Psychologie des Lernens IV_Skriptum

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Psychologie des Lernens IV_Skriptum
Siebente Vorlesung
Zur Psychologie des Lernens IV:
Kognitiver Behaviorismus, Lernen am Modell;
Lernen durch Einsicht
Ich habe Ihnen in der letzten Vorlesung ein bisschen etwas über die Person von Edward
Chase Tolman erzählt und ich hoffe, dass ich Sie damit ein wenig neugierig gemacht habe zu
erfahren, was Tolman in die Psychologie des Behaviorismus Neues eingebracht hat. Die
Bezeichnung kognitiver Behaviorismus, die Tolman für sein Konzept akzeptiert hat, klingt
natürlich nach einem Paradoxon. Wie hat er diese paradoxe Programmatik argumentiert?
Für Tolmans ganze Lerntheorie zentral ist die Unterscheidung zwischen molekularen und
molaren Aspekten des Verhaltens. „Molekular“ bezieht sich auf die Betrachtung von
Verhalten als aktuell ablaufende Muskelbewegungen eines Organismus; „molar“ zielt darauf
ab, dass Verhalten eben auch mehr ist als bloß die Summe von elementaren Muskelzuckungen
(die Gestalttheorie lässt grüßen!). Ein ganzheitlicher Akt eines Lebewesens – der vor allem
dadurch charakterisiert ist, dass er auf die Erreichung eines bestimmten Ziels hin organisiert
ist. Purposive behavior in animals and men, so lautete der Titel, den Tolman seinem
programmatischen Hauptwerk von 1932 gab, – das eben war der Gegenstand, auf den sich
seine theoretischen Überlegungen bezogen. Dieses „purposive“ ist, darauf legte Tolman wert,
kein mentalistischer, sondern ein reiner Beobachtungsbegriff. Eine Ratte, die von einem
Ausgangspunkt in einem Labyrinth zu einem Zielgegenstand hinstrebt und nicht ruht, ehe sie
diesen Zielgegenstand (z. B. Futter) erreicht hat – dieses zielstrebigen („goal-seeking“)
Verhalten ist zu beobachten. Zielgerichtetheit ist also eine Beschreibung des Verhaltens, nicht
eine Beschreibung des Bewusstseinszustand der Ratte. Allerdings kommt – wie wir gleich
sehen werden – diese Beschreibung des Verhaltens letztlich nicht ohne Rekurs auf kognitive –
d. h. also innere, zentrale, eben nicht direkt beobachtbare Begriffe aus. Tolman postulierte,
dass bestimmte Reizkonstellationen in Abhängigkeit von den Erfahrungen, die ein
Organismus zuvor gemacht hat, Erwartungen stiften – Erwartungen über den Zusammenhang
zwischen den gerade vorliegende Reizbedingungen, entsprechenden Verhaltensweisen und
daraus resultierenden neuen Reizbedingungen. Kurz und gut: bei Tolman ist Lernen ein
fortwährendes Hypothesenbilden; konkretes Verhalten wird dann als Testen von
bestimmten Hypothesen, „Verstärkung“ eben als Bestätigung von Hypothesen
interpretierbar.
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Damit haben wir die zentralen Charakteristika des Ansatzes von Tolman beisammen. Wir
können uns seinen zentralen Gedankengang nun an einem Experiment klar machen, das für
Tolmans Konzept im selben Sinne paradigmatisch ist, wie die Skinner-Box für den radikalen
Behaviorismus von Skinner.
Tolman hat sich vor allem mit so genanntem Ortslernen befasst: Ratten müssen in einem
Labyrinth unter mancherlei Schwierigkeiten, z. B. dem unvermutetem Auftreten von Sperren
in zuvor offenen Wegen vom Start in ein Ziel (Futter) finden. Die folgende Abbildung zeigt
einen typischen Aufbau von einem solchen Labyrinth: Es handelt sich dabei um etwa 4 cm
breite Laufstege, die ca. 75 cm über dem Boden angebracht waren.
Vortraining: nur mit Sperre A: ohne Sperre A wurde von den Ratten der Weg 1 bevorzugt;
mit Sperre A wurde durch selektive Verstärkung am Zielort gewährleistet, dass von jedem
Versuchtier in 90 % seiner Durchläufe Weg 2, in 10 % seiner Durchläufe Weg 3 benutzt
wurde. Es wurde also eine Verhaltenshierarchie aufgebaut, die man als Bevorzugung des
jeweils kürzeren Weges bezeichnen kann. In der eigentlichen Testphase wurden dann
abwechselnd Sperre A und B gesetzt. Die Ergebnisse waren erstaunlich: Fanden die Ratten
Weg 1 durch Sperre B blockiert, so wählten die überwiegende Mehrheit (je nach Art des
Vortrainings 73% und dann sogar 890 %), wenn sie jetzt erneut vom Start wegliefen, trotz der
im Vortraining etablierten Verhaltenshierarchie schon im aller ersten Durchgang gleich Weg
3 – d. h. den einzigen unter diesen Bedingungen zum Ziel führenden Weg. Die Versuchstiere
ersparten es sich sozusagen, in diesem Fall den Weg 2 überhaupt auszuprobieren.
