Der Vortrag zum Herunterladen - OSI-Club

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Der Vortrag zum Herunterladen - OSI-Club
Stephan Hallmann
Auslandskorrespondent, ZDF
Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen –
am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Vortrag im Otto Suhr-Institut der Freien Universität Berlin
am 14. Mai 2012
Guten Abend und vielen Dank für die Einladung. Pressefreiheit und Krieg – das ist etwas, das
selten zusammen gut geht. Jede Seite hat gute Gründe, dafür zu sorgen, dass nicht alles gesagt oder
geschrieben werden kann. Schließlich ist Krieg. Unzensierte Nachrichten, vor allem Bilder, können dem
Feind wichtige Informationen liefern. Außerdem sind sie natürlich auch ein nicht zu unterschätzendes
propagandistisches Mittel der psychologischen Kriegsführung sowohl gegenüber der eigenen
Bevölkerung als auch gegenüber dem Feind.
Natürlich haben Staaten, haben militärische Oberkommandos ein fundamentales Interesse
daran, den Nachrichtenfluss zu kontrollieren, zu manipulieren und gegebenenfalls ganz zu unterdrücken.
Da müssen wir gar nicht weit weg auf irgendwelche sogenannte Schurkenstaaten blicken. Auch die
deutsche Bundeswehr oder NATO-Truppen üben Zensur aus. Wer als Embedded-Journalist die Truppen
begleitet, der unterliegt der Pressezensur. Oder nehmen wir das uns nahe stehende Israel, wo für alle
sicherheitsrelevanten Bereiche die Zensur gilt.
Viel unerfreulicher ist es, wenn Diktaturen oder Länder, in denen Menschenrechte beschnitten
werden, im Spiel sind. Und dort vielleicht auch noch Krieg herrscht. Die Wahrheit ist für solche Regime
immer etwas besonders Unbequemes. Dort die Wahrheit zu berichten – nennen wir es einmal „die
Wahrheit“, obwohl es natürlich nie die eine Wahrheit, sondern zumindest mehrere Facetten derselben
gibt - das ist natürlich in höchstem Maße unerwünscht und steht unter Strafe, in welcher Form auch
immer: von Ausweisung und Einreiseverbot für Ausländer bis hin zum Verschwinden lassen und
Ermorden der örtlichen Journalisten. Damit müssen wir als Auslandskorrespondenten umzugehen
lernen. Für uns als ausländische Journalisten beginnt der Kampf um die Pressefreiheit meist ganz banal
mit dem Feilschen um die eigene Bewegungsfreiheit in Form von Visa und Drehgenehmigungen.
Und dann ist es eine Sache, die Wahrheit herauszufinden, eine andere, sie auch darstellen zu
können. Das gilt ganz besonders für Fernsehjournalisten, weil wir recht auffällig mit Kameras
herumlaufen, Leute ansprechen, Interviews führen. Wir müssen dabei stets zweierlei im Auge behalten:
selbst möglichst wenig aufzufallen, vor allem aber dürfen wir auf keinen Fall die Menschen, mit denen
wir sprechen, in Gefahr bringen. Was zum Beispiel gerade in Syrien ein Problem ist, wo Journalisten, die
offiziell eingereist sind, auf Schritt und Tritt vom Geheimdienst überwacht werden.
Ringvorlesung „PresseFreiheit“ des OSI-Clubs, Verein der Freundinnen und Freunde des Otto-Suhr-Instituts e. V., Sommersemester 2013
Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Das internationale Presseinstitut in Wien gibt seit 15 Jahren an jedem dritten Mai – das ist der
„Tag der Pressefreiheit“ – Zahlen heraus. Danach wurden allein in den ersten Monaten dieses Jahres
weltweit 43 Journalisten getötet. 2011 starben 102 Journalisten, und 2009 waren es 110 Kolleginnen und
Kollegen, die in Ausübung ihres Jobs ums Leben kamen. Vielleicht ist ihnen noch der Tod des britischen
Kriegsberichterstatters Tim Hetherington und des amerikanischen Fotografen Chris Hondros in
Erinnerung. Beide gerieten in der libyschen Hafenstadt Misrata an der Tripolis Road, jener heftig
umkämpften Demarkationslinie, die mitten durch die Stadt führt, unter Granatwerferbeschuss. Sie
wurden so schwer getroffen, dass sie wenig später ihren Verletzungen erlagen. Zwei Fälle, die
Schlagzeilen machten, weil sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit gerade auf den Krieg in
Libyen und dort auf die umkämpfte Hafenstadt richtete, und auch, weil beide Kollegen bekannt waren.
Wenn Zeitungen oder Fernsehsender die Gefahren hervorheben, unter denen ihr Kriegsreporter
berichtet, ist das verständlich. Sie kennen sicher alle den netten und gutgemeint-besorgten Schlusssatz
des Nachrichten-Moderators am Ende eines Schaltgesprächs mit dem Korrespondenten vor Ort: „...und
passen Sie gut auf sich auf!“ Aber für ausländische Journalisten, das sollte man sich stets vor Augen
halten, ist die Berichterstattung aus solchen Bürgerkriegssituationen, oder ganz generell aus
gewalttätigen Ländern, in den meisten Fällen weit weniger schwierig und gefährlich als für die
einheimischen Kolleginnen und Kollegen.
Auch in den schlimmsten Momenten in Bagdad, als dort im Sommer 2003 das Hauptquartier der
Vereinten Nationen in die Luft flog und der Führer der irakischen Schiiten, Muhammad Baqir al-Hakim,
ermordet wurde, nach dem Freitagsgebet vor der Moschee zusammen mit mehr als hundert Gläubigen.
Da war das Palestine-Hotel, in dem wir ausländische Journalisten untergebracht waren, einer der
bestgeschützten Orte Bagdads und des ganzen Irak. In der arabischen Welt sind im Vorfeld und während
der Aufstände viele mutige Journalisten gestorben bei dem Versuch, die Pressezensur der Regime zu
durchbrechen und die Gräueltaten der Gaddafis, Assads oder Mubaraks ans Tageslicht zu bringen.
Für die Machthaber ist es immer viel, viel wichtiger, ihre unmittelbaren Kritiker vor Ort
auszuschalten, deren Berichte sich an die eigene Bevölkerung richten. Die meisten Opfer der
Unterdrückung der Pressefreiheit und vielleicht die in Wahrheit großen Journalisten, das sind die
„kleinen“, die lokalen Journalisten. Wir ausländische Berichterstatter aus Europa und den USA, wir
wagen manchmal viel, aber die syrischen, libyschen, ägyptischen, alle Lokaljournalisten, wagen immer
alles. Sie leben mit ihren Familien dort, sie haben kein Rückflugticket in der Tasche. Und sie können auch
nicht auf eine internationale Luftbrücke hoffen, die sie herausschafft, wenn es ganz schlimm kommt.
In Syrien wurden in den ersten drei Monaten dieses Jahres neben der amerikanischen Reporterin
Mary Colvin und dem französischen Fotografen Remi Ochlik eine ganze Reihe syrischer Journalisten,
Blogger und Filmemacher getötet. Entweder im Kampfgeschehen, oder ganz gezielt von den Schergen
des Assad-Regimes. Unter diesen weniger prominenten Opfern waren, um auch einmal einige von ihnen
zu nennen: Rami al-Sayyed, Videoblogger und „Bürgerjournalist“ – wie man die Nicht-Professionellen
inzwischen nennt. Ebenso wie Jawan Mohammed Qatana, Basil al-Sayed, Khaled Mahmoud Kabbisho
oder der Kameramann Ferzat Jarban.
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Syrien gilt als das für Journalisten zurzeit gefährlichste Land der Welt. Aber kann man das
wirklich behaupten? In der schönen Kulturnation Mexiko, Teil der nordamerikanischen Wirtschaftszone
NAFTA, tobt ein Krieg, in dem mutige Journalisten von Mafia-Killern und korrupten Polizisten entführt,
gefoltert, geköpft oder zerstückelt werden. Die taz hat darüber neulich ausführlich berichtet, unter dem
schaurig knappen und wahren Titel: „Wer schreibt, der stirbt.“ Die „Comisión nacional de los derechos
humanos“, die nationale Menschenrechtskommission Mexikos spricht von 79 Journalistinnen und
Journalisten, die in den vergangenen zwölf Jahren dort ermordet wurden. Weitere 14 sind
verschwunden, und allein von Januar bis April 2012 gab es Angriffe auf 72 Journalisten.
Ich habe selbst viele Jahre für das ZDF aus Mexiko berichtet und sechs Jahre dort gelebt. Es ist
dort inzwischen kein bisschen ungefährlicher für kritische Journalisten als in Libyen oder auch Syrien.
Vielleicht noch gefährlicher, weil heimtückischer. Heimtückischer, auch wenn die ermordeten
Journalisten natürlich wissen, welches Risiko sie eingehen, in welche Gefahr sie sich begeben, wenn sie
über die Mafia und deren korrupte Vasallen in der Regierung oder in den Sicherheitsdiensten berichten.
Eine Journalistin hatte einen Artikel geschrieben, in dem sie neun Polizeibeamte beim Namen nannte,
die mit der Mafia zusammenarbeiteten. Am nächsten Tag wurde sie umgebracht.
Manche Journalisten haben angesichts dieser Gefahren ihr Land verlassen, aus Angst um ihr
Leben und das ihrer Familien. Das war in den 90er Jahren in Kolumbien Gang und Gebe. Inzwischen
operieren die mächtigsten und gewalttätigsten Drogenkartelle in Mexiko. Es gibt dort Zeitungen und
auch Fernsehsender, wie etwa TV Azteca, einer der großen mexikanischen Fernsehkanäle, die aus
Sicherheitsgründen ihre Berichterstattung über Kriminalität eingestellt haben. Das heißt, sie haben sich
praktisch der Gewalt gebeugt. Die Kolleginnen und Kollegen, die unter solchen extremen Bedingungen
kritisch über die Mächtigen und Gewalttätigen in ihrem Land berichten, sie verdienen mehr als jeder
andere Respekt und Anerkennung für ihren Einsatz für die Pressefreiheit.
