Mit Planwagen übers Land, mit Pferden über die

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Mit Planwagen übers Land, mit Pferden über die
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Mit Planwagen übers Land, mit Pferden über die Alpen, auf Schiffen und Flößen die
Flüsse hinab, zu Fuß zu den heiligen Stätten
Pilgern, Straßen und Verkehr aus kulturhistorischer Sicht
(Johannes Grabmayer, Klagenfurt)
1. Einleitung
„Pilgern, Straßen und Verkehr“ sind wichtige und höchst aktuelle Problemfelder in einem
Europa, das immer mehr zusammenwächst. Streitpunkte wie allgemeine Kostenteilung, aber
nicht allgemeine Teilhabe am Nutzen, Umweltbelastung durch den Transitverkehr, stark
differierende Mauten und Zölle in den verschiedenen Staaten sind viel und oft auch emotional
diskutierte Themen in der europäischen Verkehrsplanung und -politik. Gerade was die
Mobilität der Menschen anlangt, hat unser heutiges Europa das Erbe des Mittelalters
angetreten. Dabei kann der „Pilger“ als Metapher für den mobilen Menschen durch die Zeiten
stehen. Heute sind Pilgerreisen für viele ein fixer Bestandteil ihres religiösen und kulturellgesellschaftlichen Lebens. Reiseagenturen und Tourismusbüros bieten sie zu zahlreichen
näheren oder ferneren Zielen an: nach Altötting, Mariazell, Einsiedeln oder Gurk, nach
Fatima, Lourdes, Meñugorje, und natürlich zu den „großen Drei“ Jerusalem, Rom oder
Santiago de Compostela. Schon im Mittelalter wurde Europa mit einem Netz von Straßen und
Wegen überzogen, die auch Pilgern dienten, die zum Teil sogar besonders für sie geschaffen
wurden. Pilger haben Klöster und Städte gefördert. Unterwegs und während ihres Aufenthalts
haben sie nach Dienstleistungen verlangt, so dass sich aus den Xenodochien der Spätantike
einträgliche Beherbergungsgewerbe entwickeln, Schiffer, Fähr- und Fuhrleute, aber auch
andere Dienstleister sich und ihre Familien mit dieser Arbeit ernähren konnten. So florierte
die Buttonindustrie schon im Mittelalter. Verkehrsgünstig gelegene Siedlungen profitierten
von Pilgern ungemein. Erst der Strom der Pilger hat einen Ort wie Vézelay in Burgund
aufblühen lassen. Die Pilger des Mittelalters sind die Vorfahren der heutigen Touristen. Ein
gewisser Wohlstand bildete die Voraussetzung für die vielfältige Hilfe, die sie unterwegs
erfuhren. Eigens für sie wurden Brücken gebaut und Spitäler gegründet, die später auch
anderen Reisenden zugute kamen. Sie waren für die Zeitgenossen eine wichtige
Einkommensquelle. Was Pilger nachgefragt, was Handwerker und Künstler geschaffen haben,
erlaubt Europa heute, sich seines Erbes und damit auch seiner Identität bewusst zu werden.
„Pilger haben dazu beigetragen, dass sich im Abendland Gemeinsamkeiten ausbildeten, die
langfristig stärker waren als Gräben zwischen den Konfessionen, stärker als Grenzen der
Nationalstaaten, stärker schließlich als der Eiserne Vorhang, dessen Fall wir erleben durften.“
(Klaus Herbers)
Nicht anders als im Mittelalter sind die heutigen Pilger ein ernst zu nehmender
Wirtschaftsfaktor. Das gilt für die großen Pilgerziele wie Jerusalem, Rom und Santiago de
Compostela, aber auch für kleinere wie Gurk in Kärnten mit seinem jungen „HemmaPilgerweg“. Die „Via Nova“, die vom niederbayerischen Kloster Metten über 280 km nach St.
Wolfgang im oberösterreichischen Salzkammergut führt, wurde als Touristenattraktion
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„erfunden“. Der „Pilgerkuchen“ ist in den letzten Jahren als neues Tourismussegment
wiederentdeckt worden. „Alternative" Reisende teilen die Mühen einer langen Radfahrt oder
eines mühsamen Fußmarschs mit Jungen und Alten, die Hunderte von Kilometern wandernd
wie die Apostel ihre individuelle Imitatio Christi leben wollen. Der Camino Francés, der
mehr als 700 Kilometer lange, von ehrwürdigen, besuchenswerten Sehenswürdigkeiten
gesäumte Pilgerweg durch Nordspanien nach Santiago, wurde im Jahre 1987 vom Europarat
zur ersten europäischen Kulturstraße erhoben und 1993 als Weltkulturerbe unter den Schutz
der UNESCO gestellt. Oder die Via Francigena, der 1600 km lange Pilgerweg von
Canterbury nach Rom, über den schon Sigerich von Canterbury 994 schreibt, als er nach Rom
reist, um vom Papst das Pallium, das wollene Schulterband der Erzbischöfe, zu empfangen,
wurde 1994 vom European Institute of Cultural Routes auf Antrag des italienischen
Tourismusministeriums als Europäische Kulturstraße deklariert.
2. Mobilität im Mittelalter
Der Begriff „Straße“ leitet sich vom lateinischen Wort strata (lat. spernere - ausbreiten) her
und meint den gepflasterten Weg. „Weg“ wiederum bedeutet im Mittelhochdeutschen
„schmale Straße“. Das Wort „Pilger“ leitet sich vom lateinischen peregrinus (fremd,
unwissend) her. Im der römischen Rechtsprache meinte peregrinus Gastarbeiter oder
Arbeitsemigrant. In der frühen christlichen Theologie bis zu Augustinus veränderte sich die
Semantik des Wortes zu einer Umschreibung für das auf Gott gerichtete Christenleben in der
Welt, und seit dem 11. Jahrhundert wird der Gang zu den heiligen Stätten zur peregrinatio.
Anders als frühere Wissenschaftergenerationen, welche die Mobilität des Mittelalters stark
unterschätzt hatten, wissen wir heute, dass die europäischen Gesellschaften des Mittelalters,
insbesondere vom Zeitalter der Romanik an - trotz aller Fährnisse beim Reisen - überaus
mobil gewesen sind. Abertausende waren auf den Wasser- und Landrouten unterwegs, mit
Pferden über die Gebirge, mit Planwagen übers Land, mit Schiffen entlang der Küsten und
über die Meere, auf Flössen die Flüsse abwärts, und die allermeisten zu Fuß. Der Mensch war
unterwegs: „Männer und Frauen, gewiss von Zeit zu Zeit mit unterschiedlicher Intensität, als
Pilger und Krieger, als Bettler, Dirnen, Gauner und Gaukler, als Handwerksgesellen, als
Magister und Scholaren, Kleriker, Mönche und Nonnen, als Neubürger, als ökonomische,
technische und kulturelle Spezialisten, Händler, Kaufleute, Fuhrleute, Baufachleute,
Uhrmacher, Künstler und gelehrte Spezialisten, Ärzte und Juristen, Schreiber, Gesandte und
Boten, als Dienstpersonal, als Reisende und fast schon Touristen, als Verbannte wie
Urfehdeleistende, als Auswanderer und Flüchtlinge aus den verschiedensten Gründen.“
(Rainer Ch. Schwinges) Sie alle haben Europa erst zu dem gemacht, was es ist - eine
multikulturelle, vielgestaltige Einheit ganz spezifischer Prägung. Auch dank ihrer
Reisefreudigkeit hat das Abendland Gemeinsamkeiten ausgebildet, die Europa bis heute
prägen. Auf den Straßen des Mittelalters lassen sich sogar Ansätze zu einem
gemeineuropäischen Bewusstsein erkennen. Wie Handwerker und Gelehrte haben auch Pilger
Anregungen, die sie unterwegs erhielten, in der Erinnerung bewahrt. Nach der Heimkehr
erzählten sie von dem, was sie unterwegs Neues gesehen hatten, überprüften dessen
Anwendbarkeit und veranlassten Handwerker, ähnliche Werke herzustellen oder sich vor Ort
kundig zu machen - etwa hinsichtlich der Nutzung von Wasser- und Windenergie, der
Herstellung von Papier und Druckerzeugnissen. Gutenberg hat mit der Herstellung von
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Pilgerzeichen Erfahrungen gesammelt, welche die Entwicklung beweglicher Lettern
beschleunigt haben.
3. Mittelalterliche Händler: Araber, Juden, Wikinger
In der Epoche nach den so genannten Germanenstürmen gegen das von der romanischen
Kultur geprägte Abendland, die eigentlich viel eher langsame Durchdringung denn
kriegerische Eroberung gewesen sind, und den Einfällen des Islam, welche die blühende
Kultur des Mittelmeers zertrümmerten, noch lange vor dem Wiedererblühen der europäischen
Städtelandschaft und damit des europäischen Handelssystems, gibt es auch „Welthandel“.
Europa ist daran nur marginal beteiligt. Arabische Fernhändler kennen die Welt wie niemand
sonst. Sie folgen den Richtungen der Warenströme überallhin und entdecken selbst die
abgelegensten Regionen der Erde. Sie sind die Kosmopoliten der Zeit. Ihre
Geschäftsverbindungen, aber auch ihr Entdeckergeist führen sie hin zu den Rändern der
islamischen Welt und weiter in die Regionen der Ungläubigen. Sie handeln gleichermaßen
mit den Völkern Asiens, Afrikas und Europas. Im Nordwesten des islamischen Weltkreises
führen die Verkehrsrouten in die Länder des Kaspischen Meeres und über die russischen
Ströme weiter in die Ostseeregionen und nach West- und Mitteleuropa. Das Pendant der
Moslems im Abendland sind vor allem Juden. Jüdische Fernhändler bereisen das Mittelmeer,
verladen ihre Waren am heutigen Suezkanal auf Kamele und am Golf von Suez wieder auf
Schiffe, mit denen sie an der arabischen Küste entlang segeln und manchmal sogar bis Indien
vordringen. Sie ziehen mit ihren Karawanen über die Wüstenpisten Nordafrikas, oder sie
verlassen die Handelsschiffe schon an einem der Häfen des östlichen Mittelmeeres und
dringen von da aus ins Innere des Landes vor. Aber auch die Wikinger sind nicht nur Bauern
und furchtlose Krieger, sondern zugleich vorzügliche Fernhändler, die mit ihren Waren viele
Länder der Welt bereisen. Sie unterhalten rege Beziehungen zu Arabern und Juden. Unzählige
arabische Münzen wurden vor allem im Westen Skandinaviens und Russland gefunden. Die
Straße ins Morgenland führte über die Wolga zum Kaspischen Meer. Am Wolgaknie, unweit
des heutigen Kasan, lag der bedeutende Marktplatz Bolgar, ein Schmelztiegel der Kulturen,
wo zahlreiche Händler verschiedener Herkunft und Religion ihre Waren anboten. Er war zwar
nicht so groß wie Haithabu in Jütland, das wichtigste Handelszentrum zwischen Westeuropa
und den Nordländern, aber ebenso wie dieses von großer verkehrsstrategischer Bedeutung.
Ein Netz von Handelswegen verlief um die Jahrtausendwende fernab eines römischen
Straßensystems auf vorgegebenen Routen von Island bis zum Kaspischen Meer, vor allem
entlang der osteuropäischen Flüsse und über die Küstenbereiche der Nord- und Ostsee. Der
Handel wurde saisonweise vorwiegend mit Schiffen betrieben, die auch ferne Ziele
ansteuerten - Konstantinopel, die Metropole am Bosporus, die Lombardei, Jerusalem.
4. Wasserwege und Handelszentren
Im europäischen Binnenhandel dienen während des gesamten Mittelalters vor allem die
großen Flüsse als Transportwege, aber auch für den Personenverkehr sind sie wichtig:
Garonne, Loire, Rhône, Saône, Seine, Somme, Oise in Frankreich, in Deutschland Elbe,
Spree, Weser, Oder, Schelde, Maas, Rhein, Main, Donau, Weichsel, in Italien Brenta,
Etsch/Adige, Arno und ganz besonders der Po, wo seit dem 13. Jahrhundert die
Binnenschifffahrt durch die Anlage von Kanälen erweitert wurde, waren bedeutende
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Wasserwege , da sich der Transport mit Schiffen, die einen geringeren Tiefgang als heute
hatten, und auf Flößen als wesentlich sicherer und billiger als mit Wagen oder Tragtieren auf
der Straße gestaltete. Wichtig waren vor allem die großen Wasserrouten auf den Strömen
Europas. Man konnte von der Nordsee auf einer weitestgehend schiffbaren Strecke von ca.
2000 km Länge über Rhein, Aare, Bieler See, Neuburger See, Genfer See und Rhône das
Mittelmeer erreichen. Auch war man durchaus bereit, Schiffe streckenweise zu tragen. Die
Donau verbindet mit ihrem mehr als 2500 km langen Lauf etliche Länder und mehrere
Kulturen. Sie war unentbehrlich für Personenverkehr, Handel und Heerestransporte.
