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»Wir haben einen Auftrag für dich«, sagte Deputy Inspector Terry Rogers
vom New York City Police Department, zu Baxter Milgram.
»Ich höre«, reagierte dieser.
»In den letzten zwei Jahren sind zwölf junge Menschen spurlos
verschwunden.«
»In einer Stadt wie New York verschwinden ständig Menschen. Was ist
das Besondere daran?«, fragte der Privatdetektiv Baxter Milgram seinen
Freund von der New Yorker Polizei.
»Es sind keine Randfiguren der Gesellschaft, keine Hoffnungslosen. Es
handelt sich um junge Leute aus begüterten bis reichen Familien, mit
Freunden, Verlobten. Junge Frauen und Männer, die keinen Grund haben,
unterzutauchen«, sagte Inspector Rogers.
»Und …?«, fragte Baxter Milgram.
»Wir haben einen Verdacht«, ergänzte Terry Rogers.
»Und zwar?«, fragte Baxter Milgram.
»Wir müssen das unter Verschluss halten. Von dieser Sache zu erfahren,
wäre für die Angehörigen unerträglich. Wir müssen absolut sicher sein. Es
ist uns wichtig, dass ein Außenstehender unvoreingenommen recherchiert.
Wenn er zum selben Ergebnis kommt wie wir, dann müssen wir uns
überlegen, in welcher Form wir die Öffentlichkeit und die Angehörigen
informieren.«
Die beiden Männer schwiegen eine Weile, während sie Gin-Tonic
tranken. Gedämpft drang der Verkehrslärm der Fifth Avenue auf die
Dachterrasse des St. Anthony Hotels.
Baxter Milgram, der 34 Jahre alte Private Investigator, bewohnte den
letzten Stock des St. Anthony Hotels in Manhattan, das seiner Schwester
Selma gehörte. Auch sie und ihr Mann wohnten im 15. Stock des alten
Hotels. Ihren üppigen Dachgarten, in dem sogar Bäume standen, benützte
auch Baxter.
Das Gebäude stammte aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, es hatte
Charakter, wie die New Yorker sagten, und es war technisch mit Tiefgarage
sowie Fitnessbereichen und einem Hallenbad auf neuestem Stand. Nach
einem Brand vor fünfundzwanzig Jahren, bei dem nur die Fassade
unversehrt geblieben war, musste das Hotel von Grund auf erneuert werden.
»Sag mir wenigstens abstrakt, was das Besondere an diesem Fall
ausmacht«, bat Baxter.
»Das Besondere daran ist die Skrupellosigkeit, das Missachten aller
Grenzen. Ein Tabubruch, wie er sonst auch bei Morden nicht vorkommt.«
Deputy Inspector Rogers wurde vom Vibrieren seines Handys
unterbrochen. Es war Alexis Sorath, die Tochter des Antiquitätenhändlers
Matthew Sorath, mit der Terry ein Treffen vereinbart hatte, bevor er zu
Baxter kam.
Alexis wartete im Erdgeschoss des Hotels, wo der Laden ihres Vaters
untergebracht war.
»Bitte sie herauf, auf einen Drink, ich freu mich immer, wenn ich sie
sehe«, rief Baxter Milgram.
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»Vorher sagst du mir noch, ob du den Fall übernimmst«, erwiderte Terry
Rogers.
»Ich übernehme ihn zu den üblichen finanziellen Bedingungen«, sagte
Baxter Milgram.
»Ein erster Ansatzpunkt könnte ein Treffen mit Mr. Chambers sein. Er
arbeitet als Astrologe für die Washington Post. Sein Sohn wird vermisst. Er
hat gemeinsam mit einem Journalisten-Kollegen begonnen, auf eigene Faust
zu recherchieren. Von ihm erfährst du einiges und …« Hier zögerte
Inspector Rogers, bevor er fortsetzte, »Vielleicht kannst du den Tatendrang
von Mr. Chambers und seinem Bekannten einbremsen, bevor sie Unheil
anrichten.«
Terry Rogers schob Baxter einen Zettel mit Daten, Edmund Chambers
betreffend, über den Tisch.
Minuten später wurde Alexis Sorath, die dunkelhaarige ägyptische
Schönheit, von Gary Random, dem Security Officer für das 14. und 15.
Stockwerk, auf die Dachterrasse geleitet.
Sie begrüßte Baxter und Terry mit einem Kuss. Der für ihren Freund
Terry fiel etwas inniger aus. Baxter strahlte sie an, bis ihn Terry
kopfschüttelnd ermahnte.
»Wie geht es, Majestät?«, fragte Baxter.
»Mir selbst recht gut«, antwortete Alexis. »Daddy hat gesundheitliche
Probleme. Zu viel Stress, zu viel Ehrgeiz. Sein Herz macht nicht mehr mit.
Aber man macht ihm Hoffnung. Mit viel Geld lässt sich etwas machen. Und
das Geld hat er. Mein Therapeut hat mir einen Hinweis gegeben auf eine
Klinik.«
»Was willst du trinken?«, fragte Baxter.