In unserem Fall, der ausländischen Presse, ist es zunächst einmal der Kampf um Einreise- und
Arbeitserlaubnis. Manchmal nimmt man sich deshalb auch die Freiheit, illegal einzureisen, wenn das Sinn
macht. Man muss die Risiken dabei abwägen. Mein Team und ich haben das im Fall von Libyen gemacht
und sind kurz nach Ausbruch der Kämpfe von Ägypten aus über die von Gaddafis Truppen aufgegebene
Grenze eingereist. Mehrere hundert Kilometer durch ein Land, in dem keine staatliche Ordnung mehr
existierte, das zuvor für Journalisten weitgehend tabu war. Ein Risiko, so habe ich es meinem Sender
erklärt, das ich für kalkulierbar hielt. So waren wir eines der ersten Fernsehteams, die in den libyschen
Städten Tobruk und Benghasi, den beiden größeren Städten im Osten, die frühe Phase der Aufstände
und die ungeheuerliche Aufbruchsstimmung, die damals dort geherrscht hat, miterleben durften.
Im Fall von Syrien gibt es bisher hingegen ein klares Nein des ZDF, zu versuchen, sich heimlich ins
Land zu schleichen, um frei berichten zu können. Das ist meiner Meinung nach auch vernünftig. Syrien ist
viel abgeschlossener, der Frontverlauf unübersichtlicher, die Möglichkeit lebensrettender medizinischer
Versorgung, falls ein Teammitglied schwer verletzt würde, weitgehend ausgeschlossen. Die
Aufständischen kontrollieren anders als in Libyen noch keine größeren Regionen. Der syrische
Polizeistaat funktioniert noch weitgehend.
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Als Tourist oder Geschäftsmann getarnt einzureisen ist für mich kaum möglich, da die Syrer
meinen Namen und meine Passdaten von früheren Reisen als Fernsehjournalist kennen. Ich habe daher,
als sich der Konflikt im vergangenen Herbst zuzuspitzen begann, versucht, ihm zumindest möglichst nahe
zu kommen, und vom äußersten Norden des Libanon aus, unweit der syrischen Stadt Homs berichtet. Es
gab dort bereits damals viele syrische Flüchtlinge. Und in der libanesischen Hauptstadt Beirut konnte ich
mich heimlich mit syrischen Oppositionellen treffen, die zwischen dem nahe gelegenen Damaskus und
Beirut hin- und herpendelten.
Auch den Informationen der Flüchtlinge und Oppositionellen kann man natürlich nicht blind
vertrauen. Da ist oft Wunschdenken, Überhöhung der eigenen Erfolge oder Verteufelung des Gegners
mit im Spiel. Und bei den Videos, die mit dem Handy aufgenommen wurden, ist auch nicht immer klar,
wann, wo oder unter welchen Bedingungen die Aufnahmen entstanden sind. Andererseits gibt es viele
mutige Leute, die notgedrungen zu Journalisten geworden sind und als sogenannte „Bürgerjournalisten“
von vor Ort berichten. Ihnen und ihren Handykameras verdanken wir viele Informationen und
Videoaufnahmen über Gräueltaten des Regimes, verdanken wir ein Stück Pressefreiheit in Syrien. Denn,
was von den staatlich kontrollierten syrischen Medien, Fernsehsendern und Agenturen verbreitet wird,
ist weitgehend reine Regierungspropaganda, und beim Großteil ihrer Berichte kann man davon
ausgehen, dass nichts von dem oder aber das genaue Gegenteil stimmt.
Generell wird es für Regime immer schwieriger, Nachrichtensperren zu verhängen und durch
Zensur die Pressefreiheit einzuschränken. Das Internet und die internationalen arabischen
Satellitenkanäle wie al-Jazeera oder al-Arabiya sind ein mächtiges Gegengewicht gegen die Pressepolitik
einzelner Nationalstaaten und haben entscheidend dazu beigetragen, die Revolution in den Köpfen der
Menschen zu entfachen. Sie ermöglichen es mit ihrer Berichterstattung vielen Menschen, Vergleiche zu
ziehen und kritische Stimmen aus aller Welt zu hören. Beim ungehinderten Blick über Landes- und
Zensurgrenzen hinweg konnten viele Libyer erleben, wie sich die Welt über ihren allmächtigen „Bruder“
Muammar al-Gaddafi lustig machte, und außerdem Einzelheiten über den glamourösen Lebensstil der
Familie Gaddafi im Ausland erfahren, die Millionen für Privatpartys in der Karibik ausgab. Den Tunesiern
lieferte das Internet genauere Zahlen über das von der Präsidentenfamilie zur Seite geschaffte enorme
Vermögen.
Der ungenierte, oft unverdiente Reichtum der Eliten dieser Länder im Gegensatz zu den
ärmlichen Lebensverhältnissen der Masse der Bevölkerung, die demütigende Behandlung und Schikane
durch Behörden und Polizei, das alles sind alte Bekannte einer Untertanengesellschaft wie Ägypten oder
Libyen. Aber das lässt sich nicht mehr so ohne Weiteres aufrechterhalten in einer Welt, in der auch
„Provinzler“ und „arme Schlucker“ plötzlich einen bisher nie dagewesenen Zugang zu Information und
Kommunikation haben. Ohne diese, die Grenzen und die jeweilige Zensur überschreitenden
elektronischen Medien wäre es 2011 wohl kaum so weit gekommen. Wobei man sich darüber im Klaren
sein sollte, dass in Tunesien, Libyen und Ägypten der Prozess einer möglichen Demokratisierung gerade
erst beginnt und noch ein sehr langer Weg vor diesen Ländern liegt. Aber die Menschen haben durch die
Nutzung des Internets und die grenzüberschreitenden arabischen Satellitenprogramme viel von ihrer
ursprünglichen Naivität verloren.
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Vergessen wir nicht die neue Leichtigkeit der Kommunikation per Handy. Vor einigen Jahren
noch haben wir vielleicht darüber gestaunt, dass der Kameltreiber an den Pyramiden in Kairo ein Handy
hatte – das tun wir heute nicht mehr. Weil das Handy in diesen Ländern einfach auch das Telefon des
„armen Mannes“ geworden ist. Es hat nicht nur den Vorteil, mobil zu sein. Es ist auch billig. Viel billiger
als der Festausschuss zu Hause, den man ohnehin nie oder erst nach jahrelangem Warten bekommt.
Heute hat fast jeder sein Handy. Das heißt, eine Kommunikationsmöglichkeit, die es früher nicht gab.
Auf zehn Millionen Tunesier kommen rein rechnerisch neun Millionen Handys. Jeder dritte nutzt
das Internet, jeder vierte kommuniziert per Facebook. Und selbst im Land der Pharaonen surft jeder
vierte der 84 Millionen Ägypter im Internet. In Libyen hingegen spielte das Internet, von Gaddafi
künstlich kleingehalten, weit weniger eine Rolle. Hier führten die regionalen Unterschiede zwischen Ost
und West dazu, dass der Protest gegen das Regime so schnell an Kraft gewinnen und sich halten konnte.
All das hat natürlich dazu geführt, dass die Zeiten, in denen vom Regime gesteuerte Medien das,
was passiert, filtern, zensieren, totschweigen können, vorbei sind. In Ägypten zum Beispiel hat die
Revolution nicht abrupt angefangen, es gab im Vorfeld Arbeiterstreiks im Landesinneren. In Tunesien gab
es die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers in einem kleinen Kaff. Beides Nachrichten, die sich heute
natürlich ganz anders verbreiten, als das früher der Fall war. Der Gemüsehändler hatte sich aus
Verzweiflung darüber umgebracht, dass er bei dem wenigen, das er besaß, auch noch ständig von der
Polizei drangsaliert wurde. Ein Schicksal, das in der arabischen Welt Millionen sehr gut nachvollziehen
können. Die Nachricht von seinem Schicksal war politischer Sprengstoff.
Aber kommen wir nochmal zur „kleinsten“ der technischen Errungenschaften zurück, die die
Welt der arabischen Despoten erzittern lassen: dem Handy: Es ist mehr und mehr auch zu einem Telefon
mit Auge geworden. Das nicht nur Kindergeburtstage festhält, sondern eben auch Bilder von verbotenen
Demonstrationen und erlittener Polizeigewalt bis hin zu Massakern. Oder auch Momente großer
Zivilcourage, die beispielhaft sind und die andere begeistern und mitreißen. Wie zum Beispiel das Bild
von dem jungen Mann, der sich in Kairo ganz alleine einem Wasserwerfer in den Weg gestellt und diesen
gehindert hat, zu seinem Einsatz gegen Demonstranten zu fahren. Das Bild, mit einer Handykamera
aufgenommen und weitergeschickt, hatte natürlich eine stark mobilisierende und auch ermutigende
Wirkung.
Auch wir nutzen diese „Bürgerkameras“ und das, was davon auf Youtube veröffentlicht wird,
zunehmend für unsere Berichterstattung. Bei aller Vorsicht und auch der Notwendigkeit, bei solchen
Aufnahmen immer verifizieren zu müssen, wo und warum sie gemacht wurden: aber wo bekommt man
authentischere Fotos?! Welche professionelle Kamera von BBC, ZDF oder anderen wäre dichter am
Geschehen? Das sind neue Möglichkeiten und Mittel, auch hinsichtlich der Schnelligkeit der Verbreitung
von Informationen, die revolutionär sind.
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Als ich kurz nach Beginn der Aufstände in Libyen nach Benghasi kam, zeigten mir die Menschen
dort Videos, die sie während der ersten zwei Tage mit ihren Handys aufgenommen hatten. Videos von
Massendemonstrationen auf der Straße, brennenden Barrikaden, unbewaffneten Männern, die mit
Bulldozern und Baufahrzeugen Kasernenmauern durchbrachen. Das hat mir geholfen, mich in die Lage
der Menschen zu versetzen, als sie im Begriff waren, gegen das Gaddafi-Regime aufzustehen. Es war eine
hervorragende Informationsquelle aus erster Hand.
Im Fall von Syrien, wo das Regime überhaupt keine oder nur ausgewählte ausländische
Kamerateams von Zeit zu Zeit ins Land lässt, hatten mir Syrer, die in den Nordlibanon geflüchtet waren,
mit dem Handy aufgenommene Bilder ihrer zerstörten Wohnungen gezeigt. Bilder von Panzern vor ihren
Häusern, Einschusslöchern, die von schweren Geschützen herrührten, mit denen die Armee sie
beschossen hatte. Auch das waren wichtige Informationen und eine Möglichkeit, einen Blick über die
syrische Grenze zu werfen, die für uns geschlossen blieb.
