Raus – und nun? - Frontier Economics

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Raus – und nun? - Frontier Economics
Raus – und nun?
EINSCHÄTZUNG ZUM VERLAUF DES BREXITS
Im ersten unserer Bulletins zu den Folgen des britischen Votums für den Austritt
aus der Europäischen Union beleuchtet Frontier Vorstand Gus O’Donnell
verschiedene Optionen, die sich den Unternehmen und politischen
Entscheidern in Europa bieten. Bevor Gus 2013 zu Frontier stieß, hat er unter
drei verschiedenen britischen Premierministern als Kabinettssekretär gedient.
Er verfügt über umfangreiche Erfahrung in britischer und europäischer Politik
und Gesetzgebung und hat in seiner Zeit als Kabinettssekretär zahlreiche
Krisensituationen bewältigt. Im Folgenden setzt sich Gus mit der Frage
auseinander, ob ein „harter“ oder „weicher“ Brexit wahrscheinlicher ist, und
welche Wirtschaftszweige am meisten davon betroffen sein werden.
Nach den anfänglichen Turbulenzen, die auf die Entscheidung der britischen Wähler zu einem
Austritt aus der Europäischen Union (mit einem Vorsprung von 3,8 % bei einer Wahlbeteiligung von
72 %) folgten, haben sich die Märkte angesichts eines möglichen „weichen“ Brexits leicht stabilisiert.
Man geht offenbar davon aus, dass die neue britische Premierministerin nach einem offenen Zugang
zum Binnenmarkt streben wird, auch wenn sie beim Thema Immigration etwas nachgeben muss.
Es ist unschwer zu erkennen, warum wirtschaftliche Gründe Großbritannien dazu bewegen könnten,
diesen Weg einzuschlagen. Noch ist ungewiss, ob die Märkte mit ihrer Vermutung Recht behalten
werden oder sie – wie bei dem Referendum selbst – mit einer weiteren Überraschung rechnen
müssen. Erste Anzeichen sprechen für eine harte Verhandlungsstrategie der EU. Sie soll die
abschreckende Wirkung der britischen Entscheidung maximieren und wird vielleicht auch von den
anstehenden Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland im kommenden Jahr
befeuert. In Großbritannien selbst sind gerade erst die Wahlen zum Vorsitz der Regierungspartei
abgeschlossen worden, begleitet von Unruhe in der größten Oppositionspartei. Nun, da politische
Entscheidungsträger in ganz Europa versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen, beleuchtet diesers
Bulletin die Folgen verschiedener Szenarien.
Großbritannien hat sich – bisher – noch nicht dazu entschlossen, Artikel 50 des Lissabon-Vertrags
zu aktivieren, der den zweijährigen Austrittsprozess in Gang setzen würde. Ex Premierminister David
Cameron hat ein Team zusammengestellt, das die verschiedenen Optionen prüfen und
Informationen für die Verhandlungsstrategie seines Nachfolgers liefern soll. In der Zwischenzeit hat
auch die EU einen Arbeitskreis ins Leben gerufen, der die Verhandlungen unterstützen wird.
Wie steht es mit dem britischen Parlament? Es wird vermutlich darauf bestehen, zunächst die
britische Brexit-Strategie zu erörtern, bevor Artikel 50 in Kraft gesetzt wird. Da die Mehrheit der
Mitglieder beider Kammern für den Verbleib in der EU gestimmt hat, steht zweifellos eine hitzige
Debatte bevor. Darüber hinaus argumentieren einige Verfassungsjuristen, dass Artikel 50 ohne einen
entsprechenden Parlamentsbeschluss überhaupt nicht in Kraft treten könne. Auch wenn ein solcher
Entscheid, so umstritten seine Verabschiedung wäre, aus rechtlicher Sicht letztlich doch nicht
zwingend nötig sein sollte, könnte er dennoch politisch von entscheidender Bedeutung sein.
