Frauen im Alter: Lust oder Frust? 9. Netzwerktagung
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Frauen im Alter: Lust oder Frust? 9. Netzwerktagung
Dokumentation Frauen im Alter: Lust oder Frust? 9. Tagung des Netzwerkes Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen am 1. Juni 1999 in Braunschweig Institut Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales Frau und Gesellschaft LANDESVEREINIGUNG FÜR GESUNDHEIT NIEDERSACHSEN E.V. Herausgegeben vom Niedersächsischen Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz 2 30159 Hannover Januar 2000 Die Referate und Berichte wurden unverändert übernommen und geben daher die Position der Autorinnen wider. Diese Broschüre darf, wie alle Publikationen der Landesregierung, nicht zur Wahlwerbung in Wahlkämpfen verwendet werden. Gedruckt auf 100% Recycling-Papier Vorwort Wie leben alte Frauen heute? Was sind ihre Bedürfnisse? Wie ist ihre gesundheitliche Situation? Wie steht es mit ihrer Lust, ihren Lastern und ihrem Frust? Diesen und anderen Fragen ist die hier dokumentierte Tagung des Netzwerkes „Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen“ nachgegangen. Wir leben in einer Zeit, in der Altersgrenzen neu definiert werden. Wann beginnt Alter? Früher wurden Frauen bereits mit Anfang vierzig Großmutter, waren oftmals nicht berufstätig und lebten mit entsprechenden Rollenerwartungen. Heute stehen sie im gleichen Alter vielfach mitten im Berufsleben und genießen nach der Phase, in der sie Beruf und Familie in Einklang bringen mussten, freiere Entfaltungsmöglichkeiten. Sie sind bis ins hohe Alter mobil, sportlich und geistig aktiv. Ältere Frauen haben zunehmend vielfältige Interessen und tun Dinge, die ihnen noch vor wenigen Jahren weder von ihren Familien noch von der Gesellschaft zugestanden wurden. Sie sind flexibler, offener und bereit, sich neuen Entwicklungen zu stellen. Zugleich entdecken die Frauen ihren Körper neu und nehmen mit gewachsener Sensibilität und größerem Wissen die Vorgänge in ihm wahr. Ziel der Tagung Frauen im Alter: Lust oder Frust? war es, das veränderte Lebensgefühl aber auch die Probleme, die alte Frauen haben können, zur Sprache zu bringen. Speziell ging es darum, krank machende Lebensumstände alter Frauen zu ergründen. So haben Untersuchungen ergeben, dass allein lebende alte Menschen deutlich häufiger krank sind, als solche, die in Gemeinschaften leben. Das Wissen um die eigenen körperlichen Vorgänge und die Zufriedenheit mit veränderter Sexualität können auf Dauer den Gesundheitszustand positiv beeinflussen. Die Medikalisierung natürlicher Körpervorgänge ist ein gesamtgesellschaftlich zu beobachtendes Phäno- men. Alte Frauen sind davon - im positiven wie im negativen Sinne - in besonderer Weise betroffen. Frauen haben eine höhere Lebenserwartung als Männer, u.a. vielleicht deshalb, weil sie eher als Männer auf ihren Körper „hören“ und sich frühzeitig behandeln lassen. Zugleich bekommen sie mehr häufiger auch falsche - Medikamente verordnet, insbesondere Psychopharmaka werden weit überwiegend Frauen verschrieben. Wechseljahresbeschwerden oder drohende Osteoporose werden - als typische „Krankheiten” alter Frauen - vorsorglich mit Hormonen bekämpft. Zu dieser Problematik, die bislang viel zu wenig diskutiert wurde, enthält diese Dokumentation überlegenswerte Beiträge. Ich hoffe, dass insbesondere in der Alten- und Krankenpflege Tätige sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren durch diese Broschüre Anregungen für ihren beruflichen Alltag erhalten und zur umfassenden Diskussion über einen neuen Umgang mit dem Alter ermutigt werden. Heidi Merk Niedersächsische Ministerin für Frauen, Arbeit und Soziales 1 Inhaltsverzeichnis Karin Wilkening / Anna Köster Frauen im Alter – das schwache Geschlecht? ............................................................ 5 Vera Herbst Arzneimittelverordnungen für Frauen über 60 Jahre ............................................. 11 Berichte aus den Arbeitsgruppen: AG I Frauen im Alter: Liebe und Sexualität Anneke Bazuin, PRO FAMILIA Landesverband Niedersachsen e. V. .......... 17 AG II Ich hätte ja nie gedacht, wie gut mir das tut Dr. Astrid Osterland, Freie Altenarbeit Göttingen ..................................... 19 AG III Häusliche Gewalt an Frauen im Alter: Was passiert, wenn der Ehemann in Rente geht? Ingrid Wedlich, Frauenberatungsstelle Braunschweig .............................. 23 AG IV In der Jugend Hysterie, im Alter HOPS (Hirnorganisches Psychosyndrom) Renate Ehlers, AKF-Regionalgruppe Braunschweig .................................. 25 AG V Älterwerden ist keine Krankheit – das Projekt Monika Fränznick, FeministischesFrauenGesundheitszentrum e. V. Berlin ... 29 Protokoll der Arbeitsgruppe ....................................................................... 32 AG VI Körperlichkeit von Frauen im Alter Anne-Bianca Büchner, Dipl. Geragogin, Braunschweig ............................. 33 Evaluation 1998: Rückblick und Ausblick Dr. Ingrid Helbrecht-Jordan, Institut Frau und Gesellschaft Ute Sonntag, Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e. V. .................. 34 Informationen zum Netzwerk .................................................................................. 40 3 Karin Wilkening / Anna Köster Fachhochschule Braunschweig / Wolfenbüttel Frauen im Alter – das schwache Geschlecht? 1. Entwicklungsbedingungen des Alterns Bei einer Tagung des Netzwerks Frauen- und Mädchengesundheit zu dem Thema „Frauen und Gesundheit im Alter” ist zunächst eine kurze allgemeine Information zum Thema Alter notwendig, bevor wir detaillierter auf spezifische Gesundheitsaspekte alternder Frauen eingehen. Ein vorangestellter Blick auf eigene Erfahrungshintergründe sowie ein abschließendes Resümee vervollständigen den Vortrag. Am Beginn steht die Frage: Wer sind eigentlich Frauen im Alter? Ich erinnere mich noch an die Diskussion im Vorbereitungskreis, dort wurde ziemlich kontrovers gesehen, wer denn eigentlich dazu gehört: Schon die 50-jährigen in der Menopause, die Verrenteten über 63 oder erst die über 75- jährigen? Der Beginn von Alter ist willkürlich, je nach betrachteter Altersdimension (vgl. Abb. 1). Betrachten wir in der Abbildung die Zellebene und die biologischen Systeme, die Sinnesorgane und die Gedächtnisleistungen? Oder verwenden wir andere Messwerte, z. B. für Persönlichkeitsdimensionen und Weisheit? Dann können wir entweder bereits von Geburt an altern, oder eher ab 20 und 30 oder erst nach 80 Jahren. Altern in der Gleichsetzung von Abbau ist nicht der Gegenpol von Entwicklung im Sinne von Wachstum. In jeder Lebensphase gibt es je nach betrachteter Dimension Gewinne und Verluste. Unter diesem Blickwinkel ist Alter als Zeitpunkt am besten zu ersetzen durch den Begriff des Alterns als ein lebenslanger Prozess. Dieser Prozess Abb. 1: Dimension der Entwicklung des Alters 100 Persönlichkeit und soziale Systeme 0 100 Weisheit und Selbsterkenntnis 0 100 Kognitive Systeme 0 100 WahrnehmungsSysteme 0 100 Biologische Systeme 0 20 Geburt Adoleszenz 40 Junge Erwachsene 60 Mittleres Erwachsenenalter 80 Späteres Erwachsenenalter Tod Maßeinheit der x-Achse = Jahre, Maßeinheit der y-Achse = Leistungsfähigkeit des jeweiligen Systems in % (Quelle: Münnichs, J. M. (1989), Internventionen: Eine notwendige Strategie für die Bewältigung des Alterns, S. 310. In: Baltes, M. M. et. al. (Hg.): Erfolgreiches Altern. Stuttgart: Enke. 5 wird in der Wissenschaft der Gerontologie interdisziplinär behandelt, das wollen wir beide mit unserem gemeinsamen Vortrag verdeutlichen. Wir bleiben optisch immer länger jung, werden aber immer früher gesellschaftlich alt gemacht. Vielleicht kennen Sie folgendes Bild. Dürer malte 1514 ein Portrait seiner 63jährigen Mutter. Mehr als 400 Jahre später, nämlich 1969, zeigt ein Portrait des Malers Nui seine Mutter mit 101 Jahren. Wenn wir die Gesichter der beiden Frauen ansehen, dann sehen sie beinahe gleich alt aus, obwohl die eine 40 Jahre älter ist, aber eben 450 Jahre später gelebt hat. Interessanterweise sind auch „ältere” Frauen jünger als „alte” Frauen, der Komparativ ist in diesem Fall also weniger. Auch im WHO-Bericht über Frauen und Gesundheit im Alter werden bereits über 50-jährige nach der Menopause als „alt” bezeichnet. Wenn wir damit Probleme haben, müssen wir uns fragen, was für ein persönliches Altersbild wir haben und ob wir nicht auch schon vielleicht dem „Jugendwahn” verfallen sind. Den eben genannten eher soziologischen und biologischen Aspekten stehen die auf der medizinischen Ebene mit Krankheiten verbundenen Abbauerscheinungen und funktionale Einschränkungen zur Seite. Psychologisch bedeutsam ist hierbei, wie dies alles subjektiv empfunden wird. Doch auch diese Ebene ist erläuterungsbedürftig, da auch 75Jährige sich erst zu einem Viertel als „alt” bezeichnen. Insgesamt nimmt die Variabilität der Menschen im Alter zu. Dies ist auch plausibel, wenn man sich deutlich macht, dass gleichzeitig sowohl die vielfältigen normativen, altersbezogenen, biologischen und auch die kulturwandelbezogenen Einflüsse (das sind die Kohorteneinflüsse) miteinander in Wechselwirkung stehen und dann auch noch die jeweils individuell erfahrenen nicht normativen Lebensereignisse (also die, die nicht für alle gelten, z. B. der Lottogewinn oder der Tod eines Kindes) dazukommen und dies alles über eine lange Zeit hinweg und auf allen oben angesprochenen Dimensionen des Menschseins (vgl. Abb.2). Wenn wir uns noch einmal die erwähnten Schlagworte der Gerontologie verdeutlichen, die Multidimensionalität, die Multidirektionalität - also die unterschiedlichen Kurvenverläufe dieser Dimensionen aus der Abb. 1 - sowie die Multikausalität der oben genannten Einflussgrößen in der Zeit Abb. 2: Die drei wichtigsten Einflusssysteme auf die lebenslange Entwicklung Grunddeterminanten Entwicklungssysteme und Entwicklungseinflüsse alterbezogene Interaktion ökologische Interaktion biologische kulturwandel bezogene nicht normative Zeit (Quelle: Baltes, P. B. (1990), Entwicklungspsychologie der Lebensspanne: Theoretische Leitsätze, Psychologische Rundschau, 41, S. 16) 6 und die individuelle Bandbreite dieser Prozesse, so verbieten sich derzeit einfache Erklärungsmodelle eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs für das Zustandekommen einzelner Entwicklungsresultate, wie ja auch „Gesundheit im Alter” eines darstellt. Wenn dann noch die Variable „Frau sein” hinzukommt (sowohl in dem Sinn von „Sex”, wie die Engländer sagen, mit dem biologischen Aspekt und im Sinn der soziokulturellen Aspekte, was die Engländer mit dem Wort „Gender” bezeichnen) und die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter nicht normativer Lebensereignisse im Einzelfall, dann können Sie sich vorstellen, wie schwierig es ist, tatsächlich Kausalinterprationen und Vorhersagen über einzelne Frauen und ihre Gesundheit im Alter vorzunehmen. Ein interessantes Bild auf die derzeitige Datenlage wirft folgendes Beispiel: Es gibt eine berühmt gewordene Studie zur Herzinfarkt-Prävention in den Vereinigten Staaten, in der man herausgefunden hat, dass die Gabe eines Aspirins täglich die Herzinfarktrate um 50 % senken kann. Diese Daten wurden weltweit bekannt gemacht. Die Leute kauften Aspirin und schluckten sie alle in der Hoffnung auf eine positive Wirkung. Dabei wurde verschwiegen wurde, dass diese Studie an 22.000 männlichen Ärzten erhoben wurde. Das ist nahezu unbekannt! Es ist schon verwunderlich, wenn trotz der Kenntnis der hormonellen Einflüsse auf das Herz-Kreislauf-System die Befunde einfach auf alle über 65-jährigen übertragen werden, obschon zwei Drittel von ihnen Frauen sind. Gerade wegen der eingeschränkten Aussagekraft vieler empirischer Daten kommt der Suchbewegung, der Haltung der Forschenden bei der Interpretation der Daten ein besonderes Gewicht zu. Selten wird diese Haltung allerdings offen angesprochen. Von daher haben wir uns entschlossen, auf unsere Blickrichtung und unseren Erfahrungshintergrund explizit einzugehen. 2. Blickrichtung und Erfahrungshintergründe Im Rahmen der Analyse von Gesundheitsfaktoren der Berliner Altersstudie werden deutliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern berichtet. Diese eher als „androzentrisch” zu bezeichnende Sichtweise bietet jedoch nicht genügend Differenzierungen und wird den Besonderheiten weiblicher Lebensumstände nicht gerecht. Sie dient eher der Verfestigung des in der Literatur anzutreffenden weiblichen Defizitbildes des Alters, wie es im nachstehenden Zitat zum Ausdruck kommt. Schaefer (1978, S. 54 ff.) meint: „Das Problem der Frau im Alter bestehe nicht darin, dass sie ohne großen sozialen Ehrgeiz sich mit Reisen beschäftigen könne. Es bestehe auch nicht darin, dass sie grundsätzlich mit einem Defizit an mathematisch-logischer Potenz leben müsse, auch nicht darin, dass sie auf Grund stärkerer vegetativer Labilität und eines größeren Drangs nach Geselligkeit die Wartezimmer der Ärzte bevölkere. Das Problem bestehe insbesondere auch darin, dass die alternde Frau zu allem übrigen auch noch mit dem Defizit einer rasch verfallenden Schönheit dasteht, einer Tatsache, welche die Stabilität der Ehen alter Menschen sicher bedroht.” Wir möchten in unseren Ausführungen andere Blickrichtungen einnehmen. Durch unsere Beobachtungen, Erfahrungen und Mitarbeit in unterschiedlichsten Zusammenhängen konnten wir weibliches Gesundheitsverhalten bei jüngeren, älteren und hochaltrigen Frauen erleben. Unsere Erfahrungshintergründe beziehen sich z. B. auf Frauen und ihren Umgang mit Sucht, Umgang mit Gewalt im familiären Raum und in institutionellen Pflegesituationen, aber auch in unterstützenden Angeboten von Selbstverteidigungskursen, Angehörigengruppen, Trauergesprächskreisen oder in Stressbewältigungsseminaren und natürlich auch in unserem eigenen sozialen Umfeld, bei unseren Müttern, Großmüttern und Schwiegermüttern. Wir erhielten an den unterschiedlichsten Stellen Einblicke in die Verletzlichkeit aber auch zugleich in die Stärken und Ressourcen weiblicher Erlebens- und Verhaltensweisen. Diese Stärken zu verdeutlichen und anzusprechen, ist unser Ziel und unsere Blickrichtung. Wir werden dabei die Verletzlichkeit von Frauen nicht aus dem Blick lassen, sondern wir möchten sie verbinden mit Forderungen für notwendige Hilfen und Rahmenbedingungen für ein lebenswertes Altern. Negative Altersbilder hatten ihre Funktion zur Schaffung und Etablierung von Förderprogrammen und zur Initiierung von Entwicklungen innerhalb der letzten zehn, fünfzehn Jahre. Die Zeiten einer klagenden Grundhaltung sind jedoch für uns heute keine angemessene Strategie mehr. Eine der angeblich typisch weiblichen Coping-Strategien können Sie hier bei unserem Vortrag erleben, den wir im gemeinsamen Gespräch und kollegialen Austausch vorbereitet haben und halten werden. Entwicklungsländer haben wir bei unseren Betrachtungen ausgeklammert. Die Lebensbedingungen von Frauen sind dort von Geburt an über Ernährung, medizinische Versorgung bis zur körperlichen Arbeitsbelastung von vielfachen Benachteiligungen gekennzeichnet und wirken sich damit unmittelbar auf eine niedrigere Lebenserwartung und einen schwächeren Gesundheitszustand als bei den dortigen Männern aus. Mehrfachbenachteiligungen von Frauen - auch in Deutschland - einerseits zu registrieren, in ihnen aber auch z. T. Mehrfachchancen zu sehen, dies soll der weitere Blickwinkel unserer Darstellung sein. 3. Bedingungsfaktoren und Auswirkungen weiblicher Gesundheit im Alter Die demographischen Veränderungen des Alterungsprozesses in unserem Jahrhundert sind ohne Vorbild: Die Lebenserwartung hat sich mit der Jahrhundertwende verdoppelt, die Geburtenrate halbiert. Nie zuvor lebten verheiratete Paare so lange zusammen wie heute, und zugleich gab es nie mehr Single- oder Einzelhaushalte als heute. Es gibt die Phase der nachelterlichen Gefährtenschaft, die länger dauert als die Zeit der gemeinsamen Familienphase mit Kindern. Die Veränderung der Nähe-Distanz-Beziehungen durch viele kleine Haushalte mit losen Kontakten führt zur inneren Nähe bei äußerer Distanz, z. T. auch bedingt durch die notwendige berufliche Mobilität. Die „5-Generationen-Bohnenstangen-Familie” lebt mit den Rollenkonflikten der mittleren Sandwich-Generation, die gleichzeitig die immer selteneren Enkel hütet, und die immer häufiger demente Eltern pflegt. Wie „erfolgreiches” Altern aussieht, dafür haben wir keine Modelle in der Geschichte. Gesundheit ist auf alle Fälle ein wichtiges Element der Lebenszufriedenheit im Alter, ebenso der Verbleib in der eigenen Häuslichkeit im Sinne der Aufrechterhaltung einer Kontinuität des Lebensumfeldes. Die Definition von Gesundheit im Sinne der WHO ist wenig hilfreich. Sie geht vom vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefinden aus, und geht damit über die bloße Abwesenheit von Krankheit hinaus. Alter ist jedoch von Multimorbidität gekennzeichnet. Alle alten Menschen über 65 haben mindestens eine Krankheit, wobei die chronischen Krankheiten im Vordergrund stehen. 40% der über 70jährigen haben nach objektiven medizinischen Diagnosen in der Berliner Altersstudie sogar mindestens fünf Krankheiten gleichzeitig. Dennoch halten 30% Prozent ihre Gesundheit für gut bis sehr gut, nur 20% für mangelhaft. Das heißt, subjektive Gesundheit im Alter ist von objektiver Gesundheit zu trennen. Auch das Ausmaß funktionaler Einschränkungen und das Wohlbefinden sowie die Fähigkeit zur Alltagsbewältigung sollten nicht miteinander gleichgesetzt werden. Auch die Familiensituation, die finanzielle Lage sowie die Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von medizinisch-pflegerischen Ressourcen müssen in ihrer Auswirkung auf die gesundheitliche Lage im Auge behalten werden. 3.1. Lebenserwartung und Morbidität Eines der beeindruckendsten Phänomen in den so genannten hoch zivilisierten Ländern ist die um sieben Jahre länger dauernde durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen. Dies hat übrigens nur zum Teil mit der unterschiedlichen Langlebigkeit zu tun. Es hat auch seine Ursache in dem Rückgang der Sterblichkeit von Frauen bei Geburten und in der überproportional hohen Rate der Sterblichkeit von Männern vor dem Alter von 60. Im Alter von 60 Jahren sterben ungefähr doppelt so viele Männer wie Frauen, danach gleichen sich diese Sterbeziffern an. Diese länger dauernde Lebenserwartung der Frauen wird - wie das in der Literatur so schön genannt wird - „erkauft” durch den Preis länger dauernder und häufigerer Erkrankungen. Die Haupttodesursachen und auch die zehn häufigsten Ursachen chronischer Erkrankungen sind bei Männern und Frauen hierbei nicht unterschiedlich. Jedoch unterschiedlich ist, dass, wenn Männer krank sind, sie meist Krankheiten haben, die lebensbedrohend sein können (z. B. Herzerkrankungen); Frauen dagegen haben eher Erkrankungen, die funktional einschränken, z. B. Arthritis, Osteoporose, Inkontinenz. Das führt dazu, dass Frauen eine größere funktionale Einschränkung haben. Nach den Auswertungen der Berliner Altersstudie sind Frauen damit nicht unbedingt in der Gestaltung ihres Alltages eingeschränkt. Es wird hier sehr deutlich, dass Frauen sich häufiger Hilfe zur Bewältigung des Alltages holen, wenn sie eingeschränkt sind. Eine Erklärung für die längere Lebenserwartung ist das andersartige Gesundheitsverhalten von Frauen. Die im obigen Zitat genannten häufigen Arztbesuche (die lassen sich in der Berliner Altersstudie so nicht finden), wie auch der höhere Medikamentenverbrauch von Frauen müssen nicht 7 in erster Linie kostensteigernd gesehen werden, sondern vielleicht als das adäquatere Gesundheitsverhalten. Dieses größere Körperbewusstsein zeigt sich auch in der vernünftigeren Einstellung zu Gewichtskontrollen und zum Umgang mit Genuss- und Suchtmitteln. Fakten, die alle dazu beitragen, nicht so schnell terminal zu erkranken wie Männer. Wenn Frauen auch im mittleren Alter mehr Sport treiben würden (einzig hier sind Männer gesundheitsbewusster), dann könnten Beweglichkeitseinschränkungen im Alter reduziert werden. Frauen unterschätzen ihre Gesundheit normalerweise, Männer überschätzen sie. Was im Rahmen einer adäquaten Gesundheitsfürsorge das günstigere Verhalten ist, darüber kann man streiten (vgl. Fooken 1998). Insgesamt sind Frauen im Rahmen ihrer Lebensgeschichte vor allem aus hormonellen Gründen (vgl. 3.2) oft darauf angewiesen, sich auf schnelle Veränderungen ihres Körpers (z. B. bei Schwangerschaft, Menstruation, Menopause) einzustellen; ein Verhalten, was dann auch für den Umgang mit plötzlichen Einschränkungen im Alter zusätzlich hilfreich ist. 3.2 Hormonveränderungen und Reproduktion In Ergänzung zur bereits erwähnten Morbidität von Frauen ein paar Aspekte zur hormonellen Veränderung und zur Reproduktion. Die biologische Ausstattung von Frauen hormoneller Art schafft ein besseres Immunsystem und schützt sie bis zur Menopause vor Gefäßerkrankungen. Die Krankheitsentwicklung nach der Menopause beschleunigt sich im Vergleich mit gleichaltrigen Männern. Degenerative Erkrankungen des Knochen- und Gelenksystems, vor allen Dingen auch Gefäßerkrankungen und im späteren Alter Inkontinenz, schaffen große Probleme und nehmen zu. Jedoch ist inzwischen, bei aller Kritik an der derzeitigen Verschreibungssituation, Hormonsubstitution als Ersatz für das ausgefallene Hormonsystem immer mehr in der Lage, Beschwerden zu reduzieren. Die Empfängnisverhütung ermöglicht Frauen eine Minimierung von Risiken und Belastungen im Vergleich zu früher, wo gewünschte oder unerwünschte Geburten in großer Zahl deutlich den Gesundheitszustand beeinträchtigten. Anders als bei Männern gibt es keinen Nachweis für eine funktionale Einschränkung weiblicher Sexualität, z. B. der Orgasmusfähigkeit, im Alter. Das Ende der Fertilität galt lange als Begründung für die „defizitäre” Betrachtung alter Frauen. Hier setzt ein Umdenken im Sinne der „Wechseljahre” als auch positiv besetzter „Wendejahre” ein. 3.3 Gerontopsychiatrische Erkrankungen Was die gerontopsychiatrischen Erkrankungen angeht, so können wir zusammenfassen, dass alte Menschen nicht mehr psychische Erkrankungen haben als junge Gesunde, und Frauen insgesamt nicht mehr als Männer. Dennoch bestehen leichte Tendenzen zur Diagnose von mehr Angstzuständen. Vor allem leichte Depressionen werden in manchen Studien bei Frauen häufiger diagnostiziert, mit Vorliebe bei verwitweten noch vor Ablauf des Trauerjahres, von dem meist männlichen, jüngeren Arzt. Bei schweren Depressionen sind Frauen prozentual gleichauf, im hohen Alter sind Männer davon sogar häufiger betroffen. Dies drückt sich insgesamt in einem viermal höheren Suizidrisiko der Männer im Alter von 65 und ei8 nem zehnmal höheren mit 85 Jahren - vor allem im ersten Jahr der Verwitwung - aus. Die größte Last der psychischen Beeinträchtigung im Alter insgesamt sind die demenziellen Erkrankungen, die allerdings, wenn man den Bildungsgrad und den insgesamt hohen Frauenanteil kontrolliert, geschlechtsunabhängig im Alter ansteigen. Mit 65 Jahren sind es ca. 6%, mit 70 Jahren 15% und mit 90 Jahren hat fast jeder zweite Mensch eine hirnorganisch bedingte Beeinträchtigung. Diese hirnorganischen Beeinträchtigungen stellen mit die größten Herausforderungen der gesundheitlichen Versorgung des Alters dar. Die Erkrankten müssen zunehmend im Laufe des Fortschreitens ihrer Erkrankung fremde Unterstützung einfordern, um mit der Alltagsbewältigung zurechtzukommen. Aber anders ausgedrückt: Bis zum Alter von mindestens 85 Jahren sind die meisten alten Menschen nicht dement, und weiterhin nicht nur Hilfeempfänger, sondern auch Hilfegeber an Jüngere. Auch hierzu gibt es im Rahmen der Berliner Alterstudie interessante Ergebnisse. 