Daneben wurden viele kleinere Flüsse verkehrstechnisch genutzt. Wo immer sich die
Möglichkeit bot, wurden Wasserwege den Landwegen vorgezogen. Die Reisegeschwindigkeit
war zu Wasser wesentlich höher, auch wenn die unregulierten Flüsse langsamer flossen als
heute. Auf dem Landweg von Lübeck nach Danzig etwa brauchte man 14 Tage, zu Wasser
hingegen nur vier. Die Bequemlichkeit auf dem Schiff war größer als in einem Wagen, einer
Sänfte, zu Pferd oder zu Fuß, und der Laderaum eines Schiffes konnte viele Wagenladungen
aufnehmen. Dennoch war auch die Flussfahrt abenteuerlich. Viele gefährliche Stellen
erschwerten das Weiterkommen. So ist der Unfall eines Floßes der reichen Nürnberger
Behaim-Handelsgesellschaft im Jahr 1455 unweit der Völkermarkter Brücke in Unterkärnten
überliefert, wobei die gesamte Ladung Tuche verloren ging. Die Kaufleute hatten sie
wahrscheinlich auf einer der großen Frankfurter Handelsmessen erworben und danach über
den Radstädter Tauern und den Katschberg mit Saumtieren zur Drau befördert, von wo es auf
Flößen zu den Handelsplätzen Villach, Völkermarkt, Pettau/Ptuj und Marburg/Maribor, dem
Hauptspeditionsplatz für die Untersteiermark, weiterging. Die Flößerei wurde vom
Hochmittelalter an äußerst wichtig, da sie den steigenden Bau- und Brennholzbedarf der
aufblühenden Städte nahezu ausschließlich deckte. Die unzähligen kleinen Wasserstraßen des
frühen Mittelalters kamen im hohen und späten Mittelalter durch viele Mühlenstaus an den
Flussoberläufen, die mit dem rasch steigenden Energiebedarf der Wirtschaftsbetriebe in den
Siedlungen zusammen hängen, sukzessive ab. Flussaufwärts wurde häufig getreidelt, d.h.,
Tiere oder öfter Menschen zogen das Boot, eine Methode, die von den Römern in Gallien,
den Alpenländer und an der Donau eingeführt worden war. Der ursprüngliche Antrieb für die
Bergfahrt war das Staken mit langen, vom Schiff aus eingesetzten Stangen gewesen. Diese
urtümliche, beschwerliche Methode blieb in manchen Gegenden noch lange die übliche Form
der Bergfahrt, etwa auf der unteren Werra, wo bis ins 19. Jahrhundert gestakt wurde, und an
der Weser wurde nur auf ganz wenigen Teilstücken mit Pferden getreidelt. Auch gab es
Wasserfahrzeuge wie die so genannten Lauertannen am Oberrhein, die nur für eine Talfahrt
bestimmt waren, nach dem Löschen der Ladung am Zielhafen zerlegt und als Holz verkauft
wurden.
An den Strömen und entlang der anderen interkontinentalen Routen entstehen erste
Handelszentren, Umschlagplätze für Güter aller Art, und an diesen bedeutenden
Handelsplätzen finden sich vom 8. Jahrhundert an auch die ersten Judengemeinden. Vor allem
Familien aus Italien, dem Ursprungsland des europäischen Judentums, lassen sich entlang der
großen Verkehrsadern nieder, in den deutschen Landen vor allem am Rhein: in Köln, Mainz,
Speyer und Worms. Aber auch in Nordfrankreich, in Regensburg, Prag und anderswo werden
bedeutende jüdische Gemeinden begründet. Manche Handelsrouten führen quer durch die
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Wildnis Europas, durch finstere Urwälder mit all ihren Gefahren, wo niemand die Wege und
Brücken instandhält, in den slawischen Osten bis ins Gebiet am Schwarzen Meer und von der
Kaspischen See zu den Handelszentren an der asiatischen Kulturscheide. Brücken sind
weggerissen, Furten überschwemmt, Wege im Morast versunken, durch Baumstürze und
Erdrutsche gesperrt oder anderswie unpassierbar geworden, Unfälle aufgrund der desolaten
Straßenbedingungen an der Tagesordnung. Bis ins 19. Jahrhundert sollten Ebenen und
Flusstäler versumpft und für den Verkehr schwer passierbar bleiben. Viele kleinere Straßen,
die wohl eher als Feldwege und Pfade zu bezeichnen sind, ziehen sich als Höhenstraßen die
Berg- und Hügelhänge Europas entlang, Apennin, Schwarzwald, Vogesen und andere, um
Sümpfen und von Flüssen überschwemmten Tälern tunlichst auszuweichen, denn ein
planmäßig angelegtes Straßennetz gibt es bis in die Neuzeit nicht. Und jederzeit können
Räuber und Mörder aus dem Dickicht hervorbrechen, um den Händlern und Pilgern ihre
Güter bzw. Habe abzujagen. Daher reist man nie alleine, sondern in Fahrtengemeinschaften.
Kaufleute stellen Karawanen zusammen, mit denen sie und ihre Gehilfen kaum mehr als 40
km am Tag zurücklegen können, und teilen sich nach der Rückkehr in heimische Regionen
den Gewinn. Viele materielle Dinge (z.B. Glaswaren) und immaterielle (z.B. geographische
Kenntnisse) finden schon früh durch den Fernhandel den Weg nach Europa.
5. cursus publicus: Das römische Straßennetz
Als Mutter des europäischen Verkehrswesens gelten Straßenbau und -netz des Imperium
Romanum. Mit Kaiser Augustus (63 v. Chr. - 14 n. Chr.) wurde der cursus publicus
eingerichtet und die Straßenverwaltung dem Princeps unterstellt, ab dem zweiten
nachchristlichen Jahrhundert wurden die Gemeinden am Straßenbau beteiligt und in der
Kaiserzeit das römische Straßennetz erheblich verdichtet. Ausgehend vom Goldenen
Meilenstein (milliarium aureum) auf dem Forum Romanum, den Augustus hatte errichten
lassen, gingen in der Hochzeit des Römischen Reiches etwa 5000 km Straßen strahlenförmig
von Rom aus. Alle Wege führen nach Rom! Das Verkehrsnetz, das die municipia miteinander
verband, bestand aus drei Hauptverbindungen, die über die Alpen führten, und einer
Küstenstraße, die Ravenna mit Aquileia verband. Der griechische Schriftsteller und
Geschichtsschreiber Plutarch (gest. um 125) beschreibt die Beschaffenheit der römischen
Straßen: „In schnurgeraden Linien durchliefen die Straßen das Gelände, sie wurden mit
behauenen Steinen gepflastert oder mit Sandaufschüttungen bedeckt, die dann festgestampft
wurden. Vertiefungen wurden ausgefüllt; wo Gießbäche oder Schluchten das Gelände
durchschnitten, baute man Brücken, und da man beide Ufer gleichmäßig erhöhte, gewann die
ganze Anlage ein ebenmäßiges, erfreuliches Aussehen.“ Auch das Mittelalter schwärmt vom
großartigen römischen Straßenbau. Archäologische Untersuchungen haben gezeigt, dass das
römische Straßenpflaster - anders als später das mittelalterliche - so dicht gefugt war, dass die
Pflasterdecke manchmal geschlossen in der Luft hängen bleibt, obwohl das Erdreich darunter
schon längst weggeschwemmt ist. Vor allem diese geschlossene Pflasterung und auch die
Massivität der Pflastersteine werden von Autoren des Mittelalters gelobt. Allerdings waren
die wichtigen Römerstraßen primär für militärische Zwecke angelegt worden und daher für
den zivilen Verkehr nur bedingt geeignet. Ihre Oberfläche wurde bei schlechtem Wetter
schnell schlüpfrig, Tiere glitten darauf leicht aus, und auch ihre unbeschlagenen Hufe nutzten
sich auf der harten Straßenoberfläche rasch ab. Außerhalb Italiens waren auch die römischen
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Straßen häufig ungepflastert, aber dennoch so massiv, dass sich ihre Trasse unübersehbar in
der Landschaft abhob. Untersuchungen der römischen Militärstraße von Basel nach Straßburg
haben gezeigt, dass die ganze Unterlage aus einer ca. 3,5 m breiten und 0,4 m hohen
Kiesanschüttung bestand. Der Kies war nach 20 – 30 Jahren so fest geworden, dass der Belag
ähnlich einem aus Beton wurde.
Nach dem Zerfall des Imperium Romanum erstrecken sich nördlich und östlich des Rheins
weite, dünn besiedelte Gebiete mit einer Bevölkerung, die auf einem höchst bescheidenen
Zivilisationsniveau lebt. Westlich und südlich davon liegen die einst von der römischen
Kultur geprägten Regionen, in denen bald nur noch Ruinen, verfallende Bauten und
kümmerliche Reste der einstigen Administration an die Vergangenheit erinnern. Dieser
Befund spiegelt sich auch im europäischen Straßennetz wider. Der Osten wird durch endlose
Staub- und Schlammpisten erschlossen, die vermutlich nur in Siedlungsnähe und vielleicht
zum Teil auch auf schwer überwindbaren Abschnitten präpariert und bei Schlechtwetter nur
schwer befahr- und begehbar sind. Denn Römerstraßen gibt es in weiten Regionen Nord- und
Osteuropas, in deren Urwälder, Heide- und Marschlandschaften das Imperium nie
vorgedrungen war, keine. Das Reisen auf diesen Pisten muss äußerst beschwerlich gewesen
sein. Bei trockenem Wetter war der Staub ein Problem, bei Schlechtwetter der Schlamm und
die tiefen Wasserpfützen, welche die Straßenlöcher füllten. Selbstverständlich existierten auch
jenseits des Limes Verkehrswege, etwa im Norden Deutschlands mit seinen weiten
Moorlandschaften, die von der holländischen Grenze bis hin zur Elbe reichen, wo man auf
eine uralte eigenständige Straßenbautraditon zurückblickt. In diesen Regionen wurden bei
Grabungen bisher über 200 Bohlenwege entdeckt, deren älteste in das zweite vorchristliche
Jahrtausend datiert werden können. Offensichtlich kam eine große Vielfalt an
Konstruktionstechniken zur Anwendung, von der Anbringung einfacher, zur Fahrbahn längs
oder quer verlegter Holzbohlen bis hin zu komplizierten Konstruktionen, bei denen die
einzelnen Bauteile miteinander brückenartige Gebilde formten. Zu Beginn der fünfziger Jahre
des letzten Jahrhunderts wurde in Mecklenburg eine Straße aus dem neunten Jahrhundert
ausgegraben, die mit großer technischer Perfektion gebaut und im 11. Jahrhundert erneuert
worden war. Der außergewöhnliche Fund umfasst eine drei Meter breite und etwa 750 Meter
lange Fahrbahn, welche die Wehranlage einer Insel des Teterower Sees (MecklenburgVorpommern) mit dem Land verband. Der arabische Kaufmann und Gesandte des Kalifen
von Córdoba Ibrāhīm ibn Ya´qūb, der am Ende des 10. Jahrhunderts durch das nördliche
Deutschland reiste, beschreibt in seinen Aufzeichnungen einen solchen östlich von
Magdeburg gelegenen, ca. 1,8 km langen Bohlenweg, ausführlich. Ausgrabungen in
Hannover wiederum haben eine Uferstraße an der Leine aus dem 12. Jahrhundert freigelegt,
die mit 6-8 cm dicken und 2,5 m langen Holzstücken befestigt war. Diese waren schräg zur
Fahrtrichtung im Abstand von 50 cm parallel zueinander verlegt worden. Die Zwischenräume
waren mit 3-4 cm dicken Knüppeln gefüllt und das Ganze mit Sand bedeckt worden. Bei der
Erneuerung der Straße im 13. Jahrhundert wurde ein ähnliches Bausystem angewendet,
ebenso in Magdeburg, wo 1955 durchgeführte Grabungen an der Elbe einen Bohlenweg
zutage förderten. In anderen Städten wie Duisburg, Potsdam oder Göttingen wurde anstelle
von Holzknüppeln ausschließlich Sand verwendet.
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Auch das Verkehrsnetz des Westens und Südens zeigt nach dem Ende des weströmischen
Reiches von seiner einstigen Qualität nur noch spärliche Reste, da das römische Straßennetz
als solches de facto nicht mehr existiert: die gerade Trassenführung, die aus dem Staub und
Schmutz stellenweise hervorschauende desolate Pflasterung, die eine Straße vereinzelt noch
begleitenden Meilensteine und die Brücken, vor langer Zeit gebaut, gerade noch benutzbar
oder schon eingestürzt oder verfallen, sind hier und dort letzte Zeugen intakten
Verkehrswesens. Die grundlegenden qualitativen Unterschiede zwischen den von Rom
geprägten Gebieten und den Welten außerhalb der einstigen Grenzen des Imperiums gibt es
nach Jahrhunderten des Verfalls der römischen Administration, der Ohnmacht der
öffentlichen Gewalt, das Verkehrsnetz zu kontrollieren, und den nicht geklärten
Erhaltungsverpflichtungen nicht mehr. Damit bestehen ähnliche Voraussetzungen für die
weitere Entwicklung des Verkehrswesens in beiden Teilen des Kontinents. Das Straßennetz,
auch jenes des Westens, fiel zu großen Teilen in einen vorzivilisatorischen Naturzustand
zurück, in dem der einzelne Weg nicht mehr das von den Bewohnern der Gegend präparierte
und befestigte endlose Band durch die Landschaft war, sondern nur „der Ort, wo man ging“.
Die Römerstraße zwischen Augsburg und Salzburg etwa war bald vom europäischen Urwald
überwuchert. In diese Verhältnisse griff der Mensch nur noch selten ein. Das
Verkehrswegesystem weiter Regionen befand sich für Jahrhunderte in einem prekären
Zustand. Die Pflicht zur Teilnahme an der Straßenreparatur bzw. an ihrer Finanzierung, die
auf der Bevölkerung der verschiedenen Reichsteile schon lange schwer gelastet hatte, ließ
sich nach der Übernahme der Herrschaft durch die neuen germanischen Herren immer
schwerer einfordern. Die Initiative zu Straßenbau und -reparatur kam auch für gewöhnlich
nicht mehr von der Zentralgewalt, sondern blieb den lokalen Machthabern und Autoritäten
überlassen und zeigte sich nur in dem Maße wirksam, wie sich diese vor Ort durchzusetzen
vermochten und wie das Handeln von der Notwendigkeit des Augenblicks diktiert war. Wie
mühsam das Reisen selbst noch am Ende des Mittelalters gewesen sein muss, zeigt uns der
Umfang der Tagesstrecken, die zurückgelegt werden konnten. So reiste Johannes Capistran,
der charismatische Kreuzzugsprediger gegen die Türken, am 27. April 1451 von Venedig
über das Kanaltal nach Wien, wo er am 30. Mai ankam. Dabei hatte er eine reine Wegdauer
von 28 Tagen zurückgelegt. Der Tagesschnitt betrug also 20 km.
6. Handelsrouten im Mittelalter
Auch im Mittelalter verbinden wichtige Fernhandelsstraßen die europäischen Handelszentren
miteinander. Als Routen werden vorerst die alten transkontinentalen Landwege genutzt, deren
Trassen einst von den Römern errichtet worden waren. Die meist nur 2-3 m breiten
Überlandstraßen sind nicht gepflastert, höchstens teilweise mit Kies oder Schotter
aufgeschüttet und daher nach Regen aufgeweicht und nur schwer begeh- und kaum befahrbar.
