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porträt
Der Titanico loge
Am 15. April vor 100 Jahren versank
die Titanic. Günter Bäbler, 39,
lässt sie immer wieder auftauchen.
Der Zürcher ist einer der weltbesten
Titanic-Spezialisten und forscht so
intensiv – er badet gar beim Wrack.
Gespenstisch 1985 wird das Titanic-Wrack in 3800 Metern Tiefe gefunden.
Text Marcel Huwyler
Fotos Hervé Le Cunff
Foto Mary Evans / Ronald Grant Archive / Interfoto
D
as Schiff aller Schiffe prägt ihn
mehr, als ihm lieb ist. Unter dem
linken Nasenflügel, äderchenfein
nur, da hat Günter Bäbler eine Narbe.
Von der Titanic. Von einem Modell der
Titanic, das ihm beim Umräumen auf die
Nase krachte. Bäbler räumt oft um, der
Mann besitzt Abertausende von Papieren, Büchern, Artefakten und Kostbarkeiten zum Thema Titanic. Vieles davon
stapelt sich in seiner Wohnung in Zürich,
dreieinhalb Kajüten gross, mit Balkon,
im sechsten Stock. «D-Deck wär das
auf der Titanic», sagt Bäbler und bittet
herein (nein, er sagt nicht «an Bord»,
so titanisch fanatisch ist er dann doch
nicht). Er müsse nur noch schnell ein
Telefon erledigen, mit Tele Irgendwas,
hektisch seis in diesen Tagen, viele Inter­
views, Zeitungen, Magazine, Radio, TV,
und mit dem «National Geographic» aus
den USA hat er über die exakte Opfer- u
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schweizer illustrierte
Die Geschichte im Griff Bäbler
mit Titanic-Modellen daheim
in Zürich. Hinter ihm hängt ein
Stück Wand­verkleidung aus dem
Erstklass-Speisesaal des TitanicSchwesternschiffs Britannic.
porträt
«Mein grösster Traum, eine
Tauchfahrt zum Titanic-Wrack,
kostet 65 000 Dollar»
Spurensuche Bäbler sitzt auf einem Poller im
Hafen von Southampton (GB), an dem die
Titanic (Bild rechts vom 10. 4. 1912) vertäut war.
u zahl gestritten (1496 Tote sei richtig).
Alle wollen Bäbler, den Titanic-Experten.
«Sie wissen schon, die 100 Jahre halt»,
sagt der, nimmt am Esstisch Platz (hinter ihm ein Stück Wandverkleidung aus
dem Erstklass-Speisesaal des TitanicSchwesternschiffs Britannic) und hat
endlich Zeit, seine ganz persönliche
Titanic-Geschichte zu erzählen. Logbuch
auf, Leinen los!
Als 10-Jähriger hört Klein Günter
in der Schule erstmals von der Titanic und
quält den Lehrer mit der Frage, war­um
die Schiffbrüchigen sich denn nicht auf
den Eisberg gerettet haben. Der Lehrer
weiss keine Antwort – und Günters
nautischer Jagdinstinkt ist geweckt. Mit
16 schreibt er einen Schulvortrag über
den versunkenen Koloss und merkt,
dass sich die Buchautoren teilweise wider­
sprechen. Er steigt selber ins NZZ-­Archiv,
sucht, wühlt – findet neue Antworten und
korrespondiert mit einem Titanic-Experten in New York. Dieser ist begeistert, und
Günter merkt, «ich kann ja mithelfen,
Geschichte zu schreiben».