Eine der ersten Aufgaben für Philip Hammond, Schatzkanzler in Theresa Mays neuem Kabinett,
besteht in der Vorbereitung auf das „Autumn Statement“, der herbstlichen Zwischenbilanz für den
laufenden Haushalt. Auch wenn er bestreitet, dass es sich um ein „Notfall-Budget“ handeln wird,
bleibt es eine Herausforderung – insbesondere, da der Haushaltsplan zeitlich mit der
Veröffentlichung der Konjunkturprognose des britischen „Office for Budgetary Responsibility“ (OBR)
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zusammenfällt. Vorrausichtlich wird das OBR mit dem Chef der britischen Zentralbank
übereinstimmen, dass auch wenn die Auswirkungen des Brexits auf die Inflation zwiespältig sein
mögen (mit einem schwächeren Pfund und einer geschwächten Ökonomie als ausgleichende
Gegengewichte), er dennoch die Wachstumschancen Großbritanniens für eine Weile belasten wird.
Die Aussicht auf ein geringeres Wachstum und ein größeres Defizit haben die neue britische
Regierung bereits dazu veranlasst, die früheren Pläne zum Erlangen eines Haushaltsüberschusses
bis 2020 aufzugeben. Vor dem Votum hatte das Institut für Steuerstudien geschätzt, dass der Brexit
die Staatsfinanzen bis 2019-20 mit Netto-Einbußen von rund 20-40 Milliarden Pfund pro Jahr
belasten werde. Durch den Austritt aus der EU wird Großbritannien mehr Freiheiten bei der
Festlegung von Steuern und der Verteilung der Ausgaben haben, doch die Prognostiker werden mit
großer Sicherheit der Regierung mitteilen, dass sie ein bedeutendes Loch zu stopfen hat.
Was geschieht als Nächstes?
Großbritanniens neue Premierministerin Theresa May hat angekündigt, Artikel 50 nicht vor Ende des
Jahres aktivieren zu wollen. Eine Verzögerung, die manch andere EU-Mitgliedsstaaten erbost. Doch
sobald der Artikel in Kraft tritt, läuft die Zeit. Wenn zwei Jahre nach Aktivierung keine Einigung erzielt
werden kann (und sofern sich nicht die 27 verbleibenden EU Mitgliedsstaaten einstimmig zu einer
Fortführung der Verhandlungen aussprechen), wird der Handel zwischen Großbritannien und der EU
von den Richtlinien der Welthandelsorganisation (WTO) geregelt. In
diesem Fall würden Großbritannien und die EU sich gegenseitig jene
Bestimmungen auferlegen, die sie für alle Länder anwenden, die kein
präferenzielles Handelsabkommen mit der EU haben.
Kraftfahrzeuge,
landwirtschaftliche
Erzeugnisse und
Bekleidung wären
ganz besonders
von einer Rückkehr
zu den WTORichtlinien belastet.
Es gibt viele Gründe, warum ein solches Ergebnis für beide Seiten
wenig attraktiv sein dürfte – und vor allem nicht für Großbritannien. Da
ist zunächst der Verlust des zollfreien Warenzugangs. Dies würde
vermutlich dazu führen, dass der Preis für Güter steigt, die von
Großbritannien nach Kontinentaleuropa oder in Gegenrichtung
exportiert werden, was Exporteure dieser Waren aus Nicht-EU-Ländern
begünstigt. Kraftfahrzeuge, landwirtschaftliche Erzeugnisse und
Bekleidung wären hiervon besonders betroffen. Ein weiterer Aspekt
sind die Auswirkungen auf den Dienstleistungsverkehr, dem mit
Abstand größten Sektor der britischen Wirtschaft, und zudem eine
Branche mit bedeutendem Exportüberschuss. Hier sind die zu
erwartenden Hindernisse schwerer zu beziffern, da viele von ihnen
regulatorischer Art sind. Besonders schwerwiegend könnte der Verlust des freien Zugangs für
Finanzdienstleister und Luftfahrt sein (siehe unten). Und auch wenn freier Personenverkehr mitunter
als „Preis“ für den Zugang zum Binnenmarkt gilt, erleichtert er doch oft bedeutend den
Dienstleistungsverkehr.