3.4 Persönlichkeitsdimensionen, Coping- und Kontaktverhalten Die individuellen Unterschiede zwischen Menschen nehmen im Alter zu. Zwar geht die Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen bei älteren Menschen zurück, die Sozialbezogenheit und Mitleidsfähigkeit bleibt jedoch erhalten. Der Glaube an die größere Selbstwirksamkeit z. B. bei jüngeren Männern lässt sich in den Unterschieden der Kontrollüberzeugungen alte Frauen und Männer nicht mehr finden. Frauen bleiben auch im Alter bei ihrer Vorliebe für emotionsorientiertes Coping und sind damit in der Lage, sich verändernden Realitäten anzupassen, sie praktizieren eher „Akkumodation” als „Assimilation”. Das haben sie in ihrer Sozialisation zeitlebens gelernt und praktizieren müssen, und es erweist sich als höchst effektiv angesichts der vielen unkontrollierbaren Verluste im Alter. Im Sinne der „Koheränz” haben alte Frauen durch diese Coping-Strategien das Gefühl der Kontrolle, der Überschaubarkeit und Sinnhaftigkeit auch bei objektiven Einschränkungen durch die lebenslang gesammelte Gewissheit der eigenen Anpassungsfähigkeit. Ich denke an alle Frauen, die zwei Weltkriege überstanden haben, mit dem Verlust von Kindern, von Männern, von Enkelkindern, mit Flucht und Vertreibung sowie dem Aufbau einer neuen Existenz. Fooken (1998) weist auf die deutlichen interindividuellen Unterschiede bei Frauen im Bewältigungsverhalten hin. Ihr geht es um die Frauen, die resignativ auf dem Hintergrund eigener Erkrankungen, nach Partnerverlust und/oder auch langanhaltender Angehörigenpflege psychosomatisch erkranken und keine Perspektiven mehr sehen. In diesen Krisen brauchen viele Frauen dringend Hilfe, vor allem wenn familiäre Netzwerke (3.5) ausfallen. 3.5 Familiensituation und Netzwerke Da Frauen im Durchschnitt länger leben als Männer und vorwiegend ältere Männer geheiratet haben, ist eine Witwenschaft von ca. 15 Jahren für Frauen über 65 der Normalfall. Bei Männern ist sie ungefähr nur halb so lang. Das heißt, 2/3 der Männer sterben verheiratet, Frauen überwiegend als Witwe. Die Lebenszufriedenheit von Frauen hängt nicht allein vom Familienstand ab. Alleinlebende Frauen und Verwitwete sind in vielen Studien zufriedener mit ihrem Leben und ihren Kontakten als (unzufriedene) Verheiratete. Männer dagegen beziehen ihre Hauptlebenszufriedenheit aus dem Kontakt mit der noch lebenden Ehefrau. Nicht von ungefähr berichtet Dießenbacher in seinem Buch „Witwen” über die „späte Freiheit” von Arbeiterwitwen, die im Brecht’schen Sinne als „unwürdige Greisin” noch sehr viel Lebensfreude und Selbstverwirklichung erfahren. Dies kann ich aus eigener Anschauung aus den Witwengruppen nur bestätigen kann. Manche Frauen in der Gruppe brauchen erst eine Art „Geburtshilfe” - eine Erlaubnis - zu dieser zeitlebens in einer langen Ehe, evtl. verbunden mit intensiver Pflege, nicht wahrgenommenen, selbstbestimmten Lebensart. Erst dann können sie mit der Fülle des bereits genannten weiblichen Anpassungs- und Einfühlungsvermögens neue soziale Netze, u. a. auch mit ebenfalls allein stehenden Frauen, aufbauen. An gelungenen Beispielen ist dabei kein Mangel. Da das Alleinleben Männer im Alter mehr belastet, einsam und hilflos macht bis hin zur Depression und Suizidgefährdung (vgl. 3.3), sind gerade in diesem Fall auch Hilfsangebote für Männer notwendig. Was die Wiederheirat angeht, so ist ganz interessant, dass die meisten Frauen nach der Verwitwung, besonders nach langer Pflege, nicht mehr wiederheiraten wollen. Da gibt es eine interessante negative Korrelation zwischen Bildungsstand und Heiratswunsch, ganz anders als bei Männern. „Der intelligente Mann heiratet häufig wieder, die intelligente Frau eher nicht mehr.” Ebenfalls interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass angeblich nur 50 % aller Frauen ihren derzeitigen Ehemann wieder heiraten würden, während das bei Männern ein sehr viel größerer Teil ist. Familienpflege ist bis ins Alter Frauensache. Der Großteil der Pflegenden ist selbst bereits über 65 Jahre alt. Aus meiner Sicht muss hier ein wichtiger gesellschaftlicher Umdenkungsprozess stattfinden. Es ist ein Skandal, dass Motive zur Pflege gar nicht mehr hinterfragt werden, dass sie gleichermaßen vorausgesetzt werden im Sinne einer angeborenen „Mütterlichkeit”, für die die Frau „bestimmt ist”. Wir alle wissen, dass lange Pflegen gesundheitlich sowohl körperlich als auch seelisch extrem belastend sind. Die Pflegenden von heute sind häufig die PatientInnen von morgen. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Frauen als Gepflegte oft Gewalt erleiden und als Pflegerinnen bei einer Überforderung auch Gewalt ausüben. Gerade diese Thematik „Gewalt in der Pflege” – und hier besonders die Frau als Täterin – könnte ein wichtiges Thema für Frauenbeauftragte sein; es ist ein wichtiger Aspekt hinsichtlich Prävention und Beratung. Im Alter wird die Qualität von Beziehungen wichtiger. Interessanterweise ist das Netzwerk von Frauen zwar durchschnittlich größer, dennoch wächst ihre Lebenszufriedenheit nicht mit der Größe des Netzwerkes, vielleicht weil daraus oft auch Anforderungen nach Betreuung resultieren. Frauen sind die HauptakteurInnen in der Gestaltung intergenerativer Kontakte. Männer sind übrigens insgesamt schneller zufrieden mit der Qualität ihrer Netzwerke. Dies wirft eine Frage auf: Sind Frauen insgesamt anspruchsvoller im Hin- blick auf Kontakte oder sind Männer vielleicht eher in der Lage, ihr Netzwerk effektiver zu organisieren? Hier müssten Frauen vielleicht noch deutlicher das Gleichgewicht von Geben und Nehmen für sich realisieren und auch einmal das Neinsagen lernen. 3. 6 Berufstätigkeit und Einkommenslage Zwar haben ältere Frauen eine niedrige und damit eine schlechtere Bildung, sie nutzen aber dafür die Altenbildung deutlich mehr als Männer. Berufstätigkeit ist auch bei belastenden Berufen und durch Mehrfachbelastungen (in Familie, Haushalt und Beruf) bei Frauen nicht lebensverkürzend. Bei Männern hingegen ist beruflicher Stress ein zentral lebensverkürzender Aspekt. Das heißt, wenn Frauen sich für Beruf und Arbeitsplatz entscheiden, dann hat er einen eher kompensatorischen Effekt, auch einen gesundheitsstabilisierenden und -fördernden Effekt. Berufstätjige Frauen leiden zwar häufiger unter kleineren Beeinträchtigungen z. B. in Form von Erkältungen oder Erkrankungen des Magen-Darm-Systems, aber weniger an dauerhaften Erkrankungen als Frauen, die entgegen ihres Wunsches nicht berufstätig sind. Weibliche Identität speist sich aus mehreren Quellen. Frauen identifizieren sich häufig durch Familienarbeit, Ehrenamt und Beruf, so dass beim Wegfall z. B. der Berufsrolle die Identitätskrise nicht so ausgeprägt ist. Dennoch könnte der Eintritt der Verrentung zunehmend auch eine Frauenfrage werden. Frauen versuchen nicht nur im Alter das Streben nach Autonomie und Anerkennung als eher „männliche” Größe mit sozialer Einbindung und Selbstverwirklichung als eher „weibliche” Größe miteinander zu verbinden. Diese Verbindung von „love and work” als Gleichgewicht dient dem erfolgreichen Altern. Zur Einkommenslage ist zu sagen, dass die selbst erworbenen Rentenansprüche von Frauen z. Zt. noch sehr viel niedriger sind als die von Männern. Die geringe Zahl von Versicherungsjahren, das geringere Einkommen und die vermehrte Teilzeitarbeit bedingen das. Die Besonderheit von Armut im Alter ist ihre Dauer, da sie im Gegensatz zu früheren Lebensphasen sehr viel länger anhält. 3.7 Verfügbarkeit informeller und institutioneller Hilfenetze Backes (1994) weist in einer Studie darauf hin, dass Frauen bei weitem nicht so viele Rehabilitationsmaßnahmen erhalten wie Männer. Zwei Drittel der über 75-jährigen Menschen in der BRD sind Frauen, doch werden ihnen lediglich zu 50% Rehabilitationsmaßnahmen verordnet. Da Frauen überwiegend aus Einzelhaushalten kommen (ohne weitere Versorgungspersonen), werden sie nach Krankenhausaufenthalten schneller ins Heim vermittelt. Gleichaltrige verheiratete Männer werden bei ähnlichen Krankheitsbildern eher rehabilitiert. Frauen sind mehr als Männer abhängig von ambulanten, pflegestützenden Versorgungssystemen und adäquaten Reha-Einrichtungen. Sie sind somit „Hauptleidtragende”, wenn solche Einrichtungen fehlen. 9 4. Resümee und Ausblick Sind Frauen im Alter nun die Verlierer und das „schwache Geschlecht”? Ihre größere Gebrechlichkeit, ihre schlechtere Rentensituation und die Wahrscheinlichkeit des Alleinlebens scheinen das nahe zu legen. Bei genauerem Hinsehen ist die höhere Lebenserwartung von Frauen aber möglicherweise auch ein Zeichen dafür, dass sie für das Altwerden seelisch und auch im Umgang mit körperlichen Einschränkungen eher geeignet und besser vorbereitet sind als Männer. Wenn im Sinn der Kontinuitätshypothese die Fortsetzung von zufrieden stellenden Lebensweisen des mittleren Erwachsenenalters auch erfolgreiches Altern bedeutet, dann müssen alte Menschen natürlich auch schon früh beginnen, ihre Weichen für Gesundheit im Alter zu stellen. Dies gilt insbesondere für das Gesundheitsverhalten in den Bereichen Ernährung und Sport, die Entscheidung für eine berufliche Tätigkeit sowie die Schaffung außerfamiliärer Netzwerke als spätere Kompensationsmöglichkeiten. Dies sind wichtige Pfeiler einer Beratung von „jungen Alten”. Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass Langlebigkeit und Lebenszufriedenheit im Alter auch so aussehen können, dass Frauen eher männliche Züge im Hinblick auf Durchsetzungsvermögen, vielleicht auch politisches Engagement, und Männer eher weibliche Züge im Sinne vermehrter emotionsgetönter Sozialkontakte entwickeln. Dies weist auf die Bedeutung der Notwendigkeit einer Entwicklung zur so genannten „Androgynität” gesunden Alterns hin. Eine solche Entwicklung ist im Rahmen einer zunehmenden Frauengesellschaft im Alter sowohl wünschenswert als auch möglich. Auch die nachlassenden Anforderungen von Familienpflichten erlauben von typisch weiblichen Rollenvorstellungen abweichende Entwicklungen. Die angesprochenen Angehörigen- und Trauergruppen können dabei wichtige Bausteine auf dem Weg einer Stärkung hilfreicher und einer Abschwächung eher störender weiblicher Verhaltensmuster sein. Daneben ermöglichen sie auch wichtige Einblicke in die Verfügbarkeit von Hilfenetzen, auf die alleinlebende, gesundheitlich beeinträchtigte Frauen besonders angewiesen sind. „Mit dem Alter wird man nicht klüger, man weiß nur immer besser, dass es die anderen auch nicht sind”. Wenn man diesen Satz auf Gesundheit umdeutet, könnten wir auch sagen, dass wir mit dem Alter sicher nicht gesünder wird, dass wir aber auch eher wissen, dass die anderen es im Sinne der WHO-Definition auch nicht sind. Der Endlichkeit des Lebens als „Integration der Persönlichkeit” ohne Verzweiflung ins Auge zu sehen, wird als Zeichen höchster Sinnfindung im Alter angesehen. Dies geschieht umso besser, wenn Menschen zuvor die Entwicklungsaufgabe der „Generativität” bewältigen. Generativität heißt dabei, beim Sterben zu wissen, welche Spuren biologischer und/oder sozialschöpferischer Art hinterlassen werden. Im Sinne von Viktor Frankel, dem bekannten Wiener Logotherapeuten, besteht die beste Weise, sinnerfüllt und mit der Wertschätzung anderer zu sterben darin, dass ein Mensch drei Werte miteinander verbindet: Zum einen die schöpferischen Werte (sie werden durch Arbeitsfähigkeit hergestellt), die Erlebniswerte (sie werden durch Genuss und Liebesfähigkeit hergestellt), sowie die Einstellungswerte. Sie zeigen sich in den Fähigkeiten zum Durchhalten und zur Leidensfähigkeit. 10 Wir gehen - sowohl auf Grund der von uns genannten empirischen Befunde, als auch eigener Beobachtungen - davon aus, dass Frauen in besonderer Weise die Möglichkeit haben, all diese Kategorien in ihrem Leben auszufüllen und von daher nicht nur sinnerfüllt zu leben, sondern auch lebenssatt zu sterben. Literatur: - - - - - - - Backes, G. M. (1994): Alter(n)smedizin gleich Frauenmedizin? - oder: Alte Frauen als Herausforderungen an die Kompetenz geriatrischer Versorgung. Z. f. Gerontopsychologie und Gerontopsychiatrie, 7 (2), 117 - 126. Baltes, M. M. et. al. (1996): Geschlechtsunterschiede in der Berliner Altersstudie. In: K. U. Mayer u. P. P. Balkes (Eds.), Die Berliner Altersstudie. Berlin: Akademie Verlag. Baltes, M. M. (1998): Frauen und Gesundheit im Alter (S. 35 - 50). In: Kuhlmey, A. et. al. (Hg.): Frauen in Gesundheit und Krankheit: Die psychosoziale Lebensperspektive, Berlin: Trafo. Dießenbacher, H. (1986): Witwen - Vom Leben nach dem Tod des Mannes. Frankfurt: extrabuch Fooken, I. (1998): Gesundheitsförderung im Alter. In: Amann, G. u. R. Wipplinger: Gesundheitsförderung - ein multidimensionales Tätigkeitsfeld. Tübingen: Dgut-Verlag. Höpflinger, F. (1994): Frauen im Alter - Alter der Frauen. Zürich: Seismo. Müller-Daehn, S. u. Fooken, I. : Besondere Belange von Frauen im Alter. In: DZA (Hrsg.): Expertisen zum ersten Altenbericht der Bundesregierung, Bd. III, S. 281 - 395. Niederfranke, A. (1996): Das Alter ist weiblich. Funkkolleg Altern STE 10, Tübingen, DIFF. Schaefer, H. (1978): Die Frau im Alter als Problem der Sozialmedizin. In: Lehr, U. (Hrsg.), Seniorinnen - Zur Situation der älteren Frau. Darmstadt: Steinhopf. Wilkening, K. (1997): Wo finden alte Menschen Hilfe? Zum Aufbau und Ausbau neuer sozialer Netze. In: Freytag, R., Witte, M. (Hg.): Wohin in der Krise? Göttingen: Vandenhoeck. Vera Herbst, Sachbuchautorin AKF Regionalgruppe Braunschweig Arzneimittelverordnungen für Frauen über 60 Jahre Der eigentliche Themenwunsch für ein Referat zu dieser Veranstaltung lautete zu Anfang in etwa „Medikalisierungsprozesse bei Frauen”. Doch den Prozess als solchen zu beschreiben, scheint mir nicht möglich. Auch das Ziel, den Arzneimittelkonsum zu analysieren, wäre allzu hoch gesteckt. Denn Konsum meint ja das, was die Frauen wirklich schlukken. Darüber liegen aber erst relativ wenig Daten vor. Was verfügbar ist, wenn auch nur in geringem Umfang und sehr grob aufgeschlüsselt, sind Daten über die Verordnungen bzw. über den Verkauf von Arzneimitteln. Ich nehme an, dass die Veranstalterinnen dieser Tagung bei ihrem Wunsch, etwas über Arzneimittel und ältere Frauen zu hören, ähnliche Aussagen zum Thema in ihrem Kopf hatten wie ich, als ich mich mit diesem Referat zu beschäftigen begann: ➤ Frauen bekommen zu viele Arzneimittel verschrieben. ➤ Ihnen werden zu oft Psychopharmaka verordnet. ➤ Sie werden medikalisiert und ruhig gestellt und auf diese Weise abgeschoben. Diese Sätze implizieren einen Verursacher, nämlich die - vornehmlich männliche - Ärzteschaft, welche die Lebenswirklichkeit und Bedürfnisse von Frauen nicht ausreichend wahrnimmt, und sie lassen die Gruppe der Frauen als die an den Folgen dieses Unverständnisses Leidenden erscheinen. Bei der näheren Beschäftigung mit dem Thema stellte sich dann jedoch heraus, dass diese Aussagen so nicht zutreffen. Frauen und auch ältere Frauen bekommen zwar in der Tat mehr Arzneimittel verordnet als Männer, und auch und ganz besonders ihr Psychopharmaka-Konsum ist höher. Doch die Menge der Arzneimittel ist ein nachrangiges Problem. Viel gravierender ist, dass ältere Menschen, und dabei besonders ältere Frauen, vor allem das Falsche verordnet bekommen. „Wenn schon, dann richtig” gilt für sie nicht. Das Ergebnis des vielen Falschen sind dann häufig Beschwerden, Abhängigkeit, Behinderungen und Beeinträchtigungen, das Leben bewusst zu gestalten. aber kein Gleichstand zwischen den Geschlechtern: Frauen bekommen im Durchschnitt fast 50 Prozent mehr Medikamente verschrieben als Männer, sie erhalten mehr als die doppelte Menge an Psychopharmaka, und sie bekommen andere Mittel verschrieben als Männer. Zu den ärztlich verordneten Medikamenten kommt der Arzneimittelumsatz der selbst bezahlten Mittel noch hinzu. Dieser Selbstmedikationsmarkt ist riesengroß, steht jedoch für detaillierte und valide Aussagen kaum zur Verfügung, da die Angaben dazu von der Herstellerseite stammen, nicht allgemein verfügbar sind und vornehmlich zu Marketingzwecken erstellt werden. Im Durchschnitt wird jeder über 60-jährige Versicherte mit etwa zweieinhalb Arzneimitteln dauerhaft behandelt. Allerdings steigt der Medikamentenkonsum mit zunehmendem Alter noch einmal deutlich an. So sollen die 85- bis 90-jährigen Tag für Tag vier verschiedene Arzneimittel einnehmen. Und gar nicht so selten müssen Ärzte feststellen, dass ihre Patientinnen, wenn sie denn die ärztlichen Verordnungen befolgen, sechs verschiedene Medikamente gleichzeitig einnehmen sollen.2 Allerdings ist dabei nicht das Alter an sich der Faktor, der den Medikamentenverbrauch in die Höhe treibt, sondern die Nähe zum Tod. Das heißt in anderen Worten: Den Menschen zwischen 60 und 75 Jahren geht es noch relativ gut. Die Zeit schwererer Krankheiten beginnt erst nach 75, eigentlich erst ab 80. Und erst diese erfordern dann eine intensive Medikation. An der Spitze der Verordnungen stehen bei den über-45-jährigen das Rheumamittel Diclofenac und das Schilddrüsenmedikament Levothyroxin. Dieses geht hauptsächlich auf Verordnungen an Frauen zurück. Bei den über-60-jährigen rükken die Wirkstoffe Nifedipin und Captopril zur Behandlung von Bluthochdruck bzw. Herz-Kreislauf-Krankheiten auf die Spitzenplätze. Dabei gibt es dann kaum einen Unterschied in den Verordnungszahlen zwischen Männern und Frauen. Frauen sind anders krank Der Markt der verordneten Arzneimittel Die Arzneimittel, die Menschen über 60 Jahre, und dabei vor allem Frauen, verordnet bekommen, sind für Arztpraxen und Apotheken eine existenzsichernde Einkommensquelle, für die Krankenkassen ein enormer Kostenfaktor, waren aber für die wissenschaftliche Forschung offenbar lange Zeit eine quantité négligeable - man weiß nur sehr wenig darüber. Zwar verfügen die Krankenkassen über enorm viele Daten, die hinreichend Material für eine detaillierte Analyse böten, doch sind sie bisher noch kaum ausgewertet worden. Differenzierte Aufschlüsselungen der Arzneimittelverordnungen nach Alter, Geschlecht und Indikationen sind erst die Ausnahme. Die in der GKV Versicherten, die älter sind als 60 Jahre, machen zwar nur 23,1 Prozent der Versicherten aus, vereinigen auf sich aber 54 Prozent des gesamten Arzneimittelumsatzes. Mit anderen Worten: Nicht einmal ein Viertel der Versicherten bekommt mehr als die Hälfte aller Arzneimittel verordnet.1 Bei der Verordnung von Arzneimitteln herrscht –––––––––– 1 Schwabe U., Paffrath, D., 1999: Arzneiverordnungsreport 1998, Springer, Berlin, Heidelberg Die Auswertungen der Krankenkassendaten geben Hinweise darauf, dass die hohen Verordnungszahlen bei Frauen darauf zurückzuführen sind, dass sie häufiger Ärztin oder Arzt konsultieren, denn bezogen auf den einzelnen Arztbesuch sind die Verordnungen bei Männern und Frauen annähernd gleich. Eine Stichprobenanalyse von 1992, die 27.000 Patienten und Patientinnen aus 50 allgemeinmedizinischen Praxen erfasste, ergab, dass Männer und Frauen bei ihrem jeweiligen Arztbesuch in etwa die gleiche Anzahl an Medikamenten verschrieben bekamen, Frauen jedoch 73 Prozent aller Arztbesuche absolvierten.3 Diese Erklärung greift jedoch dann zu kurz, wenn es um die eklatant höheren Verordnungen von Psychopharmaka für Frauen geht. Die häufigen Arztbesuche bedeuten nun jedoch nicht, dass Frauen generell „kränker” sind als Männer. Sie sind vielmehr anders krank. Männer sind weniger oft krank, ha–––––––––– Erdmann E., 1995: Werden in Deutschland zu viele Medikamente verordnet? Med. Wschr. 