Die Ratten verhalten sich so, als ob sie sich im Vortraining ein Bild des Labyrinths erworben
hätten – Jahre später hat die kognitive Psychologie eben dafür den zentralen Begriff der
kognitiven Repräsentationen – eingeführt; Tolman selbst sprach von einer kognitiven
Landkarte (cognitive map), die sich die Tiere von ihre Umgebung gebildet hätten, nach der
sie sich in ihrem zielbezogenen Verhalten orientieren können.
Tolman – der nicht nur ein kreativer Wissenschafter, sondern auch ein sehr humorvoller
Mensch war – hatte großen Spaß daran, ständig neue Wortschöpfungen zur Beschreibung und
Erklärung des Verhaltens seiner Ratten im Labyrinth zu kreieren. Wenn wir uns nur noch ein
klein wenig mehr darauf einlassen, werden wir sehen, wie sehr der ganze Ansatz letztlich auf
eine großartige Synthese der so voneinander differierenden Traditionen der USamerikanischen und europäischen Psychologie hinausläuft.
Der Terminus cognitive map war mit Bedacht gewählt: Eine Landkarte ist nichts anderes als
ein mehr oder minder komplexes Zeichensystem, das real bestehende Sachverhalte abbilden
soll. So kann Tolman denn auch sagen, seine Ratten hätten im eigentlichen keine ReizReaktions-Verknüpfungen gelernt – Sie erinnern sich: das Lernen solcher
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Verknüpfungen stellt das Kernstück der Theorie des operanten Konditionierens dar –
sondern Beziehungen zwischen Zeichen. Die Ratten lernen also im Labyrinth bestimmte
Reizgegebenheiten als Zeichen zu verwerten, die sie zu bestimmten Zielgegenständen
hinführen oder davon abhalten. Zeichen und Bezeichnetes bilden einen
Bedeutungszusammenhang, den Tolman in Anknüpfung an die von der Gestalttheorie
entwickelte Begrifflichkeit als „Zeichen-Gestalt“ (sign-gestalt) bezeichnete.
Tolmans Einsicht, dass dieser Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichneten in
natürlichen Situationen für den Organismus prinzipiell mehrdeutig ist, liegt schließlich seiner
Rede vom Bilden von Hypothesen zugrunde. Ich kann Ihnen das hier nicht im Detail
ausführen, aber es sei zumindest angedeutet, dass wir mit diesem Ansatz wieder bei jener
Auffassung der Funktion unseres Wahrnehmungssystems angelangt sind, für die ich im
letzten Semester unter dem Kapitel Psychologie des Sehens Werbung zu betreiben versucht
habe. Sie erinnern sich: Wir haben damals von der prinzipiellen Mehrdeutigkeit des
Netzhautbildes gesprochen und davon, dass unsere optischen Wahrnehmungen nichts anderes
sein können als ein fortwährendes Bilden von Hypothesen darüber, welche Außenweltobjekte
im Raum um uns gerade vorhanden sein könnten.
Die eigentliche Pointe des Tolmanschen kognitiven Behaviorismus habe ich Ihnen bis jetzt
aber noch vorenthalten. Sie betrifft die Frage, wie die Ratten – verwenden wir ruhig den
modernen Begriff: – diese kognitive Repräsentation der Labyrinth-Umgebung erwerben. Es
handelt sich dabei um so genanntes „latentes Lernen“, d. h. um ein Lernen, dass sich ohne
explizite Verstärkung vollziehen kann. Es handelt sich also um einen Lernprozess, der sich
zum Zeitpunkt seines Ablaufs nicht im Verhalten manifestiert. Tolman trägt dem
Rechnung, indem er begrifflich sehr präzise zwischen dem Erwerb einer Kompetenz (dem
eigentlichen Lernen) und seiner Umsetzung in beobachtbaren Verhalten (Performanz)
unterschied. Damit ist aber gleichzeitig behauptet, dass die Skinnersche Auffassung von
Lernen als Änderung der Auftrittswahrscheinlichkeit von bestimmten Verhaltensweisen
zu kurz greift.
Das Gesagte mag für eine grobe Übersicht über die Tolmansche Konzeption genügen.
Würden wir uns mehr auf dieses sehr komplexe Theoriengebäude einlassen, so würden wir
vom Lernen weg weit in ein anderes Kerngebiet der Allgemeinen Psychologie hinein geführt
werden: in das Gebiet der Motivationspsychologie. Denn das ist ja klar: Wenn man zwischen
Kompetenz und Performanz unterscheidet, so muss man auch klären, von welchen Faktoren
die Umsetzung einer konkreten Verhaltensweise abhängt. Wie schon bei Hull, so kommt auch
bei Tolman dem Konzept des Triebes eine zentrale Rolle zu. Die Ratte läuft zielstrebig durchs
Labyrinth, weil sie Hunger hat. Der Triebzustand bestimmt damit auch den Wert, den der
Zielgegenstand für die Ratte hat. Kurz und gut: Verhalten ist bei Tolman wesentlich bestimmt
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durch diese drei Grundvariablen: Trieb, Erwartungen über die Konsequenz von
Verhaltensweisen, Wert des Zielobjekts.