Das war vor 23 Jahren. Seither ankert
Bäbler beim Mythos Titanic. Er ist Mitgründer des Titanic-Vereins Schweiz, gibt
die «Titanic Post» heraus, trifft sich welt-
weit mit Experten (er arbeitet in der
Touristikbranche und kommt ziemlich
in der Welt herum), besucht Originalschauplätze, nimmt an zwei Expeditionen
zur Wrackstelle teil, trifft acht Über­
lebende und trägt in all den Jahren eine
der umfangreichsten Titanic-Sammlungen
der Welt zusammen. Bäbler sammelt vom
Originalstück bis zum modernen Kitsch
einfach alles (wussten Sie, dass es Titanic-
Haarschaum gibt?). Vier Bücher hat er
geschrieben, war historischer Berater der
Ausstellungen in Hamburg, Zürich und
München, und bei der Kino-Titanic war
es Bäbler, der die deutsche Synchronfassung auf ihre Richtigkeit prüfte. Bäbler
weiss (fast) alles, kennt die Geschichten
von Passagieren, Crew und Stahlnieten,
weiss, dass 400 Spargelzangen, 700 Salatköpfe und 52 Postsäcke aus der Schweiz
an Bord waren.
Warum diese Magie? Was fasziniert uns – noch 100 Jahre danach – an
diesem Schiff so sehr? Es sei, sagt Bäb­ler,
das «perfekte» Unglück, «mit allen Superlativen»: Das grösste von Menschen gebaute bewegliche Objekt wird von einem
Eisberg, dem grössten beweglichen
Naturobjekt, versenkt. Und das in einer
Epoche, in der der Mensch glaubte, alles
machen, bauen und beherrschen zu
können. Die Allmacht der Technik über
die Natur, das «unsinkbare» Schiff, der
titanische Hochmut der Menschen – mit
einem Schlag dahin. Versenkt.
Zudem ist beim Titanic-Untergang
alles übersichtlich definiert: klare Orts­
angabe, überschaubare Zahl der Beteiligten, und – ganz wichtig für das Basteln
von Legenden und Seemannsgarn – es
gab genügend Überlebende, die berichten
konnten. Der Untergang war überdies
«ein Sterben in Zeitlupe», so Bäbler.
2 Stunden 40 Minuten, genügend Zeit, in
der alle Arten und Abarten menschlicher
Charaktere ihre Bühne fanden: der Feigling, der sich im Rettungsboot versteckt,
der Held, der Kinder rettet, die Liebenden, die gemeinsam sterben wollen. u
Louise Kink – gerettet
Fotos Handout (6)
Als Vierjährige
an Bord
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Überlebt Links: Louise Kink, 4, mit ihrer Mama (ganz links) 1912, in New York, nach der Rettung.
Rechts: Louise zeigt die Schühchen, die sie auf der Titanic (und auf dem Foto) trug.
schweizer illustrierte
u Die Familie Kink aus Zürich, samt Onkel
und Tante, reiste in der dritten Klasse
auf der Titanic. Mit dabei die vierjährige
Louise Kink. Während Onkel und
Tante ertranken, wurden Vater, Mutter
und Töchterchen Louise gerettet. Günter
Bäbler hat Louise Kink, sie lebte in
­Milwaukee, besucht und interviewt.
Sie besass noch immer die Schühchen,
die sie damals auf der Titanic trug.
«Ein Wahnsinns-Gefühl», so Bäbler, «die
Schuh­sohlen zu befühlen, die damals über
die Planken der Titanic trippelten.» Louise
starb, 84-jährig, am 25. August 1992 und
wurde im gleichen Grab wie ihre Mutter
beigesetzt. Auf dem Familien-Grabstein
steht: «American Immigrants, Survivors
of the Titanic Disaster, April 15, 1912».
Wirz’
Grab in den
USA (l.).
Der Fussel
aus der Geldbörse (r.) mit
der Flagge
der TitanicReederei
White Star
Line.
Albert Wirz – ertrunken
Ein Grabstein – 84 Jahre später
u Mit
dem Titanic-Opfer Albert Wirz fühlt sich Bäbler besonders verbunden.
Wirz, ein 28-jähriger Knecht, stammt, wie Bäbler auch, aus dem Zürcher Oberland. Er reist auf der Titanic mit dem Drittklass-Ticket No. 315154 – und stirbt
beim Untergang. Seine Leiche wird geborgen, in seiner Brieftasche sind 36 Cents
und ein Stofffussel, der heute im Besitz Bäblers ist. Wirz wird in Beloit USA, dem
Wohnort seiner Tante, beerdigt, jedoch ohne Grabstein. 1996 macht Bäbler das
Grab ausfindig und lässt – 84 Jahre nach dem Unglück – einen Grabstein setzen.
porträt
Seine Titanic-Zentrale Bäbler im Büro. Über
3000 Bücher, 100 Ordner Korrespondenz und
60 000 Zeitungsartikel sind hier archiviert.
u 2208 Seelen waren an Bord – 2208 Geschichten gibt es zu erzählen.