Moderne Kommunikationstechnologien wie Internet, Handy und Satellitenfernsehen
beschleunigen gesellschaftliche Prozesse enorm. Auch deshalb sind so viele Menschen, die Potentaten
selbst, aber auch wir Journalisten völlig überrascht worden, von dem was in Tunesien, Libyen oder
Ägypten passiert ist. Dabei haben die jeweiligen Machthaber oft selbst die Nutzung dieser modernen
Technik propagiert und gefördert, um ihre Länder zu modernisieren.
Der gestürzte Präsident Hosni Mubarak erlaubte Ende der 90er Jahre den Ägyptern, kostenlos
das Internet zu nutzen, in der Hoffnung, damit einen wirtschaftlichen Modernisierungsimpuls zu geben.
Er hatte natürlich völlig die explosive Mischung aus freiem Internetzugang, Pressezensur und
Polizeiknüppel unterschätzt, die langfristig nicht gutgehen konnte. Das Regime hat dann im Januar 2011
versucht, die Notbremse zu ziehen, hat das Land für mehrere Tage vom Netz genommen. Aber es war
einfach zu spät. Internet, twitter, facebook, youtube waren bereits zu wichtigen
Mobilisierungsmöglichkeiten geworden. Man kann das Internet nicht einfach wieder abschaffen, wenn
es bereits zu einem bedeutenden Faktor der Modernisierung von Wirtschaft und Verwaltung des Landes
geworden ist.
Ich habe einige Jahre als Korrespondent in der Türkei gelebt und andere arabische Länder häufig
besucht. Wenn man dort in kleinere Dörfer kommt, sieht man die Dorfjugend am Nachmittag und am
frühen Abend in Internetcafés. Internetcafé hört sich toll an, das sind oft kleine kahle Räume mit Tischen
an den Wänden, auf denen alte Computermonitore flimmern, die die Kids auf ihren Plastikstühlen davor
fasziniert anstarren. Ich habe bei dem Anblick gedacht, in was für eine Traumwelt sie sich da wohl
katapultieren. Aber ich habe nicht verstanden, welch explosive Wirkung das haben kann. Die Bilder, die
Informationen, die sie mit ihrer ärmlichen Existenz vergleichen, der Art, wie sie in ihrem schönen großen
Land behandelt werden.
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Für einen Journalisten ist es wichtig, von beiden Seiten berichten zu können. Was im Fall von
kriegerischen Auseinandersetzungen natürlich meist schwierig und auch logistisch aufwendig ist. Im Fall
von Libyen war klar, dass hier große Teile der Bevölkerung gegen eine Diktatur revoltieren. Es war klar,
wer „der Gute“ und wer „der Böse“ ist. Auch in Syrien ist klar, dass hier ein Regime über Leichen geht
und brutal, um jeden Preis an der Macht festhält. Es ist trotzdem wichtig, die Geschehnisse auf beiden
Seiten beobachten zu können und immer wieder von neuem zu verstehen versuchen, was im Lager des
Regimes oder auf Seiten der Aufständischen gerade passiert. Die Dinge sind selten so einfach, wie sie
sich in den Meldungen – verkürzt – darstellen. Es gibt viele Facetten von „Recht“ und „Unrecht“ in
solchen Konflikten. Oft verändern sich auch Positionen. Setzen sich die, die eigentlich im Recht sind, ins
Unrecht durch ihr Verhalten. Nehmen das Recht in die eigene Hand, üben Lynchjustiz aus, quälen,
foltern, so wie wir das zuletzt auch aus Libyen hören mussten und wie wir das auch aus Syrien hören.
Natürlich kann man das nicht vergleichen mit dem, was die Machthaber den Menschen antun und
angetan haben. Trotzdem sind Menschenrechtsverstöße etwas, über das man berichten muss. Das ist die
selbstverständliche Aufgabe eines Journalisten, zumal wenn er von vor Ort berichtet.
Berichten heißt für mich dagegen nicht unbedingt, mit Präsidenten, hochrangigen Politikern oder
Führern zu sprechen. Von solch begehrten „Spitzeninterviews“ halte ich mich eigentlich lieber fern, auch
wenn man sich damit schmücken kann. Erstens kostet es viel Mühe, das Interview zu bekommen, die
Warteliste ist lang, um Herrn Gaddafi zu interviewen, oder Herrn Assad. Und es bringt auch letztlich so
gut wie nichts, außer den Orden „ich hab das letzte Interview mit Herrn Gaddafi geführt“, den man sich
ans Revers heften kann. Meist dient es eher der Eitelkeit denn der Wahrheitsfindung. Denn
Substanzielles oder wirklich Erhellendes teilen sie uns selten mit, die Herren Gaddafi, Asad, Mubarak.
Das tun ja sogar unsere Politiker in Interviews selten. Wobei ich beide nicht miteinander vergleichen will.
Und wenn ich denn ein solches „Häuptlings-Interview“ bekommen würde, dann folgt das Problem, diese
„heiße Kartoffel“ auch entsprechend im Programm zu platzieren. „Heiße Kartoffel“ nicht, weil der Inhalt
oder die Form so „heiß“ wäre, sondern weil die Gegenseite jetzt erwartet, dass der große Mann auch
den großen Auftritt im ZDF bekommt, der ihm in ihren Augen zusteht. Wenn nicht, werde ich in Zukunft
dafür abgestraft, das heißt, ich bekomme gar keinen Termin mehr oder keine Arbeitsgenehmigung. Also,
es ist in mancher Hinsicht fraglich, was der Hype des „großen Interviews“ journalistisch wirklich bringt.
Zurück zu dem Gedanken, dass es wichtig ist, beide Konfliktparteien zu kennen. Nach
Afghanistan bin ich Ende der 80er Jahre zu Fuß über die pakistanische Grenze gelangt, um dort über die
Rebellen zu berichten, die aus den Bergen gegen das sowjetische Statthalter-Regime in Kabul kämpften.
Jene Rebellen, die wir damals noch wohlwollend Freiheitskämpfer nannten, als sie gegen die
Sowjetunion kämpften und noch nicht gegen das Bündnis der NATO-Staaten. Und denen wir die Waffen
lieferten, mit denen sie Sowjetsoldaten angriffen und töteten. In Überfällen, die wir heute „feige
Hinterhalte“ nennen, wo sie sich gegen unsere eigenen Soldaten richten. Soweit zur Objektivität und
zum langen Gedächtnis in unserer freien politischen Berichterstattung. Pressefreiheit schützt nicht
immer vor Verzerrungen der Realität.
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Nach dem Afghanistan der Aufständischen war es mir wichtig, die Seite des von der damaligen
Sowjetunion gestützten Regimes in Kabul kennenzulernen. Dafür bin ich dann ganz offiziell über Indien
nach Kabul geflogen. Das Flugzeug musste sich in engen Kurven auf die Landebahn herunterschrauben
und Magnesiumfackeln abwerfen, weil die Mudschaheddin, die islamischen Rebellen mit amerikanischen
Stinger Boden-Luft Raketen von den Hügeln aus die landenden Maschinen beschossen. Wenn wir danach
das Leben im belagerten Kabul drehten und die Soldaten des prosowjetischen Najibullah-Regimes zur
Front begleiteten, dann nicht nur, um dem Postulat der „Objektivität“ genüge zu tun, also „beide Seiten“
zu zeigen. Auf beiden Seiten gewesen zu sein, ist für mich vor allem die Voraussetzung dafür, auch selbst
als Journalist beide Parteien wirklich einschätzen, ihren Konflikt wirklich verstehen zu können.
Zuletzt in Libyen war das ähnlich. Ich bin im Februar 2011 zunächst in der Hochburg der
Aufständischen, in Benghasi gewesen – Sie sehen ich habe schon eine Schwäche für die Rebellen – und
habe dort die Anfänge des bewaffneten Konflikts miterleben können. Später war ich an einem anderen
Frontabschnitt auf Seiten der Rebellen, in der eingeschlossenen Hafenstadt Misrata, und zwischendurch
drei Wochen in Tripolis, als die Hauptstadt noch unter der Herrschaft von Gaddafi stand. Ich habe ein
paar kurze Videos als Beispiele aus Libyen mitgebracht, die die verschiedenen Bedingungen und Formen
der Berichterstattung vielleicht ein bisschen deutlich machen. Das eine ist ein Schaltgespräch mit dem
„heute journal“ aus Tripolis. Dann einen Filmbericht ebenfalls für das „heute-journal“ aus dem
umkämpften Misrata und noch ein Korrespondentenbericht, das sind die 1:30 langen Nachrichten-Stücke
für die 19-Uhr „heute“-Sendung, aus Sirte, der Heimatstadt Gaddafis, die gerade kurz zuvor erobert
worden war.
[Es folgen die drei zuvor genannten Fernsehausschnitte von Hallmann für das ZDF, die Red.]
Das waren drei Beispiele für die Libyen-Berichterstattung des vergangenen Jahres. Lassen sie
mich noch ein paar Bemerkungen dazu machen, bevor wir dann Ihre Fragen und Ihre Einwände
diskutieren. Die erste Einreise nach Libyen im Februar 2011 erfolgte, wie gesagt, über die unbewachte
und von der libyschen Armee aufgegebene Grenze im Osten des Landes und war ein Abenteuer. Unser
Ziel war zunächst Tobruk und dann Benghasi, die Stadt, in der die Revolution begonnen hat. Es war eine
Fahrt durch ein Niemandsland. Ab und zu eine Straßensperre mit jungen Männern in Zivil mit
Kalaschnikows, manche auch nur mit Knüppeln bewaffnet.
Normalerweise sind solche Checkpoints für uns Journalisten ein Problem, weil sie dazu da sind,
uns zu kontrollieren und unsere Bewegungsfreiheit einzuschränken, ob in der Türkei, wenn sie Richtung
Kurdengebiet fahren wollen, ob in Somalia oder Mexiko. Und jetzt wurden wir freudig begrüßt. Wir
hörten Sätze wie: „Deutsches Fernsehen – toll, dass Ihr hier seid.“ „Herzlich Willkommen. Danke, dass Ihr
über unsere Revolution berichtet.“ Das war ein auf wunderbare Weise ganz anderer Empfang als üblich.
Und auch in den nächsten Tagen, in Tobruk und Benghasi ging das so weiter. Wir wurden mit offenen
Armen empfangen, man half uns, Dächer und Balkons zu finden, wo wir uns mit unserer Kamera
aufstellen konnten, wir durften überall hingehen, wir durften berichten, was wir wollten, wir hatten alle
Freiheit der Welt.