Wenigstens hingewiesen sei auf das Kuriosum, dass Tolman seine Reformulierung des
Behaviorismus in kognitiven Termini ausgerechnet anhand von Tierexperimenten expliziert
hat. An die – wenn schon dauernd von Hypothesenbilden und Hypothesentesten die Rede ist –
eigentlich naheliegende Zuwendung zu Untersuchungsparadigmen im Humanbereich hat er
selbst nie gedacht. Polemisch könnte man einwenden, dass die Postulierung von kognitiven
Prozessen geradezu der Paradefall einer Anthropomorphisierung tierischen Verhaltens ist.
Anthropomorphisierung tierischen Verhaltens – dass ist eine jener Hauptsünden der
Wissenschaft, die aus der Welt zu schaffen die Behavioristen eigentlich angetreten sind. Für
den selbsternannten Behavioristen Tolman verhält sich letztlich die Ratte nicht viel anders, als
er selbst sich verhält: Ihre „kognitive Organisation“ gleicht jener des Wissenschafters, der
sich in seiner (Labor-)Welt genauso über die Generierung von Hypothesen zurecht zu finden
sucht, wie die Ratte in ihrer (Labyrinth-)Welt. Was aber für Tolman als Person spricht, ist,
dass er sich über den Hinweis auf diese merkwürdige Analogie sicherlich köstlich amüsiert
hätte.
Wie auch immer: Tolman gilt heute zu Recht als einer der großen Wegbereiter der kognitiven
Wende der Lerntheorie. Auf einen anderen, erst etwa 10 Jahr nach Tolmas Tod entwickelten
Ansatz einer kognitiven Lerntheorie müssen wir jetzt zum Abschluss unserer Erörterungen
über die Psychologie des Lernens noch kurz eingehen. Zum Einstieg stellen wir uns eine
Frage, die wir bislang aus unseren Überlegungen noch völlig ausgespart haben: Skinner, so
habe ich Ihnen zu zeigen versucht, hat unter Lernen nichts anderes verstanden als die
Änderung der Auftrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens. Also: die Häufigkeit
des Auftretens eines Operanten steigt, wenn das Versuchstier in der Skinner-Box positiv
verstärkt wird. Unter einem Operanten verstehen wir eine spontan auftretende
Verhaltensweise, eine Verhaltensweise, die also im gegebenen Verhaltensrepertoire eines
Versuchstierens vorkommt. Wie kann mit diesem Ansatz das Entstehen neuer, bislang eben
nicht im artspezifischen Verhaltensrepertoire enthaltenen Verhaltensweisen erklärt werden?
Skinner nennt zwei Prinzipien: Shaping und Chaining. Unter Shaping versteht man die
Veränderung eines bestimmten Verhaltens in aufeinanderfolgenden kleinen Schritten, wobei
jeder Schritt eine weitere Annäherung an das gewünschte Endverhalten bedeutet. Beim
Chaining wird sozusagen eine Kette von Einzelreaktionen derart zusammengefügt, dass auf
jede Einzelreaktion ein sekundärer Verstärker, auf die erwünschte letzte Reaktion hin dann
ein primärer Verstärker folgt. Beim Aufbau der Kette wird von hinten begonnen. Also: die
letzte Reaktion wird mit einem primären Verstärker belohnt. Diese Reaktion (genauer: ein
durch diese Reaktion erzeugter, also reaktionsbedingter Reiz) wird dann zu einem sekundären
Verstärker für jenes Reaktionselement, das unmittelbar vor der Endreaktion auftreten soll, ein
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von diesem vorletzten Reaktionselement erzeugter Reiz wiederum zum sekundären Verstärker
für das unmittelbar davor auftretende Reaktionselement usw. Shaping und Chaining sind
Verfahren, die jeder Zirkusdompteur zur Anwendung bringt, der seinen Tieren komplexe und
ungewöhnliche, d. h. im natürlichen Verhaltensrepertoire der Tiere nicht vorkommenden
Verhaltensweisen beibringen will.
Für den ganzen Ansatz von Skinner ist bezeichnend, dass in ihm die Veränderung des
Verhaltens von Organismen primär an einem Einzelindividuum, d. h. an einem von anderen
Organismen isolierten Individuum untersucht wird. Um die Beschränkungen, die sich daraus
ergeben, zu erkennen, wenden wir uns zunächst einmal einem Experiment aus dem
Humanbereich zu.
Stellen Sie sich vor, wir zeigen vier- bis fünfjährigen Kindern jeweils allein einen Film, in
dem ein Erwachsener – in unserem Beispiel eine Frau - eine lebensgroße Plastikpuppe mit
einer Reihe aggressiver Akte malträtiert: die Frau wirft die Puppe auf den Boden, setzt sich
auf sie und boxt sie auf die Nase; sie schleudert sie in die Luft; sie schlägt sie mit einem
Holzhammer auf den Kopf, sie kickt sie mit dem Fuß durch den Raum etc. Jeder dieser
Akte begleitet sie mit aggressiven verbalen Äußerungen, die zum Teil
Wortneuschöpfungen sind.