Günter Bäbler, 39, gelernter
Maschinenzeichner, sagt von sich, er sei
ein nüchterner Mensch. Er mag nicht den
Titanic-Hype zelebrieren, Gedenk­minuten
abhalten oder in Originalkostümen das
letzte Diner nachspielen – er will nur
Fakten und präzise Details. So will Bäb­ler
beispielsweise wissen, wann genau der
ertrunkene Schweizer Titanic-Passagier
Albert Wirz (siehe Box vorhergehende
Seite) am Ostermontag, dem 8. April 1912,
vom Bahnhof Zürich abreiste und wie das
Wetter damals war. «Ich will mir nicht
Sonnenschein vorstellen, wenn es damals
geregnet hat», sagt Bäbler. Also nodert er
im Archiv der meteorologischen Anstalt
(am 8. 4. 1912 war es bewölkt und mild)
und findet im SBB-Archiv, im Kursbuch
von 1912, doch tatsächlich den Zug, den
Wirz damals nahm (Schnellzug nach
Basel, ­Zürich ab 11.38 Uhr).
«Ich muss all diese Dinge wissen»,
sagt Bäbler, «jedes noch so kleine Puzzleteil hilft mir, zu begreifen, was damals
passierte – und was bis heute falsch überliefert ist.» Dem Zürcher ist wichtig,
Fälschungen zu entlarven, «Legenden
auf­zubrechen», wie er es nennt. Wie
schön klingt die Anekdote vom US-Millionär Benjamin Guggenheim: «Wir sind
angemessen gekleidet und bereit, wie
Gentlemen unterzugehen.» Das Problem
sei, sagt Bäbler, dass der Augenzeuge, der
den Guggenheim-Satz später erzählte,
längst im Rettungsboot sass, als Guggenheim noch im Bett lag. Der Zeuge kann
den Satz gar nicht gehört haben.
Sein Titanic-Highlight erlebt
­Bäbler 1998, als er an der Untergangs­
stelle bei der Bergung eines Stücks
­Titanic-Bordwand dabei ist und an ihr
ein Bullauge schliesst, das damals ein
Steward geöffnet hatte (weil die neuen
Kabinen nach Lack stanken). Natürlich
Erlebnisbad Auf einer
Expedition zum Wrack,
an der Untergangsstelle, badet Bäbler
im Atlantik. Rechts:
Diese Orange (heute
mumifiziert) trug vor
100 Jahren das TitanicCrew-Mitglied Thomas Knowles
in seiner Tasche, als er in ein Rettungsboot
stieg. Bäbler hat das wertvolle Stück
von Knowles’ Angehörigen bekommen.
würde er gerne eine Tauchfahrt zum
Wrack machen, in 3800 Metern Tiefe,
Kosten: 65 000 Dollar. Um das finanzieren
zu können, müsste er einige seiner
Schätze veräussern: etwa die mumifi­
zierte, wattebauschleichte Orange, die
ein Über­lebender im Sack hatte, oder –
Bäblers wertvollstes Stück – eine Erstklass-Pas­sagierliste, die an Bord gedruckt
wurde. Behalten? Oder verkaufen und
abtauchen? Bäbler ringt mit sich selber.
Das Dilemma eines Titanicologen.
In der Nacht vom 14. auf den
15. April 2012 ist es 100 Jahre her seit
dem Untergang der Titanic. Bäbler wird
am Gedenktag einen Vortrag halten, an
Bord eines Kreuzfahrtschiffes, mitten auf
dem Nordatlantik. Die exakte Position
kennt er nur zu gut: 41º 44’ N 49º 57’ W.
Der Ort, an dem die Titanic sank.
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