137, 11 (Beilage) München 3 Schoettler, P.: Untersuchung der Verordnung von psychotropen Arzneimitteln und oralen Antidiabetika in der allgemeinmedizinischen Praxis. (Dissertation), Kiel. 2 11 ben dafür aber schwerere Krankheiten, an denen sie kürzere Zeit leiden und schneller sterben. Sie folgen weitgehend ihren drei „Ks”: Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Die Frauen, die heute über 60 Jahre alt sind, leiden vielmehr darunter, dass die drei ihnen zugestandenen „Ks” Kinder, Küche, Kirche nur selten ausreichten, um ein sinnerfülltes Leben zu führen. Sie plagen sich mit langandauernden chronischen Krankheiten, die sie über viele Jahre belasten, aber nicht davon abhalten, ihre üblichen Tätigkeiten für ihre eigene und die Versorgung der Familie zu verrichten. Das Mittel, das genau in dieses Bild passt, ist Diclofenac, ein Rheumamedikament, das bei Schmerzen und Entzündungen im Bewegungsapparat verschrieben wird. Fakt ist, dass die Lebenserwartung von Frauen in Deutschland derzeit 6,5 Jahre über der der Männer liegt (Frauen 79,8, Männer 73,3 Jahre4 ). Ob sie wegen oder trotz der Anwendungshäufigkeit von Medikamenten so ist oder ob Frauen sogar noch älter werden könnten, wenn sie ihr Gesundheitsverhalten änderten, das kann heute noch niemand beantworten. Fakt ist aber auch, dass Frauen – auch im Alter - sich subjektiv als weniger gesund empfinden, als Männer sich einschätzen5 . Die Frauengesundheitsforschung hat eine Reihe von Faktoren aufgedeckt, in denen sich das Gesundheitsverhalten von Frauen von dem der Männer unterscheidet und die wahrscheinlich zu der höheren Lebenserwartung von Frauen beitragen. Dazu gehört unter anderem, dass Frauen eher bereit sind, über Gesundheit, Krankheit und Befinden zu sprechen und dieses nach außen darzustellen und dass sie ferner häufiger die Angebote des Gesundheitssystems nutzen, indem sie Ärztin oder Arzt aufsuchen, Früherkennungsuntersuchungen durchführen lassen usw.6 Die eher negative Selbsteinschätzung ihres Gesundheitszustandes durch die Frauen selbst, kombiniert mit ihrer großen Bereitschaft, über das Befinden zu sprechen und ärztliche Hilfe zu suchen, führt zu einem unseligen Kreislauf: Die Frauen suchen die Arztpraxis auf und bekommen ein Hilfsangebot in Form von Arzneimitteln, das ihnen nicht wirklich nützt. Auf Grund der an sich erlebten unerwünschten Wirkungen der Medikamente, aber auch auf Grund der Zahl der Medikamente, die sie einnehmen sollen, fühlen sich die Frauen noch weniger gesund als vorher7 . Der Kreislauf schließt sich, wenn die Frauen diese Beschwerden dann wieder zu Ärztin oder Arzt tragen. Arztkontakt zieht Behandlung nach sich Das Beispiel der Schilddrüsenhormone illustriert das. Bei den GKV-Versicherten ab 45 Jahre teilen sich die Sexualhormone und die Blutdruckmittel die ersten beiden Verordnungsplätze. Ab 65 Jahre gehen die Hormonverordnungen dann deutlich zurück. Die Schilddrüsenhormone bleiben jedoch immer –––––––––– 4 Statistisches Bundesamt: Gesundheitsbericht für Deutschland, 1998 5 Baltes, P.B., Mayer K.U. 1996: Die Berliner Altersstudie, Akademie Verlag 6 Maschewsky-Schneider, U. 1994: Frauen leben länger - sind sie auch gesünder? Z. f. Frauenforschung 12, 4, 7 Baltes, Margret M. 1998: Frauen und Gesundheit im Alter. In: Kuhlmey, Rauchfuß, Rosemeier (Hrsg.): Frauen in Gesundheit und Krankheit: Die psychosoziale Lebensperspektive, Trafo Verlag Berlin 12 auf Platz drei. Dass das so ist, beruht auf der überproportional häufigeren Verordnung für Frauen. Warum sie jedoch so viel mehr Schilddrüsenhormone verschrieben bekommen, bleibt unbeantwortet. Zu vermuten ist jedoch Folgendes: Das Zahlenverhältnis zwischen Frauen und Männern liegt bei Schilddrüsenerkrankungen etwa bei 5: 1. Eine Hypothese für den Grund zielt auf jene Zeiten, in der bei Frauen hormonelle Unruhe herrscht: Schwangerschaften und Wechseljahre. Ob es sich bei diesem Phänomen aber um wirkliche Differenzen im Auftreten der jeweiligen Krankheiten handelt oder ob es vornehmlich darauf beruht, dass Frauen häufiger zu Ärztin oder Arzt gehen und damit für Diagnosen eher zur Verfügung stehen, ist nicht bekannt. In der Jodversorgung, die als Verursacher für eine Reihe dieser Schilddrüsenerkrankungen angesehen werden kann, gibt es jedenfalls zwischen Männern und Frauen keine nennenswerten Unterschiede - eher geht diese Fragestellung noch zu Gunsten der Frauen aus, da sie gesundheitsbewusster leben. Fakt ist, dass Frauen erheblich öfter in die Arztpraxis gehen, dass bei ihnen erheblich öfter die Konzentration der Schilddrüsenhormone bestimmt wird, dass bei ihnen erheblich öfter Ultraschalluntersuchungen der Schilddrüse und in der Folge dann Szintigraphien vorgenommen werden. Aus den so erhobenen Befunden resultiert dann die Behandlung mit Schilddrüsenhormonen. Offen ist jedoch die Frage, wie groß der Nutzen einer solchen Behandlung ist. Die Frage, ob mit den Hormonen nicht vornehmlich „Werte” behandelt werden, die ohne klinische Relevanz sind, ist unbeantwortet. Unerwünschte Folgen des Arzneimittelkonsums Welche Folgen sich aus einem derart hohen Arzneimittelkonsum ergeben, wie er sich bei Frauen findet, zeigen die Erhebungsdaten der Berliner Altersstudie. Bei Personen, die über längere Zeit mehr als vier Arzneimittel gleichzeitig einnahmen, zeigten sich pro Person 55 verschiedene Risiken für unerwünschte Wirkungen und für 5 Wechselwirkungen. Im Vordergrund standen orthostatische Kreislaufstörungen, die sich z.B. durch Kopfschmerzen und Schwindel äußern, Magen-Darm-Probleme (Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) und zentralnervöse Beschwerden (Benommenheit, Müdigkeit, Sedierung und Sehstörungen). Bei diesem Nebenwirkungsspektrum sind als Folge für ältere Menschen Stürze besonders relevant. Die Arzneimittelgruppe mit dem breitesten Risikospektrum sind Diuretika. Diese entwässernden Mittel sind - neben den Betablockern - Mittel der 1. Wahl, um einen zu hohen Blutdruck zu senken. Eine solche Behandlung ist sehr wohl sinnvoll, und diese Mittel sind für ältere Menschen auch durchaus geeignet. Nur - sie müssen so niedrig wie möglich dosiert werden. Das geschieht aber sehr oft nicht. Offenbar deshalb nicht, weil Ärztinnen und Ärzte die Veränderungen im alten Körper nicht ausreichend berücksichtigen. Diuretika veranlassen die Nieren, mehr Salz und Wasser auszuschwemmen. Altersbedingt lässt aber das Durstgefühl nach. Die Menschen trinken zu wenig, der Körper trocknet aus. Diesen Effekt verstärken die Diuretika noch, indem sie bei längerer Anwendung - und eine Hochdruckbehandlung ist immer eine Dauertherapie - das labile Gleichgewicht des Wasser- und Salzhaushalts nachhaltig stören können. Die schwer- wiegenden Folgen sind Thrombosegefahr, Muskelschwäche infolge Kaliummangeles, gelegentliche Herzrhythmusstörungen, verminderte Kohlenhydrattoleranz und damit der Beginn eines Typ-II-Diabetes.8 Die Gefahr solcher unerwünschter Wirkungen steigt dadurch noch weiter, dass die Nierenfunktion altersbedingt abnimmt. Die Organe scheiden den Wirkstoff also langsamer aus, er kann länger im Körper wirken. Wenn die Einzelportion des Diuretikums zu hoch angesetzt wird, wirkt sie oft dann noch, wenn schon wieder die nächste Portion eingenommen wird. Eine weitere Gruppe von Arzneimitteln mit erheblichem Gefährdungspotenzial sind die Benzodiazepine, die als Schlaf- und Beruhigungsmittel eingesetzt werden. Während die Probleme, die sich mit den Diuretika verbinden, beide Geschlechter angehen, ist dieses eine Thematik, von der Frauen deshalb ungleich häufiger betroffen sind als Männer, weil sie den größten Teil dieser Arzneimittel verordnet bekommen und - wie der Gesundheitssurvey von 1992 gezeigt hat - auch einnehmen.9 Die Mehrzahl der BenzodiazepinVerordnungen werden für Menschen über 60 Jahre ausgestellt, und 80 Prozent der Frauen, denen Benzodiazepine verschrieben werden, sind älter als 60 Jahre. Benzodiazepine, deren bekanntester Vertreter Valium ist, sind unstrittig wirksam bei Angststörungen, als Tagesberuhigungsmittel in Krisensituationen und als Schlafmittel, vorausgesetzt, es wird die richtige Substanz in der richtigen Dosierung ausgewählt - und rechtzeitig wieder abgesetzt. Ein gravierendes Problem bei diesen Tranquilizern ist, dass sie schon nach einer Anwendungszeit von vier Wochen zu einer Abhängigkeit führen. Meist braucht zwar die Dosis nicht gesteigert zu werden, doch das Bedürfnis nach der nächsten Tablette ist drängend. Diese Niedrig-Dosis-Abhängigkeit blieb lange Zeit unbeachtet und ist auch heute für viele Ärztinnen und Ärzte offenbar noch kein Grund, sorgfältiger mit den Verordnungen umzugehen. So kommt es, dass die meisten der etwa 1,2 Millionen Menschen, die nach aktuellen Schätzungen in Deutschland von diesen Mitteln abhängig sind, Frauen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren sind.10 Schweizer Untersuchungen bestätigten 1997, dass bei den von Medikamenten abhängigen Personen das Verhältnis von Frauen zu Männern 2 : 1 ist, dass die Zahl der Abhängigen mit zunehmendem Alter steigt und dass Benzodiazepine die am häufigsten missbrauchten Medikamente sind.11 Für die Benzodiazepine ist aber auch heute noch die Feststellung gültig: Sie werden nicht unbedingt zu häufig, sondern wohl zu lange verordnet.12 Und das, obwohl die internationale Fachliteratur eine klare Sprache spricht: Bevor –––––––––– 8 Baltes, P.B. 1992: Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung. Mittelstraß J. (Hrsg.), Walter de Gryter Verlag, Berlin 9 Robert-Koch-Institut-Hefte 7/1995, Seite 158: Die Gesundheit der Deutschen. Berlin 10 Glaeske, Gerd 1999: Medikamentengebrauch und Abhängigkeit bei Frauen in Deutschland, S. 26. In: Stadt Münster, Gesundheitsamt: Frauen und Medikamente – Gebrauch oder Mißbrauch? Gesundheitsberichte, Band 9 11 Maffli, E., Efionayi-Mäder, D. (1996) Medikamentenabhängigkeit in der Schweiz: Zwischenbericht zum Stand der Literatur. Lausanne: SFA/ISPA 12 Lohse, M.J., Müller-Oerlinghausen, B.: Psychopharmaka. Seite 459 In: Schwabe, U. Paffrath: Arzneiverordnungsreport 1998, Springer Verlag. Berlin, Heidelberg Benzodiazepine länger als vier Wochen verordnet werden, sollte unbedingt eine psychiatrisch ausgebildete Fachperson zu Rate gezogen werden.13 Verändertes Verordnungsspektrum Allerdings haben die Aufklärungskampagnen der vergangenen Jahre dafür gesorgt, dass sich das Verordnungsverhalten der Ärztinnen und Ärzte geändert hat. Die Verordnungszahlen für Tranquilizer haben sich in Westdeutschland zwischen 1984 und 1994 in etwa halbiert. Seitdem sind die Zahlen in etwa stabil. Demgegenüber haben aber die Verordnungen von Neuroleptika und Antidepressiva in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich zugenommen; ihre Verordnungszahlen haben sich seit 1988 verdoppelt! Und das, obwohl Psychiaterinnen und Psychiater immer wieder feststellen müssen, dass gerade bei älteren Menschen Depressionen nicht diagnostiziert und/oder nicht angemessen behandelt werden. Das Verordnungsverhalten der Ärztinnen und Ärzte legt nahe, dass sie bei allgemeiner Angst und Unruhe nun Neuroleptika in niedriger Dosierung verschreiben. Studien, die Nutzen und Risiken von Beruhigungsmitteln und Neuroleptika über ausreichend lange Zeit miteinander vergleichen, gibt es bisher nicht.14 Neuroleptika sind eigentlich zur Behandlung von Schizophrenie gedacht. Wie der Hersteller jedoch mit den Indikationen umgeht, ist bei dem Präparat Imap zu beobachten. Imap enthält 2 mg des Inhaltsstoffes Fluspirilen und ist zugelassen zur Behandlung von schizophrenen Psychosen. Das Präparat Imap 1,5 enthält nur 0,5 mg weniger von demselben Wirkstoff und gibt als Indikation nun ausschließlich Angst- und Spannungszustände sowie psychosomatische Beschwerden an. Gerade für den Wirkstoff von Imap (Fluspirilen) sind aber irreparable Spätschäden wie zwanghafte Bewegungsstörungen beobachtet worden. Die bei Neuroleptika beobachteten Persönlichkeitsveränderungen wurden bei Imap 1,5 nie untersucht. Andere Neuroleptika, die auch als Beruhigungsmittel empfohlen werden, sind Promethazin (Atosil), Perazin (Taxilan), Prothipendyl (Dominal), Promazin (Protactyl), Melperon (Eunerpan) und Flupentixol (Fluanxol). Sie alle haben in einer verantwortungsbewussten Therapie von Angst und Unruhe jedoch in aller Regel keinen Platz. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Erkrankungshäufigkeit und auch die häufigeren Arztbesuche von Frauen erklären das Phänomen nicht hinreichend, dass Frauen in den westlichen Staaten so viel mehr Psychopharmaka verordnet bekommen als Männer. Es hat hingegen viel damit zu tun, dass die verordnenden Ärzte vornehmlich männlich sind, wie sie Frauen und ihre Beschwerden wahrnehmen und wie sie sie deuten. Dazu gehört unter anderem die Beobachtung, dass Beschwerden von Frauen eher als psychisch bedingt angesehen werden, weniger oft als organisch. Diese Beurteilung resultiert jedoch nicht aus einer psychosomatisch orientierten Sichtweise; vielmehr verbinden die meisten Ärzte und Ärztinnen mit dem Begriff „psychisch bedingt” bei –––––––––– 13 Benkert, Hippius, 1996: Psychiatrische Pharmakotherapie, Springer-Verlag. Berlin, Heidelberg 14 Schwabe, U., Paffrath, D., 1999: Arzneiverordnungsreport 96, S. 396, Springer-Verlag. Berlin, Heidelberg 13 Frauen „nicht ganz ernst zu nehmende Beschwerden”. Eine kanadische Studie aus 1997, die ich in der Vorbereitung zu diesem Referat fand, stellte fest, dass es einen signifikanten Zusammenhang gibt zwischen den soziodemographischen Charakteristika des Arztes und seiner Praxis und dem Prozentsatz an Männern bzw. Frauen, denen er Psychopharmaka verschreibt.15 Auf der anderen Seite stehen die Frauen. Auslösende Faktoren für eine Suchtabhängigkeit sind bei ihnen vor allem der Verlust familialer Bindungen, Überlastungen aller Art, Unterdrückung und Gewalterfahrungen. Es ist leicht vorstellbar, dass Frauen in solchen Situationen Hilfe suchen und dann in eine Medikamentenabhängigkeit hineingeraten können, wenn ihnen ausschließlich Arzneimittel angeboten werden. Sie konsumieren die Mittel zunächst als vorübergehende Lebenshilfe, als Mittel, das es ihnen gestattet, eine Distanz zwischen sich und das Geschehen zu legen, finden dann aber nicht mehr den Weg hinaus. Ein Ausstieg aus einer Langzeiteinnahme von Benzodiazepinen ist nur mit ärztlicher Hilfe möglich. Die Allgemeinärzte und -ärztinnen, die diese Mittel meist verschrieben haben, sind damit jedoch oft überfordert. Zudem ist es dringend geboten, den Frauen zur Bewältigung der problematischen Situation zusätzlich therapeutische Hilfe anzubieten. Doch ein spezielles, auf die Bedürfnisse älterer Frauen zugeschnittenes Therapieangebot gibt es nicht.16 Und selbst wenn man den Anspruch an diese Spezialisierung aufgibt: Immer noch ist die - falsche - Meinung weit verbreitet, psychotherapeutische Interventionen seien bei Menschen über 50, spätestens 60 Jahre nutz- und wirkungslos. Damit bleiben diese Frauen letztlich ohne jegliche Hilfe in der Bewältigung ihrer Lebenssituation und allemal alleingelassen mit ihrer Medikamentenabhängigkeit. Nicht altersgerechte Wirkstoffauswahl Bei den Tranquilizern kommt erschwerend das hinzu, was schon für die Diuretika festgestellt wurde: Sie werden nicht altersgerecht ausgewählt und nicht altersentsprechend dosiert. Auf Grund der veränderten körperlichen Bedingungen - abnehmende Leber- und Nierenfunktion, andere Wirkstoffverteilung im Körper auf Grund des zunehmenden Anteils an Fettgewebe und des abnehmenden Anteils an Muskelgewebe - wirken Benzodiazepine im alten Körper erheblich länger als im jungen. Für sie eignen sich darum vornehmlich Bromazepam (Normoc, Lexotanil), Oxazepam (Adumbran, Praxiten) oder Lorazepam (Tavor). Doch auch von diesen Substanzen sollten Menschen über 60 Jahre nur ein Drittel bis ein Viertel der bei jüngeren Personen üblichen Dosis einnehmen. Zu den im Alter wegen ihrer langen Wirkdauer (50 bis 100 Stunden) quasi ausscheidenden Substanzen gehört Diazepam, Valium also. Es ist jedoch unter den Benzodiazepinen –––––––––– 15 Tamblyn RM et Laprise, R., Schnarch, B., Monette, J., McLeod, P. J., 1997: Characteristics of physicians prescribing more psychotropic drugs to women than to men; Sante Mental de Quebec, Spr, 22:1, 239-62 16 Feldmann-Vogel, R., 1994, Seite 37: “Dies ist nicht meine ganze Geschichte” - Abhängigkeitsprobleme bei älteren Frauen. In: Niedersächsische Landesstelle gegen die Suchtgefahren: Sucht im Alter, Hannover 14 das nach Bromazepam zweithäufigst verordnete Medikament. Richtig dosiert, haben Benzodiazepine bei älteren Menschen zwar nicht mehr oder schlimmere unerwünschte Wirkungen als bei jüngeren Menschen, aber die Folgen sind schwerer. Wenn ältere Menschen durch Benzodiazepine müde sind, langsamer begreifen und handeln, sind sie stärker unfallgefährdet als jüngere Personen. Ein älterer Mensch, der stolpert, kann sich meist nicht so gut abfangen. Er stürzt und laboriert dann oft lange an den Verletzungen und ihren Folgen. Dasselbe Risiko besteht bei denjenigen, deren Blutdruck durch die Benzodiazepine absinkt. Ältere Menschen stehen nachts häufiger auf als junge, z.B. um zur Toilette zu gehen. Wenn ihnen dann schwindelig wird, können sie stürzen. Benzodiazepine werden nicht nur als Tages-Beruhigungsmittel verordnet. Einige von ihnen eignen sich auch als Schlafmittel. Vor allem ältere Menschen nehmen Schlafmittel, und das ist aus verschiedenen Gründen merkwürdig. Zum einen brauchen ältere Menschen weniger Schlaf, zum anderen verursachen Schlafmittel gerade bei älteren Menschen die größten Probleme: Sie führen zu Verwirrung, Unsicherheit beim Gehen, Angstzuständen tagsüber und Schlaflosigkeit beim Absetzen des Mittels. Eine britische Untersuchung zeigte, dass 16 Prozent der über 65-jährigen Schlafmittel einnehmen. 73 Prozent von ihnen tut dies länger als ein Jahr und 25 Prozent länger als zehn Jahre.17 In Deutschland ist das nicht anders. Zum Beispiel nehmen etwa 20 Prozent der Frauen über 60 Jahre ständig Schlafmittel ein.18 Doch ihre Anwendung ist bei chronischen Schlafstörungen deutlich kontraindiziert.19 Und nicht nur das. Die Probleme, die sie verursachen können - Verwirrung, Übererregtheit, Kopfschmerzen, Angstzustände -, werden oft genug nicht als Medikamentenauswirkungen erkannt, sondern als Alterserscheinungen bzw. Alterskrankheiten fehlgedeutet. Auf diese falschen Diagnosen folgen dann ebenso falsche Therapien: Psychopharmaka ohne psychotherapeutische Begleitbehandlung. Dieses Defizit bei Diagnose und Therapie wird zunehmend auch für das Thema Depression festgestellt. Bei alten Menschen werden Depressionen häufig gar nicht diagnostiziert. Ihre Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit empfinden viele alte Menschen nicht als unangemessen bei den vielen Verlusterlebnissen, die sie haben einstecken müssen. Sie klagen nicht darüber, und andere Symptome, die auf eine Depression hindeuten können, werden von den Ärztinnen oder Ärzten oft als Zeichen normalen Alterns fehlgedeutet. Doch selbst wenn die Krankheit behandelt wird, geschieht das bei alten Menschen oft halbherzig. Die Medikamente werden nicht ausreichend dosiert, begleitende Psychotherapien finden so gut wie nie statt. Dabei haben kognitive Verhaltenstherapien, kombiniert mit einer mindestens halbjährigen medikamentösen Therapie in der richtigen Dosierung dieselben Erfolgsquoten wie bei jüngeren Menschen. –––––––––– 17 British Medical Journal 1988, 296, 601 18 v. Maxen, A., 1996: Kursbuch Medikamente, Zabert Sandmann, München 19 The New England Journal of Medicine 1990, Jahrgang 323, S. 520, Boston Wege aus der Pillenflut Der nahe liegendste Ausweg bei so vielen verordneten Medikamenten scheint darin zu bestehen, sie nicht einzunehmen. Eine Reihe von Frauen tut das offenbar auch. Bei der Hormontherapie in den Wechseljahren z.B. scheint eine Reihe von Gründen die Frauen davon abzuhalten, die Mittel solange einzunehmen, wie ihre Ärztinnen und Ärzte es ihnen anraten. Mit dem Rat zur Nichtbefolgung der ärztlichen Therapie wird das verantwortliche Handeln aber wieder allein in die Hände der Frauen gelegt. Und zwar in die Hände von Frauen, die darauf in ihrer Biografie nicht vorbereitet wurden. Frauen unterliegen mittlerweile einem krank machenden Selbstzwang zur Gesundheit, der begleitet ist vom Zwang zur Information20 - ein Faktum, das sich ganz wesentlich auch auf politische Entscheidungen gründet. Weit verbreitet werden Selbsthilfe und Selbstmedikation propagiert, um die staatlichen oder sozialen Sicherungssysteme zu entlasten. Nun schaffen Information und Wissen zwar Handlungssicherheit und Kontrollmöglichkeiten, aber sie sind auch mit Angst verbunden. Die Frau mit ihrem Hormonpräparat in der Hand muss einen Weg finden zwischen der Angst z.B. vor Brustkrebs und der, was geschieht - welche „Strafe” in Form von Krankheit sie erwartet -, wenn sie die Anweisung nicht befolgt. Gerade das brave Befolgen der Anweisungen von Autoritäten ist doch eine typisch weibliche Eigenschaft, die bei den vor dem Zweiten Weltkrieg geborenen Frauen noch ganz besonders gut „sitzt”. Das Ergebnis ist, dass sie Langzeittherapien, auch die mit Psychopharmaka, besonders gewissenhaft durchführen. Veranstaltungen zur Gesundheitsbildung werden bekanntlich von Frauen besonders intensiv besucht. Diese fördern sehr wohl die Informations- und Wissensvermittlung, thematisieren aber nicht oder nur selten das Gefühl der Angst, das sich sehr häufig einstellt, weil die Gestaltungsmöglichkeit als Gestaltungspflicht und -zwang erlebt wird. Hier sind die MitarbeiterInnen aufgerufen, die im Bereich der Gesundheitsbildung Frauen informieren, den Frauen auch Entlastungsmöglichkeiten anzubieten, sie nicht allein zu lassen mit ihrer Last der Verantwortung für ihre Gesundheit. Gerade für den sensiblen Bereich von Gesundheit und Krankheit, in welchem das Abgeben von Verantwortlichkeit an Autoritäten ein nur zu verständliches Verhalten ist - und das bei Frauen im Alter von 70 und mehr Jahren allemal -, muss sich der Appell zur Medikamentenabstinenz vornehmlich an die Ärztinnen und Ärzte richten. In der Klinik hat sich diese Lösung tatsächlich als möglich herausgestellt, ohne dass das für die PatientInnen negative Konsequenzen hat. Im ambulanten Bereich ist das jedoch anders, weil hier nicht nur zu viel, sondern vor allem das Falsche verordnet wird. Die Forderung an die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte geht also dahin, die Auswahl der verordneten Arzneimittel und ihre Kombination zu optimieren.21 Wichtig ist, immer wieder zu bestimmen, ob die Einnahme eines bestimmen Arzneimittels auch wirklich notwendig ist. Hier ist vor allem nach der klinischen Bedeutung zu fragen. –––––––––– 20 Zit. Barbara Duden in: Marion Meier: Gesundheit ist Lust am Leben. Von der Krankheit Frau zur Frauengesundheit. Dok. der 4. Jahrestagung des AKF in Bünde, 8. 9.11.1997. Allzu oft wird von den Pharmafirmen die Anwendung eines bestimmten Arzneimittels nahe gelegt, für das in klinischen Studien nur Surrogatparameter bestimmt wurden, welche aber keine klinische Relevanz haben, gemessen am Endpunkt der Behandlung. Die Forderungen an die Ärztinnen und Ärzte lauten also: ➤ Diagnose präzisieren. ➤ Nicht jedes Symptom medikamentös behandeln. ➤ Bei Symptomen sehr sorgfältig prüfen, ob es arzneimittelbedingte Effekte sein können. ➤ Kein Rezept ohne Arztgespräch ausstellen. ➤ Bei Nachverordnungen die Indikation überprüfen und den Verbrauch kontrollieren. Und diese Forderungen sind keine Zumutungen, die Professionsfremde an Ärztinnen und Ärzte richten. Sie sind unter anderem das Ergebnis der Arbeit so genannter Pharmakotherapiezirkel, die die Forschungsgruppe Primärmedizinische Versorgung der Universität Köln zusammen mit den PharmakotherapieberaterInnen der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen gegründet hat. In diesen Zirkeln trifft sich eine Gruppe von Ärztinnen und Ärzten, um ihre Verordnungen zu analysieren und ihre jeweiligen Therapiekonzepte zu diskutieren.22 Die andere Seite, von der die Lösung dieses Problems auch noch angegangen werden kann, wendet sich wieder an das Verhalten der Frauen, jedoch weit im Vorfeld der ärztlichen Verordnung. Dieser Ansatz zielt auf die intensiven und häufigen Kontakte der Frauen mit dem Gesundheitswesen. Wie gezeigt, bieten sie Gutes, bergen aber auch Risiken. Die Analyse des Verhaltens von Frauen zeigt, welche Fähigkeiten sie haben und auch einsetzen. Sie haben zwar funktionelle Einschränkungen, fühlen sich auch nicht immer so recht gesund, tun aber alles, was notwendig ist, um weiterhin eigenständig zu leben. Ihre Alltagstätigkeiten versehen sie nach wie vor. Wenn es nun gelingt, in den Frauen ein größeres Vertrauen zu verankern, dass sie Ressourcen haben, die sie für ihre Probleme einsetzen können, dass sie Kräfte haben, mit den Gegebenheiten zurechtzukommen, müsste das ihre subjektive Einschätzung vom eigenen Gesundheitszustand verbessern. Bisher ist ihr Verhalten noch weitgehend vom Defizitmodell geprägt. Sie schauen auf das, was sie nicht (mehr) können, statt das auszugestalten, was sie an Möglichkeiten haben. Wenn Frauen von ihren positiven Eigenschaften und Kräften stärker überzeugt wären, müssten sie sich insgesamt „gesünder” fühlen. Dann könnte die medikamentöse Behandlung von Missbefindlichkeiten entfallen oder zumindest reduziert werden, und es bliebe eine rationale Therapie dessen übrig, was wesentlich und notwendig ist - mit Folgen und unerwünschten Wirkungen, die leichter durchschaubar und damit vermeidbar sind. –––––––––– 21 M. Borchelt: Potentielle Neben- und Wechselwirkungen der Multimedikation im Alter: Methodik und Ergebnisse der Berliner Altersstudie. Z. Gerontol. Geriat. 