Das traumatisierte Kind: heilende Gespräche mit Neugeborenen
Transcription
Das traumatisierte Kind: heilende Gespräche mit Neugeborenen
Dr Wolfgang Schaller, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde H. Wallmannweg 11, 5020 Salzburg Tel/Fax: 0662/641417 Das traumatisierte Kind: Heilende Gespräche mit Neugeborenen und Kindern Vortrag am 18. Oktober 2003 in Graz beim 8. Kongress: Neue Wege in der Geburtshilfe Alle, die wir uns in diesem Saal befinden, vereint der Wunsch und das Ziel, Menschen zu unterstützen, auf ihrem Weg zur Elternschaft, und deren Kindern zu helfen, so glücklich und unbeschadet wie möglich, auf diese Welt zu kommen. Es würde zuviel Zeit beanspruchen, die Gründe zu nennen, warum dieses Thema des traumatisierten Kindes einen so wichtigen Platz in meiner Arbeit als Kinderarzt eingenommen hat; jedenfalls bin ich glücklich darüber, meine Erfahrung weitergeben zu können. Frédérick Leboyer wieder zu begegnen, freut mich ganz besonders; er gehört dem französischen Kulturkreis an, wie 2 weitere Menschen, ohne deren Hilfe ich meinen Weg in dieser Art nicht hätte gehen können: meine aus Lausanne stammende Frau Jacqueline begleitet mich seit bald über 50 Jahren durchs Leben, hat uns 4 Kinder geschenkt, hat mir geholfen, ihre Sprache zu sprechen und mich, besonders auch im Beruf, in allen Bereichen unterstützt. So wie für sie alle im Saal, die mit Geburtshilfe zu tun haben, Frédérick Leboyer Vorbild und eine Art Mentor ist, wurde für mich die 10 Jahre vor ihm in Paris geborene Kinderärztin und Kinderpsychoanalytikerin Francoise Dolto Mentor für den psychischen Bereich meiner Arbeit mit Kindern. Anlässlich einer persönlichen Begegnung 1981 in unserem Haus in Salzburg, hat sie mich unterwiesen und mir den Mut gegeben, von ihrer, Ende der 30-er Jahre gemachten Entdeckung, wie sehr Babys Sprache verstehen, Gebrauch zu machen, und zu versuchen, meine Worte statt an die Eltern, direkt an das Kind zu richten, unabhängig vom Alter des Kindes. Meine Skepsis war groß, meine Neugier noch größer, und ich versuchte es einfach. Damit war mir endlich eine Möglichkeit gegeben, meinen kleinen Patienten zu helfen, erlittenes Trauma zu verarbeiten, aber auch die von mir als Arzt verursachten Schmerzen, wie Blutabnahmen und Impfungen vorher anzukündigen, dann mit Worten zu begleiten, und schließlich mich zu entschuldigen; seither habe ich kaum mehr ein Kind erlebt, das vor mir Angst hatte. Unser heutiges Thema beschränkt sich auf die Zeit nach der Empfängnis bis zu den ersten Wochen des extrauterinen Lebens. Ich glaube, dass wir Menschen in dieser Lebensphase vor allem deshalb so verletzbar sind, weil wir noch nicht reflektieren können, d.h. wir leben ausschließlich in der Gefühlsebene und können nichts verstehen von dem, was mit uns geschieht, egal ob wir „nur“ von unserer Mutter weggetragen werden, ob wir 3 x am Tag wegen Hypoglykämie gestochen werden, oder gar eine Frühgeburt sind, mit allen Folgen der intensivmedizinischen Behandlung. Die häufigsten Folgen dieser Traumen sind exzessives Schreien oder das Gegenteil, d.h. wahrscheinlich Depression, Ein- oder Durchschlafstörung mit Albträumen oder Pavor nocturnus, die meist nach längerer Latenzzeit auftraten, Trennungsängste, die oft erst beim Kindergarteneintritt ein Thema werden und unbehandelt ein Leben lang eine Qual sein können, extreme Arztangst, Wasserangst, und diverse psychosomatische Probleme, auf die ich noch zurückkommen möchte. Was sind die häufigsten