZ Sachsenhausen, wo er starb. Engelbert Ebner, 1 Monat nach seiner angeblichen Entlassung im KZ Dachau, wo er starb. Max Glass, 3 Monate nach seiner angeblichen Entlassung im KZ Buchenwald, wo er starb. Heinrich Götze, 4 Monate nach der angeblichen Entlassung im KZ Sachsenhausen, wo er starb. Otto Herzfeld, 1 ½ Monate nach seinem Abtransport im KZ Auschwitz. Leo Hoffmann, 1 Monat nach seinem Abtransport im KZ Neuengamme, wo er starb. Felix Kircheis, 3 Tage nach dem Abtransport im KZ Buchenwald, er starb im KZ Ravensbrück. Hans Kolb, 2 Wochen nach dem Abtransport im KZ Natzweiler, wo er starb. 30 Hier lasse ich einfach die Fotos der §175-Opfer aus Rodgau wirken. 31 Nach der Farbe ihres Winkels werden sie bezeichnet. Etwa 5.000 bis 7.000 Schwule kamen als Rosa-Winkel-Häftlinge in die KZs. Ihre Todesrate liegt bei 58%. Sie starben an den Haftbedingungen. Befreit wurden 25%. Im KZ gehörten sie zur untersten Kaste der Häftlinge. Oft wurden sie von der SS in Strafkompanien und besonders schweren Arbeitskommandos zusammengefasst und schikaniert. An einigen wurden Menschenversuche durchgeführt. 1935 kamen viele in die KZ Columbiahaus und Lichtenburg, wurden aber fast alle entlassen. Nach dem Himmler-Erlass von 1940, der bestimmte, dass alle Schwulen, die mehr als einen Partner „verführt“ hatten, in ein KZ einzuliefern seien, schnellten die KZZuweisungen in die Höhe. 1942 erreichte die Zahl ihr Maximum. Die meisten starben nach wenigen Monaten. 32 Ab Herbst 1944 bis Anfang 1945 versuchte das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt, mit Hilfe von IBM-Computern den KZ-Häftlingseinsatz effizienter zu gestalten. Dazu wurden in den KZ Karteikarten erstellt, auf denen nicht einmal mehr der Name des Häftlings stand. Die Identifizierung erfolgte nur noch über die Nummer. Das Vorgehen bewährte sich nicht, es war zu langsam. Heinrich J. aus Bad Homburg überlebte im KZ Dachau. Franz K. aus Frankfurt/M. kam in das KZ Flossenbürg. Schicksal unbekannt. Georg Knöchel aus Pfungstadt starb im KZ Dachau. Friedrich K. aus Frankfurt/M. überlebt das KZ Flossenbürg. Luger P. aus Bad Sooden überlebt das KZ Buchenwald. Hans R. aus Offenbach starb wahrscheinlich im KZ Ravensbrück. Albert S., auch in Butzbach in Haft, überlebt im KZ Buchenwald. Wilhelm T., auch in Frankfurt/M. in Haft, überlebte das KZ Natzweiler. Armin W. aus Frankfurt überlebt wohl das KZ Neuengamme. 33 IV. Kapitel, Nachkriegszeit: Für Schwule endet das NS-Unrecht erst 1969. 34 Wie alle anderen Häftlinge wurden auch die Schwulen aus den KZ befreit. Von einer Entschädigung wurden sie zunächst gesetzlich und später durch die gesellschaftlichen Bedingungen ausgeschlossen. Schwule blieben als gewöhnliche Kriminelle weiterhin in Haft: – keine Befreiung aus Gefängnissen und Zuchthäusern. Obwohl NS-Unrecht auf Befehl der Alliierten abgeschafft werden muss, galten die NSFassungen der §§ 175 ff. fort. Oft ermittelten dieselben Polizisten und urteilten dieselben Richter wie in der NS-Zeit. Zwar waren Schwule nun nicht mehr in Lebensgefahr, ihrer Freiheit konnten sie aber weiterhin beraubt werden und ihrer bürgerlichen Existenz. 35 In Hessen kam es zwischen 1953 und 1969 zu fast 12.000 Täterermittlungen nach den NSFassungen der §§ 175, 175a StGB. Ein Höchstwert wurde mit 952 Täterermittlungen im Jahre 1957 erreicht. Danach sanken die Werte, auch ohne dass sich die Paragraphen 10 geändert hätten. 36 Zu Darmstadt. Die Polizei meldete zahlreiche aufgeklärte Straftaten. Die schlimmsten Erpressungen und Verstöße gegen §175 kamen in die Presse. 37 Mit einer verwirrenden Titelvielfalt erschienen ab 1948 wieder Homosexuellenzeitschriften. Sie wurden meist nach kurzer Zeit wieder verboten und erschienen in anderer Form neu. 38 Meist in Beilagen dieser Hefte wurden auch wieder Kontaktanzeigen veröffentlicht. Sie erschienen in Beilagen, damit nicht im Falle des Falles das ganze Heft wegen „Förderung der Unzucht“ verboten werden konnte. Oft suchte man verschleiernd nur den „Gedankenaustausch“ oder einen „Briefwechsel“. Ganz deutlich sind die Vorsicht und die Angst vor Verfolgung spürbar. 