Reformationsstadt Turku/Europa Reformata

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Reformationsstadt Turku/Europa Reformata
Reformationsstadt Turku/Europa Reformata
Dr. Tuomo Fonsén
Universität Turku
Turku Centre for Medieval and Early Modern Studies (TUCEMEMS)
Die Stadt von Turku (schwed. Åbo) an der südwestlichen Küste Finnlands, bei der Mündung
des Flusses Aura, liegt zentral am Kreuzpunkt der Ostsee. Seit ihrer Gründung im 13. Jahrhundert dient die Stadt für Finnland als Eingangstor zur Welt. Historisch war Finnland seit
dem Mittelalter ein Teil des Schwedischen Königreichs, bis es 1809 als autonomes Großfürstentum in das Russische Kaiserreich eingegliedert wurde und sich 1917 verselbständigte. Bis
1812 war Turku die Hauptstadt Finnlands und zugleich sein geistlicher, administrativer, wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt. Bis heute ist Turku der Sitz des evangelischlutherischen Erzbischofs von Finnland. Heutzutage hat die Stadt von Turku ca. 180 000 Einwohner und insgesamt 300 000 Einwohner in ihrem Ballungsraum. Im Jahre 2011 war Turku
neben Tallinn/Reval die Kulturhauptstadt Europas und erzielte dabei eine Anzahl von beinahe zwei Millionen Besuchern. Turku hat zwei Universitäten, eine finnischsprachige und eine
schwedischsprachige, sowie ein starkes Geschäfts- und Kulturleben. – Im Folgenden Auskünfte über historische Gegenstände in Turku und seiner Umgebung, die hinsichtlich der Reformation von Wichtigkeit sind.
1. Dom von Turku
An dem Fluss Aura steht der Dom von Turku (finn. Turun tuomiokirkko), der das bedeutendste finnische Kirchengebäude ist und zugleich als das nationale Heiligtum Finnlands gilt. Der
Dom, der aus Feld- und Backstein im romanischen und gotischen Stil aufgeführt ist, wurde
vermutlich im Jahre 1300 eingeweiht. Während der Jahrhunderte ist das Gebäude mehrmals
umgebaut worden, und seine heutige Erscheinung stammt im Wesentlichen aus dem 15. Jahrhundert; allerdings wurde die neugotische Turmspitze nach dem großen Stadtbrand von 1827
von dem deutschen Architekten Carl Ludwig Engel entworfen. Der Dom ist der Jungfrau
Maria, auf welche auch das Monogramm AM (‚Ave Maria‘) auf dem Turkuer Stadtwappen
hinweist, und dem Bischof Heinrich, dem Nationalheiligen der Finnen, der auf einer Missionsreise in den 50-er Jahren des 12. Jahrhunderts den Märtyrertod starb, gewidmet. In der
katholischen Zeit hatte der Dom insgesamt 42 Heiligenschreine: Neben der Jungfrau Maria
und dem Hl. Heinrich gab es einen Schrein u. a. für die Heiligen Erich, Christophorus, Maria
Magdalena, Katharina von Alexandrien, Katharina von Siena, Birgitta, Ursula, Margareta,
Barbara, Helena, Anna, Gertrud und Veronika. Als für die Heiligenschreine kleine Seitenkapellen um die Kirche herum gebaut wurden, wurden die Fenster der Seitenschiffe endlich
verdeckt, weshalb die Gewölbe des Mittelschiffes erhöht wurden, um neue Fenster oberhalb
der Dächer der Seitenschiffe anzubringen; damit erhielt das Interieur des Doms sein heutiges
hochgewölbtes Aussehen. Nach der Reformation wurden die Seitenkapellen zu Grabgewölben für prominente Persönlichkeiten umgebaut. Der Dom diente als Grabkirche von der Einweihung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, und dort liegen schätzungsweise 4500 Men1
schen begraben, u. a. die schwedische Königin Karin Magnustochter (finn. Kaarina Maununtytär, schwed. Karin Månsdotter) und die Bischöfe von Turku. Von den Reliquien des Doms,
die teils auf die Zeit um Christi Geburt, teils auf das Mittelalter zurückgehen, sind 90 bis heute erhalten; eine von ihnen ist ein Schädel, der als der des Hl. Heinrich vermutet wird. Im
Jahre 1514 fand in dem Dom der letzte große katholische Festakt vor der Reformation statt,
als der 1366 gestorbene Bischof Hemming seliggesprochen wurde. Der letzte Bischof von
Turku, der vom Papst ernannt wurde, war Arvid Kurki, der 1522 starb; der letzte als katholisch angesehene Bischof war der 1550 verstorbene Martin Skytte, der sich aber schon für
eine gemäßigte Reformierung der Kirche einsetzte.