möglichen Traumata-Ursachen der Pränatalperiode? Jede Art der Bedrohung des Embryos oder Feten, wie Blutung, ernsthaft erwogene Interruptio, Verlust eines Zwilling, vorzeitige Wehen, Unfälle, und alles was der Muter sehr Angst macht, sie sehr belastet, und natürlich auch die endogene Depression. Zur Blutung als Ursache nun ein Beispiel: Sebastian kam am 5.2.93 mit 3500 g ohne Komplikationen im KH Oberndorf zur Welt: (Oberndorf war im Land Salzburg das erste allgemeine KH, das Rooming-in rund um die Uhr eingeführt hatte). Sebastians 5 Jahre älteren Bruder hatte ich bereits ab seiner Geburt betreut. Sebastian war im KH von Dr Wolfgang Schaller, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde H. Wallmannweg 11, 5020 Salzburg Tel/Fax: 0662/641417 seiner Mutter getrennt, hat sehr gut an der Brust getrunken, aber von Anfang an sehr viel geschrieen (was der Mutter vom ersten Kind unbekannt war). Als ich ihn am 11.3, d.h. 5 Wochen später erstmals sah, wog er schon 5370 g, zeigte eine wenig ausgeprägte Asymmetrie mit Kopfwendung nach rechts und Rechtskonvexer Skoliosehaltung, die ich mit der sog. Geburtsrolle, einer osteopathischen Methode, mit Erfolg behandelte. Eine Sonographie von Bauch und Harnwegen war unauffällig. Die osteopathische Behandlung hat, in Bezug auf das Schreien, ebenso wenig geholfen wie sämtliche Mittel gegen Blähungen und Koliken, berichtete die Mutter, als sie am 4. April ziemlich verzweifelt wieder kam; der inzwischen 2 Monate alte Säugling wog bereits 6050 g! Warum ich beim Erstbesuch auf die Standardfrage nach Problemen in der Schwangerschaft vergessen hatte, bleibt mir ein Rätsel. Jedenfalls hat sich bei der nachgeholten Anamnese herausgestellt, dass vor der SS von Sebastian, Frau W. 2 Spontanfehlgeburten im 3. Monat erlitten hatte, und auch dieses mal wieder im 3. Monat eine äußerst bedrohliche Blutung aufgetreten war; ihre Augen füllten sich mit Tränen beim Erzählen. Immer wieder konnte ich mit Faszination erleben, wie sich der Gesichtsausdruck eines Babys verändert, als ob es genau zuhören würde, wenn seine Mutter mit dem Kind im Arm über ein Ereignis spricht, bei dem es sozusagen um Leben und Tod geht. Meine Worte zu Sebastian waren nun ungefähr folgende: „Ich glaube, Sebastian, in Dir steckt noch die Todesangst, als Du im Bauch Deiner Mutter in Gefahr warst, zu sterben wie 2 Geschwister vor Dir. Du hast Dich fürs Leben entschieden. Lass Dir zu Hause von Deiner Mama noch einmal erzählen, welche Angst sie um Dich hatte und wie froh sie war, dass Du sie nicht verlassen hast.“ Als mich Frau W. nach einiger Zeit anrief, konnte sie es noch kaum glauben, dass Sebastian nach meinem und ihrem Gespräch vollkommen ruhig geworden ist, so wie sie es von ihrem ersten Sohn gewohnt war. Daraufhin schickte sie mir eine Freundin, mit einem 10 Monate alten Mädchen, wegen einer extremen Ess- und Durchschlafstörung. Rebekkas Geschichte möchte ich aber später erzählen, denn sie ist nicht so gelaufen, wie ich es mir gewünscht hätte. Dafür will ich nun zwei andere Beispiele perinataler und postnataler Traumatisierung erzählen, willkürlich aus meiner Patientenkartei gegriffen. Zuerst kam Frau K. mit ihrem 3-jährigen Tobias. Er hat seit seiner Geburt noch keine Nacht durchgeschlafen und litt außerdem an ausgeprägten Trennungsängsten. Vorgeschichte: unauffällige Schwangerschaft, Zangengeburt, 4 Wochen vor Termin in der Landesfrauenklinik, Geburtsgewicht 3000 g, Phototherapie, 1., 2. und 10. Nacht im Kinderzimmer. Meine