39 Im August 1953 wurde der ehemalige Pressereferent beim Hessischen Landesamt für Verfassungsschutz, der 38-jährige Dr. Horst Krüger, vom Landgericht Wiesbaden nach §175a zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt. Er hatte fortgesetzt sexuellen Kontakt zu einem 16-jährigen Schüler gehabt, den er angeblich quasi dienstlich als V-Mann für den Verfassungsschutz anwerben wollte. Ein früherer Vorgesetzten: „Er hatte einmal Leute festzustellen, die nachrichtendienstlich tätig sind, als Homosexuelle, eventuell unter Homosexuellen, … Das, was er tun mußte, das konnte er nicht allein. Dazu mußte er sich V-Leute unter den Homosexuellen schaffen. Das war seine Aufgabe.“ Krüger berichtete auch über eine geheimdienstlich interessante Bekanntschaft, die er im Freundschafts-Klub in Wiesbaden gemacht hatte. In „Der Weg“ zog man Parallelen zu dem Vorgehen der Gestapo in der NS-Zeit und und sah auch die Gefahr, dass wie zur NS-Zeit wieder Karteien mit dem Vermerk „homosexuell“ geführt würden. 40 [Über Frankfurts Gaststätten und Bälle in den 1950ern möchte ich hier nicht berichten. In der Kolibri-Bar erfreute man sich an der Darstellung von Damenimitatoren. Links abgebildet ist Karl Heinz aus Hannover.] 41 [Hans Giese aus Frankfurt gab 1950 die Zeitschrift für Sexualforschung heraus und initiierte eine Petition an den Bundestag zur Revision der §§ 175. In Frankfurt fanden bundesweite und auch internationale politische Tagungen der Homophilenbewegung statt. Den 2. Kongress des „international committee for sexual equality“ eröffnete 1952 der Alterspräsident des VhL Hermann Weber, der bereits in den 1930ern in Frankfurt eine Ortsgruppe des „Wissenschaftlich humanitären Komitees“ initiiert hatte. Die Zeitschrift für Homosexuelle „Die Gefährten“ mit dem Untertitel „Monatsschrift für Menschlichkeit, Wahrheit und Recht“ erschien ab Mai 1952 bis mindestens August 1954. Sie wurde vom am 6. August 1949 gegründeten Verein für humanitäre Lebensgestaltung (VhL) Frankfurt am Main herausgegeben. Verantwortlich für den Inhalt zeichnete Heinz Meininger (1902-1983) aus Frankfurt. Meininger lebte 46 Jahre mit seinem Freund Lorenz Hasenbach in fester Gemeinschaft. In „Die Gefährten“ erschienen z.B. Aufklärungs-Artikel, Artikel zur Rechtsberatung, zu Pressemeldungen und unterhaltsame Artikel. Petitionen an Politiker in Bonn und Eingaben bei Bischöfen wurden abgedruckt. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdenden Schriften indizierte die völlig harmlose Novemberausgabe von 1953 und dann gleich alle Ausgaben von Januar bis August 1954, so der Vermerk in der „Schundliste“, zusammengestellt vom katholischen „Volkswartbund in Köln“. Danach gab es „Die Gefährten“ nicht mehr.] 42 Im Wiesbadener Fortuna Verlag wurde 1950 das Buch „Homosexualität – Laster, Krankheit oder Verbrechen?“ Loy Wenker herausgegeben (1951 dann Tirana Verlag). Es beinhaltet 11 ein verdienstvolles Plädoyer gegen die Strafbarkeit der Homosexualität. Im Wiesbadener Tirana Verlag wurde 1951 das Buch „Durch das dunkelste Abendland“ von Hans Bielefeld verlegt. Eines der sehr seltenen Zeitzeugenberichte aus der NS-Zeit zu seiner Verfolgung. Er hatte seine Haft wegen §175a im Zuchthaus Hameln verbüßt. In Kassel traf man sich ab 1952 im Restaurant Uhrtürmchen bei Gretchen Ott. Und in Wiesbaden 1952 in der Häfnergasse 12 und 1953 bei Gitta Leu in der Dotzheimer Straße. 43 Erste Reiseführer aus Dänemark zeigen einige Treffunkte für Homosexuelle 1966 und 1968. 44 Kapitel V.: Es war wie ein Wunder: 1969 fallen die Nazi-Fassungen des §175. In der Nacht auf den 1.9.1969 gab es plötzlich Millionen Kriminelle weniger in der Bundesrepublik Deutschland. Zwar war Homosexualität unter erwachsenen Männern nun straffrei, sie blieb aber wegen des unterschiedlichen „Schutzalters“ im Verhältnis zur Heterosexualität weiter diskriminiert. 