2. Schloss von Turku
An der Mündung der Aura liegt das größte mittelalterliche Gebäude Finnlands, das ursprünglich im 13. Jahrhundert als Burg angelegte Schloss von Turku (finn. Turun linna). Die ereignisreichste Zeit seiner Geschichte ist mit der Reformation verbunden: Der schwedische König Gustav I. Wasa, der 1527 die Reformation in seinem Reich begonnen hatte, ordnete einen
umfangreichen Umbau und eine Erweiterung der alten Burg von Turku an, um den vorwiegend zum Verteidigungszweck errichteten Bau den Erfordernissen der höfischen Repräsentation anzupassen. 1556 ließ sich sein zweitältester Sohn Johann, Herzog von Finnland, auf
dem Schloss nieder, um dort einen prunkvollen Renaissancehof zu führen. Als Gustav 1560
starb, bestieg der Kronprinz Erich, der ältere Bruder Johanns, den schwedischen Thron als
König Erich XIV. Die beiden Brüder entzweiten sich 1562, als Johann Katharina Jagellonica,
Tochter des polnischen Königs, heiratete und auf das Schloss von Turku brachte, während
das lutherische Schweden unter Erich gegen das katholische Polen Krieg führte. 1563 musste
Johann sich ergeben, nachdem das Heer Erichs das Schloss drei Monate lang belagert hatte.
Johann wurde mit Katharina nach Stockholm in Gefangenschaft gebracht. In Stockholm gelang es aber Johann, Erich vom Thron zu stürzen, und so wurde er 1568 als Johann III. zum
König gekrönt. Nun wurden wiederum Erich und dessen Gemahlin Karin Magnustochter gefangen; 1570–1571 diente das Schloss von Turku als ihr gemeinsames Gefängnis. Als Johann
1592 starb, folgte ihm Sigismund, Sohn von ihm und Katharina, der bereits König von Polen
geworden war. Dies führte bald zum Krieg, denn Herzog Karl, der jüngste der Söhne Gustavs, setzte sich dem katholischen Sigismund aus Furcht vor der Gegenreformation entgegen,
wohingegen der Adel in Finnland unter dem Statthalter Klaus Fleming Sigismund treu blieb.
Das Schloss von Turku wurde 1597 und 1599 belagert, und endlich wurden die finnischen
Anhänger Sigismunds besiegt. Danach verlor das Schloss von Turku seine machtpolitische
Bedeutung. In den folgenden Jahrhunderten wurde das Schloss für verschiedene Zwecke
verwendet. Heute ist es zum Museum umgebaut und zählt zu den beliebtesten historischen
Sehenswürdigkeiten Finnlands.
3. Kapelle des Heiligen Geistes
Unweit von dem Dom von Turku auf der anderen Seite der Aura befindet sich unterirdisch
die Kapelle des Heiligen Geistes (finn. Pyhän Hengen kappeli). Die neulich eingeweihte
ökumenische Kapelle ist auf den Überresten des Chors der ehemaligen Kirche des Heiligen
Geistes gebaut, die bei archäologischen Grabungen in den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts
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entdeckt wurden. Der Bau der Kirche wurde 1588 von König Johann III. angefangen, doch
wegen mangelnder Finanzierung nie zu Ende geführt, und die unvollendete Kirche wurde um
die Mitte des 17. Jahrhunderts abgerissen und geriet in Vergessenheit. An derselben Stelle lag
im Mittelalter vor der Kirche wiederum das Haus des Heiligen Geistes, das von dem Hospital
des Heiligen Geistes, einer Stiftung zur Pflege der Armen und Kranken, unterhalten wurde,
aber dessen Tätigkeit durch die Reformation ein Ende fand.