Worte an ihn waren; „Tobias, als Du aus dem Bauch deiner Mama kommen wolltest, bist du stecken geblieben, und wärst fast erstickt. Die Ärzte haben Dir und deiner Mama geholfen, indem sie mit zwei breiten Löffeln deinen Kopf gefasst und Dich an die Atemluft herausgezogen haben. Es war für euch beide sehr mühsam und sehr schmerzhaft. Weil deine Mama so erschöpft war, durftest Du noch dazu die ersten Nächte nicht bei ihr schlafen, sondern in einem Zimmer mit anderen Babys, die aus Sehnsucht nach ihrer Mama sicher oft sehr weinen mussten. Jetzt ist alles aber vorbei, Du schläfst nahe bei Deinen Eltern und es ist nun für Dich nicht mehr notwendig aufzuwachen, um nachzusehen, ob Papa und Mama da sind. Jetzt soll Deine Mama mit Dir noch ins Krankenhaus fahren, in dem Du geboren wurdest und Dir nochmals erzählen wie es Euch beiden damals ergangen ist; sie soll Dich dort auch ins Babyzimmer führen, damit Dir die Krankenschwester Dein Bettchen zeigen kann und auch den Brutkasten, indem du fern von deiner Mama mehrere Stunden mit verbundenen Augen in hellem Licht liegen musstest, weil deine Haut ganz gelb war.“ Sie werden vielleicht erstaunt sein über meine Empfehlung, Mutter und Kind zurückzuführen an den Ort der Traumatisierung. Es geht hier nicht um eine optische Rückführung, sondern um eine olfaktorische. Wir alle kennen das Phänomen der Gefühlsassoziation in Zusammenhang mit bestimmten Gerüchen, z.B. Schule oder eben Krankenhaus. Die Wirkung des Verbalisierens scheint durch die Geruchsassoziation potenziert zu werden. Möglicherweise wirkt nicht nur der Geruch allein, Dr Wolfgang Schaller, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde H. Wallmannweg 11, 5020 Salzburg Tel/Fax: 0662/641417 sondern auch das Eintauchen in die Krankenhausatmosphäre, jedenfalls hat Tobias die ersten 3 Nächte durchgeschlafen und hielt es auch einige Stunden ohne seine Mama aus. Mit Eintritt in den Kindergarten kam er wieder viel öfter in der Nacht zu den Eltern; ein nochmaliger Besuch der Geburtsstation, wieder begleitet von den Worten der Eltern, war dann von dauerhaftem Erfolg. Als Tobias nun plötzlich schlief, kam Frau K. 6 Wochen später mit Fabian, der damals 5 Monate alt war und auch seit seinem 3. Monat jede Nacht mit angstvollem Aufschreien immer wieder erwachte. Sein Trauma war eine Nabelschnur-Umschlingung und ebenfalls Phototherapie. Frau K. war sehr erstaunt, als ich mit ihrem Säugling ähnlich sprach, wie mit dem 3-jährigen, und sie ebenfalls bat, die Geburtsstation aufzusuchen, wieder begleitet von ihren Worten. Fabian bedurfte keiner Wiederholung der Therapie. Ich möchte nochmals auf die Wichtigkeit des Geruchsinnes zurückkommen, mit dessen Hilfe das Neugeborene seine Mutter kurz nach seiner Geburt wiedererkennen kann. Vor über 70 Jahren hat schon René Spitz den Zusammenhang von Hospitalismus und Verlust des Muttergeruchs thematisiert. Dolto setzte diese Kenntnisse bereits in den Kriegsjahren bei einer akuten Säuglingsanorexie ein: ein ca. 8 Tage altes Baby musste abrupt abgestillt werden, wegen Hospitalisierung seiner Mutter, verweigerte aber konsequent die von der Großmutter angebotene Flasche. Der Rat Doltos’, ein bereits getragenes Nachthemd der Mutter aus dem Krankenhaus zu holen und um die Flasche zu wickeln, hat dem Kind das Leben gerettet. Dieser kleine Trick, dem Säugling ein Wäschestück mit Muttergeruch vor die Nase zu legen, könnte sicher oft ein Trennungs-Trauma vermeiden helfen, z.B. im Fall einer Phototherapie, die