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Beim zweiten Besuch im April war das schon anders. Da bildeten sich auch auf Seiten der
Rebellen „professionelle“, bürokratische Strukturen heraus. Man wollte jetzt die Kontrolle darüber, wer
wann was aus und über Libyen berichtet. Das ist bis zu einem gewissen Grad auch verständlich. Aber für
uns Journalisten ist das natürlich wenig erfreulich und nährt die Vorahnung einer neuen „Pressepolitik“,
die am Ende vielleicht erneut zu Bevormundung und Zensur führt. Bei dem Versuch, aus Tripolis, also von
Gaddafis Seite zu berichten, war das von Anfang an so. Es war schon ein wochenlanges Tauziehen, bis wir
überhaupt die Einreise-Visa bekommen hatten. Sogar noch an der tunesisch-libyschen Grenze (die bis
zuletzt unter Gaddafis Kontrolle war) und im Besitz unserer Visa mussten wir einen Tag lang mit all
unserem technischen Gepäck warten, bis das Gaddafi-Regime uns das Go gab, nach Tripolis zu fahren.
Und in Tripolis war es dann wie in einem goldenen Käfig. Als Presse waren wir in einem Hotel
unter ständiger Bewachung kaserniert, und wann immer es dem Regime passte, wurden wir zu Stellen
gefahren, die angeblich Gräueltaten der NATO zeigen sollten, oft aber nur plumpe Inszenierungen
waren. So wurden uns in einem angeblich von Bomben getroffenen Krankenhaus Betten gezeigt, in
denen Patienten bei NATO-Luftangriffen gestorben sein sollten. Das Blut war aber Farbe, und die
kaputten Fensterscheiben rührten, wie wir später herausbekamen, von der Detonation einer Bombe in
einer nahegelegenen Radiostation des Regimes her.
Das Regime hat uns auch als eine Art Schutzschild benutzt. Wir wurden plötzlich mitten in der
Nacht, nachdem die NATO das Hauptquartier von Gaddafi, diesen riesigen Compound bombardiert
hatte, geweckt und dorthin gekarrt. In völliger Dunkelheit stiefelten wir zwischen den noch rauchenden
Trümmern herum, mit einem mulmigen Gefühl, denn manchmal kommt ja dann eine zweite
Angriffswelle. Und am nächsten Tag wurde ausgerechnet in diesem Compound noch eine offizielle
Pressekonferenz anberaumt – um die Schäden bei Tageslicht zu zeigen und gleichzeitig die Journalisten
erneut als Schutzschild gegen weitere NATO-Angriffe zu benutzen.
Das Hotel war zwar durchaus edel, aber auch eine Art Gefängnis. Jedes Zimmer hatte einen
Lautsprecher, aus dem schallte dann irgendwann nachts, durchaus auch noch gegen Mitternacht, die
Ankündigung: „Gleich beginnt die Pressekonferenz.“ Und auf diesen nächtlichen Pressekonferenzen
wurden uns dann auch dort Dinge erzählt, die mit der Realität nichts zu tun hatten. Etwa zu den
angeblichen Bemühungen der Gaddafi-Truppen, bei ihrem pausenlosen Artillerie-Bombardement der
Hafenstadt Misrata, „die Zivilbevölkerung zu schützen“. Es waren oft einfach handfeste Lügen, die der
Presse dort aufgetischt wurden und zum Teil das genaue Gegenteil der wahren Geschehnisse darstellten.
Mit einem offiziellen Begleiter durften wir das Hotel verlassen und uns in Tripolis bewegen. Aber
es war natürlich klar, dass wir keine wirklichen Gespräche führen und Stimmungen einholen konnten,
wenn Gaddafis Aufpasser neben uns stand. Ich habe es trotzdem abgelehnt, zu versuchen, das Hotel
heimlich zu verlassen, um in der Stadt Stimmen der Opposition zu suchen. Wenn man in einer Stadt nicht
zuhause ist, und wenn man auch nicht wirklich gut arabisch spricht, dann stolpert man wie ein Idiot
herum und gefährdet am Ende noch mutige oder auch völlig unbeteiligte Menschen. Denn der
Geheimdienst und die Aufpasser Gaddafis schlafen nicht.
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Wir haben zum Beispiel auch Telefonkontakte, die wir schon von Deutschland aus mit
Regimekritikern in Libyen hatten, sofort eingestellt, als wir merkten, dass der Geheimdienst mithört und
dass Leute, die mit dem Ausland oder in Tripolis mit Ausländern am Telefon gesprochen hatten, abgeholt
wurden und manchmal nie wieder aufgetaucht sind.
Trotz all dieser Einschränkungen fand ich es wichtig, zu dieser Zeit im Tripolis Gaddafis gewesen
zu sein, um Reaktionen, Stimmungen, die Lügen bei den Pressekonferenzen, das Verhalten der
Sicherheitskräfte, all das mitzuerleben. Man kann, wenn man Hintergrundinformationen hat, aus den
uns vorgeführten „Operetten“ durchaus interessante Schlüsse über den Zustand des Regimes ziehen.
Und man hatte als ausländischer Journalist auch in Tripolis eine Vielzahl von Informationsquellen. Man
konnte im Internet jeden Tag die New York Times, die Neue Zürcher Zeitung oder die Frankfurter
Allgemeine lesen. Berichte von Journalisten, die ich zum Teil kenne und weiß, dass ihre Recherchen
verlässlich sind. Man konnte al-Jazeera, BBC, CNN empfangen und sich daher auch ein Bild machen, etwa
von den Kämpfen um Misrata. Und man hat sich natürlich auch mit anderen Journalisten ausgetauscht:
der eine kam gerade von dort, hatte die und die Erfahrung gemacht. So konnte man sich eigentlich auch
in Gaddafis goldenem Käfig doch ganz gut ein realistisches Bild der Lage machen.
Der Aufenthalt in Tripolis fiel in die Zeit, als sich die erbitterten Kämpfe um die Hafenstadt
Misrata zuspitzten. Das „Hamburg von Libyen“ war ein Stachel im Fleisch von Gaddafi, weil diese nur 200
km von Tripolis entfernt gelegene Stadt ganz klar bewies, dass es nicht um eine Auseinandersetzung „Ost
gegen West“ ging. Benghasi konnte man noch als Hauptstadt der rebellischen Ostprovinz Cyrenaika
abtun. Nicht so Misrata. Ebenfalls eine der großen Städte Libyens, inmitten der libyschen Küstenlinie
gelegen. Und nicht nur das, sie hielt, den wütenden Angriffen der Gaddafi-Truppen stand. Und all das
konnte ich erstaunlich gut von Tripolis aus kommentieren und die Regierungspropaganda Lügen strafen,
ohne ein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. Auch nach zwei Wochen – und der Geheimdienst hörte
im Hotel alles mit – gab es keine Reaktion, keine Ermahnung, objektiver zu berichten. Am Ende hätte
man sogar unsere Visa verlängert, wenn wir länger hätten bleiben wollen. Es hat das Regime nicht groß
interessiert, was wir oder die anderen Kollegen dort dem deutschen Zuschauer erzählten. Man legte
Wert darauf, dass die ausländische Presse anwesend war. Um die „Gräueltaten" der NATO-Luftangriffe
zu dokumentieren und als mögliches Schutzschild.
Anschließend an Tripolis bin ich noch einmal von Ägypten aus über die Ostgrenze nach Benghasi
gereist. Von dort aus per Schiff nach Misrata, das nur auf dem Seeweg erreichbar war, um die von
Gaddafi belagerte Stadt mit eigenen Augen zu sehen. Auch hier gab es Probleme, aber ganz andere als in
Tripolis. Unsere tollkühnen, seit Monaten im Artilleriehagel gegen Gaddafis Truppen kämpfenden
Begleiter hatten offenbar kein Bewusstsein dafür, dass wir uns als Kamerateam nicht jederzeit in
Lebensgefahr bringen wollten. Ich hatte klar gemacht, dass wir uns langsam zur Front vortasten,
zunächst einmal orientieren wollten und nicht gleich in die vorderste Linie. Wo sind wir hingeraten?
Natürlich sofort in die vorderste Linie und mitten in einen Granatwerfer-Angriff des Gegners.
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Für unsere Begleiter war das die tägliche blutige Normalität. Und das wollten sie uns zeigen. Hier
mussten wir nicht darum ringen, überhaupt berichten zu dürfen, hier mussten wir eher bremsen. Aber
auch hier, auf Seiten der „Guten“, die von Gaddafi brutal unterdrückt, ausgehungert und mit schweren
Waffen angegriffen wurden, mussten wir auf eine gewisse Distanz bedacht sein und bereit, kritisch zu
berichten.
Wir haben Überreaktionen erlebt gegenüber schwarzen Libyern, die man für afrikanische Söldner
Gaddafis hielt und daher sehr schlecht behandelt hat. Es hat Racheakte gegenüber Gaddafi getreuen
Kämpfern und Folter an Gefangenen gegeben.
Später, nach dem Fall von Tripolis bin ich mit meinem Team nach Sirte, der Heimatstadt Gaddafis
gefahren. Als Gaddafi gerade gefangen genommen und umgebracht worden war. Ich habe seinen
misshandelten Leichnam in einem Kühlraum in Misrata gesehen und bin von dort ins eineinhalb Stunden
entfernte Sirte gefahren. Für mich war bisher das zusammengeschossene Misrata die am stärksten
zerstörte Stadt in Libyen, aber was ich nun in Sirte sah, hat das noch übertroffen. Sirte ist von
Aufständischen aus Misrata eingenommen worden. Aus der erbitterten Schlacht um ihre Heimatstadt
sind sie als eine der kampfkräftigsten Milizen im libyschen Bürgerkrieg hervorgegangen. Und genau diese
Leute hatten jetzt grausame Rache an der Heimatstadt Gaddafis genommen. Als ich in Sirte eintraf, fand
ich eine Stadt vor, die noch stärker zerstört worden war als Misrata. In Sirte ist das Maß an Hass- und
Revanche-Denken deutlich geworden, das die Zukunft Libyens erschwert. Pressefreiheit bedeutet, auch
dies an Ort und Stelle zu sagen und darüber zu berichten, egal welche Seite für diese Taten
verantwortlich ist.
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Diskussion
Sie haben ja angesprochen, dass im Prinzip die Generation Facebook angefangen hat, diese
Revolution auszulösen, die sich dann von Tunesien aus über Libyen, Ägypten usw. ausgebreitet hat. Wie
verträgt sich überhaupt Islam und Demokratie, ist es überhaupt möglich, dass in diesen Ländern eine
Demokratie aufgebaut werden kann?