Eine Urkunde für San Cugat (Katalanien) nennt einen Weg, der nicht allzu lange Zeit zuvor
mit Steinschotter bedeckt worden war, den man anschließend festgestoßen hatte (um 988). Im
Norden Europas, wo Stein hingegen selten ist, wurden Holzbohlen, Kiesel, Sand oder
Backsteine zur Reparatur verwendet, je nachdem, was verfügbar war.
Der mittelalterliche Straßenverlauf ist auch ein völlig anderer als der römisch-antike. Er passt
sich wesentlich mehr den topographischen Bedingungen an, „weil die für schnurgeraden
Verlauf erforderlichen römischen Kunstbauten wie Brücken, Böschungsmauern, künstliche
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Einschnitte usw. ohne regelmäßige Instandhaltung verfallen und Geländehindernisse darum
nicht mehr überwunden, sondern umgangen werden.“ (Arnold Esch) Daher verlässt die
mittelalterliche Streckenführung die römische Gerade an vielen Stellen, die dann zu Pfaden,
Hecken, Erhebungen an Waldrändern, etc. mutiert. „Straßenbau“ zur Zeit Karls d. Großen
(747/48 – 814) und vieler Generationen nach ihm besteht aus dem Planieren des Weges, dem
Auffüllen der aufgeweichten und schlammigen Stellen der Fahrbahn und deren Säuberung,
wie der gelehrte Mönch Notker Balbulus (gest. 912) berichtet. Auch bildete sich aufgrund des
bei Schlechtwetter riskanten Untergrunds der gepflasterten Römerstraßen parallel zur
ursprünglichen Trasse ein ungepflasterter Fahrweg. In ebenem Gelände konnten die Straßen
in bis zu 100spurige Bahnen ausufern, im Hügelland hingegen wurden aus ihnen Hohlwege,
deren Spurrinnen sich immer tiefer ins Erdreich eingruben. Auch sind Klagen über die
Gefahren auf den Straßen häufig und Überfälle alltäglich. Pilger, Händler und sonstige
Reisende hatten adelige Räuber und kleine Strauchdiebe stets zu fürchten, welche die Straßen
verunsicherten. Immer wieder ist in den Quellen von Straßenraub und Mord die Rede.
Deshalb sollte laut einer 1336 in Piacenza erlassenen Verordnung das Gelände zu beiden
Seiten der Via Francigena, des bedeutendsten italienischen Pilgerwegs des späteren
Mittelalters, auf einer Breite von 130 m gerodet werden, um einen besseren Schutz für
Reisende zu gewährleisten. Bei den übrigen Landstraßen wurden 52 m als ausreichend
betrachtet. Und im Umland Sienas wurde die nach Grosseto führende Straße ähnlich
präpariert. Die Statuten verschiedener italienischer Kommunen verlangten darüber hinaus,
dass zu beiden Seiten der Landstraßen Gräben gezogen werden sollten. Der Aushub war für
das Ausbessern der Löcher in der Fahrbahn zu verwenden, auf die Fahrbahn selbst war eine
etwa zwanzig Zentimeter dicke Schicht aus feinen Kieselsteinen und Sand aufzuschütten.
Herzog Albrecht II. von Innerösterreich gebietet in seiner Landesordnung für Kärnten (1338)
rigoros, einem Straßenräuber, dessen man habhaft werden könne, „so1 man den hals
abenslahen“. Aber selbst durch harte Bestrafung war dieser allgegenwärtigen Plage nicht
beizukommen. Sogar das mächtige süddeutsche Zentrum Nürnberg sah sich in seinen
Handelsinteressen derart beeinträchtigt, dass sich der Stadtrat genötigt sah, auf Straßenräuber
Kopfgeld auszusetzen
7. Bau und Instandhaltung von Straßen
Um 1100 ist in den verschiedenen Gebieten Europas langsam ein Umdenken bezüglich
Straßen und Verkehr festzustellen. Hauptursache dafür ist, dass nun schon ein Zehntel der
europäischen Bevölkerung in den - aus heutiger Sicht betrachtet - meist sehr kleinen Städten
lebt. Das europäische Städtewesen beginnt seinen Siegeszug. Natürlich variiert dies von
Region zu Region und ist von der Verkehrserschlossenheit und der Teilhabe am
überregionalen Handel abhängig. Unter dem Eindruck des sich abzeichnenden ökonomischen
Aufschwungs, der im Bereich des Handels zu einer nie zuvor gesehenen Akkumulation von
Reichtümern führte, und der die regionalen Herrschaften durch ihre Maut- und Zollstellen am
Profit teilhaben ließ, begannen sich die öffentlichen Instanzen wieder zunehmend für das
Verkehrsnetz zu interessieren. Bis dahin war die Initiative zu Straßenbau und -arbeiten von
den kleinen, lokalen Herren und Grundbesitzern ausgegangen, die über die Mittel und die
Personen verfügten, die für die Durchführung solcher Arbeiten erforderlich waren. Auch an
der besonderen Notwendigkeit orientierte Einzelinitiativen trugen so manches zum Ausbau
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des Straßen- und Wegenetzes bei. Als Beispiel dafür mag der Eremit Gunther aus dem
Böhmerwald dienen: Eine Schenkungsurkunde des Jahres 1029 berichtet indirekt, dass er
einige Zeit zuvor eine Kirche errichtet hatte und - offensichtlich um das Wasserholen für die
kleine Gemeinschaft, die sich um ihn geschart hatte, zu erleichtern - auch gleich einen Weg
anlegte. Und noch 400 Jahre später legen Eremiten Wege an, diesmal bei Danzig, wie das
Tresslerbuch des Deutschen Ordens zu den Jahren 1400-1408 berichtet, der das Unternehmen
finanziert.
Zuerst bemühen sich die prosperierenden Städtelandschaften Oberitaliens, Frankreichs und
des heutigen Belgiens um intakte Verkehrswege. Ihre ökonomische Bedeutung wächst rasch,
und damit zusammenhängend nimmt der Verkehr zu Wasser und zu Lande in diesen
Gegenden deutlich zu. Marktwirtschaft wird wieder interessant, Geld erlangt seit dem 12.
Jahrhundert zunehmend große Bedeutung, Stadt, Handel und Geldwirtschaft werden immer
mehr zu Charakteristika des Wirtschaftswesens. Untrennbar hängt der Aufschwung des
Verkehrswesens mit dieser Entwicklung zusammen. Städte und Märkte benötigen
verkehrsgünstige Lagen, um gedeihen zu können. Viele von ihnen sind „Kinder der Straße“.
Seit dem ausgehenden 12. bzw. dem frühen 13. Jahrhundert wird als Zeichen des
Wohlstandes der Kommune, aber auch aus Entsorgungsgründen, mit der Straßenpflasterung
begonnen. Die Stadt Paris soll ihr erstes mittelalterliches Pflaster schon im Jahre 1185
bekommen haben, in Deutschland gibt es für Hannover archäologische Belege dafür, dass der
Marktplatz um 1200 mit kleinen Feldsteinen gepflastert war, allerdings bildete sich im 13.
Jahrhundert wegen nicht vorhandener Straßenreinigung darüber eine bis zu 30 cm hohe
Schmutzschicht, woraufhin man am Ende des Jahrhunderts über den Schmutzbelag eine aus
Holz bestehende Oberflächenbefestigung legte. In Köln und Duisburg gibt es aus der Mitte
des 13. Jahrhunderts erste sichere Nachrichten über Straßenpflasterung, aber noch 100 Jahre
später beklagt sich der Kanzler Karls IV. über die Straßen der süddeutschen Metropole
Nürnberg, die sich bei Regen in Morastpfuhle verwandelten, sodass Reiter nicht mehr
vorwärts kämen. Die Straßen der italienischen Kommunen wurden mit Natursteinen oder aus
Kostenersparnisgründen mit Ziegelsteinen gepflastert, wobei die Pflasterdecke zuerst über die
Hauptstraßen und später auch über die Nebenstraßen und Gassen gelegt wurde. In Siena
pflasterte man bald auch die Landstraßen vor den Stadttoren ein Stück weit, wie großartige
zeitgenössische Fresken im Palazzo Pubblico eindrücklich belegen. Auch wurden auf
abschüssigen Straßen nicht lange Zeit zuvor verlegte, kostenintensive Steinpflasterungen
wegen der Rutschgefahr bei Nässe und Regen teilweise wieder aufgerissen und so neu
verlegt, dass die Mitte der Straße von einem Natursteinband gebildet wurde, welches auf
beiden Seiten von einem Band aus Ziegelsteinen eingefasst war. Solche und ähnliche
Aktivitäten bewirkten, dass am Anfang des 14. Jahrhunderts die kommunale Welt Italiens
über die besten Straßen in Europa verfügte. Sie hatten noch nicht den viel gerühmten antiken
Standard erreicht, aber ihre mit Kiesschotter und Sand aufgeschütteten Fahrbahnen waren
vermutlich um einiges bequemer zu benutzen als Straßen in den Regionen nördlich der Alpen.
Der neuen Bedeutung der Straße und eines funktionierenden Verkehrsnetzes als
Wirtschaftsfaktor wird ab dem 12. Jahrhundert von den obrigkeitlichen Instanzen Rechnung
getragen, erste infrastrukturelle Maßnahmen im Straßenbau erfolgen. Das zeigt sich an der
Anerkennung der obrigkeitlichen Aufsichtspflicht über das Straßennetz (z.B. für Italien auf
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dem Reichstag von Roncaglia 1158) oder der neuen Bezeichnung Via regia in Deutschland
und Frankreich, aber auch anhand der verschiedenen Verordnungen, welche die Mindestbreite
dieser „Königsstraßen“ betreffen. Die älteste deutsche private Rechtssammlung, der so
genannte Sachsenspiegel des Eike von Repgow (1220/30), verordnet, dass des „koninges
straße“ so breit sein sollte, dass auf ihr zwei Wagen einander begegnen könnten. Und falls sie
aus irgendeinem Grund dennoch nicht aneinander vorbeikämen, hätte der leere Wagen dem
beladenen und der weniger beladene dem schwereren den Vorrang zu lassen. Der Wagen, der
zuerst an eine Brücke komme, habe den Vorrang bei der Überfahrt. Auch solle der Reiter dem
Wagen und der Fußgänger dem Reiter ausweichen. Die Verhältnisse auf den Straßen
Frankreichs entsprachen in etwa jenen im Deutschen Reich. Auch hier stand das Problem der
Wegbreite und des Vorrangs im Vordergrund straßenrechtlicher Überlegungen. In den 1283
vom Juristen Philipp de Beaumanoir verfassten „Coutumes du Beauvaisis“, welche die
Rechtsbräuche der Landschaft festhielten, schließt sich der Autor dem Sachsenspiegel
bezüglich der Vorrangsregeln weitgehend an, und auch er behandelt die Frage der
Straßenbreite ausführlich. Beaumanoir zufolge habe es einst fünf Kategorien von Wegen
jeweils unterschiedlicher Breite gegeben: Pfade (sentiers, ca. 1,30 m), Karrwege (charieres,
2,60 m), Wege (voies, 5,20 m), Landstraßen (chemins, 10,40 m) und Königsstraßen (chemines
roials, 20,80 m). Zu den Ausmaßen dieser Fahrbahnen sollte man zurückkehren. Tatsächlich
war die Breite der Straßen und Wege Europas regional höchst unterschiedlich bemessen und
von der jeweiligen Art der Funktion abhängig. Als Durchschnittsmaße wurden anhand
verschiedener Verkehrsordnungen berechnet: Saumpfade: 1,5 m; befahrbare Gebirgsstraßen:
2,7 m; Überlandstraßen: 4,5 - 5 m.
8. Instandhaltung von Straßen in Deutschland, Italien und Frankreich
Neben der allgemeinen Verkehrsproblematik stand die Frage des qualitativen Zustands der
Straßen und dessen Verbesserung hingegen zunächst noch im Hintergrund und gewann erst
im Laufe der Zeit allmählich an Gewicht. Solange Reiten als höfisch und vornehm galt und
Wagenfahren als „weibisch“, interessierte die Beschaffenheit der Straße nur wenig. Auch
Fußgänger - und sie waren die häufigsten Benutzer der Straßen - interessierte dies nur wenig.
„Wagen“ waren ursprünglich zwei- bis vierrädrige Karren, vor die je nach Ladung ein bis vier
Pferde gespannt werden konnten, und die zumeist mit Planen bespannt waren. Zwei
Wagentypen fanden Verwendung: 1. der ältere Anzen- oder Baierwagen, ein schmaler
Wagen, der mit einer Anzendeichsel, einer gabelförmigen Deichsel, versehen war, wobei das
Pferd zwischen den Gabelstangen eingespannt wurde (bei zwei Pferden hintereinander); 2. der
Deichsel- oder Ungarwagen mit nur einer Deichselstange. Hier konnten die Pferde auf jeder
Seite der Deichsel vorgespannt werden. Das Aussehen und die Beschaffenheit der
Reisewagen unterlagen verschiedenen zeitspezifischen Moden. Immer aber waren sie schwer
gebaut, zum Reisen unbequem und schwer zu manövrieren. Erste Verbesserungen gab es im
9. Jahrhundert mit neuartigem Pferdegeschirr, Drehachse und vor allem der
revolutionierenden Innovation des Hufeisens. Dadurch wurde die Zugleistung eines Pferdes
vervierfacht. Weitere Verbesserungen des Wagenbaus (z.B. Sturzfelge) und der
Pferdeschirrung (Kummet bzw. Brustgurt) machten den Landverkehr ab der ersten Hälfte des
12. Jahrhunderts zu einem ernsthaften Konkurrenten für die Binnenschifffahrt. Ab der Mitte
des 13. Jahrhunderts kamen zusätzlich zweiachsige Karren in Gebrauch. Die zwei Räder
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passten sich besser den vielen Unebenheiten der Straßen und Wege an als vier, auch brachen
Achse oder Rad dadurch seltener. Im Winter waren bei Schneefahrbahn Schlitten üblich.