Dies erklärt die angestrengte Suche nach anderen Lösungen. Realistisch betrachtet würden nur ein
paar Varianten der sogenannten „Norwegen-Option“ – eine Mitgliedschaft im Europäischen
Wirtschaftsraum (EWR) – Großbritannien und der übrigen EU Handelsbedingungen bieten, die dem
Status Quo gleichkommen. Ein Freihandelsabkommen im „kanadischen Stil“ würde insbesondere
Dienstleistungen nicht den gleichen Zugang ermöglichen, und das Freihandelsabkommen der Türkei
beschränkt sich auf Waren. Die Schweiz verfügt über eine Reihe bilateraler Vereinbarungen, aber
keinen vollständig freien Waren- und Dienstleistungsverkehr, und sie verhandelt mit der EU derzeit
über die Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Mit dem norwegischen Modell würden sich Großbritannien und die EU zu einem freien Verkehr von
Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen verpflichten, der im Wesentlichen den
gegenwärtigen Arrangements entspricht. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Großbritannien
dem Rest der Welt seine eigenen Zölle vorgeben könnte. Diese Zölle dürfen nicht überschreiten, was
die EU mit der WTO ausgehandelt hat, da Großbritannien diese Vereinbarungen übernimmt.
Dennoch könnte Großbritannien aber Zölle senken oder abschaffen.
Die größte Herausforderung für Großbritannien bestünde darin, dieses „sanfte“ Brexit-Modell mit den
Versprechungen der Referendumskampagne in Einklang zu bringen.
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Erstens, hinsichtlich der Wiedergewinnung von Befugnissen: Großbritannien müsste
regelmäßig Gesetze und Regulierungen anpassen, um sicherzustellen, dass sie sich im Einklang
mit dem „Acquis Communautaire“ befinden (dem gesamten Rechtssetzungswerk der EU), bei
dem es selbstverständlich kein Mitspracherecht mehr hätte.
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Zweitens, hinsichtlich des EU-Haushalts: Großbritannien müsste weiter zum EU-Budget
beitragen (wie auch die Schweiz mit ihrem eigenen bilateralen Modell).
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Drittens (und besonders schwierig), hinsichtlich der Einwanderung: Die EU hat klar
gemacht, dass Freizügigkeit eine Voraussetzung für den Zugang zum Binnenmarkt ist, und
tatsächlich ist es (bisher) keinem Land gelungen, Zugang zum Binnenmarkt zu finden, ohne
dieses Prinzip anzuerkennen. Quoten oder ein Punktesystem in der Art, wie es von einigen
Befürwortern des Brexits angeregt worden ist, wären damit nicht vereinbar.
Die größte Herausforderung für die EU besteht in dem Risiko, dass das norwegische Modell als ein
Gewinn im Falle eines Austritts betrachtet werden könnte und so die Forderung anderer
Mitgliedsstaaten nach weiteren Austritts-Referenden stärkt. Dem wird
mit wirtschaftlichen Einbußen der Länder entgegengewirkt werden
müssen, entweder durch ein härteres Brexit-Modell oder eine
Aufhebung der WTO-Richtlinien. Der Ausgang ist zu diesem Zeitpunkt
schwer vorherzusehen, aber jede Vereinbarung wird eine qualifizierte
Alles in allem klingt Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten erfordern, was wiederum die
Verhandlungsposition jener Mitglieder stärkt, die ein Modell mit härteren
das norwegische
Brexit/WTO-Richtlinien bevorzugen.
Modell eher nach
„Brenegotiation“ als
nach „Brexit“.
