2.2. Stammfunktion und unbestimmtes Integral (Theorie)
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2.2. Stammfunktion und unbestimmtes Integral (Theorie)
Fachgruppe Mathematik der Kantonsschule am Burggraben, St.Gallen Mathematik-Repetitorium für den Maturastoff Seite 1 2.2. Stammfunktion und unbestimmtes Integral (Theorie) Definition: Die Funktion f sei im Intervall [a, b] definiert und stetig. Eine Funktion F heisst Stammfunktion von f , wenn f die Ableitungsfunktion von F ist. (Dies ist gleichbedeutend mit: Für alle x ∈ [a, b] ist F ′( x) = f ( x) . ) Das Auffinden einer Stammfunktion entspricht der umgekehrten Tätigkeit des Ableitens. Deshalb nennen wir diese neue Arbeit ( salopp ausgedrückt) „Aufleiten“. Mit Raten und anschliessender Kontrolle lässt sich (machmal) eine Stammfunktion für eine vorgegebene Funktion finden. • f ( x) = 2 ⋅ x ⇒ F ( x) = x 2 • h( x) = a ⋅ x 3 ⇒ F ( x) = a 4 x 4 • g ( x) = 1 x ⇒ G ( x) = ln( x) x x • s ( x) = 2 ⋅ sin( ) ⇒ S ( x) = cos( ) 2 2 Im Allgemeinen ist das „Aufleiten“ aber um einiges schwieriger als Ableiten. Im schlimmsten Fall kann man gar keine Stammfunktion finden: So existiert beispielsweise zur Funktion mit der Gleichung f ( x) = e − x 2 keine Stammfunktion! Trotzdem lassen sich einfache „Aufleitungsregeln“ angeben. Diese erhält man, indem man eine Ableitungsregel auf die „Ebene“ der Stammfunktion überträgt. • Ist F eine Stammfunktion von f , ist für jede Konstante c die Funktion Fc : x → Fc ( x) = F ( x) + c eine Stammfunktion von f . ( Die Stammfunktion einer Funktion ist nur bis auf eine additive Konstante bestimmt.) • Ist F eine Stammfunktion von f dann ist für jeden konstanten Faktor λ die Funktion (λ ⋅ F ) eine Stammfunktion von (λ ⋅ f ) . (Das λ -fache der Stammfunktion einer Funktion ist eine Stammfunktion des λ -fachen der Funktion.) • Ist F1 eine Stammfunktion von f1 und F2 eine Stammfunktion von f 2 , so ist (F1 + F2 ) : x → F1 ( x) + F2 ( x) eine Stammfunktion von ( f1 + f 2 ) . (Die Summe der Stammfunktionen zweier Funktionen ist eine Stammfunktion der Summe dieser Funktionen.) 1 α +1 x , α ≠ −1 ist eine Stammfunktion von f : x → f ( x) = x α . (Übertragung α +1 der Ableitungsregel für die Potenzfunktion.) • F : x → F ( x) = Wie lässt sich das Auffinden der Stammfunktion graphisch interpretieren? Durch die gegebene Funktion f ist für jeden Punkt des Graphen einer Stammfunktion die Steigung der Tangenten bekannt. Punkte mit gleichen x-Koordinaten haben dieselbe Steigung. Damit kann man zumindest theoretisch für jeden Punkt dessen x-Koordinate im Definitionsbereich von f liegt eine Tangente zeichnen. Man erhält ein sogenanntes Richtungsfeld. Eine Kurve, welche ins Richtungsfeld passt, ist der Graph einer möglichen Stammfunktion. Es ist leicht einzusehen, dass durch jeden Punkt, dessen x-Koordinate im Definitionsbereich von f liegt, genau eine Kurve gelegt werden kann, und dass die Gesamtheit aller Kurven durch Verschiebung einer einzigen Kurve um eine Konstante c in y-Richtung erzeugt werden kann. (In Übereinstimmung mit der ersten Regel.) Fachgruppe Mathematik der Kantonsschule am Burggraben, St.Gallen Mathematik-Repetitorium für den Maturastoff Seite 2 Links ist das Richtungsfeld für die f : x → f ( x) = 3 ⋅ sin( x) + 0.5 gezeichnet. Eingezeichnet ist die