Im Deutschen Reich setzt sich in allgemein verbindlicher Form erstmals der Mainzer
Reichslandfrieden (1235) mit der Reparatur der Straßen auseinander, wobei die Techniken
des Straßenbaus bzw. der -reparatur zeitlich und örtlich stark differieren sowie vom Anlass
und der Zielsetzung des jeweiligen Unternehmens, aber auch von den vorhandenen
Baumaterialien und dem technischen Können des Baupersonals abhängen. In Mainz wurde
festgestellt, dass, wer zu Lande oder auf den Gewässern Zölle einhebe, auch für die Reparatur
von Straßen und Brücken und ebenso für die Sicherheit der Reisenden verantwortlich sei. Der
Bestimmung ging es in erster Linie um eine Reduzierung der unzähligen Zölle, die das Reisen
verzögerten und verteuerten. Für das 13. Jahrhundert wurde ein Mittelwert für Zoll- und
Mautkosten für verschiedene Waren auf den europäischen Straßen berechnet, der bei
Luxusgütern bis zu 25% des Warenwertes betrug, bei üblichen Handelsgütern sogar zwischen
100% und 150%. Auch auf den Wasserwegen entging man den zahlreichen Zöllen nicht.
Allein zwischen Bamberg und Frankfurt musste ein Mainboot 25 Zollstationen passieren. Der
Mainzer Reichslandfrieden folgte einem alten Rechtsgrundsatz, demzufolge für jede Leistung
eine Gegenleistung zu erbringen wäre. Von nun an wurden vom Herrscher Zölle an
Kommunen und lokale Große nur mehr mit der Auflage vergeben, die Straßen instand zu
halten. So klar das Prinzip auch scheinen mag, war seine Umsetzung dennoch problematisch.
Der Straßenbau als Anliegerpflicht sollte noch lange keine feste Gewohnheit sein. Immer
wieder gab es Widerstände und Nachlässigkeiten seitens der zuständigen Personen und
Instanzen, und die Zentralgewalt war zu schwach, die von ihr erlassenen Gesetze und
Verordnungen auch flächendeckend umzusetzen.
In Italien blieb die Verbesserung des Verkehrsnetzes vor allem das Werk der Kommunen, die
sich im Laufe des 13. Jahrhunderts über den unmittelbaren Stadtbereich auch auf die
gesamten Territorien ausdehnte. Die Binnen-(Mailand, Florenz, Bologna) und Seestädte
(Venedig, Genua) Italiens entwickelten sich zur führenden Handels- und Finanzregion
Europas, die Instandhaltung und Verbesserung bestehender Straßen war üblich (z.B. Padua,
Treviso, Verona), die Anlage neuer allerdings die Ausnahme (z.B. Verona 1228, Vicenza
1264). Dennoch: „eine Strategie der Straßenpolitik ist selbst im 15. Jahrhundert, unter der
venezianischen Herrschaft über die Terra ferma, nicht zu beobachten, was damit
zusammenhängen dürfte, dass für Venedig, auch über das Festland, Wasserstraßen die
wichtigsten Verkehrswege waren.“ (Gian Maria Varanini). Verkehrspolitik bereits im
heutigen Sinn betrieben die italienischen Kaufleute durchaus. 1284 wird vom Maggior
Consiglio Venedigs im Interesse der venezianischen Kaufleute ein Gesandter an die
Kommune Verona und an den Grafen von Tirol geschickt, um die Wiederherstellung der viel
benutzten Brennerroute pro restauratione strate Theotonicorum zu erreichen, denn eine
Intensivierung der West-Ost-Verbindungen und des inneralpinen Verkehrs stand durchaus im
Interesse der italienischen Metropole. Schon 1269 schlossen die Kommunen Como und
Mailand mit den Schweizer Talschaften Blenio und Leventina an der wichtigen St.
Gotthardroute einen Vertrag, demzufolge die Schweizer sich verpflichteten, die Straße
zwischen Cassero und Cresciano zu bewachen und instand zu halten. Und 1272 schlossen von
der Kommune und Kaufmannschaft von Mailand entsandte Prokuratoren mit einem Bürger
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von Sitten einen Vertrag, worin sie sich verpflichteten, für ihre unterhalb von Vétroz (6 km
westlich von Sitten) durchziehenden Waren bestimmte Abgaben zu zahlen, wofür ihnen die
Straße und Brücke unterhalb von Vétroz durch den Bürger instand gehalten werden sollte.
Auch unterbreiteten Mailänder Gesandte und solche der Kaufleute von Pistoia, die hier
gemeinschaftlich auftraten, dem Bischof von Sitten wenig später den Vorschlag, neue Zölle
zahlen zu wollen, wenn er dafür bestimmte Stellen der Straße durch das Rhônetal und
verschiedene Brücken reparieren ließe. Die in Ost-West-Richtung durch das Wallis zum
Genfer See verlaufende Rhônetalstraße war für den Handel der Italiener auf den ChampagneMessen, den wichtigsten dieser Zeit in Europa, von großer Bedeutung, da sie den Verkehr
aufnahm, der von Mailand über den Simplonpass und vom Piemont über den Großen St.
Bernhardpass verlief und Richtung Genfer See und Champagne weiterführte. Auch für den
Pilgerverkehr nach Santiago de Compostela war diese Fernstraße immens wichtig. Im 12.
Jahrhundert waren die Messen der Champagne zum Zentrum der Handelsroute zwischen den
Niederlanden, dem Orient und Italien herangewachsen, den großen drei Zentren des
europäischen Handels. Später wurden diese Messen von Brügge und im 16. Jahrhundert von
Antwerpen in der Funktion als Nord-Süd-Warenbörse abgelöst. Im 14. Jahrhundert erlangten
auch die oberdeutschen und die Hansestädte mit ihren Genossenschaften Bedeutung. Ihre
Koggen und Planwagen erschlossen bis zum Niedergang der Vereinigung im 15. und 16.
Jahrhundert aufgrund englischer und holländischer Konkurrenz vor allem die Märkte Nordund Osteuropas.
In Frankreich war die Frage nach der Verantwortung für die Reparatur der Straßen gegen
Ende des 13. Jahrhunderts im Prinzip beantwortet. Nach den „Coutumes du Beauvaisis“ oblag
die Aufsicht über die Wege dem jeweiligen Landesherrn. Die Kosten der Reparaturen waren
von Adel, Klerus und den einfachen Untertanen gemeinsam zu tragen. Aber auch hier dauerte
es noch lange, bis diese Rechtsmeinung allgemeine Anerkennung fand. So mussten die in
Paris tätigen Genter Kaufleute im Jahre 1332 die Straße von Senlis nach Paris auf ihre Kosten
wieder herrichten lassen, um die Beförderungen ihrer Waren dorthin zu beschleunigen.
9. Der Beginn einer strategischen Straßenplanung
Dass Stadt- und Landesherren den kausalen Zusammenhang von Stadt - Straße - Verkehrsnetz
- ökonomischer Nutzen durchaus erkannt haben, zeigt sich auch daran, dass manche von
ihnen bestimmte Verkehrsrouten gezielt auf ihre Städte hin befohlen sowie deren
Frequentierung erzwangen, wenn auch mit höchst unterschiedlichem Erfolg. Die junge
Kommune Viterbo z.B. lässt in ihrem Einflussbereich die Via Francigena nicht mehr 4 km
westlich an der Stadt vorbei ziehen, sondern zerstört den an der antiken ursprünglichen Trasse
der Via Cassia gelegenen Stadtteil, und die Bewohner von Neu-Lodi, das nach der Zerstörung
Lodis durch Mailand im Städtekrieg von 1158 erbaut wird, zerstören ebenfalls die Trasse der
alten Römerstraße, bauen eine neue und führen deren Verlauf über ihre Stadt, um diese
wirtschaftlich zu beleben. Kaiser Friedrich II. befiehlt 1217, dass die Straße, die unterhalb der
toskanischen Reichsburg S. Miniato verläuft, durch die Burg zu führen sei, wovon er sich eine
bessere Kontrolle des Straßenverkehrs verspricht, und 1220 gebietet der Bischof von Pavia,
dass die über Voghera, Casteggio und Broni führende Pilgerstraße, die unterhalb von
Stradelle verläuft, durch den Ort zu legen sei, um den Reisenden, wie er vorgibt, größere
Sicherheit zu gewährleisten, wobei er wohl auch seinen ökonomischen Nutzen in die
13
Überlegungen miteinbezieht. Der Sachsenherzog Heinrich der Löwe wiederum versucht 1158
in Konkurrenz zu Lübeck den Marktverkehr über seine Stadt Braunschweig, später
Hansestadt, zu leiten. „Straße“ wird immer mehr zum politischen Mittel zur Beherrschung
von Raum. Dazu gehört die Verlegung des Handels- und Pilgerverkehrs aus wirtschaftlichen
Gründen, was sich seit dem 12. Jahrhundert bei großen und kleinen Herren, aber auch
verschiedenen Kommunen einer steigenden Beliebtheit erfreute. Gegen solche Praxis wandte
sich im Deutschen Reich ein Fürstenspruch, der auf Anfrage des Salzburger Erzbischofs im
Jahre 1236 erteilt wurde, und der die Ablenkung des Verkehrs von der öffentlichen Straße und
seine Hinleitung auf neu gegründete Märkte bzw. die Umleitung auf neu angelegte Straßen
untersagte. Im Spätmittelalter bestand im Deutschen Reich Straßenzwang, der die Kaufleute
nötigte, zumindest während der Messezeiten bestimmte Straßen zu benutzen. Dafür sorgten
das so genannte Geleitrecht und im besonderen Geleitreiter, welche formal die Kaufleute vor
Überfällen schützen sollten, denn um die Sicherheit der Kaufleute zu gewährleisten, war
ursprünglich vom König den Großen des Reiches das Geleitrecht übertragen worden. Die
Grafen von Görz konnten z.B. ein Geleitrecht (conductus) vom ,,Meer bis zum Katschberg"
geltend machen und dafür Geleitgeld einheben. Das Görzer Geleitrecht - das älteste
überlieferte in Österreich - erscheint urkundlich 1234 das erste Mal. Dadurch kontrollierten
die Görzer den Verkehr auf der Nord-Süd-Route durch Kärnten und die Friaul vollkommen.
1332 trat Venzone hinzu, wo sich die Kanaltal- und die Plöckenstraße vereinigten, und wurde
zur zentralen Geleithebestelle. Als die Görzer 1336 Venzone verloren, wurde das Geleitgeld
zuerst vom Patriarchen von Aquileia, später von der Republik Venedig, eingehoben. Auch
wurden allgemein die Geleitreiter bald durch Geleitbriefe ersetzt, die als
Versicherungspolizze verstanden werden können. Wurde nämlich ein Kaufmann auf einer
Geleitstraße überfallen, musste ihm der Besitzer des Geleitrechts den Schaden ersetzen. In
Italien schlossen die Kommunen diesbezügliche Verträge ab.
10. Rekonstruktion der Handelsrouten: Das Netz der Fernstraßen
Auf die Periode des Niedergangs des europäischen Fernstraßennetzes im frühen Mittelalter
folgt eine des Neuaufbaus, in deren Verlauf die Knotenpunkte des Verkehrsnetzes den neuen
Gegebenheiten angepasst werden. Die hoch- und spätmittelalterliche Siedlungsexpansion
bringt wesentliche Umstrukturierungen und Ergänzungen des altbekannten Wegenetzes. Und
natürlich ist der Verlauf der Straßen abhängig von der Formation der Landschaft, von ihrer
hydrographischen Beschaffenheit und den jeweiligen politischen Verhältnissen. Die so
genannte Birkenhainerstraße beispielsweise führte vom rhein-mainischen Raum über die
Höhen des Spessarts und der Rhön nach Thüringen und Sachsen und war eine der wichtigsten
Verkehrsadern in karolingisch-ottonischer Zeit. Sie verlor ihre Bedeutung im hohen
Mittelalter aufgrund veränderter politischer Konstellationen zugunsten der Straßen durch das
Kinzing- und Fuldatal und über Fritzlar. Die „Goldene Straße“ wiederum resultiert aus
politischen Überlegungen Karls IV. (1316-1378). Als er von den Wittelsbachern
umfangreiche Gebiete in der Oberpfalz erwarb, unterstellte er sie der böhmischen Krone.
Damit hatte er eine Landbrücke zwischen seinen böhmischen Stammlanden und dem
ökonomisch und verkehrstechnisch immer wichtiger werdenden Nürnberger Raum gewonnen.
Er ordnete auch den Bau einer Straße zwischen Nürnberg und Prag an, erklärte sie zur
Reichsstraße und verfügte, dass die böhmischen Könige ausschließlich auf dieser Straße zu
14
Reichstagen und Kaiserwahlen reisen sollten. Er selbst benutzte sie 52mal. Bald wurde sie
auch von Hansekaufleuten als bevorzugter Handelsweg genutzt. Die Verbindung zwischen
Venedig und Wien wiederum, von der vor allem Wiener Kaufleute im 14. Jahrhundert
profitierten, erfuhr Mitte des 15. Jahrhunderts eine empfindliche Zäsur, da nun aus
kurzsichtigen landespolitischen Überlegungen heraus oberdeutsche und italienische Kaufleute
von der Benützung der Semmeringstraße, des so genannten Schrägen Alpendurchgangs von
Villach über Bruck/Mur nach Wien ausgeschlossen wurden, woraufhin die oberdeutschen
Handelsherren, die den Venedighandel auf Grund ihres überragenden Kapitals auf deutscher
Seite beherrschten, ihre Warenkarawanen wieder vorwiegend auf das alte
Tauernstraßensystem verlegten, während den Wienern und anderen österreichischen
Kaufleuten das Kapital vom Großhandel mit venezianischen Luxusgütern verloren ging.