Alles in allem klingt das norwegische Modell eher nach „Brenegotiation“
als nach „Brexit“. Aber wenn dies hingenommen werden kann, bietet
sich Raum für Kompromisse. Bei der Immigration etwa hat die Schweiz
– die den freien Personenverkehr sogar ohne das Gesamtpaket des
Binnenmarktzugangs akzeptiert hat – jüngst auf einen Schutzmechanismus gedrungen, als Folge
eines eigenen Referendums im Jahre 2014 zu einer quantitativen Einwanderungskontrolle.
Der Teufel steckt im Detail
Die Aussicht auf jahrelange Verhandlungen macht es Unternehmen schwer, die BranchenAuswirkungen und allgemeinen ökonomischen Risiken zu erfassen. Verärgerung über Brüssel und
dessen vermeintlichen Regulierungseifer haben zumindest Teile der Brexit-Kampagne bestimmt.
Daher besteht Grund zur Annahme, dass die britische Regierung im Zuge des Referendums die Last
sektoraler Regulierungen erleichtern oder sie wenigstens besser den Bedürfnissen britischer
Unternehmen und Konsumenten anpassen wird. Da Großbritannien häufig als Neinsager in Brüssel
aufgetreten ist, könnte man ebenfalls davon ausgehen, dass die Europäische Kommission nun die
Regulierung mehr den Wünschen der restlichen EU annähert. Doch zweifellos ist die Aufgabe für
beide Seiten enorm komplex.
Man nehme beispielsweise die Wettbewerbsregeln, die alle Bereiche der Wirtschaft betreffen. Auf
den ersten Blick scheint es, als ob der Brexit sowohl in Großbritannien als auch in der EU nur wenige
Auswirkungen auf dieses Regelwerk hätte. Man könnte von einem britischen „EU-plus“-System
sprechen, das die gleichen Bereiche wie die Europäische Kommission abdeckt, aber über
zusätzliche Vollmachten zur Durchführung von Marktuntersuchungen verfügt. Davon abgesehen
bestehen viele Ähnlichkeiten zwischen den analytischen Bewertungsrahmen und Instrumenten, mit
denen die britische Wettbewerbsbehörde (CMA) Fusionen und potentielle Verstöße gegen das
Wettbewerbsrecht bewertet, und jenen, die von der Kommission eingesetzt werden.
Doch wenn man genauer hinschaut, kommt ein anderes Bild zum Vorschein. Bei Fusionen, Kartellen
oder dem Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung bestünde die Möglichkeit, dass
Unternehmen, die sowohl in der EU als auch in Großbritannien aktiv sind, zeitgleich von der
europäischen Kommission und der der britischen Wettbewerbsbehörde (CMA) untersucht werden.
Die Firmen sähen sich auf diese Weise nicht nur mit mehr Formalitäten, sondern auch mit dem
Risiko einer doppelten Strafverfolgung konfrontiert. Außerdem stellt sich die Frage, ob das bisher
eng verbundene britische und europäische Wettbewerbsrecht nicht im Laufe der Zeit
auseinanderdriften würde. Der französische Präsident François Hollande hat bereits angeregt, einige
EU-Wettbewerbsregeln im Post-Brexit-Zeitalter „anzupassen“ – er wird damit auf den Widerstand
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jener Mitgliedsstaaten stoßen, die traditionell eher den britischen Prinzipien zugeneigt sind.
In jenen Teilen der Wirtschaft, die besonderen regulatorischen
Bestimmungen unterliegen, könnte es für Großbritannien eine noch
größere Herausforderung darstellen, die Vorteile einer möglichen
neuen Flexibilität durch den Brexit zu nutzen.
Finanzdienstleistungen
Diese Branche fürchtet am meisten die nachteiligen Auswirkungen auf
Großbritannien – vom Verlust des Zugangs zu europäischen Märkten
bis zu dem Risiko, dass Rezession und fallende Immobilienpreise
Kreditausfälle
ansteigen
lassen.