28, 1995, S. 420-428 22 Ingrid Schubert, 1998 Forschungsgruppe Primärmedizinische Versorgung, in: Buko Pharmabrief, Nr. 1 Fehler! Textmarke nicht definiert.Januar-März, Köln 15 16 Arbeitsgruppe I Frauen im Alter: Liebe und Sexualität Moderation: Anneke Bazuin, PRO FAMILIA Landesverband Niedersachsen Einleitung Wie wir Sexualität leben, welche Möglichkeiten es gibt, Liebe und Sexualität in zwischenmenschlichen Beziehungen zu erfahren, hat weniger mit dem biologischen Alter zu tun als mit gesellschaftlichen, biografischen und demographischen Aspekten. Bei einer Fortbildung zum Thema „Sexualberatung mit KlientInnen im höheren Lebensalter” konnte der Referent eine lange Liste vortragen, was sich bei Männern im Alter alles verändert und ihre sexuelle Fähigkeit beeinträchtigt. Zu der sexuellen Fähigkeit der Frauen sagte er: „die verändert sich eigentlich nicht. Es gibt natürlich physiologische und hormonelle Veränderungen (Klimakterium) die mit dem Älterwerden zu tun haben, aber die beeinträchtigen die sexuelle Fähigkeit nicht. Im Gegenteil bei manchen Frauen steigert sie sich sogar”. Ob das zum Selbstbild der Frau und vor allem zum gesellschaftlichen Bild der älteren Frau passt, ist eine andere Frage. Simone de Beauvoir sagte es schon: ”In biologischer Hinsicht wird die Sexualität der Frau weniger durch das Alter beeinträchtigt als die Sexualität des Mannes.” Dass Frauen nach Untersuchungen mit koitalem Sex sechs Jahre eher aufhören als Männern ist ein gesellschaftlich-kulturelles Phänomen. Das Sexualleben der älteren Frau wird weniger von ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen bestimmt als z.B. vom Sexualleben des Mannes. Frauenbiografien Jede Gesellschaft und jede Zeit hat von Frauen, Alter und Sexualität ihre eigenen Bilder. Frauen, die jetzt um die 60 Jahre alt und älter sind, sind in ihrem Leben mit sehr unterschiedlichen und widersprüchlichen Auffassungen bezüglich ihrer Sexualität konfrontiert worden: sie wurden meist nur mangelhaft aufgeklärt und sind mit traditionellen Vorstellungen über Liebe, Sexualität und geschlechtsspezifischen Rollenverhalten aufgewachsen. Es wurde von ihnen erwartet, ihre Sexualität der des Mannes unterzuordnen. Mit Beginn der so genannten sexuellen Revolution Anfang der 70er Jahre, als die jetzt 60-jährigen etwa 30 - 35 Jahre alt waren, sollten Frauen auf einmal ihre Sexualität lustvoll und befriedigend erleben. Aber auch da wurde die weibliche Lust nach männlichen Vorstellungen definiert. Die Frauenbewegung unterstützte Frauen darin, ihre eigene Sexualität zu entdecken und zu leben. Die Frage ist, ob sich auch ältere Frauen sexuell emanzipiert haben und ob die größere sexuelle Freizügigkeit ihr Liebesleben und Sexualverhalten positiv beeinflusst. Fast die Hälfte der älteren Menschen sind alleinlebende Frauen. Sie befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen Wünschen und (manchmal nicht eingestandenen) Sehnsüchten nach Liebe, Erotik und Sexualität und der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Erfüllung. Im Laufe ihres Lebens haben sie viele Enttäuschungen und Verletzungen erlebt, die meist nicht aufgearbeitet wurden. Sie haben gelernt: „über Sexualität und Beziehungsfragen spricht man nicht und schon gar nicht mit Außenstehenden”. Sie leiden aber unter dieser Sprachlosigkeit: Dies ist ein Hintergrund für die Tabuisierung von Sexualität im Alter. Manche Frauen sind im Alter erleichtert mit Sexualität nichts mehr zu tun zu haben oder sie sind nach dem Verlust des Partners an einer neuen Beziehung nicht mehr interessiert. Oft ist zu beobachten, dass diese Frauen viel Kraft für andere kreative und erfüllende Aktivitäten freisetzen („Sublimierung”). Gesellschaft Sexualität und Alter werden meist nicht zusammengedacht. Zumindest, wenn wir der Botschaft der Medien glauben, ist Sex im Alter noch immer ein Tabuthema. Wir leben in einer Gesellschaft, die mit Sexualität in erster Linie Jugend, Attraktivität und Leistung verbindet und in der die ältere Frau als sexuelles Wesen nicht wahrgenommen wird. Wer jung ist denkt nicht an Sexualität im Alter und stereotype Vorstellungen halten sich: Sexualität im Alter wird belächelt oder ist unvorstellbar (Sprüche wie „der Ofen ist aus”, „die ist doch jenseits von Gut und Böse” kennt jede). Nicht der Gedanke, dass Sexualität im eigenen Leben irgendwann (wenn ich alt bin) keine Rolle mehr spielen würde, ist dabei ausschlaggebend, sondern vor allem wird die Vorstellung verdrängt, dass man selbst einmal alt sein wird. Geschlechtsspezifische Benachteiligung Bezogen auf die Sexualität gibt es deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede in der gesellschaftlichen Beurteilung und Akzeptanz. Das Bild der älteren Frau, das in unserer Gesellschaft vorherrscht, ist noch stärker als das des älteren Mannes negativ geprägt. Diese Benachteiligung der Frau ist von Kindheit an vorprogrammiert und auf ein traditionelles Rollenverständnis zurückzuführen. Die Amerikanerin Susan Sonntag spricht von „the double standard of aging”, dem geschlechtsbezogenen Doppelstandard des Alters. Für Männer gibt es zwei Schönheitsideale - das des jungen Mannes und das des Herrn mit grauen Schläfen. Für Frauen herrscht nur das Ideal des Mädchens. Ich nenne es das Kleine-Mädchen-Syndrom. Frauen, die eine hohe Dosis „Kleine-Mädchen-Ausstrahlung” haben, im Aussehen aber auch im Verhalten, sind für Männer offenbar viel attraktiver als selbstbewusste Frauen, die sich nicht wie ein junges Mädchen stylen! Frauenmagazine empfehlen uns sogar indirekt durch Modetips und Verhaltensstrategien diese Ausstrahlung bewusst einzusetzen, wenn wir z. B. vom Urteil eines Mannes abhängig sind, oder bei Bewerbungen, Prüfungen usw.. Und es scheint zu wirken! Diese Kleine-Mädchen-Ausstrahlung sollen wir Frauen uns erhalten, wenn wir älter werden! Attraktivität Eine schöne alte Frau, die aussieht wie eine alte Frau hat eigentlich keinen Raum in unserer Gesellschaft. Komplimente bekommt sie, wenn sie jünger aussieht. Signale des Alterns werden bei Männern positiver bewertet als bei Frauen. Männer reifen, Frauen altern (Sonntag 1977). Seine Falten sind ein Zeichen von Lebenserfahrung und emotionaler Reife, unsere Falten machen uns alt, mindern unsere Attraktivität und entwerten uns sexuell. Das lässt uns nicht kalt. Die Angst vor dem Altern ist bei Frauen größer, wir fangen früher an über Veränderungen in unserem Aussehen nachzudenken und dagegen etwas zu tun. 17 Dies bestätigen psychologische Studien, aber auch die Umsätze der Kosmetik, Ernährungs und Schönheitsbranchen. Medien Wenn das Thema Sexualität im Alter im Fernsehen aufgegriffen wird, z.B. wenn es um Paarbeziehungen geht, wird deutlich, dass auch hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Alten Männern wird sexuelle Aktivität durchaus zugestanden, insbesondere mit einer (weitaus) jüngeren Partnerin, Frauen mit einem jüngeren Partner haben es mit der Akzeptanz deutlich schwerer. Sexualität Sexualität ist eine Lebensenergie, die uns von Geburt an bis ins hohe Alter begleitet. Es gibt keine allgemeinen Aussagen dazu, wie ältere Frauen ihre Sexualität heute erleben. Sie unterscheiden sich darin ebenso wie jüngere. Die Sexualität einer Frau, hängt mit vielen verschiedenen Faktoren zusammen - körperlichen, gesellschaftlichen, demographischen, biografischen, geschichtlichen und ökologischen ( z. B. Altersheim?). Das sexuelle Verhalten im bisherigen Leben, prägt das Verhalten später: wer früher keinen Spaß am Sex hatte, ist auch im Alter meist nicht daran interessiert. Wer immer schon Spaß am Sex hatte, genießt es im Alter auch. Viele ältere Frauen wurden nicht aufgeklärt, wussten wenig über ihren eigenen Körper als sie heirateten und waren es gewöhnt, dass der Mann in der Ehe das Sagen hatte, auch sexuell. Die Mehrzahl hielt es für die Aufgabe des Mannes, herauszufinden, was sie wollte. Sie sprachen nicht darüber, schwiegen und litten, wenn er sie nicht befriedigen konnte. Die sexuelle Revolution kam für sie offenbar zu spät. Auswahl haben, weil auch die Frauen aus nachfolgenden Generationen als Partnerin in Frage kommen!). ➤ Die meisten älteren Frauen wünschen sich schon eine erotische Beziehung, wollen aber nicht wieder heiraten, sie möchten, dass ein gewisser Abstand bestehen bleibt. Aus einer Befragung älterer Menschen (65 und älter) in den Niederlanden geht hervor, dass sie ihr Sexualleben gerne bewusster, mit weniger Schuldgefühlen und gleichwertiger gestaltet hätten. Die meisten Befragten beschreiben ihre jetzige Beziehung mit Begriffen wie: Zärtlichkeit, Spaß, Passion und Verliebtheit. Nur wenige sprechen über Gleichgültigkeit. Die sexuelle Freiheit und größere Offenheit auf sexuellem Gebiet werden begrüßt. Vor allem ältere Frauen finden, dass Softsex- und Pornoprogramme im Fernsehen verboten werden sollten. (Die meisten Männer meinen, dass solche Programme bleiben sollten). Drei viertel der über 50 jährigen meint, dass hetero- und homosexuelle Beziehungen gleichwertig beurteilt werden sollen; mehr Frauen als Männer unterschreiben diese Forderung (72% ab 50 jährigen/ 53% ab 65 jährigen). Der Ausschnitt aus „VERSCHWIEGENE LUST” von Renate Daimler (S. 159), macht deutlich, dass es auch im Alter unerwartete Möglichkeiten für sexuelle Erfüllung geben kann: „...ALS ICH ANKAM, SASS MEINE URLAUBSLIEBE AUF EINER STEINBANK AM MEER UND LAS IN EINEM BUCH. ICH SAH IHM EINE WEILE ZU. ER WAR SO EIN SCHÖNER MANN! MIT SCHWARZEN LOCKEN UND WEISSEN STRÄHNEN IM HAAR. ER WAR 54, UND ICH WAR 72. ICH SETZTE MICH LEISE ZU IHM. ER SPRANG AUF UND RIEF: „DA BIST DU JA ENDLICH.” UND ICH SAGTE: „HIER BIN ICH, UND ICH BIN FREI.” IN DIESER NACHT WURDE ICH SEINE GELIEBTE. ER WAR SO ZÄRTLICH, SO LEIDENSCHAFTLICH. ER BREITETE EINE DECKE AM STRAND AUS UND STREUTE BLUMEN DARAUF. ICH HABE IHN NICHT GELIEBT, ABER ICH WURDE VON SEINER BEGIERDE WEGGETRAGEN....” Studien Medizinische Studien befassen sich in erster Linie mit Potenzstörungen des Mannes. Störungen bei Frauen werden kaum erwähnt. Über lesbische Beziehungen im Alter wird selten berichtet (u.a. bei Renate Daimler). Dabei ist anzumerken, dass es für lesbische Frauen weit weniger schwierig ist, eine Partnerin zu finden. Kirsten von Sydow (Dr. phil.) hat in Gesprächen mit älteren Frauen festgestellt: ➤ Frauen beenden im Durchschnitt mit 60-65 ihre koitale Aktivität. ➤ Mit 70 haben ein drittel der verheirateten Frauen noch Geschlechtsverkehr. ➤ Mindestens zwei drittel der sexuell aktiven Frauen genießen die Sexualität mit ihrem Partner und erleben einen Orgasmus. ➤ Ein Drittel erlebt Sexualität als unerfreulich. ➤ Ein Drittel praktiziert Selbstbefriedigung. ➤ In den ersten fünf Jahren ihrer Ehe hatte die Hälfte der vor 1934 geborenen Frauen (viel) Freude an Sex, ein Drittel nur geringen Genuss. ➤ 16% machte es überhaupt keinen Spaß. ➤ Meist wird die gemeinsame Sexualität oder auch des Beenden der gemeinsamen sexuellen Aktivität eher von den männlichen als weiblichen Wünschen bestimmt. ➤ Die Wiederverheiratungschance ist fünf- bis sechsmal kleiner als bei Männern (die ohnehin eine viel größere 18 Literatur: - - - - - - Daimler, R., 1991, Verschwiegene Lust, Frauen über 60 erzählen von Liebe und Sexualität. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln. Ebberfeld, I., 1992, „Es wäre schön nicht so allein zu sein”, Sexualität von Frauen im Alter. Campus Verlag, Frankfurt. Gay Gaer Luce, 1996, Liebe, Lust und langes Leben, Iskopress, Salzhausen Rororo Sachbuch, Unser Körper, unser Leben. Über das Älterwerden. Ein Handbuch für Frauen. Rororo Sachbuch, Reinbek, Nr. 8841. Sydow, K. von, 1993, „Lebenslust” Weibliche Sexualität von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter. Verlag Hans Huber, Bern u. a. Sydow, K. von, 1994, Die Lust auf Liebe bei älteren Menschen. Ernst Reinhardt, München & Basel. Sydow, K. von, 1992, Partnerlosigkeit und Sexualität im Alter: Wünsche und Realität von Seniorinnen. In Sexualmedizin 7, S. 316-324. Sydow, K. von, 1993, Sexuelle Entwicklung in der Ehe, Retrospektive Studie. In: Sexualmedizin 2, S. 44ff. Scheib, Gisela Antonia, „Lust und kein Ende?” Körperliche Liebe i. höh. Lebensalter. PRO FAMILIA Magazin 1/96 PRO FAMILIA Magazin 5/98: „Lust im Alter”. Arbeitsgruppe II Ich hätte ja nie gedacht, wie gut mir das tut Moderation: Dr. Astrid Osterland, Freie Altenarbeit Göttingen 1. Anfang 1994 war es so weit. 11 alte Frauen im Alter zwischen 68 und 85 Jahren ziehen in eine wunderschöne Jugendstilvilla in einem Villenviertel der Stadt Göttingen ein. Jede bezieht ein abgeschlossenes 2-Zimmerapartement mit Kitchenette (30 - 47 qm2 Wohnfläche). Hier wollen sie in einer selbst organisierten Wohngemeinschaft zusammen leben. Seitdem gibt es die 1. Alten-WG in Göttingen und eine der wenigen Alten-WG‘s in der Bundesrepublik überhaupt. 2. Inzwischen sind 5 Jahre vergangen. Zahllose Journalisten und Fernsehteams haben die WG besucht und immer wieder die gleichen Fragen gestellt: Eine selbst organisierte Wohngemeinschaft mit alten Menschen - geht das überhaupt und wenn ja, wie? Welche Probleme tauchen dabei auf und wie werden sie bewältigt? Sind die alten Damen zufrieden mit ihrer Lebensform und wenn ja, warum? Und natürlich immer wieder die Frage, wie ein solches Projekt überhaupt zu Stande gekommen ist und wie es sich finanziert hat. 3. Um alle diese Fragen einmal systematisch und wissenschaftlich fundiert zu beantworten, haben die Damen mir den Auftrag erteilt, eine Untersuchung über ihr Zusammenleben zu machen und die Ergebnisse so aufzubereiten, dass auch die, die ein ähnliches Projekt planen, davon profitieren können. Das Rad muss ja nicht jedes Mal neu erfunden werden! Es ist also eine Publikation geplant. 4. Ein Ergebnis kann schon jetzt vorweggenommen werden: Das gemeinschaftliche Wohnen tut allen Beteiligten gut. Alle wohnen gern in ihrem neuen zu Hause, gerade auch, weil sie nicht nebeneinander her, sondern miteinander leben, nicht nur harmonisch, sondern durchaus mit Konflikten. Aber das gehört nun einmal zum Leben. Und die Frauen wollen auch mitten im Leben leben, nicht ins gesellschaftliche Abseits gedrängt, da wo es grünt und die Altengettos stehen. Diesen Herausforderungen des WG-Lebens können sie begegnen, weil sie miteinander reden, sich untereinander stützen und ein gemeinsames Ziel haben, nämlich ihr Leben und Wohnen in diesem Haus selbstbestimmt zu organisieren. So tauchte für mich die Frage auf: Was ist das Geheimnis des Erfolges? Was braucht es, damit gemeinschaftliches Wohnen von alten Menschen klappt? 5. In unserem Fall, der Göttinger Alten-WG, haben folgende Zutaten den Weg zu diesem Projekt geebnet: Zum einen der gemeinnützige Verein „Freie Altenarbeit Göttingen“ (FAG), zum anderen die Vereinsphilosophie, die den Namen Empowerment trägt, des Weiteren eine dem gemeinschaftlichen Wohnen gegenüber aufgeschlossene Kommune und last not least Menschen, die ihr Alter selbstbestimmt leben wollten und bereit waren, auch in ihrem Alter ein Experiment zu wagen. 6. Zunächst zu dem erwähnten Verein. Der Verein Freie Altenarbeit ist ein Zusammenschluss von professionellen Kräften der Altenarbeit (Altenpflegekräfte, der Leiter einer Altenpflegeschule, der einer der Hauptinitiatoren war und langjähriger Vorsitzender des Vereins ist) und alten und jüngeren Menschen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, neue, unkonventionelle Wege in der Altenarbeit zu gehen. Ihr Motto: Von der „Einfalt“ zur Vielfalt der Altenhilfe. Schon bei der Gründung des Vereins vor 11 Jahren waren sich alle einig: „Im Altenheim wollen wir nicht landen, weder als Pflegekräfte noch als alte Menschen“. Es wurden öffentliche Diskussionsveranstaltungen zum Thema Wohnen im Alter organisiert und es zeigte sich, dass das Interesse an alternativen Wohnformen jenseits des Alleinlebens oder des Altersheimes groß war. Die ersten Interessierten taten sich zusammen und überlegten, wie so ein Projekt aussehen könnte und was zu tun wäre, damit auch in Göttingen gemeinschaftliches Wohnen im Alter realisiert werden kann. 7. Alsbald war klar: die Alternative zu den herkömmlichen Wohnformen (Alleinleben, betreutes Wohnen oder so genannten Altenresidenzen) sollte eine selbst organisierte Alten-Wohngemeinschaft sein. Dies entsprach auch der Philosophie des Vereins, die auf den Grundgedanken des Empowerment aufbaut. Der Begriff „Empowerment“ kommt aus der amerikanischen Sozialarbeit und heißt übersetzt in etwa: sich seiner Ressourcen und Fähigkeiten bewusst zu werden und sie für die Bewältigung der alltäglichen Probleme zu nutzen. Dahinter steht ein Menschenbild, das alte Menschen, auch wenn sie krank und hilfsbedürftig sind, nicht in erster Linie als betreuungsbedürftige Wesen betrachtet. Stattdessen gilt es, Bedingungen zu schaffen, die den Alten ein selbstständiges Leben bis an ihr Lebensende ermöglicht. Dazu werden die Kompetenzen, Fähigkeiten und Erfahrungen der alten Menschen genutzt. Nicht für, sondern mit alten Menschen arbeiten, planen und entscheiden, das ist der Wegweiser des Vereins in der Arbeit mit alten Menschen und so ist auch dieses Projekt zu Stande gekommen. Die alten Damen waren von Anfang an bei der Planung der WG und beim Umbau des Hauses beteiligt. Nichts wurde über ihren Kopf hinweg entschieden. Das Projekt war ihres, auch wenn professionelle Kompetenzen in die Realisierung mit einflossen. Der Verein fungiert als Träger des Projektes, doch die Ausgestaltung des gemeinschaftlichen Wohnens obliegt den Frauen. Wie sie miteinander und mit wem sie leben wollen, das entscheiden sie allein. So wurde das Wohnprojekt für die Frauen zu einer Aufgabe, die sie vereint und die ihre Fähigkeiten und Ressourcen immer wieder neu herausfordert. Selbstbestimmtes gemeinschaftliches Wohnen im Alter will gelernt sein und wie sich inzwischen gezeigt hat, haben die Frauen diese Aufgabe bewältigt, auch wenn viele von ihnen gebrechlich und in der einen oder anderen Form hilfsbedürftig sind. 8. Das Projekt wäre nicht zu Stande gekommen, wenn nicht eines Tages die Kommune in Gestalt der Sozialdezernentin ein Angebot unterbreitet hätte, das die kühnsten Hoffnungen der in Sachen WG Engagierten übertraf. Sie bot dem Verein ein ehemaliges Altenheim an, das, zwischenzeitlich geschlossen, nunmehr wieder für Alte zur Verfügung stehen sollte. Aus dem ehemaligen Altenheim Drewes-Stift wurde die erste selbst organisierte Alten-WG in Göttingen. Die Umbaukosten in Höhe von 1,6 Mio. DM wurden zusammengetragen durch Spenden (600.000 DM) und Geld vom Kapitalmarkt, für das die Stadt Göttingen die Bürgschaft übernahm. 19 9. Als die Frauen in das Haus zogen, war den meisten von ihnen gar nicht so klar, worauf sie sich da eingelassen hatten. Fast alle hatten inzwischen die Schattenseiten ihres Alleinlebens erfahren. Da gab es viel Einsamkeit, viele Kinder, die viel zu weit weg von ihnen wohnten, zunehmende gesundheitliche Beeinträchtigungen und insgesamt die bange Frage: muss ich nicht eines Tages ins Altersheim? Gemeinsam war ihnen der Wunsch, dass sie so lange wie irgendwie möglich ihr Leben selbstständig meistern wollten, und ins Altenheim wollte keine von ihnen. 10. So kam es dazu, dass aus ganz normalen alterstypischen Gründen ganz normale alte bzw. hochbetagte Frauen sich zusammenfanden, um ein ganz und gar unnormales Experiment zu wagen, nämlich eine Alten-Wohngemeinschaft zu gründen und darin ein gutes Leben zu führen. Leichter gesagt als getan, denn keine von ihnen hatte Erfahrungen, wie so etwas zu bewerkstelligen ist. Zwar gab es einige unter ihnen, die sich - inspiriert von der Idee gemeinsamen Wohnens - schon ihre Gedanken über die Gestaltung einer solchen WG gemacht hatten. Aber ein Konzept hatten sie nicht, und außerdem standen am Anfang ganz andere Probleme auf der Tagesordnung. Der Umzug musste organisiert werden, die Frage, was sollte mitkommen in die neue, sehr viel kleinere Wohnung und wovon musste man sich trennen, stand an und auch der Ausbau des Hauses, bei dem ja alle mitentscheiden sollten, warf viele Fragen und Probleme auf. 11. Die alten Damen standen vor immensen Herausforderungen, sowohl, was die praktischen Entscheidungen des Umbaus betraf als auch im Hinblick auf ihr zukünftiges Zusammenleben. Der Verein entschloss sich daher, der Gruppe eine Projektbegleitung anzubieten, die vielerlei Aufgaben übernahm. Sie fungierte als Vermittlungsinstanz zwischen der Bauleitung und den Frauen, moderierte und protokollierte die wöchentlichen Treffen, auf denen alle anstehenden Fragen erörtert wurden, brachte eigene Ideen und Lösungsvorschläge ein, wenn guter Rat teuer war, und last but not least behielt sie den Gruppenprozess im Blick. Das bedeutete am Anfang vor allem, dass sie die Frauen darin unterstützte, sich kennen zu lernen, ihre eigenen Wünsche zu äußern und Entscheidungen über das gemeinsame Wohnen zu treffen, die alle mittragen konnten. Die Gruppe lernte auf diese Weise zu laufen und das gelang so gut, dass sie sich nach ihrem Einzug in das Haus von der Projektbegleitung verabschiedete. Die Gruppe verstand sich nun als eine selbstzuorganisierende Gemeinschaft und übernahm die Gestaltung ihres Zusammenlebens in eigener Regie. 