Von den genannten politisch-ökonomischen Gesichtspunkten abgesehen, ist das europäische
Straßennetz letztlich ein Produkt des Siedlungsnetzes und verändert sich im Laufe der Zeiten
parallel zur Veränderung der naturgegebenen Verhältnisse, der Bodennutzung und vor allem
der Siedlungsstruktur des betreffenden Gebietes und der betreffenden Landschaft. In Italien
verfiel beispielsweise zwischen Spätantike und frühem Mittelalter die tyrrhenische
Küstenstraße (Via Aurelia), und auch der Verlauf der durch Mittelitalien führenden Via
Cassia wurde auf ihrem mittleren, durch die Sümpfe des Chianatals führenden Abschnitt
verändert. Zwischen den beiden antiken Fernstraßen entstand mit der Via Francigena eine
neue, mittelalterliche Fernroute. Sie wurde bis zum Aufstieg der italienischen Stadtstaaten
Genua, Pisa und zuletzt Florenz zu einer Hauptschlagader von Handel und Pilgerwesen, die
Italien mit dem Westen Europas verband, und von der unzählige kleinere Straßen und Wege
abzweigten. In Frankreich wiederum kommt es im Laufe des hohen und späten Mittelalters
zur Verlagerung des Schwerpunkts des einst auf Lyon zentrierten römischen
Fernstraßennetzes auf die neue Hauptstadt Paris. Um für den Verkehr zweckmäßige
Verbesserungen handelt es sich bei der Begradigung zahlreicher Straßen- und Wegabschnitte,
die von den italienischen Kommunen im Spätmittelalter in großer Zahl vorgenommen
wurden. Mit dem Aufblühen der an den wichtigen Fernstraßen zwischen Italien und
Norddeutschland liegenden Städtelandschaft (Augsburg, Basel, Frankfurt, Köln, Mainz,
Nürnberg, Straßburg, Ulm, etc.) zu Handels- und kulturellen Mittelpunkten überregionalere
Ausstrahlung, verbesserte sich, dem zunehmenden Verkehr Rechnung tragend, auch der
Zustand der großen Straßen.
Im Süden führte die Via Appia, die wichtigste Fernstrasse der römischen Antike, von Rom
nach Brindisi. Sie ist noch heute über die gesamte Distanz von ca. 540 km befahrbar. Im
Mittelalter gingen die wichtigsten Fernhandelsrouten Italiens aber nicht mehr von Rom,
sondern von der alles andere überherrschenden Handelsmetropole Venedig/Venezia aus:
durch das Kanaltal oder die uralte Laibacher Straße, die so genannte Bernsteinstraße entlang
über Görz/Gorizia, Cilli/Celje, Pettau/Ptuj nach Wien, Brünn/Brno, Krakau/Kraków und
weiter an die baltische Ostseeküste und nach Kiew/Kyjiw in die Ukraine; über
Bozen/Bolzano, den Brennerpass, Augsburg, Nürnberg nach Leipzig; über den Arlberg nach
Bregenz; über Mailand/Milano, Lyon und Troyes nach Paris. Bedeutend waren und blieben
die alten Fernhandelsrouten zwischen den Städten Paris, Reims, Worms, Passau, Wien und
Konstantinopel. Köln galt als Verkehrsknotenpunkt der Fernstraßen von Südfrankreich nach
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Basel, den Rhein abwärts bis Amsterdam und von Krakau über Breslau/Wrozław, Leipzig
nach Brügge/Brugge. Eine Nordwest-Südost-Diagonale verband Brügge über Antwerpen,
Köln, Frankfurt, Nördlingen, Bozen mit Venedig. Die so genannte Hohe Straße (Via/Strata
Regia) verlief über ca. 450 km von Frankfurt nach Leipzig und führte über Gelnhausen,
Eisenach und Erfurt in den schlesisch-polnischen Raum. Die „Hansestraße“ wiederum ging
von Lübeck über Lüneburg und Magdeburg nach Erfurt. Bis zum 18. Jahrhundert blieb sie
ungepflastert und schwer befahrbar. Der Hanse gehörten zuerst Lübeck und Hamburg, später
auch dutzende andere Städte an. Die „Salzstraße“ (= „Böhmische Glasstraße“) ging von Halle
über Leipzig, Dresden und Warnsdorf bzw. den Schöberpass nach Böhmen. Vor den Küsten
wurden die Binnenrouten überall durch ein zunehmend dichter werdendes Netz von
Seestraßen ergänzt.
11. Der Weg über die Alpen
Ein riskantes, oft lebensgefährliches Abenteuer für alle Reisenden waren die
Alpenüberquerungen. Die Alpen faszinierten und schreckten ob ihrer immensen Größe und
Mächtigkeit in gleichem Maße. Die Wege über den im zweiten Viertel des 13. Jahrhundert
ausgebauten und seither als kürzeste Route zwischen Basel und Mailand lukrativen St.
Gotthardpass, die Ende des 14. Jahrhunderts als Reaktion auf diesen neuen Weg auf Wunsch
Mailänder Kaufleute erweiterte Septimerroute, die Verbindung zwischen Oberrhein und
Poebene, und die über den auch im Winter relativ sicheren und viel frequentierten
Brennerpass, der lange als einziger Alpenpass mit Wagen befahrbar war und das Donautal mit
dem Etschtal und Oberitalien verband, oder die Tauernrouten von Salzburg über den
Alpenhauptkamm nach Venedig waren die wichtigsten Verkehrsadern durch die Alpen. Die
oft sehr persönlichen Beschreibungen von Alpenübergängen schildern immer wieder die
Gefahren dieser Unternehmen. Im Hochsommer galt die Überquerung des Großen St.
Bernhardpasses als problemlos. Der norddeutsche Abt Albert aus Stade, der die Alpen 1236
überquerte, berichtet in seinen Aufzeichnungen über diesen Pass, auch über den Brenner- und
den Cenispass, den St. Gotthard- und den Septimerpass. Der Cenispass teilte sich lange mit
dem Großen Sankt Bernhard und dem Simplon den Großteil des Verkehrs über die
Westalpen. Abt Albert meint, dass die beste Zeit für eine Alpenquerung Mitte August sei, da
die Luft dann mild und die Straßen trocken, es nicht nass sei und die Flüsse nicht überall über
die Ufer träten, es für das Reisen lange genug hell wäre, und dass an Vorräten kein Mangel
herrsche. Doch Reisende passierten die Alpen durchaus und auch oft im Winter. So erfahren
wir von der Überquerung des Großen St. Bernhard durch den Bischof von Lüttich und den
Abt von St. Trond, die im Januar 1129 von einer Rom-Pilgerreise nach Belgien
zurückkehrten, dass sie mit einer Gruppe anderer Reisender das Wagnis der winterlichen
Alpenquerung eingegangen waren, dass die Pferde am Halfter hinter den übrigen Pilgern, aber
vor den hohen Herren geführt wurden, damit diese einen breiteren und festgestampften
Schneepfad vorfänden, und dass die marrones, die professionellen Bergführer, die der Gruppe
den Weg bahnten, ihre Köpfe wegen der bitteren Kälte mit Filz schützten, grobe Fäustlinge
und hohe Stiefel trugen, deren Sohlen wegen der Schlüpfrigkeit des Eises mit Eisennägeln
versehen waren, und dass sie zum Ertasten des Weges unter der hohen Schneedecke
Sondierstäbe verwendeten. Sie waren genossenschaftlich organisiert und arbeiteten nach
festen Tarifen. Auch von Lawinengefahr und -opfern ist in diesem kulturhistorisch höchst
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anregenden Bericht die Rede. 1188 schaffte John Bremble, ein Mönch aus Canterbury im
Februar die Überquerung des Großen Sankt Bernhard. Sein Bericht über die Strapazen dieser
Winterüberquerung ist ebenfalls berühmt geworden: „ ‚Herr’, sagte ich, ‚lass mich wieder
wohl bei meinen Brüdern ankommen, so dass ich ihnen abraten kann, diesen qualvollen Ort
aufzusuchen’. … Ein Ort des Schreckens in der Tat war das, wo das Marmorpflaster des
steinigen Weges allein Eis ist und man den Fuß nicht sicher aufsetzen kann … Ich steckte die
Hand in meine Pilgertasche, um ein oder zwei Silben durchzustreichen - siehe da, ich fand
mein Tintenfass mit einer trockenen Eismasse angefüllt. Meine Finger versagten ihren Dienst;
mein Bart war steif gefroren und mein Atem hatte sich in einen langen Eiszapfen verwandelt.
Ich konnte nicht schreiben.“ Die Route über den St. Bernhard war damals die direkte Route
von Paris und aus der Champagne nach Italien, die von Dijon aus über den Jougnepass verlief
und mit dem Großen Sankt Bernhard den schreckenvollen Höhepunkt erreichte. Von St.
Rhemy, wo die Grafen von Savoyen Wegezoll erhoben, führte die Straße durch Aosta, Ivrea
und Vercelli schließlich hinab in die obere Lombardei. Viele Raststätten und Hospize säumten
die Überland- und Alpenstraßen. Hospize waren karitative Stiftungen, die „großen heiligen
Werke am Wege“ (Reinhard Zweidler). Sie wurden zum Schutz der Pilger unweit gefährlicher
Wegstellen, an Flussübergängen oder entlang der steilen Bergpfade errichtet. Die letzten vor
einer Passhöhe waren so angelegt, dass der Reisende innerhalb eines Tages von einem zum
nächsten kommen konnte. Bei schlechter Witterung, Nebel und Schneefall, wurde ständig die
Kapellenglocke geläutet, um Schutzsuchenden akustische Orientierungshilfen zu geben. Vom
11. Jahrhundert an wurden Hospize auch direkt auf Passscheiteln gebaut. Das reichste und
berühmteste war das 1125 erstmals bezeugte Hospiz der Augustiner-Chorherren auf dem
Großen St. Bernhardpass. Vermögende Schutzsuchende statteten ihren Dank für ein warmes
Quartier und Verpflegung durch Privilegien und Stiftungen ab. Stiftungsgaben stammten von
Kaisern und Päpsten sowie ganz besonders den Herzogen von Savoyen, aber auch von
anderen dankbaren Reisenden. Als Folge besaß das Hospiz auf dem Großen Sankt Bernhard
schließlich weit verstreute Besitztümer von England bis Sizilien. Viele der übrigen Hospize
entlang dieser Route wie auch ein Haus in Troyes waren ebenfalls mit der Stiftung auf dem
Großen Sankt Bernhard verbunden, so das Hospiz auf dem Gipfel des Jougnepasses im Jura.
Zu Ende des 12. Jahrhunderts gab es Hospize zwischen Troyes und dem Jougnepass bei Barsur-Seine, Val Suzon und Salins sowie zwischen dem Jougnepass und dem Großen Sankt
Bernhard bei Lausanne und Vevey. Die meisten der unzähligen mittelalterlichen
Übernachtungsstätten sind längst abgekommen. Zu den wenigen noch erhaltenen zählen die
Bauten von Altopascio bei Lucca und Poggibonsi bei Siena an der Via Francigena.
Die Tauernrouten verbanden die oberitalienische Handelsmetropole Venedig mit Salzburg,
dem Hauptumschlagplatz nördlich des Alpenhauptkammes, wo sich eine Reihe weiterer
Straßen zu Lande und auf Flüssen nach Süddeutschland und in den Donauraum auftaten. Von
allen Tauernwegen wurde vom Fernhandel stets der am leichtesten begehbare und zugleich
niedrigste, die „Untere Straße“ über Radstädter Tauern und Katschberg bevorzugt. Schon seit
1002 ist Handelsverkehr über den Radstädter Tauern nachzuweisen, während der Katschberg
erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts Erwähnung findet. Auf diesem Weg, der bis zum Bau
einer Straße nach 1520 wie alle anderen Tauernwege und die meisten anderen Alpenstraßen
ein Saumpfad war, wurden etwa 2/3 aller Waren aus Venedig nach Salzburg und weiter nach
Süddeutschland transportiert. Daher bildete sich im Mittelalter eine Transportorganisation
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über den Tauern aus, mit Umladen vom Wagen auf das Saumtier in Salzburg bzw. Gemona,
wo deutsche mercatores ebenso wie in Venzone saßen, und direktem Transport zwischen
diesen Orten. Die Plöckenroute war bis ins 13. Jahrhundert, als das Kanaltal durchgehend für
Wagen befahrbar gemacht wurde, neben der Brennerroute die mit Abstand wichtigste
Verbindung zwischen Italien und Süddeutschland. Paolo Santonino, der Sekretär des Bischofs
von Caorle, beschreibt noch 1485 eine Reise über den Plöckenpass, der Kärnten mit Italien
verbindet, als höchst gefährlich, da der Pass „schwer zu passieren, steil und felsig und auf
jede Art für Menschen und Pferde unwegsam“ gewesen sei. Der Pfad war auf der Nordseite
des Gailberges „an vielen Stellen durch Pfähle gestützt, die an benachbarten Bäumen befestigt
sind und … so schmal, dass nur je ein Reiter passieren“ konnte. Nach dem Ausbau der
Semmeringstraße und der Kanaltalstraße erlangte die Kärntner Stadt Villach als
Kreuzungspunkt der Routen Venedig - Salzburg und Venedig - Wien große Bedeutung. Auf
den steilen Pfaden über die Gebirgspässe, die eigentlich nichts anderes waren als
Knappensteige, Viehwege der Almwirtschaft oder Kohle- und Holzzubringer für die vielen
montanindustriellen Betriebe, wurden die Güter vorwiegend von Lasttieren befördert, der
Sicherheit wegen meist in Gruppen. Diese Transportgemeinschaften brachten das
ankommende Kaufmannsgut mit den Saumtieren ihrer dazu berechtigten Bergbauern durch
das ihnen zustehende Streckensegment bis zur nächsten Station, wo die Waren auf die Tiere
der nächsten Säumergemeinschaft umgeladen wurden. Als Tragtiere wurden vorzugsweise
Pferde, seltener Maultiere verwendet. Ein Saum betrug normalerweise das Gewicht von 2,5 3 Zentnern, während eine Wagenladung bis zu 10 Zentner ausmachen konnte. Auf den steilen
Gebirgspfaden über die Pässe Europas wurden die Güter mit wenigen Ausnahmen (z.B.
Brennerpass) gesäumt. Gelegentliche Verbreiterungen der meist nicht mehr als 1,5 m breiten
Pfade ermöglichten ein risikoreiches Ausweichen. Vorwiegend Bauern und Gastwirte
besserten ihr kärgliches Einkommen mit dem Transportwesen als ,,Nebenerwerb" auf, indem
sie den gefährlichen Beruf des Säumers ausübten. Dadurch bedingt und auch durch die
Witterungsverhältnisse und die damit verbundene Beschaffenheit der Wege und Straßen,
lagen die Spitzenzeiten des Saumverkehrs zwischen Oktober und Ende Februar, während die
Säumer im Sommer als Bauern ihre Felder bestellten. Hauptberufliche Fuhrleute treten uns
erst im 16. Jahrhundert entgegen.