Der
Verfall
gewerblicher
Immobilienfonds illustriert eindrücklich nicht nur die Angst vor einem
Wirtschaftsabschwung, sondern auch die Sorge, dass Londons Status
als Europas führender Finanzplatz in Gefahr ist.
Britisches und
europäisches
Wettbewerbsrecht
– bisher eng
verbunden –
könnten mit der
Zeit auseinanderdriften.
Die in Großbritannien ansässigen Banken verfügen über mehr Kapital
und sind besser auf einen solchen Abschwung vorbereitet, als sie es
noch vor der Finanzkrise waren. Doch die Rentabilität wird genauso
davon betroffen sein, wie ihre Fähigkeit, Kapital zu beschaffen, oder die
Verfügbarkeit von Krediten in der Wirtschaft. Und auch die weniger robusten europäischen
Finanzinstitute – wie Italiens angeschlagene Banken – haben die Schockwirkungen des Brexit zu
spüren bekommen.
Der City of London steht eine Zeit der Ungewissheit bevor, nicht zuletzt da das britische System der
Finanzregulierung in hohem Maße in das der EU integriert ist. Großbritannien wird einen Großteil
seiner Finanzregulierung zu einem Zeitpunkt neu gestalten müssen, an dem eine ganze Reihe
europäischer Direktiven im Begriff sind umgesetzt zu werden. Großbritannien hat bisher eine
Schlüsselrolle in der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) gespielt, wird
sich aber nun unter Umständen aus diesem EU-Organ zurückziehen.
Es gilt festzuhalten: Der neuen britischen Regierung sollte es ein besonders dringliches Anliegen
sein, über den Umgang der in Großbritannien ansässigen Unternehmen und der britischen
Regulatoren mit jenen EU-Regulierungen zu entscheiden, die demnächst umgesetzt werden sollen –
um allen Anforderungen gerecht zu werden, die gesetzlichen Auflagen zu erfüllen und gleichzeitig
die Implementierung komplexer Regularien zu vermeiden, die in Kürze ohnehin wieder aufgehoben
werden. Auch das zentrale Problem des europäischen Bankenpasses muss dringend angegangen
werden. Europäische Banken, die in Großbritannien aktiv sind, sollten sich vermutlich darauf
vorbereiten, innerhalb zwei verschiedener Regulierungssysteme tätig zu sein – dem von
Großbritannien und dem der EU.
Luftfahrt
Eine Industrie, die auf internationaler Konnektivität beruht, wird in besonderem Maße vom Brexit
betroffen sein – das gilt sowohl für Passagiere als auch für Fluggesellschaften. Zunächst werden vor
allem die britischen Konsumenten und Reiseveranstalter die Folgen zu spüren bekommen, da der
Verfall des britischen Pfunds Reisen ins Ausland teurer machen und zu einer Erhöhung von
Treibstoffpreisen und Gebühren führen wird. Doch der Austritt aus der EU wirft auch die Frage nach
den Verkehrsrechten auf, die es britischen Fluggesellschaften erlauben, innerhalb der EU und
darüber hinaus zu operieren. Großbritannien sollte daher mit Hochdruck die weitere Mitgliedschaft im
Gemeinsamen Europäischen Luftverkehrsraum (ECAA) verhandeln, der es allen Fluggesellschaften
seiner Mitglieder erlaubt, Flüge zwischen den jeweils anderen Mitgliedsländern anzubieten.
Ohne diese Genehmigung wären alle Strecken zwischen Drittländern in Gefahr, die von
britischstämmigen Fluggesellschaften wie z.B. easyJet bedient werden – eine Entwicklung, die einen
breiten Querschnitt der europäischen Fluggäste treffen würde. Im Grunde könnte jeder ECAAVertragspartner einer fortgesetzten britischen Mitgliedschaft widersprechen, darunter vielleicht auch
Staaten, deren Fluggesellschaften im Kampf mit Konkurrenten wie easyJet schlecht abgeschnitten
haben. Außerdem stellt sich die Frage nach bilateralen Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und
Drittländern, insbesondere den transatlantischen Verkehrsrechten. In Anbetracht dieser
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Ungewissheit überrascht es nicht, dass das Referendum den
Aktienkursen von easyJet und IAG einen Schlag versetzt hat.