12. Als ich nach 5 Jahren des Zusammenlebens der WG mit meiner Untersuchung begann, habe ich mich vor allem gefragt: woran liegt es, dass diese Frauen sich in diesem Haus so wohl fühlen und keine von ihnen mehr in ihr altes Leben zurückkehren möchte? Wie haben sie es geschafft, ihr Miteinander so zu gestalten, dass sie ihr Leben als erfüllt und anregend erfahren und insgesamt, trotz zahlreicher gesundheitlicher Einschränkungen, ein großes Wohlbefinden äußern? Kurzum: was ist das Geheimnis des Erfolges dieser WG? 20 13. Auf diese Fragen haben sie mir in meinen Gesprächen mit ihnen eine Menge Antworten gegeben. Es oblag mir, diese Antworten zu systematisieren und damit meinen eigenen Blickwinkel auf das Projekt zur Geltung zu bringen. Dieser Blickwinkel richtete sich zum einen auf den internen Gruppenprozess und zum anderen auf die Rahmenbedingungen oder Strukturen, die zu einem solchen Projekt gehören. Dazu zähle ich das Haus, die abgeschlossenen Wohnungen, die Kooperation mit dem Träger des Projektes, dem Verein Freie Altenarbeit, aber auch die spezifischen Strukturen, die diese Wohn- und Lebensform ausmachen, wie z.B. die wöchentlichen Treffen, in denen alle Fragen erörtert werden, und das System gegenseitiger Unterstützung. Beides, die Strukturen und Gruppenprozesse, lassen sich natürlich schwer voneinander trennen, wenn man nach dem Geheimnis des Erfolges fragt. Doch wissen wir auf der anderen Seite, dass bestimmte Strukturen nur die Bedingung der Möglichkeit sein können. Was die Einzelnen dann letztlich daraus machen, ist ihre Entscheidung, und da setzt der unwägbare Faktor Subjektivität ein, der auch bei besten Voraussetzungen bisweilen seine eigenwillige Dynamik entfaltet. Dieser Dynamik des Gruppenprozesses habe ich versucht, auf die Spur zu kommen, indem ich die Frauen zunächst danach gefragt habe, wie sie ihr Zusammenleben gestalten. Dahinter steht der Gedanke, dass jede Gruppe ihre eigene Gruppenkultur entwickeln muss, die eine gemeinsame Grundlage des Umgangs miteinander bildet. 14. Zu dieser Gruppenkultur gehört z.B. die Frage, wie sich Nähe und Distanz untereinander so ausbalancieren, dass jede für sich ihr eigenes Leben führen kann, ohne sich kontrolliert oder eingeengt zu fühlen. Wie sich in den Gesprächen sehr deutlich zeigte, ist dies, die Respektierung der eigenen Grenzen, die unabdingbare Voraussetzung für jede Form von Gemeinschaftlichkeit. Erst wenn ich für mich sein darf, kann ich auch für die anderen da sein. Keine von ihnen hat dies so formuliert, aber allein das Wissen, die Tür hinter sich abschließen zu können, ohne befürchten zu müssen, nun aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden, trägt maßgeblich zu der Sicherheit bei: hier darf ich mein eigenes Leben leben und trotzdem die Geborgenheit in der Gruppe erfahren, denn die anderen sind da, auch wenn ich bei mir bin. 15. Die Tür hinter sich abschließen zu können, d.h. einen eigenen abgrenzten Wohnraum zu haben, darin sehe ich eine wesentliche Voraussetzung für gemeinschaftliches Wohnen gerade auch für alte Menschen. Frei und für sich sein und trotzdem nicht einsam, das ist der Wunsch, den alle haben. Und dafür bietet eine Gruppe, welche die Grenzen untereinander respektiert, die Gewähr. Aber dazu bedarf es eben auch der räumlichen Gegebenheiten, sei es in Form abgeschlossener Wohneinheiten, aber auch der Räume, in denen Begegnung möglich ist. Das Haus bietet vielerlei Kontakträume, sei es die große Gemeinschaftsküche, die Wohngemeinschaftsräume (Saal und Bibliothek) oder auch die Dielen, die, mit Sofas möbliert, immer wieder zum Plaudern einladen. Die Frauen nennen ihre Diele den Kontakthof und in ihm spielt sich ein großer Teil der alltäglichen Kommunikation ab. 16. Wenn Menschen zusammenkommen und ein solches Projekt auf die Beine stellen wollen, entstehen erfahrungsgemäß auch Konflikte. Auch unsere Frauen waren davon nicht verschont und manchmal ging es hart zur Sache. Wie in jeder Gruppe differenzierten sich alsbald die Rollen. Es gibt die Macherin, die Sachautorität und die Normautorität, die Ausgleichende und die Neutrale und es gibt die Schweigenden, die versuchen, sich aus den Konflikten herauszuhalten. Keine von ihnen hatte effektives Konfliktmanagement gelernt. Die meisten scheuen den offenen Konflikt und so wird, nach eigenem Bekenntnis, auch vieles unter den Teppich gekehrt, getreu dem Motto: aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Über allem steht der Wille zur Toleranz, auch wenn das Verhalten der Nachbarin als befremdlich oder gar störend empfunden wird. Frau kennt sich und ihre Macken und wer im Glashaus sitzt, solle nicht mit Steinen werfen! Ein wesentlicher Konflikt entzündete sich vor allem am Anfang an der Frage der Hausordnung und der Verteilung der Aufgaben, die mit der Selbstorganisation des Alltags anfallen. Dahinter stand das Thema: wie viel Festlegung/Verpflichtung und wie- viel Freiwilligkeit brauchen wir für unser Zusammenleben? Anders formuliert: lässt sich Gemeinschaft durch fixierte Regeln und gleichmäßig verteilte Aufgaben forcieren oder wie viel Individualität lässt die Gruppe zu? Eine der Frauen machte sich zur engagierten Fürsprecherin möglichst genauer Festlegungen und stieß prompt auf harten Widerstand. Die Mehrheit baute auf das Prinzip der Freiwilligkeit nach Maßgabe eigener Möglichkeiten und Fähigkeiten und sie tat gut daran. Eine schriftliche Hausordnung gibt es bis heute nicht. Frau nimmt auch so Rücksicht aufeinander. Und alle tragen entsprechend ihren Möglichkeiten und Interessen dazu bei, dass Haus und Garten picobello in Schuss gehalten werden. 17. Als ich die Frauen fragte, wie sie ihre Beziehung zueinander bezeichnen würden, fiel immer wieder das Wort „Wahlfamilie“. Man ist nicht nur Nachbarin, aber auch nicht Freundin füreinander. Man siezt sich und ist trotzdem sehr vertraut miteinander. Wie in einer großen Familie gibt es nähere und fernere „Verwandte“, einige, mit denen man engen Kontakt pflegt und andere, zu denen man Distanz hält. Aber die Nähe überwiegt, und das gibt ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, die das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt. Sich zugehörig fühlen, Sorgen und Freuden des Alltags mit anderen teilen zu können, darin sehe ich eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Wohlbefinden der Frauen. Viele von ihnen sagen: seitdem ich hier wohne, geht es mir immer besser, auch wenn die körperlichen Einschränkungen zunehmen. 18. Unter dem Dach des Hauses ist ein Netzwerk von Bindungen entstanden, das jede Einzelne trägt und in ihrem Alltag unterstützt. Die Gruppe wird so im Sinne des Empowerments zu einer sozialen Ressource, auf die das einzelne Individuum bauen kann. „Wir sind die reinsten Kümmerer“ sagt Frau G. und drückt damit aus, wie wichtig die Gruppe als Unterstützungsystem für die Einzelne ist. Ist eine von ihnen krank, springen die anderen ein. Der Einkauf und das Essen werden organisiert, nötige Handreichungen ge- macht und auch der Gedanke, wenn mir etwas passiert, ist immer jemand da, trägt sehr zum Gefühl der Sicherheit bei. Natürlich taucht an dieser Stelle die Frage auf: und wie ist es, wenn jemand pflegebedürftig ist? Dies war bisher noch nicht der Fall, aber die Frauen haben sich darauf verständigt, dass sie helfen werden, solange es geht, und dass die Grenze da liegt, wo sie überfordert sind, sei es, weil eine Rundum-Pflege nötig wird oder jemand so geistig verwirrt ist, dass sie andere oder sich selbst gefährdet. 19. Ich halte dieses auf Freiwilligkeit beruhende System der Unterstützung für eine der wesentlichen Grundlagen für das Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit, von der mir die Frauen berichteten. Es ist ein Kreislauf des Gebens und Nehmens, von dem alle - nicht immer gleichmäßig - profitieren. Wer rüstig und gesundheitlich nicht allzu eingeschränkt ist, gibt naturgemäß zunächst mehr, aber alles gleicht sich im Laufe der Zeit aus. Denn die, die anfangs mehr gegeben haben, können darauf bauen, dass sie Hilfe bekommen, wenn sie sie später einmal brauchen. Und - auch das spricht für eine solche Gruppe - die Unterstützung verteilt sich auf mehrere Schultern. Kann die eine nicht (mehr), springt die andere ein. Das erleichtert das Annehmen von Hilfe, das für die meisten sehr viel schwieriger ist als das Geben. 20. Einander im Alltag zu begegnen und zu begleiten, von anderen gesehen zu werden und sich im Spiegel des Gegenübers wahrzunehmen, trägt entscheidend zur Selbstidentifizierung bei und ist keineswegs selbstverständlich für alte Menschen, die allein wohnen, da hier die Kontakte häufig sehr reduziert sind. Die existenzielle Frage, wer bin ich, findet hier im natürlichen Rahmen der Wohngemeinschaft eine bzw. mehrere Antworten. Die Frauen erfahren, wie wichtig sie für andere sind, wofür sie geschätzt oder auch abgelehnt werden, was sie leisten und zum Gelingen des Projektes beitragen können. Indem sie Verantwortung für sich, die anderen und das Projekt übernehmen, geben sie ihrem Leben eine Aufgabe und damit einen Sinn. „Es ist das Haus, das uns eint“ sagen sie und verweisen damit auf „das Dritte“, das ihre Beziehungen zueinander prägt. 21. Vergegenwärtigt man sich, wie wichtig es auch und gerade im Alter ist, Aufgaben zu haben und sich auch neuen Herausforderungen zu stellen, dann kann man das Prinzip der Selbstorganisation gar nicht hoch genug einschätzen. Da, wo alle ihren eigenen Beitrag zur Gestaltung des Zusammenlebens leisten, begegnen sich nicht nur private Personen, sondern „FunktionsträgerInnen“, die zum Gelingen des gemeinschaftlichen Zieles beitragen. „Ich bin die, die die Gästezimmer verwaltet, ich bin die, die die Gartenarbeit macht, oder einfach nur die, die morgens die Zeitungen hereinholt und sie vor die Wohnungstür legt“. Dieses Wissen, gebraucht zu werden, ist gerade für alte Menschen wichtig, die ja gesellschaftlich in die Funktionslosigkeit gedrängt werden. 22. Auf diese Weise treten die persönlichen Unterschiede z.B. im Hinblick auf Ausbildung und Beruf in den Hintergrund. Entscheidend ist nicht, was jemand früher gemacht 21 hat oder aus welcher Schicht die Einzelne kommt (das Spektrum reicht von der Akademikerin bis zur Hausfrau, von der Bäuerin bis zur Bibliothekarin, von der Frau mit hoher Pension bis zu der, die eine minimale Rente hat). Viel wichtiger wird vor Ort, was die Einzelne in das Zusammenleben einbringt, welche Rolle sie in der Gruppe einnimmt und was sie zur Organisation des Alltags beiträgt. Eine solche Gruppe kann auch die integrieren, die nicht mehr so rüstig sind oder eher eine Außenseiterposition einnehmen. Wie gesagt: Toleranz und Gelassenheit im Umgang miteinander prägen die Gruppenkultur und unterstützen den konstruktiven Umgang miteinander, auch wenn es, wie im Leben üblich, immer mal wieder zu Meinungsverschiedenheiten und Konflikten kommt. 23. Für alle ist dieses Projekt ein permanenter Lernprozess. Miteinander auch kontrovers zu diskutieren, sich aufeinander einzustellen und mit den jeweiligen Macken umzugehen, sich in einer Gruppe zu bewegen und dort die eigene Rolle zu finden, wichtige Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen, all dies sind Herausforderungen, denen eine Alleinlebende nicht ausgesetzt ist. Hinzukommt die permanente Öffentlichkeitsarbeit. Da richten sich die Fernsehkameras auf das Innenleben des Projektes, die JournalistInnen haben 1000 Fragen, die beantwortet werden wollen und zahlreiche Interessierte wollen wissen: wie kriege ich einen Platz in dieser WG? Da die Entscheidung, wer einzieht, ausschließlich bei den Bewohnerinnen liegt, muss auch darüber Verständigung erzielt werden. Wer passt zu uns oder wer auch nicht? Was können wir denen empfehlen, die wir nicht aufnehmen wollen? Auch dies Fragen, denen sich keiner stellen muss, der allein lebt, und die die Frauen in Bewegung halten. Leben in einer WG ist aktives Altern, nicht passives Hinnehmen. 24. Grundsätzlich haben die Frauen das alleinige Entscheidungsrecht über die Neuzugänge, allerdings mit einer kleinen Einschränkung: dies ist das Prinzip der sozialen Ausgewogenheit in der Zusammensetzung der Bewohnerinnen oder anders formuliert: das Konzept dieser selbst organisierten WG sieht vor, dass sie gerade und vor allen Dingen auch finanziell weniger betuchten Menschen offen stehen soll. Obwohl im schönsten Villenviertel Göttingens gelegen, ist dieses Haus kein Refugium finanzkräftiger alter Menschen und soll es auch nicht werden. Weiter haben die Frauen das Prinzip der Sozialverträglichkeit in ihre Entscheidungen übernommen und sich u.a. auf einen „Lastenausgleich“ verständigt, der so aussieht: alle zahlen nach Selbsteinschätzung etwas in die gemeinsame Kasse, wovon Ausgaben für Haus und Garten getätigt werden. Die Finanzkräftigeren zahlen mehr als die anderen. Auch die Kosten für die Gemeinschaftsräume werden nicht einfach durch elf geteilt, sondern nach der Größe der Wohnungen sozial gestaffelt. Die Bewohnerinnen der kleineren Wohnungen zahlen entsprechend weniger, da sie im Allgemeinen auch ein geringeres Einkommen haben. Auch dies eine Möglichkeit, Verantwortung füreinander zu übernehmen, ohne abstrakte Prinzipen der Gerechtigkeit zugrundezulegen. 22 25. Diese WG ist eine reine Frauenwohngemeinschaft. Das war zwar nicht von Anfang an geplant, sondern hat sich so ergeben, weil die wenigen interessierten Männer vor allem Versorgungsansprüche geltend machten: Wer kocht für mich, wer bügelt meine Hemden? Das waren Fragen, auf die die Frauen eine eindeutige Antwort parat hatten. Wir jedenfalls nicht! Das haben wir unser Leben lang getan, das wollen wir nicht mehr! Insofern ist diese WG ein „gewordenes Frauenprojekt“, freiwillig und unfreiwillig zugleich. Doch niemand vermisst die Männer, zumindest nicht die, die sich anboten. Neue Männer braucht das Land auch in den Alten-Wohngemeinschaften! Und solange es die nicht gibt, machen die Frauen ihr eigenes Projekt, ein ganz und gar frauenspezifisches. Entstanden ist eine Kultur der Fürsorge und des gegenseitigen Gebens und Nehmens. („Wir sind die reinsten Kümmerer“). Was Männer demgegenüber in ein solches Projekt einbringen, bleibt vorerst offen. Dazu bedarf es, wie gesagt, des neuen alten Mannes. 26. Alle haben mir erzählt, wie viel sie voneinander und miteinander gelernt haben. Die häufige Frage, wie lassen sich die sozialen Kompetenzen alter Menschen erhalten oder erweitern, findet in dieser WG eine Antwort: Die WG ist ein sozialer Raum, der immer wieder neue Herausforderungen bereithält. Das gemeinschaftliche Wohnen erfordert soziale Flexibilität, Anpassungs- und Veränderungsbereitschaft, sie bietet vielerlei Anregungen für die Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen Menschen und sie trägt dazu bei, die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit zu erhalten. In diesem Sinne ist die WG eine soziale Ressource, von der alle profitieren. Sie bietet die Rahmenbedingungen für ein selbstverantwortliches, sinnerfülltes und aktives Leben im Alter. Für die Zweifler hält diese WG die Botschaft bereit: ein solches Zusammenleben funktioniert zum Vorteil aller Beteiligten, vorausgesetzt man weiß, wo das Geheimnis des Erfolges liegt. Literatur: - - - - Herriger, Norbert (1997) Empowerment in der sozialen Arbeit. Eine Einführung. (Kohlhammer) Stuttgart, Berlin Stark, Wolfgang (1996) Empowerment. Neue Handlungskompetenzen in der psychosozialen Praxis. (Lambertus) Freiburg i. Br. Blonski, Harald (Hg.) (1997) Wohnformen in Alter. Ein Praxisberater für die Altenhilfe. (Beltz) Weinheim, Basel Henckmann, Antje (1999) Aufbruch in ein gemeinsames Altern. Neue Wohnformen im Alter. (Budrich & Leske Verl.) Opladen Engel, Frank; Nestmann, Frank; Niepel, Gabriele; Sickendiek, Ursel (1996) Weiblich, ledig, kinderlos und alt. Soziale Netzwerke und Wohnbiografien alter allein stehender Frauen. Opladen (Leske & Budrich) Dierl, Reinhard; Hoogers, Kinie (1988) Altenwohngemeinschaften. Dokumentation und Diskussionsbeiträge. (Herausgegeben v. Kuratorium Deutsche Altershilfe) Arbeitsgruppe III Häusliche Gewalt an Frauen im Alter: Was passiert, wenn der Ehemann in Rente geht? Moderation: Ingrid Wedlich, Frauenberatungsstelle Braunschweig Mit dem Renteneintritt werden jahrzehntelange Strukturen zwangsläufig verändert und müssen durch neue ersetzt werden. In dieser Umbruchsituation ist es von entscheidender Bedeutung, welche Bewältigungsmöglichkeiten sowohl von dem Mann als auch von der Frau entwickelt wurden, wie gut die gemeinsame Ehe geführt wurde und welche eigenständigen Bereiche sie für sich erschlossen haben. ➤ ➤ ➤ ➤ ➤ Vorhandene Erwartungen: Arbeitsentlastung Zugewinn an freier Zeit Intensivierung der Paarbeziehung Ausweitung von Kontakten Erfüllung lang gehegter Wünsche (z. B. Urlaubsreisen) 3. Gewalterfahrungen der Frau durch den Mann: 1. Veränderte Situation des Mannes durch den Renteneintritt: ➤ ➤ ➤ ➤ ➤ ➤ ➤ ➤ ➤ Es entfällt: Jahrzehnte gewohnte Arbeitsstruktur Bestätigung durch Arbeitsanforderungen Soziale Kontakte am Arbeitsplatz Finanziell gewohnter Standard Gefordert ist: Neustrukturierung des Alltags Füllen der Zeit und deren Sinngebung (Hobby) Finanzielle Einschränkung Auseinandersetzung mit dem Altern Absprache mit der Frau über den Umgang mit der veränderten Lebens- und Alltagswelt Vorhandene Erwartungen: ➤ Genießen der Zeit ➤ Erfüllung lang gehegter Wünsche (Hobbys, Reisen, Kontakte) 2. Veränderte Situation der Frau durch den Renteneintritt des Mannes und damit verbundene Schwierigkeiten: ➤ Schwierigkeiten, einen neuen Zeitrhythmus zu finden ➤ Zusätzliche Arbeitsbelastung bei der Hausarbeit und Störung des Arbeitsablaufs durch zusätzliche Ansprüche des Mannes ➤ Kompetenzstreitigkeiten wegen der Einmischung des Mannes in „ihre„ Bereiche oder deren Kontrolle ➤ Kompetenzverlust durch Aufgabe der Monopolstellung im Haushalt ➤ Zusätzliche Anforderungen an ihr „weibliches Arbeitsvermögen„, d.h. bezogen auf materielle und psychische Versorgung des Mannes ➤ Einschränkungen und Kontrolle bei Freizeitgestaltung und sozialen Kontakten ➤ Partnerkonflikte ➤ Auseinandersetzung mit dem eigenen Alter ➤ Finanzielle Einbußen ➤ Beanspruchung durch Großmutteraufgaben ➤ Konfrontation mit Depression und Alkohol des Mannes, wenn dieser die veränderte Situation für sich nicht verarbeitet ➤ durch Pflege der Eltern oder Schwiegereltern (evtl. damit verbundene Loyalitätskonflikte) ➤ Verlust der eigenen Eltern, die Rückhalt gaben ➤ Abwertung ihrer Kompetenz als Hausfrau, Wirtschafterin, Organisatorin verbunden mit Demütigungen ➤ Finanzielle Kürzungen, die unverhältnismäßig sind ➤ Kontrolle und Beanstandung jeglicher finanzieller Ausgaben ➤ Abwertung ihres Alters, ihrer körperlichen Alterungserscheinungen, ihres Gesundheitszustandes und ihrer Sexualität ➤ Drohungen, sie wegen einer Jüngeren zu verlassen. Aufnahme von sexuellen Kontakten zu anderen Frauen ➤ Häusliche Isolation, wenn der Mann nur noch mit ihr zusammen sein will und Freunde nicht akzeptiert ➤ Drohungen, sie zu verlassen, wenn sie nicht das macht was er will ➤ Vernachlässigung und verbaler Boykott ➤ Körperliche und sexuelle Gewalt. Sie stehen meist am Ende vorangegangener psychischer Gewalt. 4. Ungünstige Bewältigungsvoraussetzungen für die Frau Von ausschlaggebender Bedeutung für die Bewältigung der neuen Lebenssituation ist die bisherige Ausprägung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, sowie eigene Interessen und Aktivitäten außerhalb der Familie. Haben sich die Frauen jahrzehntelang an der typischen Frauenrolle orientiert, ist es für sie schwer, neue Aktivitäten außerhalb des häuslichen Bereichs, wie Sport, Weiterbildung, Besuch kultureller Veranstaltungen, Geselligkeit, politisches und soziales Engagement zu entwickeln. Sie behalten meist die gewohnten Tätigkeiten in „ihrem„ Kompetenzbereich bei, um die drohende Funktionslosigkeit zu kompensieren. „Die Untersuchung bestätigt, dass nicht berufstätige Frauen aus der Arbeiterschicht, vor allem wenn ihre Männer jahrzehntelang gesundheitsbelastende Tätigkeiten an Schichtarbeitsplätzen ausgeübt haben, infolge besonderer Belastungen und Einschränkungen eher ungünstige Voraussetzungen für die Bewältigung der mit der Frühausgliederung verbundenen Veränderung haben. Kennzeichnend für die Verarbeitung ist eine ausgeprägte Tendenz, bestehende Schwierigkeiten, ihre Unzufriedenheit und unerfüllten Wünsche zu relativieren. Dieser Hang zur Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit ist vor dem Hintergrund ihrer früheren Einschränkungen und Belastungen zu sehen.