12. Brücken
Vom 11. Jahrhundert an wurden Brücken in größerer Zahl über die Flüsse gebaut. Dennoch
waren sie auch noch im Spätmittelalter eher seltene Gebilde, gefahrlos benutzbare noch viel
seltener. Der Benediktiner Richer von Reims berichtete 991 über eine Reise von Reims nach
Chartres: „ … und wie ich sie (eine Brücke) genauer betrachtete, befielen mich neue Sorgen.
Auf ihr klafften so viele und so große Löcher, dass an diesem Tag kaum die Ortskundigen
hinüber kamen.“ Meist handelte es sich um Pfeilerbrücken aus Holz mit Bretterbelägen, die
nur allzu oft morsch, brüchig und manchmal überhaupt nicht zu benützen waren, obschon
einige von ihnen überdacht waren, um den Bretterboden vor Nässe zu schützen. Steinerne
Brücken gab es nördlich der Alpen nur wenige. Die 14bogige neben dem Regensburger Dom
gilt als Meisterwerk mittelalterlicher Baukunst. Sie wurde wohl zwischen 1135 und 1146
errichtet und diente als Vorbild für andere Brückenbauten des 12. und 13. Jahrhunderts, so für
den über die Elbe bei Dresden, über die Moldau bei Prag oder die Rhône bei Avignon.
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Berühmt sind in Italien die Ponte Vecchio, die älteste Brücke über den Arno in Florenz, die,
ebenfalls aus Stein, in 12jähriger Bauzeit bis 1345 errichtet wurde, die Ponte Scaligero in
Verona, die von 1354-1356 gebaut wurde und über drei Segmentbögen verfügt, wobei der
letzte mit 48,7 m Spannweite zur Zeit der Errichtung der längste Brückenbogen der Welt war,
und die Ponte della Pia über die Rosia in Siena, eine einbogige Brücke, die schon zur
Römerzeit errichtet worden war und im 13. Jahrhundert umfassend erneuert wurde. In
Kärnten war die Zahl der Brücken über die Drau, Kärntens größtem und wichtigstem
Wasserweg, wegen des unberechenbaren Flussverlaufs, der eine Schifffahrt oder Flößerei im
oberen Drautal vor Spittal kaum ermöglichte, aber auch wegen der häufigen Hochwässer,
äußerst gering. Zwischen Villach und der Ende des 12. Jahrhunderts genannten Brücke von
Unterdrauburg/Dravograd befanden sich im Mittelalter nur noch die um 1217 errichtete
Völkermarkter Brücke und jene unweit der Hollenburg, die ebenfalls Anfang des 13.
Jahrhunderts über den Fluss gezogen worden war. Wasserläufe waren generell schwer zu
queren. Zwischen den Brücken gab es vereinzelt Furten und Überfuhren. Bei letzteren wurden
Mensch, Tier und Ware mit Fähren über die Flüsse gesetzt, vorausgesetzt die Zahl der
Reisenden, die über den Fluss gebracht werden wollten, reichte aus, eine Fährmannfamilie zu
ernähren. Noch heute erinnern Ortsnamen wie Erfurt, Schweinfurt oder Klagenfurt daran,
dass die Siedlung an einer Furt entstanden ist. Wurde der Wasserlauf durch eine Insel geteilt,
bot die die Stelle für einen Brückenbau an. Berühmte Städte wie Paris, Prag, Hamburg,
Magdeburg, Rom, Florenz oder Verona sind an solchen Orten entstanden. Über Bäche und
schmalere Flüsse waren vielleicht Baumstämme gelegt, oft morsch und glatt, durch viele
Furten musste man waten, Seile waren von einem zum anderen Ufer gespannt, weil bei
Schneeschmelze oder nach Unwettern selbst harmlose Rinnsale zu reißenden Fallen werden
konnten.
13. Neuzeitliche Entwicklungen
In der Frühen Neuzeit ist zwischen zentralen Verkehrsachsen und Haupt- bzw. Nebenstraßen
zu unterscheiden, wobei die aus dem Mittelalter bekannten Routen häufig weiterexistieren.
Allerdings sind Verlagerungen und Bedeutungsschwankungen zu beachten. Ähnlich dem
Mittelalter führen das Wachstum und die Neugründungen von Städten sukzessive zu
Schwerpunktverschiebungen im europäischen Verkehrsnetz. Bei den Überlandstraßen handelt
es sich mehrheitlich um Verkehrskorridore, die auf „Zwangspunkte“ des Verkehrs zuführen
(Handelsplätze, Städte, Pässe, Furten, Brücken), und nicht um feste Straßenführungen. Erst
mit dem staatlichen Chausseebau ab dem beginnenden 18. Jahrhundert kommt eine offizielle
staatliche Hierarchisierung und Differenzierung des Verkehrswegesystems inklusive
Bürokratie in Gebrauch. Zuerst wird in Frankreich 1715 die „Direction des ponts et
chaussées“ errichtet. Damit setzt jene Phase des Straßenbaus ein, in der Landesbehörden den
Bau planen, organisieren und durchführen. Es ist die Epoche der Anlage überregionaler
Fernstraßen, des beginnenden Massentransports von Gütern, des organisierten Regelverkehrs
und der Ausdifferenzierung regionaler Verkehrsnetze. Auch wurden die den Verkehr
behindernden Furten über die Flüsse sukzessive überbrückt. Mit der Nutzbarmachung der
Dampfkraft für den Verkehr wurden die bisherige Reisegeschwindigkeit, die
Transportkapazitäten und die Dichte der Verkehrsnetze enorm erhöht. Erst dadurch konnten
sich im 19. Jahrhundert die bekannten Industrialisierungsprozesse entfalten. Eine weitere
19
Steigerung der Verkehrsleistungsfähigkeit trat mit der Massenmotorisierung seit den 1920er
Jahren ein, und ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die technischen
Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Luftfahrt als Massentransportsystem eingesetzt
werden kann.
14. Pilgern
14.1. Das Phänomen Pilgern und seine Entwicklung
Die Wurzeln des gesellschaftlichen Massenphänomens „Pilgern“ reichen weit in die
Geschichte des Christentums zurück. Heiligen- und Reliquienverehrung sind ein
grundlegender Bestandteil des Christentums. Vor dem 10. Jahrhundert wurde eine Unzahl
Heiliger und deren Reliquien verehrt, zuerst Märtyrer, dann vorwiegend heiligmäßige
Bischöfe, Eremiten, die so genannten Missionarsheiligen, und Adelsheilige, deren Ideal
gemeinsam mit den Missionarsheiligen bis ins späte Mittelalter bestimmend bleiben sollte,
jede Epoche suchte sich ihre eigenen Heiligen. 993 führte Papst Johannes XV. (985-996) das
erste uns bekannte Heiligsprechungsverfahren durch, indem er die öffentliche Verehrung des
Augsburger Bischofs Ulrich (gest. 973) wegen der Wunder „im Körper und außerhalb des
Körpers", die dieser vollbracht hatte, anordnete und damit einen schon bestehenden Kult
durch päpstliche Verordnung sanktionierte. Im 11. Jahrhundert kam das Wort canonizare auf,
erstmals verwendet von Papst Benedikt VIII. (gest. 1024), und bürgerte sich im 12.
Jahrhundert ein. Die Heiligsprechung wurde von Alexander III. (1159-1181) und Innozenz
III. (1198-1216) zum päpstlichen Reservatsrecht erklärt und mit canonisatio umschrieben. De
facto stand es ja den Bischöfen der verschiedenen Diözesen bis ins hohe Mittelalter zu, die
öffentliche Verehrung jener Menschen zu bewilligen, die als Blutzeugen gestorben waren, die
sich durch ein heiliggemäßes Leben und/oder nach ihrem Tode durch Wundertaten als Heilige
ausgewiesen hatten. Definitiv kirchenrechtlich geregelt wurde das Heiligsprechungsverfahren
auf dem vierten Laterankonzil 1215, wo verboten wurde, Reliquien ohne Erlaubnis des
Papstes zu verehren, was das Recht einschloss, ihren Kult zu billigen oder zu verbieten.
Ursprünglich bezogen sich alle Pilger- und Wallfahrten als Ausdruck der Heiligenverehrung
auf die Gräber ,,dieser hingeschiedenen Giganten des Christentums", im Osten vielfach auch
auf deren Bildnisse, im Westen war es nur bei Mariengnadenstätten der Fall.
Pilgern an sich ist uralt und allen Weltreligionen gemein. Im Buddhismus werden die heiligen
Stätten in Indien aufgesucht, wo der Religionsstifter Gautama Buddha gewirkt hatte, die
Hindus pilgern zu zahlreichen heiligen Orten, wo jeweils eine Gottheit verehrt wird, und auch
das Bad im heiligen Fluss Ganges ist für Strenggläubige Pflicht, der Shintoismus kennt
Pilgerreisen zum Iso-Schrein, und im Islam ist der Haddsch, eine der fünf Säulen im Islam,
jedem genügend vermögenden Mohammedaner einmal im Leben vorgeschrieben. Auch der
christlichen Spätantike war Pilgern durchaus bekannt, und im Mittelalter bildete sich eine
große Zahl an Pilgerstätten aus. Tausende Christen reisten z.B. zum (leeren) Grab des
Religionsstifters nach Jerusalem, zu den Gräbern ihrer Märtyrer nach Rom oder zum Grab des
hl. Martin nach Tours (ab dem 5. Jahrhundert). Manche suchten mehrmals im Jahr einen
nahen Wallfahrtsort auf, andere nahmen die beschwerliche Reise zu einem fernen auf sich.
Auch Angehörige der Unterschicht verfügten über eine Mobilität, wie sie heute alles andere
als selbstverständlich ist. Die Pilgerfahrt war im Mittelalter eine allgemein akzeptierte Form
20
des Reisens. Die Intentionen dazu waren unterschiedliche: Natürlich hatte Pilgern zuvorderst
einen spirituellen Wert. Man pilgerte zu den heiligen Orten für das Seelenheil, um Sühne zu
leisten und Buße zu tun, um Gelübde abzulegen, wegen leiblicher und/oder seelischer
Anliegen oder auch aus Dankbarkeit für bereits erfolgte Hilfe. Im Spätmittelalter nahm der
Brauch zu, Rechtsbrecher zu Pilgerfahrten zu verpflichten. Manche unternahmen die
Peregrinatio stellvertretend für andere, waren professionelle Pilger, für deren Mühen es feste
Tarife gab. Nicht selten waren es Abenteuerlust und Lust auf Bildungsreisen und/oder
Kavalierstouren,
wie
es
Geoffrey
Chaucer
in
seinen
„Canterbury
Tales“ (um 1387) köstlich beschreibt. Vielleicht ging es auch nur um profane
Geschäftsinteressen, oder es war ganz einfach nur Flucht, derentwegen Menschen aller
Gesellschaftsschichten den Pilgerstab in die Hand nahmen. Der Gründe gab es viele. Iso
Baumer analysiert in seiner „strukturalen Phänomenologie“ den Verlauf des Pilgerns: „1. Ein
Mensch wohnt irgendwo und geht seiner Arbeit nach; 2. Aus irgendwelchen Motiven fasst er
den Entschluss, aufzubrechen; 3. Er bricht auf; 4. Er reist; 5. Er kommt ans Ziel; 6. Er
vollzieht dort Gesten individueller und kollektiver Frömmigkeit; 7. Er reist heim; 8. Er nimmt
seine Arbeit wieder auf.“ Über die geeignete Pilgertracht gab es einschlägige Empfehlungen,
doch war die Bandbreite der Möglichkeiten groß. Oberste Maxime sollte es sein, in fremden
Ländern nicht zu sehr aufzufallen. Vor der Abreise wurde gebeichtet, der Pilger erhielt einen
Stab, eine geweihte Tasche und einen Pass, der ihn als Wallfahrer legitimierte. Bei der
Überreichung der Pilgertracht wurden auch ein Segensgebet gesprochen und häufig
Empfehlungsschreiben überreicht, die sehr hilfreich werden konnten, etwa wenn es darum
ging, ein Dach über dem Kopf zu bekommen, an Nahrung zu gelangen oder günstig irgendwo
mitzureisen. Nunmehr trat der Pilger in einen eigenen religiösen Status ein. Er war für die
Dauer seiner Reise „für die Welt“ gestorben. Die Tasche, in heutigen Augen eher ein Sack,
der geschultert wurde, galt als Symbol der Pilgerschaft, der Stab als Gehhilfe und zur Abwehr
von Tieren sowie Strauchdieben und der weite, oft ärmellose Mantel schützte vor Regen und
Kälte und diente des nächtens als Decke. Der breitkrempige Hut hatte ebenfalls
Schutzfunktion, an ihm wurden die verschiedenen Pilgerzeichen befestigt. Auch wenn der
Pilger nach seiner Rückkunft wieder früher oder später in den alten Trott und die früheren
Laster zurückfiel, hob er Stab, Mantel, Tasche und das jeweilige am Pilgerort erstandene
Pilgerzeichen (z.B. Palme/Jerusalem, Schlüssel/Rom, Muschel/Santiago) sorgfältig auf und
trug sie an hohen Festtagen. Wer sich z.B. mit der charakteristischen Muschel, dem
Pilgerzeichen aus Santiago de Compostela, bestatten ließ, hoffte darauf, dass der heilige
Jakobus sich seiner auf der letzten Reise und beim Jüngsten Gericht erinnern werde. Aber
auch im profan-rechtlichen Bereich nahm der Pilger einen eigenen Status ein. So war er von
Zöllen befreit, in realiter allerdings vom Wohlwollen und Gutdünken der weltlichen Instanzen
(Landesherr, Zolleinnehmer) abhängig. Erste Pilgerspitäler entstanden schon seit dem 8.