dem Punkt (1|0) zugehörige Kurve. Wie lautet die Funktionsgleichung? Mit Hilfe der Summenregel bestimmen wir eine Stammfunktion: F : x → F ( x) = −3 ⋅ cos( x) + 0.5 ⋅ x Die um c verschobene Kurve geht durch (0|1), also: − 3 ⋅ cos(1) + 0.5 ⋅ 1 + c = 0 ⇔ c = 3 ⋅ cos(1) − 0.5 ≈ 1.12 Zur Kurve gehört die Gleichung: y = −3 ⋅ cos( x) + 0.5 ⋅ x + 1.12 Definition: Die Funktion f sei im Intervall [a, b] definiert und stetig. Für ein festes x0 ∈ [a, b] definieren wir mit Hilfe des bestimmten Integrals eine der Funktion f zugeordnete Funktion A : x A : [a, b] → R ; x → A( x) = ∫ f (t ) dt x0 A heisst die zu x0 gehörige Integralfunktion von f . Aus den Rechenregeln für bestimmte Integrale folgern wir zwei wichtige Eigenschaften für die Integralfunktion: 1) Mit Hilfe einer Integralfunktion A von f lässt sich jedes bestimmte Integral von f über [a, b] leicht berechnen: d d c, d ∈ [a, b] ⇒ ∫ f ( x) dx = c ∫ c f (t ) dt − ∫ f (t ) dt = A(d ) − A(c) x0 x0 Beispiele: 1a) f die lineare Funktion mit Gleichung f ( x) = m ⋅ x + q . Für x0 wählen wir 0. Die Integralfunktion A0 ist wie f für alle reellen Zahlen definiert und berechnet sich mit Hilfe der Formel für den Flächeninhalt eines Trapezes wie folgt: x f (0) + f ( x) q + m⋅x + q m A0 ( x) = ∫ f (t )dt = ⋅x = ⋅ x = x2 + q ⋅ x 2 2 2 0 2 m 2 + q ⋅ 2 − (− 2 ) + q ⋅ (−2) = 4q , was 2 −2 geometrisch leicht überprüft werden kann. Weiter fällt uns auf, dass A0 eine Stammfunktion von f ist. Zufall? Um unseren Verdacht zu erhärten untersuchen wir noch ein Beispiel: Speziell wird m ∫ f ( x)dx = A (2) − A (−2) = 2 2 0 0 2 Fachgruppe Mathematik der Kantonsschule am Burggraben, St.Gallen Mathematik-Repetitorium für den Maturastoff Seite 3 1b) g die Funktion mit der Gleichung g ( x) = x . Für x0 wählen wir 0. Die Integralfunktion A0 ist wie g für alle nicht negativen reellen Zahlen definiert und berechnet sich mit Hilfe des bestimmten y y y3 wie folgt: Integrals ∫ g (t ) dt = ∫ t dt = 3 0 0 −1 2 A0 ( x) = ∫ g (t ) dt = x ⋅ g ( x) − 0 ∫g ( x) x− 3 g (x) x −1 (t ) dt = x ⋅ 3 0 3 2 = x2 3 ′ 1 2 32 Auch hier gilt: A0 ist eine Stammfunktion von g da A0 ( x) = x = x 2 = g ( x) . 3 ′ 2) Zwei beliebige Integralfunktionen A1 und A2 von f unterscheiden sich nur um eine Konstante. Das heisst: Für alle x aus dem Definitionsbereich gilt A2 ( x ) = A1 ( x ) + c . x Beweis: A2 ( x ) − A1 ( x ) = ∫ x2 x f (t ) dt − ∫ x1 x f (t ) dt = x1 ∫ f (t ) dt + x2 ∫ x x1 ∫ f (t ) dt = c f (t ) dt = x2 Diese Eigenschaft motiviert die Definition des Begriffs „unbestimmtes Integral“: Definition: Die Funktion f sei im Intervall [a, b] definiert und stetig. Die Gesamtheit aller Integralfunktionen von f bezeichnet man als unbestimmtes Integral von f . Wir schreiben: ∫ f ( x) dx = A( x) + c (gelesen: „Integral von f (x) nach dx ) Dabei ist A eine beliebige Integralfunktion von f und c eine (unbestimmte) Konstante. Die Beispiele 1a) und 1b) lassen sich durch unbestimmte Integrale folgendermassen ausdrücken: m 2a) ∫ m ⋅ x + q dx = x 2 + q ⋅ x + c und 2 3 2b) ∫ 2 x dx = x 2 + c 3 Im nächsten Kapitel werden wir unsere aufkeimende Vermutung, dass Stammfunktion und Integralfunktion einer Funktion unterschiedliche Bezeichnungen für ein und dasselbe sind, beweisen und damit die Differential- und Integralrechnung zu einer Theorie zusammenführen.