Ein und derselbe Film hatte drei verschiedene Schlussfassungen. In einer Version betritt ein
anderer Erwachsener den Raum, der die Frau für ihr Verhalten lobt und sie reichlich mit
Süßigkeiten und Getränken belohnt. In der zweiten Version erscheint auch ein Erwachsener,
der aber die Frau in rauhem Ton tadelt und schließlich mit einer zusammengefalteten Zeitung
schlägt. Eine dritte Filmfassung endet ohne Auftritt eines Erwachsenen. Unmittelbar nach
dem Film wird jedes Kind – wieder allein – in einen Raum gebracht, in dem sich verschiedene
Spielsachen befinden, darunter auch die Puppe, die im Film zu sehen war. Was passiert? Die
Kinder zeigen verschiedene Spielaktivitäten, darunter auch aggressive Akte gegen die
Puppe, und zwar z. T. in genau in derselben Art und Weise, wie sie zuvor im Film von
der erwachsenen Frau gezeigt wurden. Selbst die verbalen Attacken werden inklusive
der kuriosesten Wortneuschöpfungen nachgeahmt.
Allerdings ist die Nachahmung der aggressiven Akte bei den Kindern unterschiedlich
ausgeprägt, und zwar je nachdem, welche Filmversion die Kinder gesehen haben. Die Kinder,
die erlebt haben, dass die erwachsene Person im Film für ihr Verhalten belohnt wurde, zeigen
stärkere Nachahmungsaggression als die Kinder der anderen Versuchsgruppen. Die
Ergebnisse sind in der folgenden Grafik dargestellt (helle Säulen!) – Abbildung aus Spada S.
376 einfügen.
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Was ist daraus zu folgern? Die Kinder lernen z. T neue, d. h. in ihren bisherigen
Verhaltensrepertoire nicht enthaltene Verhaltensweisen (z. B. aggressive
Wortneuschöpfungen!), obwohl sie selbst keine aktive Reaktionen gezeigt haben und daher
auch selbst keine materiellen Verstärker bekommen haben. Sie lernen, indem sie das
Verhalten eines anderes beobachten. Das ist ein weitaus effizienteres Verfahren zum Erwerb
neuer Verhaltensweisen, als die von Skinner beschriebenen Prozesse des Shaping und
Chaining: Das Verhalten braucht nicht erst tatsächlich gezeigt werden, bevor gelernt werden
kann. Man braucht sich sozusagen nicht selbst durch die Produktion einer Fülle von
Reaktionsweisen um Verstärker anstellen; man lernt einfach aus den Fehlern (und auch aus
den Erfolgen) von anderen.
Man spricht in diesem Zusammenhang von Beobachtungslernen oder Lernen am Modell.
Dieses Beobachtungslernen ist – das ist wichtig zu betonen – nicht auf den Humanbereich
beschränkt. Selbst Tintenfische sind dazu in der Lage, ihr Verhalten zu ändern, wenn sie die
erfolgreiche Ausführung einer Handlung bei einem Artgenossen beobachtet haben.
Der Pionier in der Erforschung des Beobachtungslernens ist Albert Bandura. Von ihm
stammt auch das dargestellte Experiment – oder vielmehr: der bisher dargestellte erste Teil
eines Experiments. Der zweite Teil dieses für das Forschungsprogramm Banduras
paradigmatischen experimentellen Inszenierung soll zeigen, dass man ohne Annahmen über
innere kognitive Prozesse den Vorgang des Beobachtungslernens nicht verstehen kann.
Beachten Sie, dass Bandura im Gegensatz zu Tolman jetzt endlich ein Humanexperiment
dazu heranzieht, um die Relevanz von Kognitionen für das Zustandekommen von Verhalten
zu demonstrieren.
Zurück zur Darstellung dieses Experiments. Im zweiten Teil des Versuchs werden allen
Kindern – also den Kindern aus allen drei Versuchsbedingungen – Belohnungen in Aussicht
gestellt, wenn sie die zuvor im Film gesehenen Verhaltensweisen erinnern und zeigen können.
Es gibt also jetzt den zusätzlichen Anreiz einer direkten Verstärkung. Das erhöht in allen drei
Versuchsgruppen die Nachahmungsrate; die Unterschiede zwischen den Bedingungen
verschwinden. Hier ist nochmals die Grafik, die Sie schon kennen; die grauen Säulen stellen
die Anzahl der Nachahmungsreaktionen für die drei Versuchsbedingungen dar.
Sie sehen, dass alle Kinder das Vorbildverhalten in gleicher Weise aufgenommen, also
„gelernt“ haben, aber dass sie es in unterschiedlichem Ausmaß – und zwar eben in
Abhängigkeit von den Konsequenzen, die das Vorbild erfahren hat – spontan reproduzieren.