Zunächst einmal zur Generation Facebook: Ich sehe das nicht ganz so. Ich habe zwar vorher auf
die wichtige Rolle des Internet verwiesen, aber Revolutionen macht man immer noch auf der Straße. Ich
halte auch zum Beispiel die arabischen Satellitenkanäle, deshalb habe ich die auch vorhin so oft erwähnt,
noch für ungleich wichtiger, weil sie eine ungleich größere Verbreitung haben. Auch die Tatsache, dass
die arabische Welt mit ihnen ein eigenes, grenzüberschreitendes arabisch-sprachiges Fernsehen hat und
nicht nur die internationalen westlichen Sender BBC oder CNN, das ist ganz wichtig und hat sehr stark
dazu beigetragen, ein neues Bewusstsein zu fördern. Aber natürlich hat das Internet ganz allgemein und
nicht nur Facebook enorm dazu beigetragen, Informations- und Bewusstseinsgrenzen zu durchbrechen,
die Diktatoren auch zukünftig nun nicht mehr so einfach künstlich ziehen können. Aber es war und ist ein
Zusammenspiel vieler Faktoren, die die Unruhen und den Sturz der scheinbar unantastbaren
Machtherrscher ausgelöst haben. Nehmen wir Ägypten, dort haben im Vorfeld der Aufstände ganz
„traditionelle“ Arbeiterstreiks eine Rolle gespielt, also eine klassische soziale Auseinandersetzung.
Islam und Demokratie, das ist eine abendfüllende Diskussion. Ich würde die Frage, ob beides sich
verträgt, im Augenblick mit „jein“ beantworten. Mit den Begriffen Islam oder Scharia verbindet sich bei
uns aber auch manch wirre Vorstellung und Erwartungshaltung: Ich war in Tripolis, als der dortige
Übergangsrat der Rebellen verkündete: „ab jetzt gilt die Scharia in Libyen“. Das Presseecho hier bei uns
war Entsetzen. Dabei bedeutete das nur, dass dieses Land nach Ende der Gaddafi-Ära praktisch den
Reset-Button drückte: Nicht mehr die kruden Gaddafi-Gesetze, sondern nur mehr die Scharia sollte
Grundlage der Rechtsfindung im neuen Libyen sein. Und Scharia, das ist zunächst einmal „nur“ ein
umfangreiches System moralischer Postulate und Rechtsgrundsätze, etwa in Eigentumsfragen und
anderem. Sie gilt übrigens in fast jedem islamischen Land, wird jeweils unterschiedlich ausgelegt und
angewandt und hat mit den archaischen Extremformen „Hände abhacken“ und „Frauen steinigen“
äußerst selten zu tun. Die im Umbruch befindlichen islamischen Länder müssen nach Kolonialismus und
Diktatur die Chance bekommen, den Islam überhaupt erst einmal bewusst unter freiheitlicheren
Bedingungen zu leben. Zu versuchen, ihn mit der heutigen Zeit in Einklang zu bringen und über seine
Bedeutung zu streiten. Ich habe einmal in meiner Zeit als Türkei-Korrespondent zum dortigen
„Kopftuchstreit“ gesagt, das Kopftuch muss in der Türkei erst einmal legalisiert werden, damit man es
abschaffen kann.
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Wir können den Menschen dort von außen nicht sagen, wie sie zu leben haben. Herauszufinden,
wie ihr Islam mit dem Leben, das sie im 21. Jahrhundert führen möchten, zusammenpasst, das können
sie nur selbst. Ich hoffe, diese Entwicklung wird weniger blutig verlaufen als die entsprechenden
Anpassungsprozesse, die wir Europäer durchmachen mussten auf dem Weg zur vielgerühmten
laizistischen westlichen Demokratie, etwa die Reformationskriege oder die Französische Revolution.
Beide gehören zu den blutigsten Kapiteln der Menschheitsgeschichte. Wir sollten uns da gelegentlich
unserer eigenen mühevollen Geschichte bewusst sein und mehr Gelassenheit an den Tag legen und die
Hysterie gegenüber dem Islam ablegen. Was wir in einigen Ländern als „Islamisierung“ wahrnehmen, ist
manchmal zudem eher eine Art von Normalisierung.
In der Türkei zum Beispiel – obwohl ein islamisches Land – war es jahrzehntelang verpönt und
der Karriere abträglich, wenn man sich öffentlich allzu sehr zum Islam bekannte. Da galt man dann als
rückständiger Dorfdepp. Und die „Islamisierung“ ist in Wirklichkeit eine Korrektur dieser Anomalie. Ein
Ausdruck der Tatsache, dass in den ländlichen Gebieten Anatoliens ein neues wirtschaftlich erfolgreiches
islamisch-konservatives Bürgertum entstanden ist, das zum Teil international operierende Unternehmen
leitet. Und diese Leute wollen nicht weiter den ‚Dorfdeppen‘ spielen, sondern den ihnen zustehenden
gesellschaftlichen Platz in der Türkei einnehmen. Das ist der Background der Erfolgsgeschichte von
Tayyip Erdogans islamischer AK-Partei.
Also, mit der landläufigen westlichen Vorstellung, dass Islam, dass „Islamisierung“ per se eine Art
gesellschaftliche Rück- oder Fehlentwicklung, wenn nicht sogar die Vorstufe zum „Terrorismus“ sei, sollte
man vorsichtig sein. Was nicht heißt, dass diese Prozesse natürlich nicht immer auch radikale Gruppen
begünstigen, die die Chance wittern, ihren steinzeitlichen oder sektiererischen Vorstellungen von Islam
auch mit Gewalt Geltung zu verschaffen.
Ich wollte einen Vergleich ziehen zu einem anderen epochalen Wandel, nämlich vor 20 Jahren in
Osteuropa. Da ist es ja wirklich eine friedliche Revolution gewesen - wir hatten da Führungspersonen. In
Tschechien hatten wir Václav Havel, das haben die ja dort alles nicht. Wir hatten Lech Walesa in Polen.
Die Ostdeutschen hatten Westdeutschland, das quasi Aufbauhilfe geleistet hat. Die Revolution ist ja das
eine, Aufbau der Demokratie das andere. Ist ein Marschallplan für den Aufbau der Demokratie, für
Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit möglich? Oder sollen das die Länder aus Ihrer Sicht eher alleine
machen, wäre da ein Eingriff nicht günstig?
Sie meinen einen Marschallplan jetzt der arabischen Staaten oder vom Westen?
Vom Westen.
Wir erleben ja gerade eine interessante Entwicklung in der arabischen Welt. Deshalb war es auch
so unverständlich, dass Deutschland sich in Libyen herausgehalten hat, als es dort hart auf hart ging. Wir
hatten zum ersten Mal eine Arabische Liga, die etwas unternommen hat. Die nicht mehr sagte: „Wir
spucken uns nicht gegenseitig – also kein arabisches Land einem anderen – in die Suppe.“
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Sondern eine Arabische Liga, von der zu hören war: „So geht das in Libyen nicht weiter“ – und
sich mehrheitlich dazu durchrang, ein bewaffnetes Eingreifen in Libyen gutzuheißen, um Gaddafi zu
stürzen. In dieser Situation war es einfach idiotisch – das ist meine Meinung –, welches Bild Deutschland
da abgegeben hat. Sicherlich, man sollte aller Aufbruchs-Euphorie zum Trotz im Auge behalten, wer
dabei welche Interessen verfolgt. Etwa der winzige, enorm reiche Golfstaat Qatar, der seit geraumer Zeit
ungeheuerliche, nicht immer ganz durchsichtige politische Aktivitäten entwickelt. Der mutig ein Tabu
bricht und mit den Israelis spricht. Der aber auch in Libyen und Syrien eher die islamisch-konservativen
Rebellen ganz handgreiflich mit Waffen unterstützt.
Es gibt also von arabischer Seite Unterstützung der augenblicklichen politischen Bewegungen.
Und Geld ist in der Region zweifellos ausreichend vorhanden. Natürlich würden wir uns wünschen, dass
sich die in unserem Sinne fortschrittlicheren Kräfte dort durchsetzen. Trotzdem sehe ich nicht, dass der
Westen im großen Maßstab dort gefordert wäre, demokratische Nachhilfestunden zu geben. Wo immer
unser System in Justiz, Verwaltung oder Pressewesen als Vorbild gesehen wird und wir um Mithilfe
gebeten – selbstverständlich. Aber nicht ungefragt und nicht ignorant gegenüber der islamischen Kultur.
Übrigens ein Land, um das wir uns schon Gedanken machen sollten, ist sicher Tunesien. Ein
bisher Europa sehr nahes Land, in dem im Unterschied zu anderen viele der bisherigen Errungenschaften
des gesellschaftlichen Lebens in der Tat in Gefahr sind, von einer rückwärts-gewandten Entwicklung
überrollt zu werden.
Wie groß ist der Aufwand, wenn Sie mit Claus Kleber eine Live-Schaltung machen? Ist das eine
riesen Vorbereitung oder sagt man einfach: „Halte dich bereit und dann geht‘s los?“ Werden die Fragen
vorbereitet? Haben Sie einen Teleprompter?
Bei Claus Kleber braucht man sich gar nicht vorzubereiten. Der macht in der Regel keine großen
Absprachen, sondern stellt die Fragen, die ihm gerade einfallen und sinnvoll erscheinen. Da kann man
sich deshalb gar nicht besonders darauf vorbereiten. Aber generell verständigt man sich, sofern das
möglich ist, natürlich schon mit den Moderatoren im Studio oder der Redaktion, welches die wichtigsten
Themen sind, die angesprochen werden sollten.
Nein, ich habe keinen Teleprompter draußen. Den gibt es fast nur in Verbindung mit großen
Studiokameras und Sendeabläufen, die minutiös geplant sind. Aber es gibt andere technische
Errungenschaften, die mir wichtig sind und bei meiner Arbeit draußen von enormem Nutzen. Wir haben
vor zwei Jahren bei dem großen Erdbeben in Haiti erstmals BGAN-Technologie eingesetzt. Fragen Sie
mich nicht, was das ganz genau ist; eine Art Satellitentelefon zur Bildübertragung. Da haben sie einen
Laptop und einen Sender, der aussieht wie ein Satellitentelephon mit seiner Antenne in Form einer
kleinen Platte. Damit können sie von fast überall – out of the middle of nowhere – live berichten. Wenn
sie einen Filmbericht, also eine Bilderstory damit überspielen, dauert das ein bisschen länger, weil in
Echtzeit die Qualität noch nicht so gut ist. Bei live Schaltgesprächen ist das egal. Es ist auch in minderer
Übertragungsqualität einfach viel authentischer mitten aus dem Geschehen heraus zu berichten, als
irgendwo in der Stadt in einem Fernsehstudio zu sitzen oder vor einem Fernsehgebäude zu stehen.