von manchen Babys schlecht akzeptiert wird. Ich kann Ihnen keine Erklärung geben für diese heilende Wirkung des Wiederaufspürens der Geruchsatmosphäre von Räumlichkeiten, in denen die Traumatisierung stattgefunden hat. Wahrscheinlich kommen dabei verschüttet tiefe Gefühle wieder an die Oberfläche, verlieren jetzt aber durch die Anwesenheit der Eltern und deren emotional geführtes Gespräch über den Hergang der Verletzung ihre krankmachende Wirkung. Unabhängig vom Lebensalter reagieren die einen Kinder bei diesem Besuch der Geburtsstation und Neonatologie mit Neugier, andere eher mit Missbehagen, die Mütter oft mit intensivem seelischem Schmerz. Häufig sind Besuchswiederholungen erforderlich, wenn sich wieder Symptome bemerkbar machen. Frühgeburten-Eltern empfehle ich auch, ohne sichtbare Leiden der heranwachsenden Kinder, zumindest bis zu Schuleintritt jährlich der Neonatologie einen Besuch abzustatten. Diese Therapie ist kostenlos, außerdem freuen sich die Schwestern, ihre ehemaligen Schützlinge wieder zu sehen, und fühlen sich in ihrer schwierigen Arbeit bestätigt. Nun zu den peri- und postnatalen Ursachen: Wir haben schon gesehen, bei Tobias und Fabian waren es drohende Asphyxie, Forceps, NSUmschlingung mit Zyanose und intensivem Absaugen, Trennung von der Mutter während der Nacht und zur Phototherapie. Weitere Ursachen können sein: ein Blasensprung, der die Mutter in Panik versetzt, jeder operative Eingriff, insbesondere in Narkose, Reanimation, besonders mit Inkubation, Nahtod-Erlebnis, z.B. bei Asphycie, Frühgeburtlichkeit mit all ihren intensivmedizinischen Folgen und Trennungserlebnissen. Das Trauma kann auch rein psychisch sein, z.B. bei tiefer Enttäuschung der Eltern über das Geschlecht des Kindes, oder wegen einer Missbildung oder durch vorübergehende Ablehnung des Kindes im Wochenbett, was immer wieder, trotz vorherigem intensiven Kinderwunsches, passiert. Dies war das Problem Rebeccas vor 10 Jahren, wobei ich erst vor 2 Wochen in einem langen Telefongespräch von Frau G. erfuhr, dass meine Therapie eigentlich versagt hatte: Rebecca war ein Wunschkind, ihre Eltern besuchten den Geburtsvorbereitungskurs im KH Oberndorf und freuten sich sehr auf eine harmonische Entbindung. Groß war der Schock von Fr. G. als es nach langen Wehen plötzlich hieß, die Herztöne seien bedrohlich schlecht, und man könne nur durch eine Notsektion die Gefahr vom Kind abwenden. Als Herr G. seiner Frau nach ihrem Erwachen aus der Narkose Rebecca Dr Wolfgang Schaller, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde H. Wallmannweg 11, 5020 Salzburg Tel/Fax: 0662/641417 brachte, sagte sie zu ihm nur: „Tu’s weg“, wollte ihr Baby gar nicht in die Arme nehmen und auch nicht stillen; sie glaubte, es sei nicht ihr Kind. Diese Ablehnung dauerte eine gute Woche. Die folgenden 10 Monate waren für alle 3 ein Martyrium weil Rebecca nur in den Armen ihrer Eltern schlafen konnte und wollte, jedes Ablegen des scheinbar tief schlafenden Kindes in ihr Bettchen oder ins Elternbett führte zum sofortigen Erwachen und Schreien, bis sie wieder in den Armen der Eltern lag. Der Vater hat sie bis Mitternacht getragen, die Mutter bis in den Morgen. Ich erklärte Rebecca, die mich groß und intensiv anblickte, warum in ihr diese tiefe Angst steckte, wieder ein „Weg-Leg-Kind“ zu werden, wie sie es in ihrer ersten Lebenswoche erlebt hatte, und bat wieder die Mutter mit Tochter und Mann, der ja eine wichtige Vermittler-Rolle gespielt hatte, in das