In der Zwischenzeit wurde die immer wieder verschobene
Entscheidung zur Ausweitung der Flughafenkapazitäten im Großraum
London – einem der europäischen Verkehrsbrennpunkte – zu einem
weiteren Opfer der Unsicherheit im Zuge des Brexit-Votums und
zwangsläufig bis zur Neubildung der britischen Regierung vertagt.
Der Austritt aus der
EU wirft Fragen
Es gilt festzuhalten: Es ist für die britische Luftfahrtindustrie von
nach den
essenzieller Bedeutung, die britische Mitgliedschaft in der ECAA
Verkehrsrechten
fortzuführen und damit auch die Optionsvielfalt für alle europäischen
auf, die es
Passagiere, die nach oder von Britannien fliegen, zu erhalten.
britischen
Fluggesellschaften Telekommunikation
Die Ökonomie des Telekommunikationssektors wird von einem EUerlauben, in
weiten Regulierungsrahmen definiert. Auch wenn der britische
Übersee zu
Regulator Ofcom seine Grundprinzipien weiter anwenden wird, kann
operieren.
die finale Vereinbarung zwischen der EU und Großbritannien dem
Vereinigten Königreich mehr Freiheiten bei der Auslegung
verschiedener Regelungen einräumen, wie etwa in Bezug auf die
strukturelle Trennung vertikal integrierter Telekommunikationsanbieter.
Dennoch verringert der Brexit auch die Möglichkeiten von Ofcom, Einfluss auf den von der EU
vorgegebenen Rahmen zu nehmen. Änderungen am Handelsabkommen für Dienstleistungsanbieter
könnten die Position britischstämmiger Unternehmen beim Verkauf von Kommunikationsdiensten an
internationale Großkonzerne schwächen. Die europäischen Konsumenten werden abwarten müssen,
ob die Preisregulierung für Datenroaming-Dienste auch künftig bei Reisen zwischen Großbritannien
und den verbleibenden Mitgliedsstaaten gilt.
Die Nachfrage nach Telekommunikationsdienstleistungen reagiert häufig sensibler auf eine
wirtschaftliche Flaute als die nach anderen infrastrukturbasierten Diensten. In Verbindung mit der
allgemeinen Unsicherheit hinsichtlich des künftigen Zugangs zu europäischen Mitteln könnte dies
wiederum das britische Programm zum Breitbandausbau beeinträchtigen – eine Maßnahme, bei der
Großbritannien ohnehin bereits hinter anderen konkurrierenden Nationen zurückliegt.
Es gilt festzuhalten: Die neue britische Regierung und Ofcom müssen aktiv werden, damit sich
Investitionen zum Ausbau der Telekommunikationsinfrastruktur in den Zeiten der Ungewissheit nach
dem Brexit-Votum nicht verzögern. Großbritannien wird voraussichtlich weniger Einfluss auf die
Gestaltung neuer EU-Telekommunikations-Regularien haben.
Energie
Für Großbritannien – einen Nettoimporteur von Energie – werden die deutlichsten unmittelbaren
Auswirkungen vermutlich in einer verringerten Nachfrage bestehen, gepaart mit einem
verlangsamten wirtschaftlichen Wachstum sowie – trotz des schwachen Ölpreises – in einem Anstieg
der Energiepreise für Haushaltskunden aufgrund des britischen Währungsverfalls (auf ein 30Jahrestief). Unterdessen wird steigende Ungewissheit Investoren voraussichtlich dazu veranlassen,
beim Bau neuer Anlagen, die Großbritanniens Masse veralteter Kernkraftwerke ersetzen sollen, eine
höhere Rendite zu fordern. Angesichts des schwachen Euros können auch andere EU-Staaten
ähnliche (wenn auch weniger deutliche) Nachfrage- und Währungseffekte zu spüren bekommen.