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Auch im Sommer 2010 bei den großen Überschwemmungen in Pakistan hat mir das eine viel
„hautnahere“ Berichterstattung ermöglicht. Früher mussten wir immer zweimal überlegen, ob wir die
Stadt überhaupt verlassen konnten, um ins einige Stunden entfernte eigentliche Katastrophengebiet zu
fahren. Denn ich musste ja um 19 Uhr wieder zurück sein, um von einer Fernsehstation aus mein
Schaltgespräch zu führen. Darauf kann ich jetzt pfeifen. Wir ziehen mit unseren kleinen mobilen BGANGeräten einfach los, berichten direkt vor Ort, gehen direkt von dort auf den Satelliten und können daher
auch über Nacht dort bleiben. Viele Regierungen finden diese Mobilität natürlich überhaupt nicht toll
und versuchen, die Einreise mit diesen Geräten zu verhindern.
Sie haben erzählt, dass Sie oft auch von der Seite der Rebellen berichten, grade auch in
Afghanistan. Ich habe mich gefragt, wie Sie überhaupt Ansprechpartner finden in solchen Ländern oder
wer quasi stellvertretend mit Uhnen unterwegs ist, auf der Rebellenseite.
Wir versuchen natürlich, im Vorfeld Informationen zu sammeln und Kontakte zu knüpfen. Als ich
1989 zum ersten Mal nach Afghanistan gefahren bin – damals kämpften die Rebellen noch mit
Unterstützung des Westens gegen das prosowjetische Regime in Kabul – bin ich vom benachbarten
Pakistan aus eingereist. In der Stadt Peshawar hatten wir sozusagen unser Basislager. Dort haben wir vor
Ort weitere Kontakte geknüpft und geplant, wo und mit wem wir illegal über die Grenze gehen. Mit
einem in Peshawar ansässigen britischen Kameramann bin ich zu Fuß in den Bergen der Region Khost
unterwegs gewesen. Wir kannten den Namen eines Rebellenführers, mein Kameramann sprach ein
bisschen den lokalen Dialekt, so haben wir uns durchgeschlagen.
Oder jetzt in Libyen: Wir sind von Ägypten aus zu Fuß über die inzwischen von libyscher Seite
unkontrollierte, sich selbst überlassene Grenze, haben uns dort auf der anderen Seite einen Wagen mit
Fahrer organisiert und sind losgefahren, die mehrere Hundert Kilometer lange Strecke in Richtung
Benghasi. Wir wussten, dass die beiden Städte Tobruk und Benghasi befreit und in der Hand der
Aufständischen waren, mehr nicht. Wir sind keine Abenteurer oder gar Selbstmörder. Mein Team und
ich fanden, dass das Risiko kalkulierbar war. Und dann hatten wir natürlich jemanden dabei, der fließend
arabisch sprach. Man muss sich oft einfach auf eine Situation einlassen, wenn das Risiko überschaubar
erscheint, und die Erfahrung lehrt, dass sich dann meistens etwas ergibt: neue Kontakte, eine
interessante Geschichte. Für mich ist es immer auch ein Privileg, in einer solchen Situation vor Ort zu sein
und die Geschehnisse unmittelbar miterleben zu dürfen.
Meine Frage wäre unter dem Aspekt der Pressefreiheit zu embedded journalism: Also, das was
man im letzten Irakkrieg gesehen hat, dass Journalisten tief in den Kompanien mit drin sind und vorne
mitfahren. Da würde mich interessieren: a) wie stark ist unter dem Aspekt der Geheimhaltung die
Informationslieferung eingeschränkt, aber auch b) die emotionale Involvierung, die man dort hat, weil
man ist ja schon sehr nah dran.
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Ich muss Sie ein wenig enttäuschen, ich kann‘s Ihnen nur mittelbar sagen. Ich bin noch nie als
embedded Journalist gereist. Als ich damals in Afghanistan nach den Rebellen die Seite wechselte und
von den Soldaten des prosowjetischen Najibullah-Regimes berichtete, da war man noch nicht
embedded.
Die Amerikaner haben dieses System entwickelt, als sie gemerkt haben, dass es im Vietnamkrieg
nicht so toll gelaufen ist, weil die Journalisten dort das ungeschminkte Bild des Krieges zeigen konnten,
ein Bild, das der US-Army und dem Vietnamfeldzug der USA nicht gerade zu Ehre gereichte und zuhause
die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg erst richtig auf Touren brachte. Im Irakkrieg haben sie
versucht, die Journalisten und die Öffentlichkeit mit allerlei technischen Informationen zu überfüttern,
so dass wir nur noch über smartbombs berichteten, und wie genau die treffen können. Und man wurde
als Journalist bei der Truppe „embedded“, will sagen, das ganze lief viel straffer kontrolliert ab.
Es hat nun einfach seinen Preis, wenn man die Truppe begleiten darf und einen direkten Zugang
zum Geschehen an der Front bekommt, das muss man akzeptieren. Ich kann dann eben nicht berichten,
wie ich will. Es gibt klare Anweisungen, mit wem ich sprechen darf, was ich veröffentlichen und welche
Bilder ich zeigen darf. Das ist aus Gründen der militärischen Sicherheit und zum Schutz der Soldaten
verständlich. Außerdem kann man sich wahrscheinlich einer gewissen Identifizierung mit den Soldaten,
die man begleitet, nicht entziehen. Vor allem, wenn es die Soldaten des eigenen Landes sind. Aber wir
dürfen uns als Journalisten eben nicht darauf beschränken, embedded und aus der Perspektive unserer
Truppen zu berichten. Es müssen dann eben andere Kollegen auch über den Gegner auf der anderen
Seite berichten.
Meine Frage ist zum Bürgerjournalismus. Ich habe bemerkt, dass Sie eine gute Einstellung
gegenüber Bürgerjournalismus haben. Ich wollte wissen: Gibt es eine spezifische Politik im ZDF dazu?
Wie gesagt, in den letzten eineinhalb Jahren basiert ein Großteil unserer Berichterstattung aus
Syrien notgedrungen auf dem Material sogenannter „Bürgerjournalisten“, und wir sind dafür sehr
dankbar. Denn wir können ja nicht selbst im notwendigen Umfang aus Syrien berichten, was wir
natürlich vorziehen würden. Aber wir haben Mitarbeiter in der Zentrale, die sich das Material sehr genau
anschauen, prüfen, versuchen gegenzuchecken, ob die Aufnahmen auch das zeigen, was sie vorgeben zu
zeigen, bevor wir sie senden. Und nicht selten sind es Bilder, die ganz nah dran sind am Geschehen,
aufgenommen von Menschen, die aus der Not heraus zum Berichterstatter werden und dabei sehr mutig
sind. Die Politik lautet also, Präferenz eigene Bilder, aber wenn es die nicht gibt, eben auch sorgfältig
ausgewählte Bilder sogenannter Bürgerjournalisten.
Nicht zu verwechseln mit dem, was ich „Turnschuhjournalismus“ nenne und was mir immer
häufiger auf Kriegsschauplätzen begegnet. Das sind selbsternannte Kriegsberichterstatter, die eine
Chance sehen, sich dort zu profilieren, wo Zeitungen und Fernsehsender sich in Zurückhaltung üben, um
ihre Mitarbeiter vor zu großen Risiken zu schützen. Da wird aus dem Mut, zu berichten, nicht selten
tolldreistes Abenteurertum. Und hier finde ich es bedenklicher, wenn wir solches Material häufiger
ankaufen würden.
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Wenn man die Berichterstattung zum Beispiel über die Ereignisse in Ägypten verfolgt hat, dann
war selbstverständlich der Schwerpunkt Kairo und Alexandria. Man hat nichts vom Rest des großen
Landes gehört, wo ja eigentlich die Mehrheit der Bevölkerung wohnt und wie die darüber denkt und was
die davon hält. So dass man eigentlich einen doch sehr einseitigen Eindruck bekommen hat.
Da haben Sie völlig Recht. Das liegt natürlich an vielen Unzulänglichkeiten. Wir waren erst mal
schon froh, überhaupt Reporter im Land zu haben. Wir haben ein Büro in Kairo. Aber unser Team dort
kann natürlich in Krisenzeiten, wenn einem schon die Ereignisse in der Hauptstadt alle Hände voll zu tun
geben, nicht einfach ins Landesinnere fahren. Also schickt die Zentrale weitere Reporter und
Kamerateams an den Nil. Aber Ägypten ist ein sehr restriktiver Staat, der in solchen Momenten keine
zusätzlichen Journalisten akkreditiert. Und man kann nicht einfach frei im Land herumreisen. Man kann‘s
natürlich versuchen, aber sehr schnell tauchen dann Polizei oder Geheimpolizei in Zivil auf und fragen:
„Wo ist deine Genehmigung?“.
Wir hatten ein zweites Team, das ist in Alexandria verhaftet worden. Ich habe mich zusätzlich mit
einem Team ins Land geschlichen, bin als Tourist mit einer Chartergesellschaft zusammen mit Urlaubern
an einen Urlaubsort geflogen, um von dort weiter durchs Land zu fahren. Ich versuchte, möglichst
harmlos dreinzuschauen. Was leider nicht viel genützt hat. Die Polizei hat uns am Flughafen schon
erwartet und einen Teil unserer Ausrüstung einbehalten. Eine unvorsichtige Buchung unseres
Reisedienstes hatte dem Hotel verraten, dass wir vom ZDF waren. Jedes Hotel hat neben den eigenen
Sicherheitsleuten auch einen staatlichen Polizisten, dem die Anmeldungen weitergeleitet wurden.
Wir hatten Glück im Unglück, weil die Flughafenpolizei nicht ganz so clever war und uns nicht
alles abgenommen hatte, wir konnten also arbeiten. Aber die Vorstellung, ein paar kleinere ländliche
Orte im Niltal aufzusuchen und zu berichten, wie die Menschen dort über die Rebellion dachten, die
mussten wir schnell wieder aufgeben. Die Chance war zu groß, sofort entdeckt und festgesetzt zu
werden. Denn die kleinen ländlichen Orte sind natürlich viel einfacher zu überwachen als die großen
Millionenstädte. Und wir wollten bei derart geringen Erfolgsaussichten unsere Kamera und
Einsatzfähigkeit nicht riskieren. Wir haben uns dann, ohne unterwegs zu drehen, nach Kairo
durchgeschlagen, um die erschöpften Kollegen dort zu unterstützen. Sie haben Recht, es ist ein großes
Manko, dass wir immer nur auf die großen Städte schauen. Aber manchmal lässt sich daran nichts
ändern. Wir haben versucht zumindest in Kairo, das mit all seinen verschiedenen Stadtvierteln und
ländlichen Außenbezirken ja gewisserweise ein Mikrokosmos ganz Ägyptens ist, möglichst umfassend zu
berichten.