„ (Dagmar Koch, 1989) Geht der Mann in Vorruhestand können zusätzlich auftreten: ➤ Streitigkeiten mit im Elternhaus lebenden Kindern ➤ Identifikationsprobleme mit dem Status einer Rentnerfamilie 23 5. Mögliche Veränderungen In der Beratung arbeiten wir darauf hin, dass die Frau ihr Selbstwertgefühl stärken kann, wieder Zugang zu ihrer Kraft, zu ihren Potenzialen und zu ihren Fähigkeiten bekommt. Dass sie ihre eigenständigen sozialen Kontakte und Hobbys aufnimmt und pflegt. Dass sie lernt, sich für ihre Bedürfnisse einzusetzen. Dazu gehört auch, Konflikte selbstbewusst anzugehen und sich abgrenzen zu können. In dem Zusammenhang ist es notwendig, die gesellschaftlichen Bedingungen zu verdeutlichen, in denen die Frau aufgewachsen ist und in denen sie gelebt hat, verbunden mit den Auswirkungen auf ihr bisheriges Leben. So hat sie die Möglichkeit, sich bewusst von den herrschenden Vorstellungen und Normen abzugrenzen und einen anderen Weg einzuschlagen. Von großer Bedeutung ist es, für sich weibliche Vorbilder zu finden, die ein selbstbestimmtes, würdiges Leben im Alter geführt haben –egal, ob dies nun durch Simone de Beauvoir oder eine andere Frau des öffentlichen Lebens repräsentiert wird. Außerdem ist es stärkend, sich mit dem zu verbinden, was über Jahrtausende an weiblicher Kraft und Weisheit bestanden hat. Es ist nie zu spät, sich für ein erfülltes und würdevolles Leben einzusetzen. Zitate aus: Dagmar Koch, Hilfe mein Mann geht in Rente! Zur Lebenssituation älterer Frauen nach der beruflichen Frühausgliederung ihrer Männer. Eine Problemstudie Werkstattbericht des Forschungsschwerpunkts „Arbeit und Bildung„ Band 7 (Hrsg.: Prof. Dr. Dieter Görs, Universität Bremen, 1989) 24 Arbeitsgruppe IV In der Jugend Hysterie, im Alter HOPS (Hirnorganisches Psychosyndrom) Renate Ehlers, AKF-Regionalgruppe Braunschweig Hysterie und HOPS (Hirnorganisches Psychosyndrom) gelten als klassische Diagnosen in zwei verschiedenen Zeitepochen. Während in der Freud’schen Wirkungsphase die Hysterie eine weitbekannte Lebenserscheinung bei Frauen war, ist in der heutigen Zeit die Diagnose HOPS auf vielen Diagnosebescheinigungen der alten Psychiatrie-PatientInnen zu lesen. Einen Unterschied finden wir heute allerdings zur geschlechtlichen Zuordnung. Freud’s Hysterie - PatientInnen waren überwiegend Frauen. Die HOPS - PatientInnen heute sind Männer und Frauen. Jedoch leben in den Alten- und Plegeheimen überwiegend Frauen; darum können wir auch heute berichten, dass HOPS - Diagnosen wiederum Frauen überwiegend betreffen. Symptome ähneln sich Sprachstörungen, launisch, boshaftig, störrisch, unfügsam, zornig, reizbar, träge, zerstörerisch, widersetzend, stupide, regungslos, dumpf hustend, keuchend, apathisch usw.. Bei genauer Betrachtung nehmen wir diese Symptome bei den HOPS - PatientInnen der heutigen Zeit auch wahr, so wie sich damals die Hysteriepatientinnen zeigten. Die Frauen hatten keine anderen Möglichkeiten, ihre Ohnmacht und Wut auszudrücken, und versuchten dies in Mimik, Gestik und verbalem Ausdruck. Das Ergebnis war dann die Pathologisierung dieser Ausdrucksformen durch herbeigerufene Ärzte. Freud’s Patientinnen und weitere ehemalige Hysterie-Patientinnen entwickelten vorwiegend zwei Strategien, um mit ihrer Lebensgeschichte umzugehen: ➤ Entweder investierten sie weitere Energien, sahen genau hin, gelangten zur gesellschaftlichen Anerkennung durch eigene Kräfte und unterstützten genau diese jungen Frauen und Mädchen, die Ähnliches erleben mussten, in einem sozialgesellschaftlichen Beruf, als z.B. Erzieherin für Mädchen, Lehrerin u. ä. So machten sie oft als allein für sich sorgende Frau öffentlich, dass eine für Frauen der damaligen Zeit zugedachte Rolle in der Gesellschaft für sie nicht lebbar war und wurden von ihren Ärzten plötzlich als „geheilt” propagiert, wie z.B. Anna O., die Patientin des österreichischen Arztes Josef Breuer (ein enger Freund Freud’s), die später als Bertha Pappenheim, neben vielen anderen sozialen Engagements u.a. ein Heim für gefährdete Mädchen und nicht eheliche Mütter gründete. ➤ Oder sie resignierten und versuchten auf anderen Wegen einen Ausdruck für ihre Leiden zu finden. Dies endete meist in der Selbsttötung –oder führte über den Weg von Abhängigkeiten in den Tod (Alkohol, Esssucht, Drogen). Luise Pusch und Sybille Duda haben Lebensbeispiele in ihren „Wahnsinnsfrauen” 1992 und 1996 beschrieben. Wissenschaftlich nicht bedachte Erlebnisse als Ursache von Demenzsymptomen? Alte Frauen in klinischen und stationären Häusern unserer Zeit haben nur noch eine Chance, mit Traumatisierungen in ihrer Lebensgeschichte zu leben. Ihnen bleibt auf Grund ihres Alters keine Möglichkeit mehr, in sozialgesellschaftlichem Engagement für Offenbarung ihres Leidens zu sorgen, weil sie in der heutigen Gesellschaft als alte Frau keine Chancen für persönliche Anerkennung bekommen. Ein lange funktionierender Mechanismus des Verdrängens funktioniert nicht mehr. Sie stehen vor ihrem Lebensende und ziehen Resümee, was bei allen Menschen als ein ganz natürliches Element anzusehen ist. Bevor wir sterben, betrachten wir unser Leben und spätestens dann können wir nicht mehr verdrängen, was uns auch schwer getroffen, gekränkt und somit auch charakterlich geformt hat. Demenzsymptome lassen sich in diese biografischen Zusammenhänge stellen. Frauen stellen sich Fragen wie: ➤ Warum war mein Leben so anstrengend? ➤ Warum habe ich keine mich unterstützenden Freundschaften? ➤ Warum hat meine/haben meine Ehen nicht funktioniert? ➤ Warum kann ich niemandem vertrauen? ➤ Was hat mich so misstrauisch gemacht? Spätestens jetzt zwingen sich Frauen zu Rückerinnerungen und landen oft dort, wo die schmerzliche Ursache begraben wurde. Sie grübeln und entdecken die schrecklichen Antworten, für die sie nun einen Ausdruck finden müssen vor ihrem Sterben, vor dem „Bilanz ziehen”. Sexuelle Traumatisierung als mögliche Ursache? Sexuelle Traumatisierung könnte ein Hinweis für die päsenile Demenz sein, die bei ca. 40-jährigen Frauen schleichend beginnt, wenn sich die so genannten Wechseljahre einstellen, in denen Frauen besinnlicher werden und über ihren Lebenssinn nachdenken. Sie erkennen, dass sie im Alter weniger Chancen zur gesellschaftlichen Anerkennung haben werden, als in ihren jungen Jahren. Die Depressionsstatistik für diese Altersgruppe kann ein deutlicher Hinweis dafür sein. Senile Demenzen beginnen mit ähnlichen Depressionen und werden häufig bei alten Frauen als „normal” bezeichnet. Jetzt fragen wir einmal, ob es normal ist, wenn sich ein alter Mensch aus der Gemeinschaft plötzlich zurückzieht, in der er sein ganzes Leben irgendwie integriert war? Die alten, einst traumatisierten Frauen haben resigniert und sind des vielen Denken-Müssens müde. Sie sind müde, wollen und können nicht mehr denken nach den vielen Überlebensjahren. Sie wollen und können nicht mehr so funktionieren, wie es sich die Gesellschaft von ihnen wünscht. Wenn wir uns vor Augen halten, was sexuell traumatisierte Kinder erleben und dass ihr Seelenschaden nie geheilt werden kann, wenn sie nicht angemessene Lebenshilfe im späteren Leben bekommen, dann wird uns klar, wie diese Kinder mit ihrem „Wissen” leben müssen. 25 „Verrückte Frauen sind laut, hemmungslos und auffällig” Hier macht sich der Protest deutlich, wenn alte Frauen keine Lobby haben. Frauen schimpfen auf die Verlogenheit des Gesellschaftssystems, in welchem sie sozial eingebunden sind und sich oft gefangen fühlen. Meist wird dies aber nicht als ein Protest wahrgenommen, sondern als „enthemmt” betitelt von Menschen, die sich auf professioneller Ebene mit diesen Frauen beschäftigen (Psychiatrische Kliniken u./o. Pflegeeinrichtungen). Die Frauen bedienen sich meist unbewusst des einfachen Wortschatzes, um sich jedem Menschen verständlich zu machen, aus jeder Gesellschaftsschicht. Nur ist diese einfache, für alle Menschen verständliche Sprache unerwünscht und wird mit allen greifbaren Mitteln zum Schweigen gebracht. Die Frau wird in ärztliche Hände gegeben, was nicht selten mit einer Einweisung in die Psychiatrie oder mit Psychopharmaka-Gaben endet. „Verrückte Frauen ziehen sich zurück, kommunizieren nicht mehr” Frauen, die nicht mehr protestieren wollen oder zu wenig Kräfte haben, dies zu tun, ziehen sich zurück und schweigen. Sie schweigen mit ihren gesamten Ausdrucksmöglichkeiten gestisch, mimisch und verbal. Sie wollen nicht mehr sprechen, sie haben sich aufgegeben und haben resigniert. Das Funktionieren fällt sehr schwer oder klappt nicht mehr. Sie wollen sich nicht mehr mit Alltagsdingen auseinander setzen. Einfache Dinge geraten in Vergessenheit und werden nicht als wichtig betrachtet. Es interessiert nicht mehr was, vor einer Stunde, gestern oder vorgestern war. Ständiges Grübeln lässt sie in eine andere Welt versinken, die sich in früheren Lebenszeiten abspielte und heute wie ein riesiges Ungeheuer auf den Frauen lastet und 24 Tagesstunden mit ihnen lebt. Sie schweigen und sprechen nicht einmal mit den engsten Angehörigen oder Pflegekräften darüber, was sie belastet. Sie wollen es den jungen Menschen nicht antun, dass diese erfahren, was die Frau charakterlich prägte. Sie wollen sie schützen und nicht mitbelasten. Mütter erzählen es ihren Kindern nicht, Großmütter nicht den Enkelkindern und Pflegebedürftige erleben die Pflegekraft nur selten als Lebensbegleiterin, mit der sie ihr persönliches Geheimnis teilen wollen und können. Frauen, die nicht heirateten oder einst allein erziehende Mütter waren, haben gesellschaftliche Anerkennung in der beschriebenen Generation kaum bekommen und galten bei vielen Männern als „Freiwild” und wurden von „anständigen” Ehefrauen meist gemieden. Kinder hatten erst mit der Industrialisierung in jüngerer Zeit ihren Stellenwert in der Gesellschaft. Sie wurden schon früher für Bedürfnisse Erwachsener ausgebeutet, und wie wir es heute in den Medien fast täglich erfahren, ist das auch heute noch viel zu häufig der Fall. Arbeits- und Ausbildungsplätze für junge, selbstverantwortlich lebende Frauen waren früher oft nur erreichbar, wenn sie gewisse Dinge erlaubten, bzw. boten. Heute nennen wir das „sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz”. Was in den gutbürgerlichen Familien an Gewalt geschah und was die Frauen in Kriegen an Gewalt erlebten, darüber spricht niemand. 26 Die Aufarbeitung der NS-Gewalt, sowie die aktuellen Kriegsberichte in den Medien beginnen in den letzten Jahren zögerlich über diese Form von Gewalt an Frauen öffentlich zu berichten, da vielen Frauen in der Medizin und den Pflegebereichen deutlich wird, wie verbreitet die Vergewaltigung von Frauen praktiziert wird und welche fatalen Auswirkungen solche Erlebnisse auf die weitere Lebensqualität der betroffenen Frauen haben. Medica mondiale, eine Hilfsorganisation, die im Bürgerkrieg in Bosnien tätig war, machte deutlich, auf welche Art und Weise Kriegsgeschehen stattfinden. Und so fanden auch die Kriegsgeschehen statt, die alte Frauen heutiger Zeit erleben mussten. Verfolgung, Vergewaltigung und Nötigung fanden jedoch auch in Familien hinter gutbürgerlichen Fassaden statt. Mädchen waren häufiger betroffen als Jungen und meist war es ein geachtetes Familienmitglied oder der familiäre Mann, dem mehr geglaubt wurde als einem Kind, das scheinbar nur mit auffälligem Verhalten auf sich aufmerksam machen wollte. Kinder hatten zu schweigen und möglichst nicht in Erscheinung zu treten und schon gar nicht für familiäre Unruhe zu sorgen. Überlebende Frauen - der größte Anteil unter PsychiatriePatientinnen Wildwasser e. V. hat in Untersuchungen festgestellt, dass jedes dritte Mädchen einmal in seinem Leben einen Machtmissbrauch erleben musste. Diese Zahl möchte ich unbedingt unterstreichen. Männer haben dies auch erlebt, aber diese Zahl ist wesentlich geringer und wir können daraus den Rückschluss ziehen, dass die Zahl der HOPS-Diagnosen bei Männern mit diesen Zahlen übereinstimmen. In Psychiatrien finden wir breit gefächerte Diagnostizierungen und es wird nach vielen Ursachen gesucht, aber die sexuelle Taumatisierung wird als Ursache äußerst selten in den Blick genommen, ja meist einfach verschwiegen. Die Pharmaindustrie mit ihren finanziellen Mitteln fördert Kongresse und Ursachenforschung –der Demenzthematik aus eigennützigem Wirtschaftsinteresse und versucht professionell arbeitende Menschen dahingehend zu beeinflussen, dass nur mit ihren Erzeugnissen den Menschen Heilung und Linderung geboten werden können. Mit derartiger Forschung und Wissenschaft treten die einstigen Täter wiederholt nicht in Erscheinung und das Opfer bleibt im Interesse der Agierenden. Dies ist für das Opfer, z.B. unserer alten dementen Frau, eine Erfahrung, welche sie ihr ganzes Leben lang gemacht hat. Pflegekräfte und LebensberaterInnen der alten Menschen Wir als professionell tätige Personen sollten versuchen, bei unseren Beobachtungen und Wahrnehmungen diese genannten Hintergründe einzubeziehen, wenn wir alte demente Frauen beurteilen wollen oder müssen. Seltenst sprechen die Frauen aus, was sie erleben mussten. Oft müssen wir versuchen, unseren Gefühlen zu trauen. Wir sind auf Gespür und Wahrnehmung angewiesen, wenn wir alte Frauen verstehen wollen - besonders Frauen, die uns in unserer täglichen Arbeit mit den genannten Symptomen begegnen. Wir müssen uns bemühen, diesen Frauen ein Ventil zu verschaffen, um sich ausdrücken zu können. Wir dürfen die Wut nicht unterdrücken, sondern sollten nach Bahnen forschen, die diese Wut kontrolliert aus den Frauen herauslassen. Reichen wir ihnen den Boxball und sorgen wir dafür, dass sie schimpfen und sich wehren können, so haben wir schon viel getan für ihre Lebensqualität im Alter. Ganz sicher werden wir mit dem üblichen Gesellschaftsbild kollidieren. Aber es liegt an uns, dies zu verändern. Wir müssen unsere Wahrnehmungen und Beobachtungen in professionellen Bereichen, wie z.B. in dieser Gruppe, diskutieren. Wir sollten unsere Pflegeplanungen und Begleitkonzepte darauf ausrichten und dahingehend verändern, immer auch ein Angebot für traumatisierte Frauen bereitzustellen. Nur mit dem „Öffentlich machen” und genauem Hinsehen können wir erreichen, dass enthemmten Frauen Akzeptanz und Verständnis entgegengebracht werden kann. Eigenverantwortung der Pflegekräfte und beratenden Personen von verwirrten Frauen Als LebensbegleiterInnen für Frauen mit Verwirrungen, die ohne fremde Hilfe nicht mehr für sich sorgen können, müssen wir gelernt haben, mit großem Leid konfrontiert zu sein. Eigene traumatische Erlebnisse sollten in diesem begleitenden Personenkreis persönlich bearbeitet sein. Sonst könnte es passieren, dass die Pflegekraft mit eigenen Rückerinnerungen und mit eigenen Leiden stark konfrontiert wird. Sie selbst erlebt dann meist die psychische Belastung der Pflege als unerträglich. Sie selbst kann nicht mehr verdrängen, was ihr einst passierte, und wird den Arbeitsbereich nicht mehr professionell und mit psychischem Abstand betreuen können. Pflegekräfte und LebensbegleiterInnen von psychisch veränderten Personen müssen mit sich und der eigenen Lebensgeschichte im Reinen sein. Das heißt, die eigene Geschichte muss unbedingt als nicht mehr zu verändernder Zustand angenommen sein und darf die eigene Lebensqualität nicht mehr gefährden. Ist das nicht geschehen, so besteht äußerste Gefahr, an der Ausübung des Berufes psychisch selbst zu erkranken. Eigene persönliche Krisen (Trennungssituationen, Verlusterlebnisse) sollten unbedingt zum Anlass genommen werden, aus belastenden Berufssituationen auszusteigen, bis diese Krisen bearbeitet sind. Es könnte sonst sein, dass sich begleitende Personen noch mehr Schaden zufügen, als sie schon erlitten haben, sich selbst überfordern und der professionelle Hintergrund die Lebensbegleitung für verwirrte Menschen, qualitativ nicht mehr möglich ist. Fazit: In den Jahren der Hysterie - Diagnosen bis heute, wo nichtorganisch bedingte Demenzen auf alle möglichen Ursachen hin erforscht werden, aber die Gefühle und die traumatischen Erlebnisse der einstigen Kinder nicht sichtbar gemacht werden, sind die Täter begünstigt und die Opfer leiden weiterhin. Machen wir uns klar, dass die Täter begünstigt werden, so können wir die Wutausbrüche, das Aufmerksamkeit erregen wollen und die Hemmungslosigkeit der verwirrten alten Frauen besser verstehen. Es wird uns besser gelingen, diese alten Frauen in ihren Gefühlen zu begleiten und wir können sie als Menschen mit Wut im Leib eher akzeptieren, wenn wir auch nur erahnen können, woher diese Wut stammt. Autoagressives Verhalten (selbstzerstörerische Elemente) erkennen wir aus einem anderen Blickwinkel und können unsere Begleitung mit anderen konzeptionellen Ansätzen planen, als dies die Pharmaindustrie zu beeinflussen versucht. Diese verwirrten Frauen sind nicht verrückt. Sie sind von anderen verrückt gemacht worden. Ihre Welt ist nicht in den Angeln und schwankt möglicherweise schon ihr ganzes Leben lang. Sie haben es nicht selbst gewollt, sie konnten die Traumatisierungen nicht abwehren und sind mit diesen Ohnmachtserfahrungen alt geworden. Vergessen Sie alle dies bitte nie. Achten wir alle auf die Signale, hören wir genau zu, schärfen wir unsere Wahrnehmung und beginnen wir, das Schweigen auch darüber zu brechen. Es würde den als „dement” bezeichneten Menschen sehr helfen, wenigstens noch etwas Lebensqualität zu erlangen. Machen wir ihnen Mut, sich zu äußern, und versuchen wir, geeignete Rahmen zu schaffen, in denen all diese Gefühle da sein dürfen, ohne jemandem zu schaden. Wut und Zorn, die heraus dürfen, machen nicht mehr krank. Mütter erkennen dies an ihren Kindern, Kinder erkennen dies an den Erwachsenen und wir sollten dies auch im Umgang miteinander erkennen. Menschen, die uns wichtig sind, ermuntern wir, ihrem Ärger Luft zu machen und sich an entsprechenden Stellen zu beschweren. Dies könnten wir auch im Begleitungsprozess den uns anvertrauten verwirrten Personen bieten. Es gibt noch keine fertigen Konzepte für diese Thematik, aber es ist in unserer Verantwortung, solche Konzepte zu entwickeln. Validative Begleitung nach Nicole Richards oder Naomi Feil, sowie einige Elemente der feministischen Therapie lassen Ansätze erkennen, soweit diese bei alten Menschen noch einsetzbar sind. Traumatisierte Frauen und Männer gibt es und wird es in der Welt immer geben und Begleitpersonen dieser Menschen sollten darauf eingerichtet sein, gerade diesen Menschen so zu begegnen, wie sie es verdient haben, mit Hochachtung und Würde. Sterbebegleitung Ein „von dieser Welt gehen” könnte zu einem friedvolleren Prozess für viele Menschen werden und ganz besonders „verrückte” Frauen und Männer könnten ihr Leben in unserer Gemeinschaft würdevoll und zornlos loslassen. Die Begleitung dieser sterbenden Menschen würden ein wichtiges Element erhalten und die Begleitpersonen könnten statt mit Hemmungen einem solchen Sterbe-Prozess gefüllt mit Würde und Achtung begegnen. So erhielte die Phase des Sterbens eine ungeheure Lebensqualität. Denn Sterben ist auch ein wichtiger Teil des Lebens und muss als solches verstanden werden. Seien wir also aufmerksam und lassen wir uns darauf ein, Lebensqualität besonders den alten dementen Frauen anzubieten. 27 Literatur - Ingrid Olbricht, 1989, Alles Psychisch? Kösel-Verlag, - Arthur Janov, 1976, Anatomie der Neurose, Fischer Taschenbuch Verlag, - Frederike Flach, 1978, Depression als Lebenschance, Rowohlt Taschenbuch, - Wildwasser e. V., 1994, Der aufgestörte Blick, 1. MPS Tagung – Dokumentation, Bielefeld – Kleine Verlag Bielefeld, - Margarethe A. Sechehaye, 1992, Eine Psychotherapie der Schizophrenen, Klett Cotta Verlag Stuttgart, - Renate Göcke, 1988, Esssucht oder die Scheu vor dem Leben, Rowohlt Taschenbuch, - Renate Höfer, 1993, Die Hiobsbotschaft C. G. Jungs, Kaskade Verlag Rotenburg W., - Jean Frances Casey, 1993, Ich bin viele, Rowohlt Taschenbuch Verlag, - Nathalie Schweighoffer, 1992, Ich war zwölf. Bastei Lübbe Verlag Bern, - Klaus Dörner, Ursula Plog, 1984, Irren ist menschlich. Psychiatrie Verlag Bonn, - Erwin Böhme, 1992, Ist heute Montag oder Dezember? Psychiatrie Verlag Bonn, - Eugen Jungjohann, 1991, Kinder klagen an. Fischer Taschenbuch Verlag, - Karin Göckel, 1993, Monika B., Ich bin nicht mehr eure Tochter. Scherz Verlag Berb / 1995 Bastei Lübbe Taschenbuch, - Roswitha Burgard, 1988, Mut zur Wut: Orlanda Frauenverlag Berlin, - Betty Friedan, 1995, Mythos Alter. Rowohlt Verlag GmbH - Gunda Schneider, 1993, Noch immer weint das Kind in mir. Herder Verlag Freiburg i. Breisgau, - Schriftenreihe zur Selbsthilfe gegen sexuelle Gewalt: Mai 1997, Namenlos 2. Lesbenheft, Wildwasser e. V. Ludwigshafen, - Ingeborg Oelmann, 1992, Schänderhannes, Bastei Lübbe Verlag GmbH, - Thomas S. Szausz, 1982, Schizophrenie, Fischer Taschenbuch Verlag, - Rosemarie Steinhage, 1989, Sexueller Missbrauch an Mädchen. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, - Dokumentation eines Öffentlichkeitsprojektes: 1989, Sexueller Missbrauch an Mädchen ist Gewalt, Wildwasser E. V. Wiesbaden, - Luise Hartwig, 1990, Sexuelle Gewalterfahrungen von Mädchen. Juventa Verlag München Weinheim, - Kerstin Kemper, Peter Lehmann, 1993, Statt Psychiatrie. Antipsychiatrie Verlag Berlin, - Ellen Bass, Laura Davis, 1990, Trotz Allem. Orlanda Frauenverlag Berlin, - Naomi Feil, 1992, Validation. Waschzettel Buchversand Alexander Möckel Augsburg, - Erwin Böhme, 1992, Verwirrt nicht die Verwirrten. Psychiatrie Verlag Bonn, - Dagmar Bielstein, 1991, Von verrückten Frauen. Fischer Taschenbuch Verlag, - Sybille Duden, Luise Pusch, Band I 1992, Band II 1996, Wahnsinnsfrauen. Suhrkamp Taschenbuchverlag, 28 - - - - Ingrid Olbricht, 1993, Was Frauen krank macht:, Kösel Verlag München, Katharina Lappessen, 1991, Was ist mit Anna? Verlag Frauenoffensive München, Ursula Enders, 1990, Zart war ich Bitter war’s. Verlag Kölner Verlagsblatt, 3. AKF Tagungsdokumentation 1997, Wege aus Ohnmacht und Gewalt, zu beziehen über AKF Hindenburgstr. 1 a, 32257 Bünde, * G. Heuft et. al. / 1995, Interdisziplinäre Gerontopsychosomatik. MMV Medizin Verlag GmbH München, * Manfred d. Hanfer, Andreas Meier, 1993, Geriatrische Krankheitslehre Teil I, gerontopsychiatrische und neuropsychologische Symtome. Verlag Hans Huber Bern, * Walter Bräutigam, 1968, Kleine Psychiatrie Reduktionen, Neurosen, Psychopathien. Georg Thieme Verlag Stuttgart, * Pschyrembel 257. Aufl., 1994, klein. Wörterbuch. Walter De Gruyter Verlag Berlin. Aktuelle Zeitschriftenartikel von November 1997: - Jule Friedrich, Hebamme. „Auswirkungen sexueller Gewalt auf Schwangerschaft und Geburt” Dr. Mabuse 11./ 12. 97, S. 54, - EMMA Nr. 6, 11./12. 