In Großbritannien könnten erhöhte Stromrechnungen privater Haushalte Bedenken zur Bezahlbarkeit
von Energie neu entfachen. Dies würde den Druck auf die neue Regierung erhöhen, die
Energiesteuern zu senken (was zwar außerhalb der EU leichter fallen wird, aber nicht dazu beiträgt,
Staatsfinanzen zu sanieren oder Energieeinsparungen zu fördern).
Der Lobby der erneuerbaren Energien wir der Druck auf den Staatshaushalt und die gesteigerte
Verunsicherung am Markt Sorgen bereiten. Auch wenn sich die Energiepolitik der EU im Zuge des
Brexits wohl kaum ändern wird, stehen Europa administrative Herausforderungen bevor – etwa die
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Anpassung der EU-Klimaziele und des EU-Emissionshandels an die
verkleinerte Union, falls Großbritannien sich aus diesen Bereichen der
EU-weiten Energiepolitik zurückziehen sollte.
In Großbritannien
könnten höhere
Stromrechnungen
Bedenken zur
Bezahlbarkeit neu
entfachen.
Auch wenn der französische Investor EDF bereits signalisiert hat, dass
er an dem geplanten Bau eines neuen Kernreaktors am Hinkley Point
festhält, wird ein finaler Investitionsentscheid nicht vor Herbst getroffen
und so das schwierige Projekt weiter verzögert werden. Außerdem
kann die Ungewissheit über Britanniens Zugang zum Binnenmarkt auch
den Fortschritt beim Bau neuer Verbindungsleitungen ins Stocken
geraten lassen, die sonst Großbritannien ermöglicht hätten, sich dem
größeren europäischen Netz anzuschließen.
Es gilt festzuhalten: Nach dem Brexit ist es von entscheidender
Bedeutung, Klarheit in der Energiepolitik zu schaffen, um das Vertrauen
der Investoren zu stärken – in einer Zeit, in der Investitionen in Erzeugungskapazitäten dringend
benötigt werden. Der Folgen einer veränderten britischen Beteiligung an Klima- und CO2-relevanten
Gesetzen und Richtlinien wird zu klären sein.
Einzelhandel, Nahrungsmittel und Landwirtschaft
Die meisten großen Einzelhändler, die in Großbritannien tätig sind, werden vermutlich bereits vor
dem Referendum Schritte eingeleitet haben, um sich gegen das wahrscheinlichste Risiko im Falle
eines Votums für den Brexit abzusichern – dem Verfall des britischen Pfunds, der die Importpreise
erhöht. Ihre kaufmännischen Abteilungen dürfen in den kommenden Monaten ihre
Kostenbelastungen, ihre Vertragspositionen und das Risiko, dem sie weiterhin ausgesetzt sind, nicht
aus den Augen verlieren. Einkäufer wiederum müssen sich darauf gefasst machen, Preise bei Bedarf
anzupassen, und einen Plan entwickeln, wie Kosten weitergereicht werden können. Das Ausmaß
des britischen Währungsverfalls wird eine Fehlkalkulation von Kosten/Preisen sehr schnell sehr teuer
werden lassen. Für Händler im übrigen Europa können Wechselkursschwankungen eine
Gelegenheit bieten, britische Produkte zu noch attraktiveren Preisen anzubieten.