Daraus folgt, dass wir zur Erklärung der Vorgänge beim Beobachtungslernen wieder eine
Unterscheidung heranziehen müssen, der wir schon bei Tolman begegnet sind: der
Unterscheidung zwischen Lernen und Ausführung, zwischen Kompetenz und Performanz.
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Lernen hat für Bandura mit nichts anderem zu tun als mit der Speicherung des an einem
Modell beobachteten Verhaltens im Langzeitgedächtnis. Ob und wie das Verhalten eines
Modells im Langzeitgedächtnis gespeichert wird, hängt von kognitiven Variablen ab – von
Variablen, die wir schon bei unserer Erörterung von Gedächtnisprozessen ausführlicher
besprochen haben: Aufmerksamkeit, Anzahl der Wiederholungen, Art der Kodierung etc.
Gerade die Untersuchung der Frage, wie die Beobachtungen an einem Modell im Gedächtnis
kodiert werden (bildlich oder sprachlich?), bildete für lange Jahre einen
Forschungsschwerpunkt der Forschergruppe um Albert Bandura. Sprachliche Kodierung ist –
so kann man die kaum überraschenden Ergebnisse der einschlägigen Untersuchungen
zusammenfassen, der bildlichen Kodierung überlegen. Also: leitet man Versuchspersonen
dazu an, Beobachtungsmaterial mit Hilfe sprachlicher Kürzel zu verarbeiten, dann ist die
Nachahmungsleistung besser, und zwar vor allem dann besser, wenn zwischen Darbietung des
zu imitierenden Verhaltens und seiner Nachahmung eine größere Zeitspanne liegt.
Die kognitive Repräsentation eines beobachteten Verhaltens ist eine notwendige, aber nicht
eine hinreichende Bedingung für die Nachahmung, also die eigene Ausführung dieses
Verhaltens. Diese Ausführung hängt von motivationalen Faktoren ab, wobei diese
motivationalen Prozesse bei Bandura jetzt nichts mehr mit Trieben und Bedürfnissen zu tun
haben, sondern ausschließlich durch Verstärkungsfolgen angeregt werden. Dabei sind die
folgenden Verstärkungsarten zu unterscheiden: direkte Verstärkung, die der Beobachter für
die Nachahmung des Verhaltens erfährt; stellvertretende (vikarielle) Verstärkung, also
Verstärkung, die das Modell erfährt, dessen Verhalten der Beobachter beobachtet; und
Selbstverstärkung (bzw. Selbstbestrafung!), also Verstärkungen, die der Beobachter sich
entsprechend seiner eigenen Standards selbst verabreicht. Wichtig ist die Antizipation von
Verstärkungsfolgen. Also: die kognitive Erwartung von Handlungsfolgen motiviert dazu,
bestimmte Handlungen auszuführen bzw. andere Handlungen zu unterlassen.
In der folgende Abbildung sehen Sie eine Darstellung von Banduras Modell des
Beobachtungslernen. Dass dieses Modell sehr viele und sehr verschiedene psychologische
Problemstellungen zu erklären beansprucht, brauche ich Ihnen nicht im Detail auszuführen:
Denken Sie z. B. an die Frage der psychischen Wirkungen von Gewaltdarstellungen in
Filmen, oder an die Frage, wie Kinder soziale Einstellungen und Normen von ihren Eltern
übernehmen. Für den hier zur Diskussion stehen Sachverhalt von Bedeutung ist, dass Bandura
mit seinem Konzept von „Lernen“ als Informationsverarbeitung die klassische
behavioristischen Lerntheorien endgültig überwunden und durch eine rein kognitive Theorie
ersetzt hat. Ich hoffe, dass es mir auch gelungen ist, Ihnen zu zeigen, dass seine Konzeption
gerade in Bezug auf das Lernen neuer, d. h. im Verhaltensrepertoire von bestimmten
Menschen (und auch Tieren!) nicht vorhandenen Verhaltensweisen „elegantere“, d. h.
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einfachere und auch lebensnähere Erklärungen und Voraussagen ermöglicht, als etwa das
Skinnersche Konzept des Shapening oder Chaining.
Damit möchte ich meine Erörterungen über das weite und für die Allgemeine Psychologie so
zentrale Gebiet des Lernens beenden. Den verbleibenden Rest der heutigen Vorlesungszeit
möchte ich dazu nutzen, auf einen anderen, letztlich mit den bisher im Sommersemester
behandelten Themen aufs engste verknüpften Bereich überzuleiten: auf die Psychologie des
Denkens. Angesichts des Umstandes, dass das Semester schon weit vorangeschritten ist, wird
sich viel mehr als ein recht allgemein gehaltener Überblick über einige Spezialkapitel nicht
mehr ausgehen.
Mit dem Denken ist es in der Psychologie genauso wie mit den meisten ihrer Grundbegriffe.