4. Bischofsburg von Kuusisto und Klosterkirche von Naantali
Im Bezirk der Stadt von Kaarina (schwed. S:t Karins), ca. 17 Kilometer von Turku, liegen die
Ruinen der Bischofsburg von Kuusisto (finn. Kuusiston linna). Die um die Wende des 13.
und 14. Jahrhunderts errichtete Burg diente in der katholischen Zeit als Residenz der Bischöfe von Turku. 1528 ordnete König Gustav I. die Zerstörung der Burg an, weil er fürchtete,
dass sie zum Stützpunkt der Gegenreformation werden könnte, und seitdem ist sie eine Ruine. Die Burg erlebte ihre Blütezeit unter Magnus Tawast (finn. Maunu Tavast), der in der
ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Bischof von Finnland war. Der Bischof Tawast gründete
auch 1438 ein Birgittenkloster in Naantali (lat. Vallis Gratiae, schwed. Nådendal), ca. 18 Kilometer von Turku entfernt. Die Wirksamkeit des Klosters erlosch mit der Reformation, aber
die ehemalige aus Feldstein gebaute Klosterkirche dient bis heute als Gemeindekirche von
Naantali. Die Ruinen der Bischofsburg von Kuusisto sind wiederum seit dem späten 19.
Jahrhundert eine beliebte archäologische Sehenswürdigkeit.
5. Michael Agricola und andere finnische Wortgewaltige
Michael Agricola (ca. 1510–1557) war der Reformator Finnlands und seit 1554 der erste lutherische Bischof von Turku. Zugleich wurde er auch zum Gründer der finnischen Schriftsprache. In den Jahren 1536–1539 studierte er in Wittenberg als Schüler von Philipp Melanchthon, Johannes Bugenhagen und Martin Luther. Im Geiste der Reformation fing er an, die
Bibel in die Sprache des Volkes zu übersetzen: Das finnische Neue Testament, das er in Anlehnung an Luther übersetzte, wurde 1548 in Stockholm gedruckt. Das Alte Testament konnte er teilweise ins Finnische übersetzen. Sein Abckiria (‚Abc-Buch‘), das 1543 zum ersten
Mal aufgelegt wurde, enthält eine Fibel sowie einen Katechismus auf Finnisch. Im Jahre
1544 veröffentlichte er ein finnisches Gebetbuch unter dem Titel Rucouskiria, zu dessen
Quellen neben der Bibel u. a. Thomas von Kempen, Erasmus und Luther zählen. Im Jahre
1549 erschienen seine drei Kirchenagenden, und zwar Castesta ia muista Christikunnan Menoista (Taufe und andere Zeremonien), Messu eli Herran Echtolinen (Abendmahl) und Se
meiden Herran Jesusen Christusen Pina, ylesnousemus ia taiuaisen astumus (Passionsgeschichte), die als praktische Hilfsmittel für finnische Gottesdienste gemeint waren. Agricolas
vielseitige literarische Tätigkeit zeigt sich auch darin, dass die Vorrede zu seiner 1551 gedruckten finnischen Übersetzung der Psalmen Davids, Dauidin Psalttari, eine Beschreibung
der altfinnischen heidnischen Gottheiten enthält. Zu weiteren Autoren, die in Turku während
der Reformationszeit wirkten, zählen u. a. der Bischof Paulus Juusten, der 1574 einen finnischen Katechismus drucken ließ, sowie der Rektor der Domschule Jacob Finno, der 1583 ein
Gesangbuch, ein Gebetbuch und einen Katechismus auf Finnisch veröffentlichte.
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Dom von Turku, Blick von der Südseite. Foto: TUCEMEMS/Tuomo Fonsén.
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Interieur des Doms von Turku. Foto: TUCEMEMS/Tuomo Fonsén.
5
Schloss von Turku, Schlosshof. Foto: Museumszentrum Turku/Martti Puhakka.
Schloss von Turku, Blick von der Westseite. Foto: Museumszentrum Turku/Martti Puhakka.
6
Kapelle des Heiligen Geistes. Foto: Benito Casagrande.
Ruinen der Bischofsburg von Kuusisto. Foto: Stadt von Kaarina.
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Turm der Klosterkirche von Naantali. Foto: Gemeinde von Naantali/Hanne Tuulos.
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Klosterkirche von Naantali. Foto: Gemeinde von Naantali/Hanne Tuulos.
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”Se Wsi Testamenti”. Das finnische Neue Testament von Michael Agricola 1548.
Foto: TUCEMEMS/Tuomo Fonsén.
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