Auch wenn der Brexit nicht mit einer Erhebung wechselseitiger EU-Zölle enden sollte, bleibt es noch
völlig unklar, ob und wie Großbritannien von den europäischen Standards abweichen wird – etwa
hinsichtlich der Lebensmittelsicherheit, der Kennzeichnungspflicht oder Produktzertifizierung – oder
ob ein Handelsabkommen jegliche Änderung ausschließen wird. Ein „harter“ Brexit würde
unterdessen die Neuverhandlung gegenseitiger Handelsabkommen mit Drittländern, von denen
ebenfalls bedeutende Mengen an Waren bezogen werden, erforderlich machen. Händler und
Hersteller, die Geschäfte in oder mit Großbritannien betreiben, werden die Entwicklung der für sie
relevanten Regulierungen und Abkommen genau im Blick haben müssen.
Für britische Supermärkte und andere Nahrungsmittelhändler wird die Ungewissheit vergrößert
durch die Auswirkungen des Brexits auf die Landwirtschaft, dem derzeit größten Empfänger von EUSubventionen. Es handelt sich zudem um eine Industrie, die äußerst abhängig von Arbeitsmigranten
ist. Unterdessen setzt Großbritanniens geschrumpfte Fischereibranche große – vermutlich
unrealistisch große – Hoffnungen darauf, dass die Unabhängigkeit von europäischen
Vereinbarungen ihre Aussichten verbessern wird.
Es gilt festzuhalten: Einzelhändler müssen weiterhin aufmerksam die Auswirkungen schwankender
Wechselkurse auf ihr Geschäft verfolgen, da die Märkte im Hinblick auf einen bestmöglichen BrexitAusgangs auf politische Stimmungslagen reagieren. Die britische Regierung muss eine klare
Position hinsichtlich ihrer Standards beziehen und sicherstellen, dass Großbritanniens
Einwanderungspolitik keinem „Shopping-Tourismus“ im Wege stehen. Neue Standards und
Handelsabkommen werden für alle von Bedeutung sein, die Geschäfte in oder mit Großbritannien
betreiben.
Produktion
Theoretisch sind die britischen Produzenten die Hauptbegünstigten des Verfalls der britischen
Währung, je nachdem, wie sehr sie von importierten Rohstoffen abhängig sind. Schwankende
Kursentwicklungen im Zuge des Brexit-Votums – mit einem FTSE 100 Index aus hauptsächlich
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internationalen Unternehmen, der sich auf dem Niveau von vor den
Wahl erholt – verdeutlichen die Auffassung des Marktes, dass
Exporteure viel zu gewinnen haben, zumindest wenn ihre Profite in
britischem Pfund dargestellt werden.
Doch der Ausgang der politischen Beschlüsse zum weiteren Verlauf
des Brexits wird die Höhe der Zölle, die diese Hersteller erwarten,
entscheidend beeinflussen, während der Faktor der Ungewissheit
gleichzeitig Investitionen verzögern und auswärtige Kapitalanleger
abschrecken wird.
Es gilt festzuhalten: Gewissheit über den Verlauf des Brexits wird einen
großen Einfluss darauf haben, ob Großbritannien langfristig von einem
schwachen britischen Pfund profitieren kann.
Fazit
Theoretisch sind
die britischen
Produzenten die
Hauptbegünstigten
vom Verfall des
britischen Pfunds
nach dem BrexitVotum.
Diese Branchenbeispiele verdeutlichen die Unabwägbarkeiten und
Herausforderungen, denen sich nicht nur britische Firmen sondern
auch die EU-Unternehmen stellen müssen, die in Großbritannien aktiv sind, mit Großbritannien
Handel betreiben oder die sich im Wettbewerb mit britischen Unternehmen befinden. Sie
unterstreichen auch die Dringlichkeit, mit der nun, da eine neue Regierung im Amt ist, über den
weiteren Verlauf des Brexits entschieden werden muss. Wenn auch viele britische Politiker gerne
das Inkrafttreten von Artikel 50 hinauszuzögern würden, bis die Verhandlungsstrategie ihres Landes
vollständig steht, verschärft vermutlich eine lange Liste ungelöster Probleme das Risiko rückläufiger
Investitionen und eine Verlagerung der Geschäftsaktivitäten andernorts.
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