»Was trinkt ihr gerade?«
»Gin-Tonic. Was sonst.«
»Mir auch einen. Aber mit viel Tonic und Eis«, verlangte Alexis.
»Und einen Spritzer Zitrone?«
»Oh ja«, nickte sie.
Alexis, Terry und Baxter entspannten sich unter dem Einfluss des Gin
und des milden Spätsommerabends. Der leichte Wind, der von Westen her
aufgekommen war, trug frische Luft vom Central Park auf die Terrasse.
Terry Rogers und Alexis wollten an diesem Abend noch das »Cheops«,
ein ägyptisches Restaurant aufsuchen, und Baxter Milgram erwartete Bruno
Borges, den Sekretär der St. Anthony-Loge, deren Räumlichkeiten ein
Stockwerk tiefer untergebracht waren.
Sie trafen sich fast jeden Dienstag nach der Sitzung der Freimaurer.
Baxter erhielt einen Großteil seiner Aufträge von der Loge, der er
freundschaftlich verbunden war, ohne ihr anzugehören.
Nach einem Anruf geleitete Gary vom Security Service die Gäste zum
Lift.
Baxter Milgram, welcher gebannt der dunklen Schönheit nachblickte, bis
sie verschwunden war, hatte das Kommen von Bruno Borges übersehen und
überhört, bis sich dieser räusperte.
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»Eine würdevolle Erscheinung, diese Königin Lilith«, sagte Bruno
Borges.
»Wer?«, fragte Baxter zerstreut und reichte dem Sekretär der St.
Anthony-Loge einen Doppeldecker mit viel Eis, den dieser auf einen Zug
leerte.
»Noch einen, bitte«, sagte er zu Baxter Milgram.
»Schwere Zeiten, offenbar«, lächelte dieser.
»Und ob. Einer der intensivsten Abende seit langem«, sagte Bruno
Borges.
Bruno war 58 Jahre alt, untersetzt, gesund und sportlich. Seine noch
vollen rötlichen Haare waren grau durchmischt, worüber er froh war, denn
nun leuchteten sie nicht mehr wie das Fell eines Fuchses.
»Woran habt ihr gearbeitet?«, fragte ihn Baxter.
»Darüber später. Wir haben einen wichtigen Auftrag für dich. Freddy
Braemar, einer unserer Logenbrüder, braucht deine Hilfe. Seine Tochter ist
seit Juli verschwunden, und er hat den Eindruck, dass ihn die Polizei nicht
richtig informiert.«
»Ich kann morgen die Familie aufsuchen. Kommst du mit?«, fragte
Baxter.
»Gegen elf kann ich mich frei machen«, sagte Bruno Borges. »Ich werde
Freddy verständigen. Sie leben auf Long Island.«
Die beiden Männer genossen schweigend ihre Drinks.
»Ich hab mein Versagen von damals noch immer nicht verarbeitet«,
unterbrach Bruno das Schweigen.
»Hat die Erinnerung daran mit eurem heutigen Abend zu tun?«, fragte
ihn Baxter.
»Ja. Wir haben Bilder von Hieronymus Bosch betrachtet und darüber
meditiert. Eines dieses Gemälde hat mich so verstört, dass ...«
»Es hatte mit einem Brand zu tun«, vermutete Baxter Milgram.
»Ja, und dann sind mir die Details wieder eingefallen.«
»Das ist jetzt über zwanzig Jahre her.«
»Aber in diesem Augenblick war alles wieder gegenwärtig. Ich hab
die Unterlagen der Freimaurer gerettet, während ihr verbranntet.«
»Meine Schwester und ich leben, weil ihr uns gerettet habt.«
»Er hat euch gerettet.«
»Und du sagst mir auch heute nicht, wer er ist?«, fragte Baxter Milgram.
»Er will es nicht. Wir haben ihn damals zum Großmeister der Loge
gewählt. Er will unerkannt bleiben.«
Nach einer Pause setzte Bruno Borges seinen Gedankengang fort:
»Wenn mir Dr. De Vries nicht geholfen hätte. Ich wüsste nicht, wie ich
damit fertig werden sollte.«
»Du meinst deine Midlife Crisis«, feixte Baxter Milgram.
»Du hast ja keine Ahnung. Es handelt sich um eine Endlife Crisis.«
»Aha. Und wer ist Dr. De Vries?«, fragte Baxter.
»Dr. Nicholas De Vries ist Logenbruder und Psychiater, und ich mache seit
einem halben Jahr eine Therapie bei ihm.«
»Viel Glück!«
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»Es ist zwar gegen die Regeln, Profane dürfen nicht in die
Logenräumlichkeiten, aber ich würde dir gerne das Bild zeigen«, sagte
Bruno Borges.
»Du willst mich also erstmals in den Tempel mitnehmen?«, fragte
Baxter Milgram.
Gary Random begleitete die beiden Männer zum Lift und bis zum
Eingang der Loge.
Mit Hilfe seiner Security Card öffnete Bruno die Eingangstür zum
Vorhof. Über die Vorbereitungskammer und durch den Speiseraum
gelangten Bruno Borges und Baxter Milgram in den eigentlichen Tempel.
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