Die Dolmetscher haben manchmal eine größere Verantwortung als die Gesprächspartner, weil die
bestimmen, was Sie hören. Wie wählen Sie die aus, nehmen Sie die aus Deutschland mit, wie kann die
Qualität gewährleistet werden?
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Manchmal, aber selten kommt sogar ein Dolmetscher aus Deutschland mit. Meistens sind es
zweisprachige Kollegen vor Ort, die für uns dolmetschen. In beiden Fällen kann es passieren, dass der
Dolmetscher nicht das widergibt, was der Interviewpartner gesagt hat. Das ist ein Problem, gegen das
letztlich nur eigene Sprachkenntnisse helfen.
Es hilft natürlich, wenn man möglichst viel weiß über die Hintergründe dessen, um was es bei
dem Interview geht, und wenn man den Gesprächspartner einschätzen kann. Manchmal entwickeln sie
dann ein Gespür dafür, was sein kann und was nicht. Ich habe einmal einer Übersetzerin bei einem
Interview, dessen Abschrift sie mir vorlegte, gesagt: „Das kann die Person nicht gesagt haben, das kann
nicht stimmen.“ Und in der Tat, die Mitarbeiterin gab schließlich zu, die Übersetzung etwas „geschönt“
zu haben, um mir „einen Gefallen zu tun“ und dem Interview eine Richtung zu geben, von der sie
glaubte, dass sie meinen Erwartungen entsprechen würde. Völlige Sicherheit dagegen gibt es nicht. Da
müsste ich ordentlich Arabisch lernen. Das wäre sicherlich am besten.
Als Fernsehreporter, der ja mit Team unterwegs ist, mit großer klobiger Technik, ist man natürlich
in jeder Situation erst mal Fremdkörper. Verstärkt natürlich gerade, wenn Sie in Entwicklungsländern auf
dem Lande unterwegs sind. Wie ist die Reaktion der Leute? Wie gewinnen Sie in kürzester Zeit auch das
Vertrauen und brechen das Eis, dass sie mit Ihnen sprechen und sich in einer gewissen Natürlichkeit
zeigen? Ich denke vor allen Dingen an den Mann, der da in sein zerbombtes Haus kam (Ausschnitt aus
heute-journal). Das ist natürlich vollkommen was anderes, ob er das alleine sieht, oder mit Ihnen im
Schlepptau. Wie gehen Sie damit um?
Ganz normal. Ich ging in eines der vielen geplünderten und zerstörten Häuser, übrigens ohne zu
wissen, dass jemand drin war. Da stand ich dem Mann plötzlich in seinem Haus gegenüber, und er war so
emotional, dass er fast geweint hat. Das war also keine „organisierte Besichtigung“ mit ihm zusammen.
Er war vor mir im Haus, hatte all die Zerstörung registriert, als er mich kommen sah. Gott sei Dank
akzeptierte er meine Anwesenheit und sah wohl in mir jemanden, dem er seinen Schmerz mitteilen
konnte. Hätte auch anders ausgehen können. Er hätte sagen können: „Was willst Du in meinem Haus?
Schleich dich!“ Es ist schwierig, da ein allgemeingültiges Rezept zu formulieren. Man muss flexibel sein
und auf alles gefasst. Und natürlich mit dem nötigen Respekt und auch Taktgefühl vorgehen.
Es gibt viele Situationen, in denen die Menschen glauben, wir könnten ihnen helfen. Es wäre
billig, diesen aus der Not geborenen, vielleicht auch naiven Glauben auszubeuten. Im Sinne von: „Ja, wir
helfen dir, wir bringen dein Schicksal in Deutschland und Europa groß raus.“ Wir sollten die Leute in
ihrem Elend nicht verschaukeln. Wenn ich in Deutschland darüber berichte, haben der Mann oder die
Frau überhaupt nichts davon. Höchstens indirekt, in der Summe mehrerer oder vieler Berichte. Wir
sollten ehrlich genug sein und sagen, wir wollen das berichten, vielleicht bewirkt es etwas, ich kann es
aber nicht garantiere. Natürlich will man manchmal ein bestimmtes eindrucksvolles Bild oder ein
Interview mit einer speziellen Person unbedingt haben. Aber ich versuche dabei, weder deren Würde zu
verletzen, noch meine zu verlieren. Vielleicht ist das die einzige allgemeine Regel, die es zu befolgen gilt.
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Ich habe eine technische Frage – nicht im Sinne der benutzten Medien, sondern im Sinne der
Organisation von Informationen. Gibt es Unterschiede zwischen ARD und ZDF im Umgang mit
Krisenregionen in dieser Welt? Und lässt sich das an den Zuschauerzahlen zwischen Tagesschau und
heute feststellen?
Ja und Nein. Ich bezweifle auch, dass das wirklich eine technische Frage ist. Es gibt gute und
weniger gute Leute bei ARD wie ZDF. Es kommt zudem auf die Tagesform an. Journalismus hat auch sehr
viel mit Glück zu tun – ob sie im richtigen Moment am richtigen Ort sind. Es kommt auf die Art an, wie sie
mit den Leuten umgehen. Es kommt auf den Reporter und den Moderator an. Selbst innerhalb der ARD,
denn die besteht ja aus einigen regionalen Fernsehsendern, deren jeweilige Auslandsstudios der
Tagesschau zuarbeiten. Es hängt von vielen Faktoren ab. Ich glaube nicht, dass wir uns so gravierend
unterscheiden – ARD und ZDF. Wir haben in bestimmter Weise sehr ähnliche Strukturen und manchmal
sogar die gleichen Personen. Unser „heute journal“ Anchor Claus Kleber war früher bei der ARD, jetzt ist
er beim ZDF. Nein, ARD und ZDF geben sich da nicht viel. Der eine ist bei seinen politischen
Informationssendungen vielleicht ein bisschen altmodischer oder klassischer, wenn Sie so wollen, der
andere populärer ausgerichtet. Bei den Nachrichtensendungen und Magazinen gibt es Programme des
ZDF, die mehr Zuschauer haben als die entsprechende ARD-Sendung und umgekehrt. Insgesamt geben
sich beide meiner Meinung nach da nicht viel.
Noch eine Frage dazu: Sie haben gesagt, sie haben ein Büro in Ägypten. Welche Hilfe ist so ein
Büro für die journalistische Arbeit? Und wie kommt es dann zu Ihrem eigenen vielseitigen Einsatz in den
Krisenregionen des Vorderen Orients. Wie erklärt sich das?
Die brauchten mich einfach, weil ich so gut bin. Nein, Spaß beiseite. Das ist etwas, was wir uns
noch leisten, ARD und ZDF. Das kostet viel Geld, aber wir sagen, man muss in diesen Ländern auch vor
Ort sein und dort leben, um über sie berichten zu können. Und das ist natürlich ein enormer Vorteil
unserer Berichterstattung etwa auch gegenüber den Privatsendern. Sat1 oder RTL hat keine Studios in
Kairo, Johannesburg, Rio oder Singapur. In meinem Fall: Mir hatte vor vielen Jahren mein journalistischer
Ziehvater beim ZDF gesagt: „Kümmere dich doch um den Nahen Osten, fahr‘ nach Saudi-Arabien, nach
Libyen, Ägypten, in den Jemen.“ Das habe ich gemacht. Daher habe ich eine gewisse Kenntnis und auch
ein Faible für diese Länder.
Ich war zwischenzeitlich lange Jahre in Lateinamerika und den USA, aber auch jetzt, wo ich
zurück in Deutschland bin, vertraut man offenbar in Mainz immer noch auf mein Gespür für den Nahen
Osten und hat mich dort hingeschickt – und ein bisschen sehe ich ja auch so aus, als stamme ich von
dort! Natürlich reicht unter normalen Umständen unser Studio in Kairo aus. Aber wenn es in der ganzen
arabischen Welt rumort, dann will das ZDF natürlich intensiver berichten, schickt zusätzlich
Korrespondenten in die Region. Und wenn sie über die Entwicklungen in einem großen Land wie Ägypten
oder einen Kriegsschauplatz mit verschiedenen Frontabschnitten wie in Libyen berichten wollen, dann
braucht es nicht ein, sondern mehrere Teams an mehreren Orten gleichzeitig.
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Wie schätzen Sie ihre eigene Wirkung als Journalist in solchen Krisengebieten ein? Einmal, auf
uns, also auf die Zuschauer, inwiefern glauben Sie, dass Sie für uns bestimmte Definitionen oder
Einschätzungen herüberbringen – vielleicht auch einseitig, weil subjektiv – und auf der anderen Seite für
die Krise oder den Krieg an sich, zum Beispiel besonders in Libyen. Wie glauben Sie, dass Sie auch sich
selber oder Ihre Arbeit in den Krieg mit einbringen? Glauben Sie, dass Sie da auch eine Beeinflussung für
die Parteien sind?
Nein, letzteres glaube ich nicht. Wir sind dort freundlich von den Aufständischen aufgenommen
worden. Die wollten natürlich, dass wir über sie, ihre Motive und ihre Erfolge berichten. Aber unsere
Berichterstattung hatte und hat normalerweise keinen Einfluss auf die Parteien vor Ort. Bei ihrer
Wirkung auf die Zuschauer in Deutschland hoffe ich natürlich, dass meine Berichte etwas herüberbringen
von dem, wie sich mir der Konflikt vor Ort darstellt. Dabei habe ich auch kein Problem mit Subjektivität.
Subjektive Einschätzungen bedeuten ja weder notwendigerweise Einseitigkeit noch, dass man seine
Privatmeinung zum Besten gibt. Es bedeutet vielmehr – nach Augenschein und Analyse der Ereignisse –
überhaupt eine Einschätzung abzugeben. Und das ist meiner Meinung nach durchaus angebracht, denn
der Zuschauer kann in der Flut von Meldungen und den jeweiligen „Wahrheiten“ der jeweiligen Parteien
leicht den Überblick verlieren. Einschätzungen, also begründete subjektive Urteile, sind das, was die
Leser und Zuschauer von einem ordentlichen Journalisten zu Recht erwarten dürfen. Er soll ihnen – wenn
sie ihn für glaubwürdig halten – auch als eine Art Kompass inmitten der gleich oder ähnlich klingenden
Nachrichtenflut dienen.