Krankenhaus zurückzukehren, zum Sprechen über die Vorfälle in der entsprechenden Atmosphäre. Alle Mütter mache ich auch immer darauf aufmerksam, dass sie bei diesem Gespräch versuchen sollen, sich an ihre eigenen Gefühle und Emotionen zum Zeitpunkt des Traumas zu erinnern; davon hängt in hohem Maß der Erfolg dieser Gespräche ab. Rebecca hatte ich nur einmal gesehen; eine positive Rückmeldung, dass sie jetzt problemlos schlief, bekam ich nach einigen Monaten von Frau G.’s Freundin. Die volle Wahrheit erfuhr ich aber erst vor 2 Wochen; Frau G. hatte damals nicht den Mut und die Kraft meinem Rat zu folgen, weder was den Weg ins KH betraf, noch zum Gespräch mit Rebecca über ihre Bindungsschwierigkeit. Ich erlebe immer wieder, dass es für manche Mütter zu schmerzhaft ist, an den Ort ihres „Versagens“ zurückzukehren, einerseits weil sie sich „schuldig“ fühlen, ihrem Kind nicht ein „normales“ Zur-WeltKommen ermöglicht zu haben, andererseits weil ihre eigene persönliche Verletzung und Enttäuschung noch zu groß sind. Frau G. hatte auch große Angst, die Liebe ihrer Tochter zu verlieren, falls sie ihr mitteilte, wie sie anfangs abgelehnt wurde. Was hat Frau G. nun wirklich gemacht? Einige Wochen nach ihrem Besuch bei mir, hielten die Eltern die Situation nicht mehr aus, spürten die Aggression gegen ihr Kind immer mehr werdend, und entschlossen sich, den Anleitungen des Buches „Jedes Kind kann schlafen lernen“ entsprechend, Rebecca schreien zu lassen, allerdings nach langem Sprechen mit ihr und in kleinen Schritten, d.h. dass sie anfangs nach kurzen Intervallen immer wieder zum Kind gingen, es aber nicht mehr auf den Arm nahmen zum Einschlafen. Die heute 10-jährige Rebecca schläft zwar ohne Probleme, hält aber ein Allein-Sein überhaupt nicht aus; wenn die Mutter auf die Toilette geht, wartet Rebecca vor der Tür, bis diese wieder herauskommt – ich habe Fr. G. am Telefon empfohlen, das Versäumte so bald es geht nachzuholen, den Besuch im Krankenhaus und das Gespräch über die Geburt und die erste Lebenswoche. Nun noch zwei Fälle mit psychosomatischen Erkrankungen: Eine 8-jährige Bettnässerin hatte bereits eine stationäre Untersuchung im Kinderspital hinter sich, bei der eine organische und seelische Ursache ausgeschlossen werden konnten. Dass auch eine perinatale Traumatisierung zum „Weinen durch die Blase“ führen kann, war dem Psychologen des Kinderspitals vielleicht nicht bekannt. Ich hatte nie Gelegenheit mit diesem Mädchen zu sprechen, die Eltern waren mit ihrer jüngeren Schwester in meiner Praxis. Beim Verabschieden erzählten sie mir von den Sorgen bezüglich ihrer Ältesten. Es stellte sich heraus, dass es sich um ein etwas früh geborenes Sektiokind handelte, welches die ersten 10 Tage seines Lebens in einer Neonatologie verbringen musste. Wieder empfahl ich natürlich, sowohl einen Besuch in der Geburtsstation, als auch der Neonatologie, begleitet von den entsprechenden Worten der Eltern. Dieses Mädchen z.B. wollte nach einem kurzen Blick und Riecher in den Raum, in welchem sie fern ihrer Mama ihre ersten Lebenstage verbracht hatte, sofort wieder in die frische Luft, ihr Bettnässen hatte mit diesem Tag aufgehört. Dr Wolfgang Schaller, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde H. Wallmannweg 11, 5020 Salzburg Tel/Fax: 0662/641417 Eine Geschichte, die mich besonders beeindruckt hat, ist die des damals 4-jährigen Roland. Die Mutter war verzweifelt, weil der Bub ab seinem 2. Lebensjahr zunehmend an schweren nächtlichen