Obwohl der Begriff in unserer Alltagssprache in den verschiedensten Bedeutungsfeldern
gebraucht und in vielen verschiedenen Kontexten auch mühelos verstanden wird, tut sich die
Wissenschaft Psychologie damit sehr schwer. Es gibt eine Fülle von Definitionsversuchen –
eine eindeutige und allgemein akzeptierte Bestimmung dessen, was unter „Denken“ in der
Psychologie zu verstehen ist, gibt es aber nicht. Dabei steht die vor allem auch praktische
Relevanz der wissenschaftlichen Erforschung des menschlichen Denkvermögens außer
Zweifel: Denken Sie nur daran, wie oft Sie in Zeitungen oder in Nachrichtensendungen im
Fernsehen im Zusammenhang mit Unglücksfällen oder Katastrophen über „menschliches
Versagen“ lesen bzw. hören können. Achten Sie einmal darauf, was dieser Begriff alles
bedeuten kann. „Menschliches Versagen“ meint im einfachsten Fall, dass irgendjemand zu
irgendeinem Zeitpunkt eine bestimmte Leistung, die er erbringen hätte sollen, eben nicht
erbracht hat, z. B. weil er geschlafen hat oder weil er betrunken war. „Menschliches
Versagen“ war aber auch die Ursache des Reaktorunfalls in Tschernobyl – und da hat
niemand von den Experten, die damals im Reaktor 4 quasi die Katastrophe herbeigeführt
haben, geschlafen oder ein bestimmtes Signal übersehen oder einen falschen Schalter betätigt.
Dietrich Dörner, einer der gegenwärtig prominenten Forscher im Bereich der Psychologie
des Denkens, hat in seinem jedem angehenden Psychologen und jeder angehende Psychologin
als Pflichtlektüre anempfohlenen Buch über Die Logik des Misslingens darauf aufmerksam
gemacht, dass alle Handlungen, die damals im Reaktor 4 des Kraftwerks in Tschernobyl von
den Operateuren gesetzt wurden, bewusst so gesetzt wurden, offenbar aus der vollen
Überzeugung heraus, dass diese Handlungen richtig sind. Kurz und gut: worum des bei der
wissenschaftlichen Untersuchung des menschlichen Denkens vor allem auch geht, ist, dass
Menschen eben beim Denken, Entscheiden und Problemlösen in mehr oder weniger
komplexen Situationen eben Fehler begehen. Sind solche katastrophalen Fehlleistungen der –
verzeihen Sie den saloppen Ausdruck – „Natur“ des menschlichen Denkens inhärent? Wie
funktioniert eigentlich dieses menschliche Denken? Ist es trainierbar, ist also menschliches
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Denken zu verbessern, so dass das, was einmal an Fehlleistungen passiert ist, in Zukunft nicht
mehr passiert? Sie sehen – schon sind wir mitten in unserem Thema. Wie aber können solche
Fragen wissenschaftlich untersucht, wissenschaftlich geklärt werden?
Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen richtigen Denkens beschäftigt die Menschen
in unserer, d. h. in der abendländischen Kultur seit alters her. Keine Angst – ich werde Sie
jetzt nicht mit einer allgemeinen Übersicht über die Geschichte der Philosophie des Denkens
quälen. Nur so viel sei gesagt, dass die Anfänge der psychologischen Erforschung des
Denkens zeitlich und inhaltlich verankert werden kann. Am Beginn des abendländischen
Philosophierens über das menschliche Denkvermögen steht Aristoteles: „Für die Denkseele
treten die Vorstellungen an die Stelle der Inhalte der sinnlichen Wahrnehmung“ – so heißt es
in einer nachmals viel zitierten Passage seiner Abhandlung Über die Seele. An diese These
knüpfte schließlich die gesamte ältere philosophische Erörterung des Denkens an, indem sie
das Denken als eine Verbindung, eine Assoziation von Vorstellungen fasste und die
Vorstellungen selbst als eine Art Stellvertreter der ursprünglichen Wahrnehmungsinhalte, als
wahrnehmungsähnliche Repräsentation von sinnlich-anschaulichen Gegebenheiten.
Gegen dieses Modell erhob sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Forscherkreis, den ich
Ihnen schon in einer der ersten Vorlesung im letzten Semester vorgestellt habe: Der
eigentliche Geburtsort der modernen Denkpsychologie ist Würzburg; die von Oswald Külpe
geleitete Forschungsgruppe, die mit der alten philosophischen Tradition der Behandlung
menschlichen Denkens radikal gebrochen hatte, ging daher in die Annalen der Geschichte der
Psychologie ein unter der Bezeichnung Würzburger Schule. Über Methode und
Hauptergebnisse der Würzburger Schule brauche ich mich nicht lange aufzuhalten. Im
vergangenen Semester haben wir uns damit ausführlich auseinandergesetzt: die Methode war
die der rückschauende Selbstbeobachtung von unter experimentellen Bedingungen erzeugten
Denkvorgängen; die Hauptergebnisse lassen sich an dem Begriff der „determinierenden
Tendenz“ und dem Begriff der „Gedanken“ kurz zusammenfassen: Gegen die zentrale
Annahme der alten Assoziationspsychologie, dass der Ablauf jedes Denkvorgangs letztlich
bloß den einfachen Gesetzen, nach denen einzelne Vorstellungen Verbindungen miteinander
eingehen, gehorcht (Gesetz der zeitlichen und räumlichen Nähe; Gesetz der Ähnlichkeit etc.),
gegen die Annahme also, dass Assoziationen sich im Denken gleichsam ziellos, d. h.