Sie sind ja eher im arabischen Raum tätig. Wenn Sie jetzt aber zum Beispiel an Ihre Kolleginnen
und Kollegen in Subsahara-Afrika denken, die ja nun häufig mit einem oder wenn überhaupt zwei
Standorten fast einen gesamten Kontinent abdecken müssen, ist da überhaupt noch ein guter
Journalismus möglich? Wenn man praktisch nur von einem Land zum anderen hetzt? Wie soll man als
Zuschauer mit Informationen oder mit Berichterstattung umgehen, wenn man das Gefühl hat, dass da
eigentlich ein viel zu großes Gebiet von viel zu wenigen Leuten journalistisch behandelt wird?
Das ist schon richtig, dass wir, um Afrika zu verstehen, viel mehr Berichte im Programm und
daher auch mehr Korrespondenten unterwegs in Afrika haben sollten. Aber ich denke, dass wir heute mit
zwei ZDF Studios in Subsahara-Afrika schon ganz ordentlich aufgestellt sind. Es gibt viele internationale
Fernsehsender, die haben gar keine festen Standorte dort. Ebenso, wie schon gesagt, die Privatsender
RTL und Sat1. Also das, was sich das ZDF und die ARD da noch leisten, ist schon einiges. Ich erinnere an
die nicht wenigen Stimmen, die schimpfen, die öffentlich rechtlichen Sender wie das ZDF würden zu viel
Gebühren kosten und sollten noch mehr sparen. Von daher weht ein ganz anderer Wind. Also, Sie haben
völlig Recht, aber mehr lässt der wirtschaftliche und politische Druck kaum zu. Wer will das bezahlen?
Wenn Sie mit kleinen lokalen Gruppen zu tun haben, also lokalen Kommandeuren, die Sie
eventuell beeinflussen könnten, weil Sie eine gewisse Stellung haben, und mit denen unterwegs sind und
Dinge sehen, die Ihnen natürlich auch nicht gefallen und die Sie eigentlich ablehnen, haben Sie dann eine
gewisse lokalpolitische Funktion oder eher einen Gewissenskonflikt? Versuchen Sie teilweise einzuwirken
auf die Menschen, oder sagen Sie sich einfach, das ist passiert?
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Ich habe im Prinzip keinen Einfluss auf diese Leute und schon gar keine Macht. Ich gehe auch
nicht als Menschenrechtsbeauftragter dahin. Ich bin dort, um zu berichten, Dinge zu dokumentieren und
zu analysieren. Aber ich sollte mich auch nicht aus opportunistischen Gründen gemein machen mit
Leuten, die ein Verbrechen begehen. Generell finde ich, man ist es denjenigen, mit denen man
unterwegs ist, schuldig, dass man ehrlich mit ihnen ist und durchaus seine Meinung sagt.
Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Situation in Libyen, in Benghasi ganz am Anfang der
Aufstände, als die Leute auf den Straßen feierten und auf Transparenten sich über den Diktator Gaddafi
lustig machten, dessen Regime sie in ihrer Stadt gerade todesmutig gestürzt hatten. Auf einem
Transparent war Gaddafi mit einer dicken Nase abgebildet und darunter stand: „Gaddafi ist ein Jude.“
Und da habe ich meinen libyschen Begleitern gesagt: „Was für ein Mist! Ihr bekämpft Gaddafi, weil er ein
Tyrann, nicht weil er Jude, Christ oder sonst etwas ist.“ Auch bei dem latenten Rassismus gegen
Schwarzafrikaner in Libyen habe ich meistens nicht weggehört, sondern zu einem fairen Umgang mit
schwarzen Libyern oder selbst von Gaddafi angeheuerten Schwarzafrikanern aufgefordert.
Meine Erfahrung nicht nur in der arabischen Welt ist, dass Ehrlichkeit im Endeffekt mehr
geschätzt wird als opportunistische Klugheit – die einem ohnehin unterstellt wird. Aber natürlich ist es
nicht mein Job dort, jemanden in Schutz zu nehmen, ebenso wenig wie gute Miene zum schlechten Spiel
zu machen. Ich habe selbst noch keine Situation erlebt, in der ich vor der Entscheidung gestanden hätte,
versuche ich ein Verbrechen zu verhindern oder dokumentiere ich es, um ein internationales Vorgehen
dagegen zu ermöglichen. Das ist eine sehr schwierige Entscheidung, die von vielen ganz konkreten
Faktoren abhängt.
Mir war der Vortrag ein wenig zu euro-zentristisch, sowohl Kommentare als auch Fragen im
Bezug zum Beispiel auf Islam und Demokratie. Mir klang da so eine verdeckte Islamophobie fast raus und
auch wenn es nicht so gemeint war, ich habe es so aufgenommen. Auch, dass sinnvolle NATO-Angriffe
hervorgehoben worden sind. Ich hätte da eine Frage an Sie: Wie war die Stimmung bei Ihnen und Ihren
Kollegen, Sie waren selber vielleicht nicht vor Ort, aber als das Bombardement von Israel im Gaza-Streifen
war, 2008, da wurde ja die Pressefreiheit massiv beschnitten, um nicht zu sagen gar nicht erst überhaupt
gewährleistet, es durfte keine humanitäre Hilfe und auch keine Presse in den Gaza-Streifen rein? Und,
was aus Ihrer Perspektive zu dieser Zeit im Gaza-Streifen los war?
Ich bin jetzt keiner, der NATO-Luftangriffe kritiklos bejubelt. Ich habe gesagt, dass die NATO
längst nicht so schlimm bombardierte, wie es das libysche Regime dargestellt hat. Viele der angeblich
zivilen Opfer, auf die die Propaganda des Gaddafi-Regimes verwiesen hat, waren – bis hin zu künstlichem
Blut – Täuschungsversuche der Öffentlichkeit. Was die NATO in Libyen bombardiert hat, waren wirklich
Ziele, um die machtpolitische und militärische Infrastruktur von Gaddafi auszuschalten.
Zu Ihrem zweiten Punkt: Ich war nicht selbst zur Zeit des Gaza-Krieges dort. Es hat also nicht viel
Sinn, dass ich jetzt was dazu sage. Ich kann nur sagen: Wir haben natürlich in Deutschland ein großes
Problem mit unserer Israel-Berichterstattung. Das hat auch neulich die Geschichte mit Günter Grass
offenbart. Da liegt das Problem.
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Stephan Hallmann: Pressefreiheit in Krisenregionen und Kriegen – am Beispiel von Ägypten, Libanon, Syrien und Libyen
Es gibt sehr viele Menschen in Deutschland, die meinen, dass sie die alte Schuld, die Deutschland
auf sich geladen hat, damit gut machen, indem sie zu allem Ja und Amen sagen, was der Staat Israel
beschließt. Und es gibt andere Leute, die das nicht tun. Ich glaube schon, dass wir in Deutschland nicht
völlig unkritisch über Israel berichten und dass in der Fernsehberichterstattung auch immer wieder mit
Bildern aus Gaza gezeigt wurde, was dieser Krieg für die Menschen dort an Leid und Elend bedeutete.
Aber ich teile Ihre Meinung, wenn Sie sagen, dass wir uns in Deutschland nicht erlauben, Israel
gegenüber kritisch genug zu sein.
Was mich so ein bisschen umtreibt ist die Fragestellung zwischen schreibender Zunft und
filmender Zunft. Gibt es da einen Unterschied in der Form der Arbeit? Ich könnte mir vorstellen, ein
Journalist mit einem Bleistift bewaffnet kann natürlich eher in kleine Städtchen fahren. Gibt es da
Unterschiede in der Tiefe der Bearbeitung von Themen und Oberflächlichkeit?
Erst mal gehen uns die anderen natürlich wahnsinnig auf den Wecker, weil sie immer im Bild
rumlaufen, wenn wir drehen wollen. Nein [Gelächter] im Ernst: Sicher hat der schreibende Journalist
viele Vorteile. Er kann als Tourist getarnt einreisen, Eindrücke sammeln und dann einen tollen Bericht
schreiben. Ich muss als Fernsehjournalist die Bilder bekommen, das heißt, mit Kamera und Mikro genau
dort rumlaufen und drehen, wo das oft gar nicht gerne gesehen ist und gegebenenfalls von Polizei oder
Geheimdienst sofort unterbunden wird, wenn sie unsere Kamera entdecken. Klar, hat ein Artikel in der
Neuen Zürcher Zeitung, Frankfurter Allgemeinen oder der New York Times eine andere Tiefe, schon weil
er vergleichsweise mehr Raum zur Verfügung hat und weil sich Text besser zur Darstellung komplizierter
Zusammenhänge und deren Hinterfragung eignet als die Bildersprache des Fernsehens.
Fernsehen ist zudem ein flüchtiges Medium. Der Zuschauer kann nicht innehalten und noch
einmal nachlesen, wie bei der Zeitung. Und wir rechnen in Sekunden, also zeitlich knapp bemessen.
Fernsehen kann daher sehr oberflächlich sein, aber Fernsehen kann natürlich, wenn sie die richtigen
Bilder haben, eindrucksvoller als jede Zeitungsseite sein. Weil sie einfach Dinge zeigen und plastisch
machen können, die der Kollege mit dem Kuli oder Füllfederhalter sehr mühsam in schwarz und grau
aufs Papier bringen muss. Ich finde, wenn ich unseren Zuschauern mit meinen Bildern und Kommentaren
einen plastischen Eindruck von einem Ereignis vermitteln kann und zudem vielleicht einen klugen
Gedanken, der hilft, zu verstehen, was dort gerade vorgeht, dann habe ich einen guten Job gemacht.
Fernsehen erübrigt nicht das Studium der Zeitung. Es lädt eigentlich dazu ein, mehr über die
Hintergründe erfahren zu wollen. Wir ergänzen uns im besten Falle.
Also sind Sie Freunde?
Ja, natürlich. Es gibt Print-Journalisten, die ich sehr schätze, mit denen ich mich austausche. Wir
helfen uns gegenseitig. Mit den Fotografen ist es etwas schwieriger, die stehen uns wirklich oft im Bild
rum. (…) Vielen Dank für Ihr zahlreiches Erscheinen.
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