Jahrhundert in Italien, nördlich der Alpen seit dem 11, Jahrhundert, weil die Kapazität der
Klöster für die Aufnahme von Pilgern nicht mehr ausreichte. Im Johanniterspital in Jerusalem
(um 1070 begründet) sollen allein im Jahr 1170 2000 Kranke betreut und ebenso vielen
Armen soll Obdach und Verköstigung gewährt worden sein. In der Toskana unweit von Lucca
befand sich an der Straße nach Rom alle 5 bis 6 km ein Hospital. Eine kommerzielle
Gastfreundschaft entwickelte sich zuerst in Italien, seit dem Hochmittelalter auch nördlich der
Alpen. Vom Hochmittelalter an verstärkte sich auch den Quellen zum Pilgerwesen zufolge
der Trend zur Individualisierung. Jetzt begegnen Notleidende auch dann mit ihrem Namen,
21
wenn sie dem einfachen Volk zuzuzählen sind, auch eine deutliche Zunahme des
Pilgerwesens ist feststellbar. Seit der Spätantike fanden sich immer wieder Frauen unter den
Pilgern, wie verschiedene Hospizhausordnungen belegen. Allerdings waren wesentlich
weniger Frauen als Männer pilgernd auf den Straßen unterwegs, und in der patriarchalischen
rauen Männerwelt des Mittelalters waren sie auch wesentlich gefährdeter als diese. Schnell
konnte ihnen Prostitution unterstellt werden. Reisen war aber für alle immer gefährlich. Mord,
Versklavung, Raub und Betrug drohten, Unfälle zu Wasser und auf dem Land, vielleicht auch
nur Seelenpein durch Versuchung. Je nach persönlicher Vorliebe entwickelte man zu diesem
oder jener Heiligen ein inniges Verhältnis.
Im Spätmittelalter wurden Stadt und Land von einem bisher unbekannten Pilgerdrang erfasst.
Ernst Schubert hat das Neue des spätmittelalterlichen Pilgerns treffend mit drei Begriffen
beschrieben: Intensivierung, Formalisierung, Emotionalisierung. Spontan machten sich
Christen auf den Weg zu Gnadenstätten, wenn sie von wunderbaren Geschehnissen hörten,
von denen sie sich Hilfe in ihren Leiden und Nöten erhofften. Das Pilgerwesen als
europäisches Massenphänomen hat im 13. Jahrhundert seine volle Ausformung erfahren (bis
heute sollte die Massenhaftigkeit ein Merkmal volkstümlicher Frömmigkeit bleiben). Als
Ursachen für dieses außergewöhnliche Verhalten wurden der Verfall der Zentralgewalt, das
weit verbreitete Konkurrenzdenken einer auf Leistungsökonomie orientierten bürgerlichen
Gesellschaft sowie das gesteigerte Wunderbedürfnis als Reaktion auf eine wirtschaftliche und
existentielle Instabilität, auf verunsichernde Daseinserfahrungen, erkannt. Spätmittelalterliche
Massenwallfahrten sind nicht nur ein religiöses Krisenphänomen, das die starken inneren
Spannungen und den Hang zu religiösen Aufläufen nicht nur der zeitgenössischen
Laienchristen, sondern auch die Verunsicherung weiter klerikaler Kreise, insbesondere der
niederen Geistlichkeit, deutlich zum Ausdruck bringt. Die Ausweitung des Handels und die
Verbesserung der Verkehrswege spielen eine nicht unerhebliche Rolle. Nicht von ungefähr
wurden gerade zu dieser Zeit die drei Hauptwallfahrten nach Jerusalem, Rom und Santiago de
Compostela als peregrinationes majores definiert, und es wurde begonnen, sie von den
peregrinationes minores, überregionalen Pilgerfahrten wie solchen nach Aachen, Einsiedeln,
Wilsnack oder Le Puy sowie lokalen bzw. regionalen Pilgerreisen zu nahe gelegenen
Heiltümern mit einer Dauer von nur wenigen Stunden oder Tagen zu unterscheiden.
14.2. Jerusalem
Das vorrangige Pilgerziel für Christen war und ist Jerusalem, die Stadt, wo Jesus lebte und
gekreuzigt wurde. Die mittelalterlichen Weltkarten weisen deutlich auf den hohen Stellenwert
des Ortes für die christliche Welt hin. Das „heilige Jerusalem auf Erden" ist stets der
Mittelpunkt der Welt. Seit der legendären Lokalisierung der Orte der Kreuzigung Christi, der
Grablegung und anderer Ereignisse durch Flavia Helena, die heilige Mutter Kaiser
Konstantins, und Bischof Makarios von Aelia Capitolina 325, das Auffinden der
Jesusreliquien (Kreuz, Dornen aus der Krone, Nägel, mit denen Jesus ans Kreuz geschlagen
worden war, INRI-Tafel) und die Errichtung der Grabeskirche Jesu sowie der Geburtskirche
über der Hirtenhöhle in Bethlehem durch Konstantin entwickelte sich Jerusalem zum
wichtigsten Ziel der peregrinationes majores. Es sind primär der Heiligenkult - die Verehrung
der Grabstätte Jesu - und der Reliquienkult, derentwegen Christen zur exklusiven, weil sehr
teuren, Reise nach Jerusalem aufbrachen. Auch Pilger aus den deutschen Landen nahmen die
22
Strapazen der Pilgerfahrt zum Zentrum der Christenheit auf sich. Der erste Elsässer, der seine
Palästinareise beschrieben hat (nach 1222), war ein Straßburger Dominikaner namens
Bonaventura Burkhard, der nach seiner Rückkehr den Beinamen de monte Sione führte, was
die Exklusivität einer Reise ins Heilige Land betont. Bis zum 12. Jahrhundert waren
Aufenthalte in Jerusalem mit einer Dauer von etwa einem halben Jahr üblich, mit dem
Aufkommen von Pauschalreisen ab dem 14. Jahrhundert verringerte sich die Aufenthaltsdauer
auf 10-14 Tage. Der Franziskanerchronist Johann von Winterthur (gest. 1348/49) berichtet
von zwei Adeligen vom Überlingersee, die 1346 mit einer großen Reisegesellschaft ins
Heilige Land gepilgert waren, um das Grab Christi zu sehen. Er erzählt, dass sie den
Sarazenen viele Geld hatten zahlen müssen, um die Grabstätte besichtigen zu können. Im
Bericht werden die Besonderheit einer solchen Reise und die großen Gefahren spürbar. Der
Chronist erzählt, die beiden Männer hätten die Fahrt im März begonnen und seien vor
Weihnachten fröhlich zurückgekehrt. Nach dem endgültigen Verlust des Heiligen Landes mit
dem Fall Akkons an die Mameluken unter dem Sultan Al-Ashraf Chalil (1291) wurden erst
wieder Mitte des 14. Jahrhunderts regelmäßig Pilgerfahrten nach Jerusalem organisiert, wobei
Venedig und der Franziskanerorden die Träger des Unternehmens waren. Die christlichen
Pilger wurden von den muslimischen Herrschern wieder als willkommene „Devisenbringer“
verstanden, und es wurde den Minoriten 1316 gestattet, die Betreuung der heiligen Stätten zu
übernehmen. Vor allem vermögende Bürger und Angehörige des niederen Adels reisten in
Gruppen von 100-300 Personen von Venedig die dalmatinische Küste entlang vorbei an
Korfu über Kreta, Rhodos, Zypern und Jaffa nach Palästina, um sich dort zumeist zwei bis
drei Wochen aufzuhalten. Zum Besichtigungsprogramm gehörte die Grabeskirche Jesu, wo
manche Pilger die Nacht betend verbrachten. Es folgten weitere Sehenswürdigkeiten in
Jerusalem (Kalvarienberg, Via dolorosa mit den einzelnen Kreuzwegstationen, Ölberg,
Mariengrab) und der Umgebung. Dazu zählte der Besuch Bethlehems, oft auch der Taufstelle
Jesu am Jordan und einiger heiliger Stätten des Alten Testaments wie der Abrahamseiche von
Mamre und der Grabstätten der Könige David und Salomon. Manche der heutigen
touristischen Fixpunkte wie Felsendom, Haus des Pilatus und andere Sehenswürdigkeiten
konnten sich die Pilger nur von außen ansehen. Die hohen Reisekosten von 25-40 Gulden,
was dem Preis eines stattlichen Hauses in einer mitteleuropäischen Stadt entsprach, sorgten
dafür, dass die nicht nur teuren, sondern auch strapaziösen und gefährlichen Pilgerreisen nach
Jerusalem zu keinem Massenphänomen anwuchsen. Als Souvenirs waren Öl aus den Lampen
des hl. Grabes, Wasser aus dem Jordan oder die berühmten Rosen von Jericho beliebt.
14.3. Rom
Anders als in Jerusalem war die Situation in Rom. Dort hatten seit der Mitte des 3.
Jahrhunderts Pilgerfahrten zu den Gräbern der Märtyrer eingesetzt und Kaiser Konstantin
hatte mit St. Peter und St. Paul vor den Mauern (Sancti Pauli extra muros) zwei prächtige
Kirchen erbauen lassen. Schnell wurden diese Stätten zum Zentrum der Reliquienverehrung
in Rom, der Stadt, welche die meisten heiligen Orte der Christenheit aufzuweisen hatte.
Während des 8. und 9. Jahrhunderts wurden die sterblichen Überreste der frühen christlichen
Heiligen systematisch aus den Wandnischen der Katakomben entfernt und in die städtischen
Basiliken übertragen. Im Jahre 990 besuchte Erzbischof Sigerich von Canterbury (990-994)
innerhalb zweier Tage 23 namentlich genannte römische Kirchen, und das in einer Stadt mit
23
damals 10.000 - 20.000 Einwohnern. Durch die Verlagerung des Interesses der Gläubigen
nach Palästina und Spanien durch Kreuzzüge und Reconquista erlebte der römische
Pilgertourismus im 12. und 13. Jahrhundert einen schmerzhaften Rückschlag. Der Niedergang
des Pilgerwesens konnte jedoch durch eine geniale Idee Papst Bonifaz VIII. gestoppt werden
und Rom prosperierte politisch wie ökonomisch wieder. Bonifaz rief das Jahr 1300 zum
„Heiligen Jahr" aus und gewährte aus diesem Grunde allen Pilgern, die nach Rom kommen
und die vier Hauptkirchen der Stadt (St. Peter, St.Paul, Lateran, Maria Maggiore) aufsuchen
würden, einen vollkommenen Jubelablass. Von nun an sollte alle 100 Jahre ein solches
Jubeljahr begangen werden, damit verhindert werde, dass jemand zweimal in seinem Leben
einen vollkommenen Ablass gewänne. Damit verlagerte Bonifaz den Plenarablass der
Kreuzzüge auf den römischen Jubelablass, was letztlich indirekt zum Ausufern des
Ablasswesens im Spätmittelalter führte. Die Romfahrt wurde zum Massenphänomen.
Abertausende Pilger folgten seinem Aufruf, um von ihren Sünden befreit zu werden. Der
Sündenfreikauf wurde zu einem einträglichen Geschäft. In Rom strömte eine riesige
Volksmenge zusammen. Dass die Pilger vor allem aus Deutschland und Frankreich kamen,
wird vom Zeitzeugen Jacobus Gaetani Stefanseci mitgeteilt, aber auch Engländer, Spanier,
Ungarn und andere sollen in Scharen den Weg nach Rom gefunden haben. Der Florentiner
Kaufmann und Chronist Giovanni Villani etwa notiert die astronomische Zahl von 200.000
Ablasssuchenden, die täglich in Rom ein- und ausgegangen sein sollen, der Colmarer
Dominikanerchronist wiederum nennt die realistischere Zahl von 30.000. Der riesige Erfolg
des Jubeljahres bewirkte, dass schon Papst Clemens VI. (gest. 1352) die ursprünglich
vorgesehene Frist von 100 Jahren zwischen den Jubiläen auf 50 Jahre verkürzte und das
Heilige Jahr für 1350 ausrief. Trotz oder gerade auch wegen der in Europa grassierenden Pest
wurde das zweite Jubeljahr ebenfalls ein großer ökonomischer Erfolg für die Römer, und die
nachfolgenden Päpste verkürzten die Zeitintervalle zwischen den Jubeljahren auf 33 und
später auf 25 Jahre. Bald galt der Besuch der sieben römischen Hauptkirchen als
obligatorisch, und seit Alexander VI. (1492-1503) wurde selbst die Legende von der Öffnung
einer Heiligen Pforte an der Peterskirche Realität und offizieller Auftakt zum Heiligen Jahr.
Im 15. Jahrhundert wurden außerordentliche Heilige Jahre eingeführt, und aus
Konkurrenzgründen boten seit dem 15. Jahrhundert auch andere Pilgerzentren Heilige Jahre
an, so Canterbury 1420 oder Santiago de Compostela um 1426. Mit den Heiligen Jahren kam
auch das periodische Pilgern in Mode. Der Straßburger Bürger Mathias von Neuenburg hebt
in seiner Chronik hervor, dass anlässlich dieses Festjahres eine so große Menschenmenge
zusammengeströmt sei, wie es seit der Erbauung der Stadt nicht mehr der Fall gewesen wäre.
Er betont auch die Gefahren einer solchen Reise, weil viele Pilger auf dem Rhein bei
Schiffsunglücken umgekommen wären, und weil auch immer wieder Räuber und Raubmörder
die Pilger aufgelauert hätten. So fanden 1345 130 Rompilger im Rhein bei Rheinfelden ihr
Grab, weil das Boot, auf dem sie fuhren, völlig überladen war und die meisten von ihnen nicht
schwimmen konnten. Der wichtigste und meist begangene bzw. befahrene Pilgerweg von
England und Frankreich nach Rom war die Via Francigena. Von Canterbury über Calais
verlief die ca. 1600 km lange Route über Arras, Laon, Reims und Besançon nach Lausanne
und weiter zum Großen St. Bernhardpass. Auf italienischer Seite ging es dann über das
Aostatal, Ivrea und Vercelli nach Pavia, Piacenza und Parma und von da über den Cisapass im
Apennin, danach in zwei Streckenführungen weiter nach Lucca auf die alte Römerstraße, die
Via Pisana, zwischen Florenz und Pisa Richtung Arno, auf mehreren Wegen das Tal der Elsa
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(Valdelsa) entlang nach Siena und schließlich von dort nach Viterbo, Sutri und Nepi nach
Rom. Von Deutschland aus gab es zwei wichtige große Zubringer zur zentralen Route, eine
von Stade über Würzburg, Augsburg, Innsbruck, den Brennerpass, Verona, Bologna und
Florenz, wobei bei Augsburg eine Abzweigung zum St. Gotthardpass führte und von da über
Mailand Richtung Rom und die zweite Route ebenfalls mit Stade als Ausgangspunkt über
Paderborn und Mainz zur Rhein-Achse und weiter über Worms, Speyer, Straßburg und Basel
zum Großen St. Bernhard, wo die Via Francigena erreicht wurde. In Mainz traf die aus
Utrecht über Köln und Rhein-Achse kommende Westroute auf die Pilgerstraße. Bald war
diese weit mehr als nur Pilgerweg. Sie entwickelte sich zur ökonomischen Hauptschlagader
zwischen Italien und dem übrigen Europa, bis die ökonomische Kraft Venedigs die
Verkehrsströme dementsprechend umleitete.