ungerichtet nach allen Seiten hin ausbreiten, hatte Narziss Ach den Begriff der
determinierenden Tendenz gesetzt: jeder geordnete Denkverlauf verdankt seine
Strukturierung primär den gedachten Gegenstände, also den konkreten Aufgaben, auf die er
bezogen ist. Als Hauptergebnis der nachmals so berühmten experimentellen Untersuchungen
zur Phänomenologie des Denkens, die Karl Bühler mit seiner Habilitationsschrift
Tatsachen und Probleme einer Psychologie der Denkvorgänge in den Jahren 1907 und
1908 der Fachöffentlichkeit vorgelegt hatte, haben wir die Einsicht hervorgehoben, dass ein
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Denkvorgang eben nicht als Abfolge von einfachen Repräsentationen sinnlicher Eindrücke zu
beschreiben ist: als eigentliche Träger von Denkprozessen fungieren vielmehr
unanschauliche Einheiten – Gedanken, wie Bühler sie nannte.
Bühler hat zudem sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, dass das eigentliche Denken nicht
mit einem besonderen Grad der Bewusstsein ausgestattet ist. Wir gelangen in unserem
Denken vielmehr zu Resultaten, ohne dass die einzelnen Zwischenschritte in unserem Erleben
deutlich werden. Am Ende steht dann oft ein plötzliches und ganz unvermutetes
Bescheidwissen, das Bühler mit dem Begriff des Aha-Erlebnisses beschrieben hat.
Der Gedanke der Zielgerichtetheit von Denkprozessen wurde im Anschluss an die Arbeiten
der Würzburger Schule in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dann vor allem von der
Berliner Schule der Gestalttheorie in fruchtbarer – und vor allem auch für die heutige
Denkpsychologie immer noch relevanter – Weise weiter ausgearbeitet. Die Hauptvertreter
der Berliner Schule haben wir auch schon im vergangenen Semester kennen gelernt: Max
Wertheimer, Kurt Koffka und Wolfgang Köhler. Für die Theoriebildung der
Gestalttheoretiker von Bedeutung ist vor allem auch noch Karl Duncker (1903-1940), dessen
1935 erschienenes Buch Zur Psychologie des produktiven Denkens zu Recht heute immer
noch als Klassiker der Denkpsychologie gilt. Auf Duncker geht vor allem die Entwicklung
eines methodischen Verfahren zurück, das für die moderne Denkpsychologie zu einem
unverzichtbaren Hilfsmittel geworden ist: Duncker hat seine Versuchspersonen gebeten, ihre
Überlegungen bei der Lösung eines Problems laut zu verbalisieren. So genannte
Lautlösungsprotokolle dienen dazu, die Wege und Umwege, die eine Versuchsperson beim
Lösen einer Problemstellung einschlägt, nachvollziehbar zu machen.
Der denkpsychologische Ansatz der Gestalttheorie lässt sich in aller Kürze in etwa wie folgt
beschreiben: Das Vorliegen einer Problemsituation wird als schlechte, gestörte, defekte
Gestalt aufgefasst. Aus der Einsicht in die Problemsituation erwächst eine Art von Spannung,
die dazu führen soll, dass die gegenwärtige Struktur der Problemsituation in eine andere, von
der gegenwärtigen abweichende Struktur übergeführt wird. Als Mittel dazu sollen
Umstrukturierungen dienen. Umstrukturierungen der ursprünglichen Situation führen zu einer
Neu- bzw. Reorganisation der Problemsituation, und zwar so lange, bis eben der
ursprüngliche Spannungszustand gelöst, aus der gestörten Gestalt mithin eine gute Gestalt
entstanden ist. Die Prozesse der Umstrukturierung erhalten durch die Forderung nach
Überführung in eine gute Gestalt, letztlich aus der dynamischen Wirkung dessen, was in der
Theorie der Berliner Schule Prägnanztendenz heißt, ihr Ziel, ihre Richtung. Denken ist also
nichts anderes als Gestalt- bzw. Ordnungsbildung.
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Paradigmatisch für die Denkpsychologie der Berliner Schule waren jene Untersuchungen an
Menschenaffen, die der junge Wolfgang Köhler von 1913 bis 1920 als Leiter der
Anthropoidenstation der Preussischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa
durchgeführt hat. Mit seinen – heute als klassisch geltenden – Experimenten wollte Köhler
zeigen, dass „Lernen“ oder „Problemlösen“ bei höher organisierten Lebewesen, sicher aber
bei den – genetisch betrachtet – nächsten Verwandten der Menschen eben nicht durch
zielloses Herumprobieren im Sinne Thorndikes zustande kommt, sondern eben durch
Umstrukturierung der Wahrnehmung einer Problemsituation.