45 Die Kriminalisierung ging weiter: Verfolgung homosexueller Männer in Hessen durch die Polizei 1970 – 1994 Zu rund 1.750 Täterermittlungen kam es zwischen 1970 und der Abschaffung des §175 im Jahre 1994. Es dürfte in Hessen 1945 bis 1994 grob geschätzt zu etwa 16.000 Täterermittlungen gekommen sein. 46 1970 gründete sich in Wiesbaden die „Interessenvereinigung Deutscher Homophiler“ (IDH). Vorstand war der 36-jährige Verlagskaufmann Horst Bohrmann, der weitreichende Pläne hatte: „Kulturelle und sozialrechtliche Interessenvertretung der Homophilen in der Bundesrepublik Deutschland. Unterstützung der einzelnen Mitglieder bei der Beschaffung bzw. … Einrichtung von Clubräumen in Großstädten...“ usw. Der Verein war noch ein typischer Vertreter der bürgerlichen Homophilenbewegung der 1950er und 1960er Jahre, die bald von der studentischen Schwulenbewegung abgelöst werden sollte. 47 Johannes Werres studierte nach seiner Kriegsgefangenschaft katholische Theologie; nachdem seine Homosexualität bekanntgeworden war, wurde er vom Studium ausgeschlossen. Danach war er journalistisch u.a. auch 1950 bis 1954 in Frankfurt tätig. Hier arbeitete er beim „Verein für Humanitäre Lebensgestaltung e. V.“ mit. Noch von 1970 bis 1980 gab er von Kronberg im Taunus aus rund 100 Ausgaben der „Gay News Germany“, einen „Pressedienst für homosexuelle Thematik“, heraus. Werres bestimmte damit die redaktionellen Inhalte der neueren Homosexuellenzeitschriften wie zum Beispiel „him“, „Du und Ich“ und „Gay Journal“ erheblich mit. Er starb 1990 in Positano in Italien. 48 Nach dem Praunheim-Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ entstand landesweit ab 1972 eine neue soziale Bewegung. Zahlreiche Emanzipationsgruppen bildeten sich nun zunächst im studentischen Umfeld. Viele Diskriminierungen Homosexueller wurden nun nicht mehr hingenommen, sondern an den Pranger gestellt. Sie bewirkten nun Solidarität und Protest. 49 Erste Flugblätter und ein Plakat aus Frankfurt, Gießen und Kassel. Am 9. Mai 1972 fand die Gründungsversammlung der „Gruppe H“ in Gießen, statt. Ein erstes Flugblatt wurde verteilt. Die Gruppe stellte einen Antrag an die Universität Gießen, in die Liste der Studentengruppen eingetragen und entsprechend finanziell aus dem Etat für staatsbürgerliche Erziehung zu erhalten. Die Universität lehnte dies ab. Auch ein Widerspruch dagegen wurde zurückgewiesen. Homolulu, 1979 in Frankfurt, 1 Woche lang trafen sich Schwule zu zahllosen Veranstaltungen. Sie kamen aus der ganzen BRD. 12 50 Einige Plakate aus Wiesbaden, Darmstadt, Kassel, Frankfurt und Marburg zeigen wichtige Ereignisse. 51 1972 erschien die erste „Don“ in Frankfurt. Die Kontaktanzeigen stammen alle aus der „Du & Ich“ aus dem Jahr 1970. Oft beschrieb man nun Äußeres und man sagte klarer, was man wünscht. 1981–1988 erschien die „NUMMER die Zeitschrift der schwulen Bewegung im Rhein-MainGebiet“ aus Wiesbaden von Joachim Schönert. Ab 1990 gab er die Nachfolgezeitschrift „LUST“, mit dem Untertitel „Lesbische und schwule Themen, Zeitschrift für Mainz und Wiesbaden“ heraus. 52 Spartacus Gay Guide 1976: Die Szene änderte sich. 5 Seiten Frankfurt. 53 1990, mit dem Beitritt der neuen Länder zur BRD, entstand eine Rechtsungleichheit, da die DDR die Strafbarkeit der Homosexualität bereits 1989 abgeschafft und auf diese Regelung nicht verzichtet hatte. 1994 wurde nun auch in den alten Bundesländern der § 175 abgeschafft. Am 1. August 2001 trat erneut ein Sondergesetz für Homosexuelle in Kraft. Die Verpartnerung, eine Ehe zweiter Klasse, wurde für Homosexuelle möglich. Sicher ein Fortschritt, aber dies zeigte zugleich, dass die Gesellschaft immer noch nicht bereit war, allen Mitbürgern die gleichen Rechte zuzugestehen. 2002 hob der Bundestag die NS-Urteile nach den §175 und 175a, Ziffer 4, auf – nicht aber die nach den gleichen §§ aus der Nachkriegszeit. Ab 2002 im Internet GAYROMEO: Bequem vom Sofa aus Kontakt zum „Date“ in der neuen Community. 2008 sind über 300.000 Schwule aus Deutschland bei GAYROMEO angemeldet und keiner hat mehr Angst vor dieser größten „Rosa Liste“. Adé Kontaktanzeige. Derweil schließen viele Kneipen. Ende 2013 gab es fast 33.000 Profile aus Hessen in PlanetRomeo, rund 14.000 aus Frankfurt, fast 3.000 aus Kassel und über 2.000 aus Wiesbaden. 54 Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.