AsthmaAnfällen litt, trotz vorbeugend verabreichter Medikamente. Eine Durchuntersuchung an einer Uni Kinderklinik konnte die Asthma-Ursache, wie z.B. eine Hausstaubmilben-Allergie nicht aufdecken, und Roland musste mehrmals pro Nacht mit Inhalationen behandelt werden. Seine Lebensgeschichte: Blasensprung in der 29. SSW, Sektio, Intubation und künstliche Beatmung während der ersten 3 Lebenstage, 5 Wochen Neonatologie. Roland war sehr interessiert an meinem erklärenden Gespräch, dabei habe ich ihm auch ein Laryngoskop und einen Beatmungstubus gezeigt. Der Besuch der Neonatologie hat ihn fasziniert, er konnte sogar ein Frühgeborenes sehen, das intubiert und beatmet im Inkubator lag. Während 3 Monaten hat sich dann Roland daheim täglich einige Minuten unter ein Tischchen gelegt und Frühgeburt gespielt, sein Asthma ist vollkommen verschwunden. Meine Überlegung zu diesen beiden Fällen war, dass ein Symptom, dass nur im Schlaf auftritt, d.h. wenn unser Bewusstsein ausgeschaltet ist, etwas mit dem Unterbewusstsein zu tun haben muss; wir wissen ja, dass alles Erlebte ab der Embryozeit in irgendeiner Weise im Unterbewusstsein gespeichert ist. Wahrscheinlich ist die Chance für einen am Anfang des Lebens traumatisierten Menschen, sein Trauma wieder loszuwerden umso größer, je früher dieses verbalisiert und vielleicht auch über den Geruchssinn ins Bewusstsein gerückt wird. Bevor wir zum Schluss kommen, möchte ich noch auf die ziemlich häufig anzutreffende Angst vor Wasser hinweisen: Katharina kam ab der 4. Lebenswoche regelmäßig in meine Praxis. Erst bei der 2Jahres-Untersuchung erzählte mir die Mutter, dass ihr einziges Problem mit dem Kind das Waschen oder Baden sei, und zwar seit der Geburt. Sie reagiert auf jeden Kontakt mit Wasser, als würde sie misshandelt. Darauf fragte ich nach dem Fruchtwasser und dem Umstand des Blasensprungs. Katharinas Mutter war in der Schalterhalle des Hauptbahnhofs vom Blasensprung überrascht worden, sie kam in Panik und hatte große Angst ihr Kind im Taxi auf der Fahrt ins Krankenhaus zur Welt bringen zu müssen. Katharina spitzte ihre Ohren bei dieser Erzählung: Ich erklärte der 2-jährigen nochmals mit einfachen Worten den Vorfall und die Mutter wiederholte dies zuhause. Wenige Tage später kam der Anruf: Katharina ist seit diesen Gesprächen nur mehr mit Mühe aus der Badewanne herauszubringen. Eine viel häufigere Ursache von Hydrophobie ist die Aspiration von Fruchtwasser, besonders wenn dieses missfarbig ist; in diesen Fällen ist auch schon bei ganz jungen Säuglingen neben dem Gespräch das Aufsuchen der Geburtsräumlichkeiten äußerst wirksam. Ich hoffe sehr, dass diese Geschichten meiner kleinen Patienten, denen von Ihnen, die mit Säuglingen und Kindern arbeiten, Mut machen, zu heilenden Gesprächen, so wie ich es vor 22 Jahren dank Francoise Dolto erlebt hatte. Sie versicherte mir, dass für diese Art von therapeutischem Gespräch eine psychotherapeutische Ausbildung nicht erforderlich sei. Dadurch erweitert sich der Kreis der Menschen, die Kinder und Eltern nach traumatisierenden Erlebnissen sehr früh und rasch helfen könnten, auf alle, die rund um die Geburt und während der Tage, Wochen und Monate danach, mit ihnen zu tun haben. Mein größter Wunsch wäre aber, dass wir alle Eltern, Hebammen, Schwestern und Ärzte lernten, Babys, wann immer dies möglich ist, bevorstehende Eingriffe vorab zu erklären und dann mit Worten zu begleiten; so könnten wir unseren Kindern am Anfang ihres Lebens viel Leid ersparen.