Schauen wir uns einmal an, von welchen Untersuchungen Köhler ausgegangen ist. Das
Prinzip ist immer das gleiche: Versuchstieren werden von einem Zielgegenstand durch einen
Zaun getrennt. Sehen Sie sich einmal die folgende Grafik an. Wir haben es hier mit der
einfachsten aller möglichen Versuchsanordnungen zu tun. Die linke Abbildung soll das
Lösungsverhalten eines Hundes darstellen. Köhler hat übrigens auch mit seiner kleinen
Tochter experimentiert, die sich in dieser Versuchsanordnung ähnlich verhalten hat, wie der
Hund. Die rechte Abbildung symbolisiert das Verhalten von Küken in derselben Situation. Ihr
Verhalten folgt sozusagen dem Thorndikeschen Prinzip des Versuchs-Irrtums-Lernen. Diesen
Unterschied in der Art der Problemlösung hat Köhler nun systematisch an Menschenaffen –
zunächst an Schimpansen – zu untersuchen begonnen. Dabei hat er die Aufgabenstellungen
immer schwieriger gestaltet. Die Affen mussten nun einfache Hilfsmittel verwenden, um zu
einer Banane zu gelangen. Sie konnten z. B. eine vor dem Käfig liegende Banane nur
erreichen, wenn sie einen im Käfig herumliegenden Stock aufnahmen und damit die Banane
in Reichweite ihrer Arme heranzogen. Auf den folgenden Fotos sehen Sie schon sehr
komplizierte Anordnungen. Eine von der Käfigdecke baumelnde Banane war nur zu
erreichen, wenn die Schimpansen im Käfig herumstehende Kisten aufeinander türmten. Das
ist eine für die Affen bemerkenswerte Leistung. Es ist wenig wahrscheinlich, dass Sie
sozusagen in ihrem Vorleben irgendwelche Erfahrungen mit Kisten gemacht haben.
Gleichzeitig zeigten sich in diesen Untersuchungen auch die artspezifischen Grenzen der
Problemlösungskapazität der Schimpansen. Nur drei von sechs Affen schafften es, in der
dargestellten Art mehr als zwei Kisten aufeinander zu schichten. Die Türme, die entstanden,
waren alles andere als stabil.
Die spektakulärste Form des Hilfsmittelgebrauchs gelang nur einem einzigen Schimpansen; er
hieß Sultan, auf dem folgenden Foto sehen Sie ihn, wie ihm gerade die Lösung seines
Problems einfällt. Eine Banane lag so weit außerhalb des Käfigzaunes, dass sie mit einem
einzigen der im Käfig herumliegenden Stock für Sultan nicht zu erreichen war. Sultan
versuchte stundenlang vergebens, auf allen möglichen Wegen die Banane zu erreichen. ER
stieß z. B. einen Stock mit Hilfe eines zweiten zu der Banane hin (Köhler sprach in diesem
Fall von einem „guten Fehler“) Als er seine Versuche schließlich aufgegeben hatte und mit
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den Stöcken zu spielen begann, brachte der einmal die beiden Stöcke in eine Linie und steckte
den einen in den anderen. Plötzlich sprang er auf, lief zum Käfigzaun und holte mit dem
„Werkzeug“, das jetzt lang genug war, die Banane zum Käfigzaun heran. Köhler hat vor
allem auch viel Aufmerksamkeit auf die Beschreibung des emotionalen Ausdrucks von Sultan
gelegt: Wut und Verzweiflung, als die Lösungsversuche scheiterten, die Freude, als er die
Lösung entdeckte etc.
In seiner theoretischen Erklärung des Problemlöseverhaltens der Schimpansen griff Köhler
nun auf die von Wertheimer in seiner berühmten Studie Über das Sehen von Bewegung, also
eigentlich zur Beschreibung und Erklärung von wahrnehmungspsychologischen Phänomenen
entwickelte Begrifflichkeit zurück: Zielgegenstand und Hilfsmittel bilden eine Gestalt: Die
Erfassung dieser Gestalt durch das Tier nannte Köhler „Einsicht“. Das ist natürlich ein
problematischer, weil mit dem Geruch der Anthropomorphisierung behafteter, in der Sprache
der Behavioristen: ein „mentalistischer“ Begriff. Für Köhler war von Einsicht nur dann zu
sprechen, wenn die Lösung des Problems voraussetzt, dass das Tier einen vollständigen
Überblick über die gesamte Feld- bzw. Problemstruktur gewinnt. Dieses Überblicken der
Situationsbedingungen ist aber direkt daran zu beobachten, dass das Tiere nach einigen
erfolglosen Versuchen oft eine Pause einlegt, in der es ständig zwischen Werkzeug und
Zielgegenstand hin- und herblickt. Um möglichen Einwänden gegen seine Begriffsbildung
von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat Köhler diese seine Beobachtungen
auch filmisch festgehalten.
Das mag für heute genügen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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