14.4. Santiago de Compostela
Das dritte große Wallfahrtsziel des Mittelalters war Santiago de Campostela. Der Legende
zufolge soll Jakob d.Ä. nach dem Tod Jesu in Spanien gepredigt haben, dann nach Jerusalem
zurückgekehrt sein und dort als erster Apostel den Märtyrertod erlitten haben. Von seinen
Jüngern soll der Leichnam an die spanische Westküste zurückgebracht und bei Campostela
begraben worden sein. Von den Galiziern vergessen, sei Jakob Karl d. Gr. im Traum
erschienen und habe ihm den Auftrag erteilt, sein Grab zu finden und die Sarazenen aus
Spanien zu vertreiben. Die Wallfahrt zu den limina sancti Iacobi war überaus beliebt, wie
unter anderem etliche Jakobsmuscheln, Pilgerzeichen, die vor der Kathedrale neben anderem
verkauft und in ganz Europa gefunden wurden, belegen. Schon in einer Hymne aus dem 8.
Jahrhundert wird Jakob als Patron und Haupt Spaniens genannt, und aus dem 10. Jahrhundert
sind erste Nachrichten über Jakobspilger erhalten. In Nordspanien begünstigte das Kommen
und Bleiben von Pilgern die Wiederbesiedlung von Landstrichen, die während der Kriege
zwischen Muslimen und Christen entvölkert worden waren. Im Hochmittelalter kamen die
meisten von ihnen aus Katalonien und aus Frankreich, aber immer mehr auch aus dem
Deutschen Reich, und im 12. Jahrhundert wurde Santiago de Compostela zum Sitz eines
Erzbischofs erhoben und hatte sich als wichtigster Wallfahrtsort neben Jerusalem und Rom
etabliert. Schätzungen zufolge pilgerten 200.000 bis 500.000 Menschen jährlich nach
Santiago. Vier große Pilgerrouten führten die Jahrhunderte hindurch fast unverändert zum
Grab Jakobs und vereinigten sich in Puente la Reina. Eine verlief über St. Gilles (bei Arles),
Montpellier, Toulouse und den Somportpass, eine zweite über Le Puy, die dritte über Vézelay
und Périgueux und die vierte über Tours, Poitiers und Bordeaux. Die Routen zwei bis vier
verliefen über die Pyrenäen, den Cisapass nach Roncesvalles. Aus dem mittel- bzw.
oberdeutschen Raum reiste man gerne über Einsiedeln und Genf über das Rhônetal nach
Valence und von da über die Südroute über Arles und den Somportpass. Aus Kärnten und
Slowenien kommend wurde die Route das Drautal aufwärts durch das Pustertal über den
Brennerpass Richtung Arlberg bevorzugt. Wichtig für die Kenntnisse um den Jakobskult ist
vor allem der Liber Sancti Jacobi (= Codex Calixtinus), eine Sammelhandschrift aus dem 12.
Jahrhundert, der eine Reihe von Legenden, Wunderberichten, Pilgerliedern, Predigten,
Stundengebete und Hymnen enthält. Ihm ist zu entnehmen, dass ähnlich wie in Jerusalem
Pilger gerne eine Nacht am Apostelgrab zubrachten. Rom ähnlich gibt es seit dem 15.
Jahrhundert auch in Santiago Jubeljahre, die jeweils dann gefeiert werden, wenn der 25. Juli,
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der Festtag des Apostels, auf einen Sonntag fällt, was einen etwa siebenjährigen Rhythmus
ergibt. Nach dem Niedergang des Jakobskults im 16. Jahrhundert wurde er im 19.
wiederbelebt, und 1937 wurde Jakobus d.Ä. von General Franco zum Nationalheiligen
Spaniens proklamiert. Heute ist der Heilige auch eine europäische Integrationsfigur und steht
für ein kontinentales Zusammengehörigkeitsgefühl, ausgelöst durch eine Kampagne des
Europarats 1987, welche den Pilgerweg auf spanischer Seite zum ersten europäischen
Kulturweg erklärte. Die Begeisterung für den Jakobsweg hat heute - angeregt durch
verschiedene Filme und Berichte - noch zugenommen. 2008 besuchten 125.000 Pilger das
Grab Jakobs.
14.5. Regionale Pilgerrouten und -ziele
Die lokalen und regionalen mariologischen, aber auch eucharistischen Gnadenstätten
vermehrten sich seit dem 14. Jahrhundert rasch und wurden von Scharen wundersüchtiger
Pilger aufgesucht. In der Emilia Romagna waren solche Nahwallfahrtsziele z.B. Madonna di
San Luca in Bologna, die hl. Jungfrau Maria del Piratello in Imola, die Verehrung des hl.
Blutes und der hl. Maria in Vado in Ferrara; im Piemont pilgerten die Gläubigen zum
Sanktuarium der Heiligen Anna di Vinadio in Cueno, zu jenem der Madonna del Sangue in
Re oder auf den Rocciamelone, den höchstgelegenen Wallfahrtsort Europas, bei Turin; in
Slowenien wurden die Muttergotteskirchen Ptujska Gora und Petrovče in der Diözese Maribor
aufgesucht und auch Strunjan und Sveta Gora in der Diözese Koper; in Kärnten Gurk,
Heiligenblut, der Hemmaberg im Jauntal, einer der ältesten Wallfahrtsorte Europas, Maria
Wörth oder Millstatt; in Thüringen pilgerten die Menschen nach Elende im Landkreis
Nordhausen, nach Grimmenthal, Hülfesberg bei Geismar oder Vierzehnheiligen am
Jakobsweg; in Sachsen-Anhalt schließlich nach Drübeck im Kreis Wernigerode, nach
Horburg in Kötschlitz/Merseburg,
Huy bei Halberstadt, zur Heiligblutkapelle in
Schwanebeck oder zur Marienkapelle in Welfesholz mit dem Bild des „Jodute“. Gerade die
lokalen und regionalen Gnadenstätten sind Ausdruck einer quantifizierenden Frömmigkeit.
Eine der Ursachen für das Ausufern der Nahwallfahrten ist im Ablasswesen zu sehen,
wodurch Kultorte, die mit den gleichen Ablässen ausgestattet waren wie die großen
Pilgerziele, eine zeitintensive mühsame, gefährliche und vor allem auch teure Reise dorthin
erübrigten. Im Schweizer Kloster Einsiedeln wurden 1466 in 14 Tagen 130.000 Pilgerzeichen
aus Metall verkauft. Die Ablässe, die letztlich auch für Verstorbene in Anspruch genommen
werden konnten, befreiten einen Sünder von einer zeitlichen Sündenstrafe, während eine
Befreiung von der Sündenschuld nur durch Reue und erfolgte Vergebung erlangt werden
konnte. Eine derartige Befreiung war im Spätmittelalter an jedem Ort, wo es eine Reliquie
gab, zu erlangen. Auf diese Weise sammelten Adelige unzählige Ablassjahre. Mittels der dort
vorhandenen Reliquien konnte man z.B. in Wittenberg Anfang des 16. Jahrhunderts
2.000.000 Jahre Ablass erwerben. Der Wunsch der Pilger nach direktem Kontakt mit dem
Heiligen, um dadurch seelische wie körperliche Genesung zu erlangen, verlagerte sich seit
1300 immer mehr hin zur Erringung von Ablässen und damit zur Sündenbefreiung und
Jenseitsvorsorge. Die große Zahl der spätmittelalterlichen lokalen Wallfahrtsorte, vor allem
für die ärmere Bevölkerung als Ersatz für die berühmten Wallfahrtsziele, bedingte auch die
Spezialisierung der verschiedenen Heiligen auf bestimmte Leiden, die Situation führte dazu,
dass sich Geistliche bemühten, ,,ihre“ Wallfahrt für die Pilger attraktiv zu machen, wozu unter
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anderem auch Mirakelberichte dienten. Sie sollten die jeweiligen Kultstätten propagieren und
populär machen. Dennoch sollte der Wunsch, Bildnisse oder Reliquien von Heiligen zu
berühren, zu Heiligengräbern zu reisen oder zumindest in ihrer Nähe zu sein, um durch die
ihnen ausströmende Kraft geheilt zu werden, auch weiterhin zu den weit verbreiteten Formen
religiöser Praxis mit dem Ziel gehören, den Heiligen als magischen Helfer für die
individuellen Interessen zu instrumentalisieren.
14.6. Das Pilgerwesen von der Reformation bis heute
Die Reformation brachte eine tiefe Zäsur im Pilger- und Wallfahrtswesen. Entscheidend war
die Kritik der Protestanten am Heiligenkult. Unter Berufung auf die Bibel lehnten sie die
Verehrung von Heiligen ab. Martin Luther wetterte gegen das unvernünftige wundersüchtige
Reisen zu den immer mehr werdenden wilden Kapellen und Feldkirchen, und Zwingli und
Calvin ließen Kultbilder und Reliquien aus den Bethäusern ihres Einflussbereiches entfernen
und verboten Pilger- und Wallfahrten. Im katholisch gebliebenen Teil Europas sorgten die
Herausbildung der staatlichen Obrigkeit und des Nationalstaates und besonders auch die so
genannte Aufklärung für eine schwere Krise der Wallfahrts- und Pilgeridee. Den staatlichen,
aber auch kirchlichen Obrigkeiten erschien jede Form von länger andauernden
Menschenansammlungen als Risiko. Daher galt Pilgern als suspekt und wurde verboten. Dies
traf insbesondere auf Pilgerfahrten zu, die über die Grenzen des Nationalstaates führten, denn
ein Untertan jenseits der Staatsgrenzen war nicht mehr zu kontrollieren. Den Aufklärern
wiederum widersprach Pilgern und Wallfahrten als Ausdruck unreflektierter
Volksfrömmigkeit jeder Art von Rationalität, von rationalem, von allem Plimborium
gereinigtem, aufgeklärtem Christentum. Als Ersatz für Pilgerreisen und Wallfahrten wurden
seitens der Ortspfarrer und Ordensleute Prozessionen und Kreuzgänge innerhalb der
jeweiligen Ortskirchen angeboten, oder auch Wallfahrten zu Zielen innerhalb der Grenzen des
eigenen Territoriums. Das hat Protestanten allerdings nicht davon abgehalten,
„Bildungsreisen“ zu Orten zu unternehmen, zu denen ihre Vorfahren gepilgert waren und heute - wieder selbst zu pilgern. Das 19. Jahrhundert brachte ein selbstbewusstes Bürgertum
und damit verbunden eine Renaissance des Pilgerwesens, insbesondere in der katholischen
Kirche. Dabei kam ähnlich wie heute einer romantischen Verklärung des Mittelalters eine
wichtige Rolle zu sowie der „Wiederentdeckung“ vergangener christlicher Werte im
Brauchtum. Zahlreiche Marienerscheinungen stehen paradigmatisch für diese Entwicklung,
die Pilgerfahrten zu neuen Zielen, nach Fatima in Portugal, oder nach Lourdes und La Salette
in Frankreich, nach sich zog. Die Anziehungskraft dieser Gnadenorte oder auch zuletzt von
Meñugorje in Kroatien, ist nach wie vor ungebrochen, obwohl die verschiedenen totalitären
Systeme mit der ihnen immanenten Menschenverachtung und Religionsfeindlichkeit das
Pilgerwesen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abermals blockierten. Pilgern wurde
vielfach politisiert, erhielt subversive Konnotationen und wurde zum Symbol antitotalitären
Denkens. So kamen 1937 800.000 Menschen aus allen Teilen zur Wallfahrt nach Aachen.
Und jene nach Tschenstochau nach dem zweiten Weltkrieg war eine unübersehbare
Demonstration des Freiheitsstrebens der Polen mit weit reichenden politischen
Auswirkungen. Die heutige enorme Popularität des Pilgerns hängt insbesondere auch mit der
Überwindung der Grenzen des neuzeitlichen Nationalstaates in Europa zusammen und mit
einer Zunahme der individuellen Freiheit in der Europäischen Union. Allerdings hat das
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heutige Pilgerwesen im Vergleich zu jenem früherer Zeiten eine grundlegende
Bedeutungsveränderung erfahren. „Dem modernen Tourismus geht es weder um das ewige
Seelenheil noch um die Heilung von Krankheiten. Hauptgründe für einen temporären
Ortswechsel sind bei jüngern Leuten Reiselust und Neugier; bei den mittleren und höheren
Altersklassen spielt eher das Erholungsbedürfnis eine wichtige Rolle. Diese innerweltlichen
Motivationsstrukturen bilden die Grundlage für eine Industrie, die davon profitiert, dass heute
praktisch alle Arbeitnehmer ein Anrecht auf eine bestimmte Anzahl von Feiertagen haben.
Der ersehnte Ausbruch aus dem Alltag muss also nicht mehr zwingend mit religiösen
Bedürfnissen legitimiert werden.“ (Maria Wittmer-Butsch). Die Touristiker wird die neue
Pilgermotivation wenig interessieren. Wichtig ist für sie, dass es offensichtlich eine nicht
kleine Zielgruppe für Pilgerreisen gibt, die bereit ist, zu investieren und auch andere
Sehenswürdigkeiten auf dem Weg zum Ziel bewundernd „mitzunehmen“. Hier schließt sich
der Kreis, denn schon im Mittelalter sind manche Pilger mit offenen Augen durch fremde
Länder gezogen und haben den Anblick der Kulturgüter der Regionen mit großer
Begeisterung in sich aufgesogen.