97, S. 30 „Psychowelle gegen Recht?” ein aufschlussreicher Report über die Fragwürdigkeit von Gutachten in Gerichtsprozessen zur Gewalt an Frauen und Kindern. Die mit * gekennzeichnete Literatur stellt wissenschaftliche Aussagen dar, welche nicht unkritisch übernommen werden sollte und mir nur zur Gegendarstellung nutzte. Arbeitsgruppe V Älterwerden ist keine Krankheit – das Projekt Moderation: Monika Fränznick, FeministischesFrauenGesundheitsZentrum e. V. Berlin (FFGZ) Noch nie wurden Menschen und v.a. Frauen mehrheitlich so alt wie heute in den Industrienationen. Das Alter, wie wir es heute antreffen, ist somit eine recht neue Erscheinung. Die Berliner Altersstudie kommt z.B. zu dem Schluss: „Als Gesellschaft stehen wir erst am Anfang eines ‚Lernprozesses´ über das Alter. In diesem Sinn ist das Alter noch jung, sein Potenzial noch weitgehend unausgeschöpft, und für das Alter günstige Institutionen und Werte gilt es erst noch zu entwikkeln.” (Mayer/Baltes 1996:8) Um der Situation gerecht zu werden, müssen neue Konzepte entwickelt werden, v.a. auch hinsichtlich der Gesundheitsversorgung und -förderung von Älteren. Immerhin wird Gesundheit mit zunehmendem Alter ein immer wichtigeres Thema: körperliche Beeinträchtigungen, vor allem chronische Krankheiten treten verstärkt auf, häufig besteht eine Multimorbidität, d.h. mehrere Krankheitsbilder bestehen parallel zueinander. Da Gesundheit, wie auch die WHO feststellt, nicht nur in Abwesenheit von Krankheit und Behinderung besteht, sondern einen Zustand weit gehenden körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens meint, genügt die Konzentration auf die Beschwerden und Krankheiten älterer Menschen nicht. Es muss immer auch um Lebensbedingungen, um spezifische Probleme, aber auch um Potenziale in dieser Lebensphase gehen. An dieser Stelle wird es wichtig, das Alter geschlechtsspezifisch zu betrachten. Entgegen der häufig vorherrschenden Herangehensweise an diese Lebensphase, die nur von „den Senioren” spricht, ist das Alter keineswegs geschlechtsneutral. Unterschiedliche Lebensbedingungen und -verläufe von Frauen und Männern prägen das Älterwerden wie das Altsein. Als frappante Unterschiede seien hier nur erwähnt: ➤ Die ökonomische Situation von Frauen im Alter ist durchschnittlich bedeutend schlechter als bei Männern (vgl. Höpfinger 1997:68; Schneider 1999). ➤ Mit durchschnittlich 79,8 Jahren leben Frauen über sechs Jahre länger als Männer (durchschittlich 73,3; vgl. Statistisches Bundesamt 1998:43). Dies bedeutet zum einen, dass Frauen eher von den im hohen Alter auftretenden Beschwerden betroffen sind und einen Umgang damit finden müssen. Zum anderen führt dies - verstärkt durch die Tatsache, dass viele Frauen jünger sind als ihre Partner - dazu, dass sie ihre Partner pflegen und selbst dann alleine zurückbleiben. Sie müssen folglich mit dem Alleineleben zurecht kommen und häufig sind sie im hohen Alter auf die Pflege in einem Pflegeheim angewiesen (Arnold 1999). ➤ Prinzipiell haben Frauen andere biografische Hintergründe, andere Schwierigkeiten und Potenziale sowie ein anderes Gesundheitsverhalten als Männer (MaschewskiSchneider 1997). In der Literatur wird immer wieder darauf verwiesen, dass weibliche Lebensläufe mehr Brüche aufweisen als männliche. Dies hat oft zur Folge, dass Frauen besser mit Veränderungen zurecht kommen eine wichtige Ressource, die ihnen im Alter bzw. bei der Gestaltung dieser neuen Lebensphase zugute kommt. Auf der anderen Seite ist das Altwerden für Frauen oftmals mit größeren Problemen belastet, da das vorherrschende Schönheitsideal zwar den so genannten „attrak- tiven reifen Mann” kennt, Frauen jedoch scheinbar maximal erreichen können, „sich gut gehalten zu haben” oder „jung geblieben zu sein”. Vor diesem Hintergrund und vor allem angesichts der Tatsache, dass Konzepte weitgehend fehlen, die die Gesundheit und das Wohlbefinden älterer Frauen stärken, wollten wir im FFGZ e.V. Berlin erste Schritte unternehmen, um diese Lücke zu schließen. Es entstand unser 1997 begonnenes Projekt „Älterwerden ist keine Krankheit”. Dieses möchte ich im Folgenden kurz skizzieren, um davon ausgehend zu diskutieren, wie weiter gehende Konzepte aussehen könnten, die das Wohlbefinden und die Gesundheit von älteren und alten Frauen fördern. Ausgangsfragen unseres Projektes „Mit welchen Lebensbedingungen und Problemen sind ältere Frauen konfrontiert? Was brauchen sie an Unterstützung bzw. wie können ihre Potenziale gestärkt werden? Wie kann Gesundheit und Wohlbefinden im Alter postiv beeinflusst werden?” Mit diesen Ausgangsfragen unternahmen wir folgende Schritte: 1. Kontaktaufnahme Mit den genannten Fragen wandten wir uns in einer ersten Phase an Einrichtungen, in denen sich ältere Frauen organisiert haben oder die von ihnen genutzt werden. (z.B. Nachbarschaftsheime, „Offensives Altern”, Graue Panther, Fachgruppe des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes). Mit Multiplikatorinnen und Betroffenen sprachen wir über Gesundheit im Alter, über Probleme, Bedürfnisse und Erfordernisse, aber auch über neue Freiheiten und Möglichkeiten. Beschwerden wurden dabei ebenso thematisiert wie Ressourcen, die unterstützt und gefördert werden können. Lebensumstände waren dabei immer wieder ein wichtiges Thema und verdeutlichten nochmals, dass Gesundheit insbesondere im Alter nicht von Lebensumständen zu trennen ist. Unser Ziel dieser erste Phase war eine Bestandsaufnahme, insbesondere des Bedarfs an Gesundheitsförderung. Wichtig war uns in dieser Phase darüber hinaus, Kontakt herzustellen, auch im Hinblick auf eine spätere Zusammenarbeit. Wir haben uns als eine Einrichtung vorgestellt, die an dem Thema „Ältere Frauen und Gesundheit” arbeitet und ein frauenspezifisches Angebot entwickeln möchte. Dies wurde sehr positiv aufgenommen: „Endlich geschieht da was”, „können Sie nicht gleich bei uns etwas anbieten” waren häufige Reaktionen. 2. Angebote entwickeln und anbieten Nach dieser Phase der Kontaktbildung und Bestandsaufnahme ging es darum, Angebote für ältere Frauen im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention zu entwickeln. Wir entschieden uns für zwei Vorgehensweisen: Veranstaltungen und Informationsmappen: ➤ Veranstaltungen Bereits im Frühjahr 1998 organisierten wir in Kooperation mit einer Frauenbeauftragten und einem Nachbarschaftsheim eine kleine Reihe für ältere Frauen bestehend aus ei29 ner Lesung über das Älterwerden, einem Vortrag zu Gesundheitsmaßnahmen im Alter und einer Filmvorführung mit Diskussion zu Sexualität im Alter. Im Winter 98/Frühjahr 99 konzipierten wir dann eine Veranstaltungsreihe mit den Themen: „Älterwerden: Prozess, Herausforderung und vieles mehr”; „Wechseljahre”; „Osteoporose”; „Blasenschwäche”; „Veränderung des Stoffwechsels in der zweiten Lebenshälfte”; „Atem und Bewegung” sowie „‚Dein ist mein ganzes Herz´ - ein Film zu Sexualität im Alter mit anschließender Diskussion”. Um neue Frauen zu erreichen und ein möglichst wohnortnahes Angebot zu machen, setzen wir uns mit Einrichtungen verschiedener Berliner Bezirken in Kontakt. Wir boten an, eine Veranstaltung in ihren Räumen zu einem der oben genannten Themen zu gestalten. Da wir Förderung erhielten, konnte dies kostenlos geschehen. Öffentlichkeitsarbeit und Werbung für die Veranstaltungen wurden im Gegenzug von den Einrichtungen geleistet. Für diese Phase konnten die bereits hergestellten Kontakte genutzt werden, weitere wurden geknüpft, um alle Berliner Bezirken anzusprechen. Es kam zu 23 Veranstaltungen quer durch die Berliner Bezirke. Kooperationspartnerinnen waren Selbsthilfetreffpunkte, Nachbarschaftsheime, Frauenbeauftragte oder Institutionen wie der Landessportbund. Die Teilnehmerinnenzahl schwankte: z.T. kamen über 20 Besucherinnen, z.T. wurden die Veranstaltungen abgesagt, da sich nur zwei oder drei Frauen zu den Veranstaltungen einfanden. Einhelliges Echo der Multiplikatorinnen war, dass es an der Zeit sei, spezifische Angebote zur Gesundheitsförderung für ältere Frauen zu machen, dass es aber auch schwierig ist, neue Themen einzuführen oder die Frauen zu erreichen und zu motivieren. Ein sehr großer Vorteil war, wenn in Einrichtungen bereits Gruppen mit älteren Frauen bestanden, da das Klientel dann direkt angesprochen werden konnte und da die Hemmschwelle, eine Veranstaltung zu besuchen, an einem vertrauten Ort geringer ist. ➤ Informationsmappen Mit unserer Informationsarbeit wollten wir auch Frauen erreichen, die nicht zu Veranstaltungen gehen, und ferner bundesweit tätig werden. Unser Anliegen war es, aktuelle, vielfältige und allgemein verständliche Informationen weiterzugeben, die: – Zusammenhänge von gesundheitlichen Problemen deutlich machen; – Anregungen zur Gesundheitsförderung und Prävention geben; – Beschwerden nicht isoliert betrachten, sondern die Lebensumstände einbeziehen; – Selbsthilfemöglichkeiten und alternativmedizinische Ansätze thematisieren; – Anlaufadressen vermitteln; – ausführliche Literaturhinweise geben und – letztendlich ein ausschließlich schulmedizinisches Herangehen hinterfragen und die Frau als Expertin für den eigenen Körper setzen. 30 Herausgekommen sind die Informationsmappen zu Schlafstörungen, Osteoporose, Depressionen und Diabetes - Beschwerden, die von vielen älteren Frauen als bedeutende gesundheitliche Probleme genannt wurden (Feministisches Frauen Gesundheits Zentrum 1999). Wir wählten die Form der Loseblattsammlung aus verschiedenen Gründen: Sie können stets aktualisiert und z.B. durch Faltblätter ergänzt werden. Ferner können einzelne Seiten von den Frauen als „Merkzettel” herausgenommen oder von Multiplikatorinnen für die Arbeit in Gruppen genutzt werden. Auf der anderen Seite sind sie eine umfassende und aktuelle Informationssammlung, die Kontakte, weiterführende Literatur oder Tipps und Anregungen für einen Umgang mit den jeweiligen Problemen in kompakter Form weitergibt und somit Mühe, Zeit und unnötige Kosten sparen hilft. 3. Politische Arbeit für die Anliegen älterer Frauen Das Feministische Frauen-Gesundheits-Zentrum verfolgt in seiner Arbeit prinzipiell zwei Schienen: zum einen Beratungs- und Informationstätigkeit für Betroffene, zum anderen politische Arbeit bzw. Öffentlichkeitsarbeit, die die gesundheitlichen Interessen von Frauen in der Öffentlichkeit thematisiert und im Gesundheitswesen vertritt. Das Projekt „Älterwerden ist keine Krankheit” sollte folglich auch eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Thematik Älterwerden und Altsein anregen. Dies hieß zunächst, die Thematik Gesundheit von Frauen im Alter überhaupt in die Öffentlichkeit zu tragen. Verschiedene Aspekte der Lebenssituation älterer Frauen und insbesondere ihrer gesundheitlichen Befindlichkeit sowie Versorgung sollten präsentiert werden, um eine Auseinandersetzung anzuregen. Aufzeigen wollten wir in diesem Zusammenhang Defizite und Problembereiche, aber auch Potenziale und Möglichkeiten, die durch diskriminierende Altersklischees oftmals verdeckt sind. Für diese Anliegen wählten wir zwei Vorgehensweise: ➤ Veröffentlichung Die neueste Ausgabe unserer Zeitschrift „Clio. Die Zeitschrift für Frauengesundheit” (Feministisches Frauen Gesundheits Zentrum 1999) wurde der Thematik „ältere Frauen” gewidmet. Sie beinhaltet Beiträge sowohl zur Selbsthilfe als auch zur Situation älterer Frauen. Zu Wort kommen auch Frauen, die über sich berichten, und Organisationen von und für ältere Frauen. Aus verschiedenen Blickwinkeln wurde so das Älterwerden von Frauen beleuchtet und die vielfältigen Formen von Älter- und Altwerden angesprochen. Es sollte Mut gemacht werden, diese Lebensphase aktiv und selbstbewusst zu gestalten. Und es sollte eine Diskussion angeregt werden, wie wir als Frauen in unserer Verschiedenheit diese Lebensphase, jenseits von Klischees besetzen können, um zufrieden und glücklich altern zu können. ➤ Pressearbeit Mit der Einladung zu einem Pressegespräch und einer daraus hervorgehenden Pressemitteilung wandten wir uns an die Presse, um eine Diskussion über gesundheitliche Belange älterer Frauen in einer breiteren Öffentlichkeit anzustoßen. Aufgezeigt wurden Defizite in der gesundheitlichen Versor- gung älterer Frauen. Schwerpunktmäßig griffen wir dabei den Bereich Medikamentenverschreibung, insbesondere Psychopharmakaverordnungen, sowie die spezifischen Belange von älteren Migrantinnen auf. Hintergrund war zum einen das Anliegen, Medikamentenverschreibungen und insbesondere die übermäßige Verschreibung von Schlaf- und Beruhigungsmitteln zu problematisieren. Immerhin werden ein Sechstel aller Psychopharmaka Menschen über 65 Jahren - die lediglich die Hälfte der Bevölkerung stellen - verschrieben. Besonders betroffen sind hierbei Frauen, da sie doppelt so oft mit Psychopharmaka therapiert werden als Männer. Die Einnahme von Schlafund Beruhigungsmittel wirft jedoch Probleme auf, die nur wenigen bewusst sind: die Suchtgefahr, die nicht altersgerechte Verschreibung, also Fehlmedikamentierung, und die Auswirkungen der Medikamente wie Benommenheit und daraus resultierende Stürze und Knochenbrüche. Zum anderen sollte deutlich gemacht werden, dass ältere und alte Frauen keine homogene Gruppe sind, sondern von unterschiedlichen biografischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen geprägt sind. Insofern bestehen auch unterschiedliche Erfordernisse und verschiedene Unterstützungsangebote sind nötig. Besonders offensichtlich trifft dies auf ältere Migrantinnen zu, eine wachsende und zugleich kaum beachtete Bevölkerungsgruppe. Spezifische Angebote fehlen weitgehend und im Gesundheitssystem befinden sich ältere Migrantinnen auf Grund von Sprachproblemen und kulturellen Unterschieden in einer schwierigen Situation. In Fachkreisen wird von Medikamenten- und Überweisungsspiralen gesprochen, da die Verständigungsschwierigkeiten und Fehleinschätzungen auf Grund unterschiedlicher kultureller Kontext häufig dazu führen, dass die Frauen von Praxis zu Praxis bzw. Klinik überwiesen werden sowie verstärkt untersucht und behandelt werden. Soviel in aller Kürze zu unseren ersten Schritten auf dem Weg zu einer Gesundheitsversorgung älterer Frauen, die die Gesundheitsförderung, die Selbsthilfe und ein verändertes Bild von Alter in den Mittelpunkt stellt. Prinzipiell wollen wir mit dem Projekt „Älterwerden ist keine Krankheit” dazu beitragen, Bedingungen für Frauen zu schaffen, in denen sie zufrieden, erfüllt und selbstbestimmt alt werden können sei es durch das Aufzeigen von gesellschaftlichen Problemen und Defiziten oder durch konkrete Beratungs- und Informationsarbeit. Für eine weiter gehende Beschäftigung wie für die Diskussion in der Arbeitsgruppe stellen sich die Fragen: Welche Bedingungen und welche Unterstützung brauchen ältere und alte Frauen für ihr gesundheitliches Wohlbefinden? Wie kann unsere Arbeit dahingehend aussehen? Welcher Konzepte bedarf es? Literatur: - - - - Arnold, Gabriele (1999): Frauen Leben - Frauen Sterben, in: FFGZ (Hg.), Clio 48 Feministisches Frauen Gesundheits Zentrum e.V. Berlin (1999): Clio. Eine Zeitschrift für Frauengesundheit, Nr. 48 „Ältere Frauen”, Berlin Feministisches Frauen Gesundheits Zentrum e.V. Berlin (1999): Informationsmappen zu: „Diabetes mellitus, Typ II”, „Schlafstörungen im Alter”, „Osteoporose”, „Was ist nur mit mir los? Zwischen Stimmungstief und Erschöpfung”, Berlin Höpfinger, Francois (1997): Frauen im Alter - Alter der Frauen. Ein Forschungsdossier, Zürich Maschewsky-Schneider, Ulrike (1997): Frauen sind anders krank. Zur gesundheitlichen Lage der Frauen in Deutschland, Weinheim/München, Mayer, Karl Ulrich/Baltes, Paul B. (Hg.; 1996): Die Berliner Altersstudie, Berlin Schneider, Friederike (1999): Wie gestalten Frauen ihre Lebenssituation im Alter? in: FFGZ (Hg.), Clio 48 Statistisches Bundesamt (1998): Gesundheitsbericht für Deutschland, Stuttgart 31 Protokoll der Arbeitsgruppe V Älterwerden ist keine Krankheit – das Projekt Monika Fränznick Nach einer kurzen Vorstellungsrunde, in der auch die einzelnen Interessen und Fragen hinsichtlich der Arbeitsgruppe festgehalten wurden, kristallisierte sich folgende Leitfrage heraus: Was ist notwendig für eine altersgerechte Gesundheitsversorgung bzw. für eine adäquate Unterstützung der Gesundheit älterer Frauen? Folgende Erfordernisse wurden festgestellt: ➤ Um Gesundheitsförderung und Selbsthilfe im Altenbereich zu fördern, muss eine Bewusstseinsänderung bei älteren Frauen unterstützt werden. Heute ältere und insbesondere alte Frauen sind gewohnt, körperliche und gesundheitliche Angelegenheiten an ExpertInnen, sprich den Arzt oder die Ärztin, zu delegieren. Bei ihnen besteht oftmals eine Autoritätsgläubigkeit, welche die ExpertInnenmeinung wichtiger einschätzt als das eigene Befinden. Zudem hat der Arztbesuch eine soziale Funktion. Er ist auch eine Art, die Fürsoge einzufordern. Letztendlich muss der Bereich Prävention bei Frauen über 60 Jahren erst angeschoben werden, sowohl was die Angebote angeht als auch die Bereitschaft, sie zu nutzen, und das Bewusstsein für ihre Notwendigkeit. ➤ Zu konstatieren ist bei älteren Frauen oftmals ein Informationsdefizit in Bezug auf Präventionsmöglichkeiten, Patientinnenrechten und gesundheitliche Zusammenhängen. Um ihnen entgegenzuwirken, sind spezifische Bildungs- und Informationsveranstaltungen notwendig, die die Situation und Lebensbedingungen älterer Frauen reflektieren und einbeziehen. ➤ Das Arzt-Patientin-Verhältnis muss genauer betrachtet werden. Denn der Satz „Ich fühle mich nicht so gut”, von Männern oder von Frauen ausgesprochen, wird offenbar oft unterschiedlich interpretiert. Insbesondere wird bei Frauen oftmals ein rein psychischer Hintergrund (Isolation, Einsamkeit, Kummer, Trauer) angenommen. Zu fordern ist eine Fortbildung von ÄrztInnen, die den Umgang mit älteren Frauen und Männern schult. Nur so können in der alltäglichen Praxis adäquate diagnostische und therapeutische Maßnahmen gewährleistet sowie psychosomatische Beschwerden richtig eingeschätzt werden. ➤ Prinzipiell schätzte die Arbeitsgruppe das „Abspeisen” älterer Frauen mit Medikamenten und die Fehlmedikamentation, wie sie in der Berliner Altersstudie nachgewiesen wurde, als große Problematik ein. ➤ Die finanzielle Situation stellt häufig ein Problem dar: Frauen haben oftmals weniger Geld als Männer ihrer Altersgruppe. Insbesondere wenn der Ehemann ins Heim kommt, bleibt aufgrund der Heimkosten kaum Geld übrig für Ausgaben wie zum Beispiel der Gesundheitsförderung. Zu sehen ist aber auch, dass es viele als Zumutung empfinden, für Gesundheitsmaßnahmen Geld ausgeben zu müssen. Insbesondere in den neuen Bundesländern sind die Menschen wenig gewohnt, hierfür Geld aufbringen zu müssen. Gerade auch im Altenbereich besteht die „Gewohnheit”, Freizeit- und sonstige Angebote umsonst 32 ermöglicht zu bekommen. Das gestaltet es schwierig für die Initiativen, die ihre Angebote nicht kostenlos anbieten können. ➤ Spezielle Angebote, die mögliche Gebrechen berücksichtigen, müssen entwickelt und angeboten werden: z.B. Sitzgymnastik, Gedächtnistraining. Als besonders erstrebenswert wurden generationsübergreifende Aktionen benannt. Hervorgehoben wurden auch die Möglichkeiten eines Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungstrainings, um alten Frauen das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und so einer Isolation entgegenzuwirken, die zustande kommt, wenn sich SeniorInnen nicht mehr auf die Straße trauen. ➤ Der Umgang mit alten Frauen muss bei Ansprechpersonen älterer Menschen geschult werden. Dazu gehört: Ihre Fähigkeiten und Erfahrungen anzuerkennen; Motivation zu schaffen, ohne sie zu entmündigen; alte Frauen zu fordern und ihnen zuzutrauen; Konflikte auszutragen, statt künstliche und entmündigende Schutzräume zu schaffen. ➤ Prinzipiell muss ein gesellschaftliches Umdenken stattfinden: Hierzu gehört, die Pathologisierung des Alters - also die Konzentration auf Krankheiten und die alleinige Wahrnehmung alter Menschen unter dem Aspekt Beschwerden und Erkrankungen - zu vermeiden bzw. ihr entgegen zu wirken. Hierzu gehört eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit, in der auch die positiven Seiten des Alters und des Alterns betont werden. Das Alter ist eine neue Lebensphase, die eine Herausforderung darstellt und neue Potenziale und Möglichkeiten eröffnet. In der breiten Öffentlichkeit ist dies oftmals verdeckt. Die Auseinandersetzung mit dem Alter wird verdrängt durch Ängste vor dem Altwerden und seinen Folgen. Demgegenüber muss durch Lobbyarbeit Raum geschaffen werden für neue Leitbilder und positive Vorstellungen, wenngleich auch die negativen Seiten des Älterwerdens zugelassen werden müssen. Arbeitsgruppe VI Körperlichkeit von Frauen im Alter Moderation: Anne-Bianca Büchner, Dipl. Geragogin, Braunschweig In der geschlechtsspezifischen Alternsforschung erweist sich die Auseinandersetzung mit der Körperlichkeit als Forschungslücke. Tendenziell wird das Altern in Bezug auf körperliche Veränderungen - wenn überhaupt - dann kohärent mit Gesundheitsforschung bzw. Alternsmedizin analysiert. Das Thema Körperlichkeit von Frauen im Alter interessiert mich seitdem ich mein eigenes Altern bewusst erlebe. Zunächst mit einem Schrecken, später mit Ängsten und heute mit Neugier nehme ich die permanenten Veränderungen wahr. Es ist mein Anliegen, eine neue Denkrichtung zur Annäherung an die Frage Frauen und Altern anzubieten. Es geht im Wesentlichen darum, nach den “Herstellungsbedingungen” von Körperlichkeit im Alter, unter dem Einflussfaktor “Geschlecht” zu suchen. Der Herstellungsmodus soll entschlüsselt werden. Beschriebene Gestaltungs- und Herstellungsarbeit soll in ihrem lebensweltlichen Kontext aufgenommen werden. Ich möchte einige kleine Abschnitte aus meinem Buch Frauen erleben Altern präsentieren und einige Aussagen aus den von mir interviewten Frauen wiedergegeben. 1. Körper-Geschichte Frau D. gibt das fünfzigste Lebensjahr als Zeitraum an, in dem für sie der Eindruck entsteht, im Prozess des Alterns einen neuen Abschnitt erreicht zu haben: „... ab fünfzig habe ich gemerkt, dass das nicht mehr so schnell geht, dass man wieder abnimmt” Frau S. gibt körperliche Veränderungen als „Alternsindikatoren” an: „... ich hatte ... trockene Schleimhäute und keine Freude an diesen Dingen, die mir wehtaten ...”. Nach Auftreten der genannten Ereignisse scheint die Beschäftigung mit dem Altern „virulenten” Charakter anzunehmen (...jetzt bin ich alt...), da weitere Ereignisse als Beleg für das Altern angesehen werden. 2. Körper-Innenräume Als Körper-Innenräume sollen die eigenen Anteile, Empfindungen und Wünsche der Interviewten zusammengefasst werden. Frau S. empfindet das Altern als schwierige Aufgabe bzw. Last. Sie fühlt sich jünger als man es dem chronologischen Alter gemäß erwartet und von den Jüngeren als „alt” ausgegrenzt. Frau D. hat das Gefühl, „... dass man irgendwie ausgelassener sein möchte ...”. 3. Selbstbildnis Die Befragten betrachten ihren Körper durch die Schablone ihrer verinnerlichten Schönheitskriterien. Frau D. beschreibt ihren Körper „wirklich, als alten Körper, den ich als alt empfinde, obwohl er nicht schrumpelig ist”. Frau H. bezeichnet ihren Körper als „Nich‚ gerade schön. (lacht) Oma halt... Macht mir aber keine Probleme”. Die interviewten Frauen bezeichnen sich selbst als hässlich. Schlank sein wird mit gut fühlen verbunden. Der Bauch hat für die Frauen eine besondere Bedeutung, er wird sehr kritisch bewertet und beeinflusst scheinbar das Selbstbild in besonderer Weise. Die Lebenseinstellungen spiegeln sich im Körperselbstbild und -empfinden wider. 4. Medienabbilder Hierzu wurde den Frauen die Frage gestellt, welchen Einfluss die Medien ihrer Meinung nach auf ihre Körperlichkeit haben. Die Antworten verdeutlichen, dass die Medien vor allem für die Suche nach Identifikationsbildern herangezogen werden. Den Frauen fehlt es an Orientierungsbeispielen. So kritisieren die Befragten, dass die Medien in Bezug auf Abbildungen von alten Frauen ein unreelles Bild produzieren. Darstellerinnen, die altersentsprechend natürlich aussehen, würden zu selten gezeigt. 5. Einflüsse von außen Hier geht es um die Reaktionen des sozialen Umfeldes auf das körperliche Altern der Befragten. Frau D.: „wenn ich mal (...) irgendwie besonders gut drauf bin, und wir gehen spazieren, und ich hüpfe rum und würde so irgendwie über die Wiese springen wollen, ... vom Gefühl her, dann würde Gustav (Ehemann) schon sagen: „Komm, was ist in dich gefahren”. Frau S. glaubt, dass ihr Ehemann mit einer jüngeren Frau zusammen ist, weil sie seinen sexuellen Wünschen nicht gerecht wird. 6. Familie als Einflussstätte Frau S.: „Meine Töchter denken doch, die ist so stark, der brauchen wir doch nicht zu helfen. Wenn ich was sag, tun sie es doch ab.” 7. Zusammenfassung In der Zusammenschau möchte ich einige Charakteristika meiner Untersuchung pointiert aufzeigen. Die Interviews zeigen Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Im Wesentlichen sind es die Motive Sexualität, Ästhetik, Gesundheit und Wohlbefinden, die die beschriebenen Aspekte der Körperlichkeit akzentuieren. Übereinstimmend kann gesagt werden, dass die Frauen ihre Körperlichkeit durch die Schablone ihrer biografischen Erfahrungen erleben. Zum Teil empfinden die Interviewten einen Mangel an Körperlichkeit, verstanden als Mangel an Selbstzufriedenheit mit dem Aussehen und dem Körperempfinden. Demgegenüber wurde das Weibliche als positiver Aspekt des Körpers gesehen. Die durchgeführten Interviews belegen, dass es eine Art doppelte Identität zwischen gesellschaftskonformen Leben und eigenem Erleben gibt, an deren Schnittstelle sich eine balancesuchende Identität verortet, die auf patriarchale, systemerhaltende Mechanismen stößt. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Lebenswelten und gesellschaftlichen Erfahrungen im Umgang mit dem körperlichen Altern machen sichtbar, wie Herrschafts- und Machtverhältnisse das Selbsterleben der Frauen beeinflussen und wie unterschiedlich die Art ist, darauf zu reagieren. Wenn zu belegen ist, dass das weibliche Alter in zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Systems Unterdrückungsmechanismen unterliegt, dann erfordert dies eine strukturelle Analyse und muss Teil einer feministischen Kritik sein. 33 Evaluation 1998: Rückblick und Ausblick Dr. Ingrid Helbrecht-Jordan, Institut Frau und Gesellschaft Ute Sonntag, Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. Schon unsere Großmütter wussten, wie wichtig es ist, Kontakte zu Gleichgesinnten aufzubauen, Informationen auszutauschen, sich wechselseitig zu bestärken und gemeinsam bestimmte Ziele konsequenter und erfolgreicher verfolgen zu können. Allerdings nannten sie diese hilfreichen Beziehungen Nachbarschaftshilfe und es ging eher um Aktivitäten im sozialen Nahraum. Seit Ende der 80er Jahre ist nun eine verstärkte Vernetzung im öffentlichen und beruflichen Bereich zu beobachten - zu den unterschiedlichsten Themen und Intentionen und mit unterschiedlichster Zusammensetzung. Auch unter Frauen: Es gibt inzwischen rund 300 Frauen-Netzwerke in der Bundesrepublik, Berufsverbände noch gar nicht mitgezählt (Röhring 1999: 9). Der Netzwerkgedanke hat Konjunktur ! Gerade deshalb ist es wichtig, in der eigenen Vernetzungspraxis immer wieder inne zu halten und zu fragen, ob das eigene Netzwerk noch Sinn macht oder sich schon längst überlebt hat. Die hier angesprochene Notwendigkeit einer regelmäßigen Selbstvergewisserung steht in engem Bezug zu einem Evaluationsverständnis, welches die Datenerhebung nicht einseitig als Kontrolle, sondern als Beitrag der Wissenschaft zu einer stetigen Qualitätsverbesserung der Praxis begreift (vgl. Arnold 1994 sowie - konkretisierend - Helbrecht-Jordan/ Deitermann 1999). In diesem Sinne ist die alljährliche Evaluation des ‚Netzwerks Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen‘1 Basis und Anregung für die gemeinsame Diskussion darüber, ob und wo Bedarf für eine Optimierung der Arbeit besteht und in welcher Form dies zur realisieren ist. Der Bezugsrahmen Sehr allgemein kann man ‚Evaluation‘ definieren als Erhebung und Auswertung von empirischen Daten, aufgrund derer nachvollziehbar wird, ob bzw. unter welchen Bedingungen die mit einer Maßnahme verknüpften Ziele in der Praxis umgesetzt werden können. Deshalb sei zunächst noch einmal kurz in Erinnerung gerufen, wozu das ‚Netzwerk Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen‘ eingerichtet wurde. Das Netzwerk Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen wurde im Dezember 1995 - zum Abschluss der Tagung ‚Gesundheit von Mädchen und Frauen in der Kommune‘ - gegründet. Der Leitgedanke: Durch Bündelung und Austausch von Kenntnissen, Erfahrungen und Einflussmöglichkeiten auf Multiplikatorinnen-Ebene sollen die Chancen von Mädchen und Frauen erweitert werden, „gesund zu leben„. Wobei das Verständnis von Gesundheit im Sinne der WHO breit gefasst ist: Es geht nicht nur um die Abwesenheit von Krankheit, sondern um das physische, psychische und soziale Wohlbefinden im Ganzen sowie um die Berücksichtigung des Zusammenhangs von Lebensweisen und Gesundheit. Konzipiert ist dieser Kooperationszusammenhang als Netzwerk. Denn diese Struktur versprach, nicht zu unver–––––––––– 1 Die Aktivitäten des ‚Netzwerks Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen‘ werden schon seit seiner Gründung regelmäßig einmal im Jahr einer Evaluation - organisiert und ausgewertet vom Institut Frau und Gesellschaft unter Mitarbeit der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. - unterzogen. Zur Auswertung der Evaluationsdaten der letzten beiden Jahre vgl. Helbrecht-Jordan/Sonntag 1997 sowie HelbrechtJordan/Sonntag 1998. 34 bindlich zu sein, aber auch nicht die Hürde zu großer Verbindlichkeit - wie etwa bei einem eingetragenen Verein aufzurichten. Um beizutreten, genügt eine formlose schriftliche Erklärung. Sie gilt als Zustimmung zum eben genannten (und in der Programmatik ausgeführten) Basiskonsens wie auch zu der Regelung, dass die Adressen zwecks Vernetzung und Kontaktaufnahme oder um Informationen zu verbreiten, untereinander weitergegeben werden können. Inzwischen sind dreieinhalb Jahre vergangen und das Netzwerk Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen hat sich stark erweitert: von damals 36 Gründungsfrauen auf 114 Mitglieder Ende 1998. Dieses Fortschreiten in der Zeit und in der Größe war Anlass, die diesjährige Evaluation darauf auszurichten, Transparenz über die aktuelle Realität des Netzwerks herzustellen: Wer oder was macht das Netzwerk heute aus? Entspricht dieses Bündnis den - ursprünglich wie auch aktuell - formulierten Erwartungen? Ergebnisse der Evaluation Quantitative Analyse: Wer ist aktuell am Netzwerk beteiligt? Um hierzu ein vollständiges Bild zu erhalten, wurde das Mitgliedsverzeichnis (mit Stand von Ende 1998) darauf hin gesichtet, wo die Frauen institutionell wie auch geographisch verortet sind. Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser aktuellen Bestandsaufnahme bezogen auf zentrale Ansprüche des Netzwerks Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen referiert.1 Der erste und zentrale Anspruch lautet: Das Netzwerk dient der fach-, bereichs- und einrichtungsübergreifenden Vernetzung von Multiplikatorinnen, die in ihren Gemeinden/ in ihrem Arbeitsfeld die Gesundheit von Mädchen und Frauen thematisieren und fördern wollen. In der Bestandsaufnahme wurde für 1998 folgende Mitgliedsstruktur ermittelt: Abb. 1: Mitgliederstruktur des Netzwerkes Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen (1998) Verbände Initiativen 4% 11% Einzelpersonen 19% Gesundheit 21% Wissenschaft 10% Pol./Öffentl. 4% Bildung 4% Gleichstellungsbeauftrage 27% –––––––––– 1 Eine Übersichts- bzw. Vergleichstabelle zu den nachfolgend diskutierten Daten findet sich auf Seite Wie aus Abb. 1 ersichtlich, ist das Netzwerk tatsächlich intersektoral. Diese breite Anlage dürfte eine gute Basis dafür sein, dass unterschiedliche Disziplinen und Arbeitsfelder miteinander ins Gespräch kommen und gemeinsame Ansatzpunkte zur Förderung von Frauen-/Mädchengesundheit suchen bzw. entwickeln können. Ein weiterer Anspruch ist, dass im Netzwerk alle Lebensräume Niedersachsens repräsentiert und berücksichtigt werden sollen. Bestandsaufnahme ’98 Die Auszählung der aktuellen Mitgliedsliste ergibt folgendes Bild: ➤ Hinsichtlich der Stadt-Land-Verteilung sind die großstädtischen Einzugsbereiche mit knapp 40% zwar am stärksten vertreten, doch engagieren sich immerhin jeweils 22% der Mitgliedsfrauen im ländlichen bzw. kleinstädtischen Raum. 16,7% der Multiplikatorinnen schließlich verorten ihre Arbeit überregional. ➤ Ein weiteres Indiz für die Präsenz von verschiedenen Lebensräumen ist das Kriterium „Zuordnung zu Regierungsbezirken„. Die Sichtung der aktuellen Mitgliedsliste ergibt hierzu: Das Netzwerk ist ein landesweites Bündnis - allerdings mit leichter Süd-Nord-Schieflage in dem Sinne, dass der RB Hannover (mit 47%) über-, der RB Weser-Ems (mit 19%) unterrepräsentiert ist.1 Ein Grund für diese Differenz ist in der leichteren bzw. –––––––––– 1 20 % der Multiplikatorinnen sind im RB Braunschweig und 14 % im RB Lüneburg tätig. Zum Vergleich: Der weibliche Bevölkerungsanteil liegt in Niedersachsen insgesamt bei 3.966.100 Personen. Diese verteilen sich prozentual auf die Regierungsbezirke wie folgt: RB Weser-Ems = 30 %; RB Hannover = 27,8 %; RB Braunschweig = 21,7 %; RB Lüneburg = 20,4 % (StAB 1997:51f). schwereren räumlichen Erreichbarkeit von Netzwerk-Aktivitäten zu sehen. So konnten z.B. bei der 1998 in Göttingen durchgeführten Tagung ‚Schwangerschaft - viel erreicht und nichts gewonnen?‘ Frauen aus dem Regierungsbezirk Braunschweig überproportional stark einbezogen werden. Die bisherigen Aussagen beziehen sich nur auf Mitgliedsfrauen. Das Netzwerk hat aber auch den Anspruch, ein offener Arbeitszusammenhang zu sein. Für die Teilhabe (insbesondere) an den Tagungen ist Mitgliedschaft dementsprechend keine unverzichtbare Voraussetzung. Auch diesem Aspekt sind wir in der Bestandsaufnahme ’98 genauer nachgegangen. Dabei ergab die vergleichende Zusammenschau der aktuellen Mitglieds- bzw. Teilnehmerinnen-Listen, dass gerade in 1998 die weitaus meisten Tagungsbesucherinnen - jeweils 78% (!) - nicht im Netzwerk organisiert waren. Dies ist ein Indiz für eine sehr große Offenheit nach außen - insbesondere auch gegenüber Multiplikatorinnen, die sich nur zu speziellen Fragen von Frauengesundheitsförderung informieren und austauschen wollen. Dieser Zugang bewirkt auch, dass bei den „Nur„-Nutzerinnen je nach Tagungsthema bestimmte Tätigkeitsfelder besonders stark bzw. schwach vertreten sind. Eine Übersicht zur Zusammensetzung der Teilhabenden im Einzelnen gibt Tabelle 1. Als Zwischenergebnis der Evaluation ´98 ist damit festzuhalten: Die vorliegenden quantitativen Eckdaten deuten darauf hin, dass (auch) 1998 die strukturellen Voraussetzungen gegeben waren, durch Zusammenbindung unterschiedlichster Erfahrungen, Kenntnisse und Einflussmöglichkeiten konstruktive Strategien zur Förderung der Gesundheit von Frauen und Mädchen in Niedersachsen zu entwickeln. Damit kommen wir zu der zweiten - inhaltlichen - Frage: Was soll, was kann das Netzwerk leisten? Tab. 1: Netzwerk Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen 1998: Zusammensetzung der Teilhabenden im Überblick Dimensionen Tätigkeitsfelder Stadt-Land-Verteilung Regionale Verortung (Regierungsbezirke) Nutzung der NetzwerkTagung in 1998 Unterdimensionen Mitgliedsstruktur absol. (N=114) % Teilnahme an 1. Tagung absol. (N=102) % Teilnahme an 2. Tagung absol. (N=63) % Gleichstellungsstellen Projekt/Initiative Gesundheitswesen Bildungsbereich Verbände Wissenschaft/Forschung Interessierte Einzelpers. Medien 30 13 24 5 4 11 22 3 26,5 11,4 21 4,4 3,5 9,6 19,3 2,6 25 18 13 9 8 9 11 2 24,5 17,6 12,7 8,8 7,8 8,8 10,8 2 1 11 32 1 5 10 1 1,6 17,5 50,8 1,6 7,9 15,9 1,6 Politischer Bereich Ländlich Klein-/Mittelstadt Großstadt Überregional keine Angaben 2 25 25 45 19 - 1,7 21,9 21,9 39,5 16,7 - 6 24 30 30 11 (7) 5,9 25,3 31,6 31,6 11,6 - 2 5 7 37 13 (1) 3,2 8,1 11,3 59,7 21 - 18 13 45 19 (19) 18,9 13,7 47,3 20 - 15 19 45 7 (16) 17,4 22,1 52,3 8,1 - 3 2 13 30 (15) 6,3 4,2 27,1 62,5 - 30 - 26,5 - 22 80 21,6 78,4 14 49 22,2 77,8 Weser-Ems Lüneburg Hannover Braunschweig trifft nicht zu* Mitgliedsfrauen „Nur“-Nutzerinnen (*=Personen, deren Arbeit überregional und/oder auf andere Bundesländer ausgerichtet ist) Quelle: Mitglieds- bzw. TN-Listen 1998, NW Frauen/Mädchen und Gesundheit Nds. 35 Methodische Zwischenbemerkung Um einen aktuellen Eindruck zu den im Netzwerk vorliegenden Erwartungen und Erfahrungen zu erhalten, haben wir im Frühjahr 1999 eine eigene empirische Untersuchung durchgeführt: Auf der Basis einer gewichteten Stichprobe wurde ein Fünftel aller Frauen, die 1998 Mitglied im Netzwerk waren und/oder dessen Angebote genutzt haben, stellvertretend intensiv befragt. Gearbeitet wurde dabei generell mit Telefon-Interviews - mit der Intention, Einschätzungen in diesem Jahr konkreter als beim sonst üblichen „bloßen Kreuzchen„ fassen zu können. Die Resonanz bei den Befragten war ausgesprochen positiv. Einige Frauen merkten ausdrücklich an, dass sie diese Methode „sogar besser„ finden. Dies vor allem wegen des kommunikativeren Charakters: „Da kann man sich austauschen und die Feinheiten kommen besser rüber„. Aber auch aus „Bequemlichkeit„: „Eigentlich ist das sogar sympathischer als der Fragebogen, denn ich brauche kein Papier auszufüllen und wegzuschicken„. Bemerkenswert ist auch der „Erinnerungswert„: „Durch den Anruf ist mir überhaupt erst wieder bewusst geworden, dass ich Mitglied bin. Und jetzt werde ich doch noch mal genauer hinschauen, ob ich da etwas für mich rausziehen, oder auch etwas reingeben kann.„2 Qualitative Analyse: Welche Erwartungen, welche Erfahrungen haben die Netzwerkerinnen? Es wurde eben schon erwähnt, dass die Netzwerk-Tagungen, in deren Vorbereitung und Durchführung auch 1998 sehr viel Energie gesteckt worden ist, zum weitaus größeren Teil von Nicht-Mitgliedern besucht wurden. Dieses Ergebnis stellt im Vergleich zu den vergangenen Jahren, in denen die Tagungen immer auch ein Stück weit der zentrale Ort für Austausch unter den Mitgliedsfrauen war, eine Veränderung dar. Aus diesem Grund wurde in der Evaluation ’98 genauer untersucht: Wie organisieren die Mitgliedsfrauen aktuell ihre Teilhabe am Netzwerk? Ausdifferenzierung in Anspruch und Form der Teilhabe Zwar hat nur jede vierte Mitgliedsfrau 1998 eine NetzwerkTagung besucht. Doch handelt es sich bei den übrigen keinesfalls nur um „Karteileichen„. Vielmehr kristallisieren sich bei genauerer Betrachtung zwei Gruppen von „inaktiven Mitgliederfrauen„ heraus: ➤ Bei etwa einem Fünftel ist davon auszugehen, dass das Netzwerk für sie aktuell tatsächlich keine Bedeutung mehr hat: Sie haben sich inzwischen beruflich völlig umorientiert, haben „andere Schwerpunkte“, die im Netzwerk„ kaum ansatzweise vorkommen“. ➤ Für den weitaus größeren Teil der auf den ersten Blick „inaktiven“ Mitgliedsfrauen ist eine „stille“ Nutzung von Netzwerkangeboten, insbesondere des Rundbriefs, kennzeichnend - gelegentlich verbunden mit einem leicht „schlechten Gewissen“: „Ich muss gestehen: Ich war nur Konsumentin“. Entscheidend hierfür waren Arbeitsverdichtung und knappe Zeitressourcen. In diesem Zusam–––––––––– 2 Die hier und im weiteren kursiv gedruckten Formulierungen sind sämtlichst Zitate aus den qualitativen Gesprächsmitschriften der o. g., im Frühjahr 1999 durchgeführten Erhebung. 36 menhang wird auch deutlich, dass diese Multiplikatorinnen für sich sehr genau schauen, ob sie sich Zeit zum Tagungsbesuch nehmen können. Und dabei erschienen ihnen offenbar die Themen der 1998er-Tagungen „nicht so interessant“, „nicht so richtig passend“, „zu sehr im alternativen Bereich“. Demnach stellt die einfache Variable ‚Tagungsteilnahme ja/ nein‘ kein hinreichendes Kriterium für eine angemessene Einschätzung der jeweiligen Teilhabe am Arbeitszusammenhang Netzwerk dar. Insbesondere gerät dabei leicht aus dem Blick, dass Tagungen zwar ein wichtiges, aber nicht das einzige Informationsforum des Netzwerks sind. Denn frau kann sich ja auch über die hier herausgegebenen Print-Medien Anregungen zur Förderung von Frauen-/Mädchengesundheit holen: ➤ Das ist zum einen der sog. Rundbrief, der zweimal pro Jahr an alle Mitgliedsfrauen verschickt wird und die Möglichkeit bietet, sich mit themenspezifischen Hinweisen zu versorgen, konkrete Beispiele aus der Arbeit vorzustellen, Anknüpfungspunkte für gemeinsame Aktivitäten zu entdecken. ➤ Das sind zum andern die Dokumentationen, in denen die Referate und Arbeitsgruppenergebnisse der jeweiligen Tagungen nachgelesen werden können. Und in Bezug auf diese beiden Teilhabeformen deutet sich in den diesjährigen Evaluationserhebungen ein durchaus hoher Nutzwert an: ➤ 80% der befragten Mitgliedsfrauen bedienen sich regelmäßig des Rundbriefs - häufig verbunden mit Wertungen wie sehr interessant, sehr informativ, sehr anregend usw. ➤ Bei den Dokumentationen beträgt der Aufnahmegrad 54%. Sie gelten - wie der Blick auf die qualitativen Kommentare zeigt - als ein wunderbarer Service, so dass ich auch etwas mitbekomme, wenn ich nicht dabei sein kann bzw. auch als eine gute Vorbereitungsmöglichkeit, wenn ich selbst etwas plane. Damit ist als ein weiteres Zwischenfazit festzuhalten, dass in 1998 die Partizipation am ‚Netzwerk Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen‘ durchaus funktioniert hat. Folgendes Zitat aus der Telefonbefragung ist hier gleichsam als Leitmotto zu lesen: „Ich fühle mich gut aufgehoben im Netzwerk, selbst wenn ich nicht immer selbst präsent bin.“ Weiterführend ist dann aber zu fragen: Was macht dieses Aufgehobensein genau aus? Hohe Übereinstimmung mit dem Basiskonsens In den Telefoninterviews haben wir gefragt: „Man kann an vernetztes Arbeiten unterschiedliche Erwartungen haben. Was erwarten Sie persönlich von Ihrer Mitgliedschaft im ‚Netzwerk Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen‘? Und: Wie weit haben sich diese Erwartungen für sie bislang erfüllt?“ Im Ergebnis kristallisierten sich dabei recht gleichlaufende Erwartungen heraus. Demnach wollen die Frauen: 1. in Sachen Frauengesundheitsförderung fachlich auf dem Laufenden bleiben, 2. Impulse wie auch Unterstützung für die eigene praktische Arbeit vor Ort erhalten, 3. die eigene Perspektive durch interdisziplinäre(n) Zusammenarbeit und Austausch erweitern. Hier ergibt sich also eine große Übereinstimmung zum anfangs skizziertem Basiskonsens des Netzwerks. Für die Bilanzierung ist zu vermerken, dass die Befragten diese Erwartungen für ihre Person in der Netzwerk-Realität bislang im Großen und Ganzen als eingelöst erleben. Eigens zu erwähnen ist schließlich noch ein Anspruch, den jede dritte befragte Mitgliedsfrau an Vernetzung knüpft: Die Mehrung der Chancen zu politischer Einflussnahme3 . In den qualitativen Kommentaren wird das Netzwerk dabei als „Sprachrohr“, als „Plattform“ konzeptualisiert, um „die Interessen von Mädchen und Frauen sichtbar zu machen und auch politisch zu vertreten“. Hinsichtlich der Einlösung dieser politischen Dimension sind die Meinungen dann geteilt: Die einen erleben das Netzwerk schon als eine Kraft, „die politisch etwas bewegen kann“. Andere sehen gerade hier ein Manko der bisherigen Arbeit, fordern „mehr politische Vorstöße“, hoffen auf „mehr Kooperation mit Frauen aus der Politik“. In diesem Zusammenhang steht auch der Ruf nach verstärkter Öffentlichkeitsarbeit: „Das Netzwerk sollte noch mehr Propaganda in der Öffentlichkeit machen. Damit die Menschen merken, wie wichtig das Thema ist. Dann bekommt man auch in der Politik mehr durch.“ Zu erwägen sei zudem „der Einstieg in die elektronische Vernetzung“ und der „Aufbau einer homepage“. Anregungspotenziale des Netzwerks Ein weiteres Augenmerk der diesjährigen Netzwerkevaluation galt der Frage, ob und inwieweit die im Netzwerk entwickelten Ideen und Konzepte in der Praxis vor Ort als tragfähig, realistisch, relevant erlebt werden. Hier gaben rund zwei Drittel der befragten Mitgliedsfrauen an, vom Netzwerk inspiriert worden zu sein.4 In den qualitativen Konkretisierungen hierzu lassen sich dann drei Anregungsdimensionen erkennen: 1. Anregung, sich mit neuen Fragestellungen auseinander zu setzen, sich theoretisch weiterzubilden, 2. Sensibilisierung für „Nebentöne“ in der praktischen Einzelarbeit mit Frauen und Mädchen, 3. Impulse für die Entwicklung eigener gemeinwesenbezogener Aktivitäten in der Region (Veranstaltungen, workshops, Projekte, Arbeitskreise). –––––––––– 3 Bei der Frage, was das Netzwerk ihrer Auffassung nach vorrangig zu leisten habe, geben die Befragten der ”Ermöglichung politischer Einflußnahme” höchste Priorität (mit 34,8 %). Die weiteren Ränge: Fachliche Qualifizierung (26 %), Interdisziplinarität (24 %), Erfahrungsaustausch (15 %). 4 Bei den ‚Nur‘-Nutzerinnen fand nur die Hälfte der Multiplikatorinnen für sich ein solches Anregungspotential. Insbesondere an der Tagung ”Programme für die Zukunft” wurde bemängelt, daß ”die Beiträge zu abgehoben” waren bzw. daß ”da kein Funke übergesprungen” ist. Im Alltag dürften diese Dimensionen häufig auch miteinander verwoben sein - wie z.B. in dieser Aussage beschrieben: „Anregungen gab es auf jeden Fall. Denn sonst würden wir hier nicht eine eigene Tagung machen. Für mich persönlich war es anregend, dass ich andere Perspektiven wahrgenommen habe und jetzt stärker in die Arbeit integriere.“ Möglichkeiten und Grenzen aktiver Mitarbeit Ein weiterer, zentraler Anspruch des Netzwerks ist, dass die Mitglieder die Ziele und Vorgehensweisen dieses Kooperationszusammenhangs aktiv mitgestalten sollen/können. Hierzu haben sich seit der Gründung vor dreieinhalb Jahren verschiedene Teilhabestrukturen herausgebildet: ➤ Zunächst die Organisationsgruppe. Sie tagt inzwischen regelmäßig einmal im Monat und sieht ihre Aufgabe darin, eingehende Anfragen zu bearbeiten und Perspektiven für eine Weiterentwicklung des Netzwerks anzudenken. ➤ Zunehmend an Bedeutung gewonnen haben die sog. Planungsgruppen. Sie konstituieren sich für begrenzte Zeit - nämlich zur Vorbereitung jeweils einer Netzwerktagung. An ihnen beteiligen sich neben interessierten Netzwerkfrauen auch „fremde“ Expertinnen, die in Institutionen und Verbänden einschlägig zum Thema arbeiten. ➤ Die zeitlich jüngste Teilhabestruktur ist die Redaktionsgruppe - zuständig für die Erstellung der Rundbriefe. Insgesamt hat diese Ausdifferenzierung dazu geführt, dass etwa ein Viertel der Mitgliedsfrauen die Vernetzungsarbeit mittragen und mitgestalten. Den Bedingungen und Effekten einer solchen aktiven Partizipation sind wir im Rahmen der Telefoninterviews genauer nachgegangen. Dabei ergab sich folgendes Bild: 1/3 der Befragten hat sich bislang für eine Mitarbeit in den genannten Teilhabeformen mobilisieren lassen (am häufigsten genannt werden hier die Planungsgruppen). Zum überwiegenden Teil berichten sie von positiven Erfahrungen. Die qualitativen Kommentierungen verweisen dabei auf folgende förderlichen Aspekte: Bereitschaft zuzuhören, Akzeptanz untereinander, sich zusammenraufen, gute Strukturierung, Kontinuität und Verbindlichkeit der Teilnahme. Dies macht nicht nur die Zusammenarbeit produktiv, sondern beinhaltet auch die Chance zu persönlichem Gewinn. Stellvertretend für alle hierzu folgendes Ankerzitat: „Die Mitarbeit bedeutet für mich Wissensgewinn und Diskussionsanreiz. Ich kann Sachen für mich mitnehmen, die ich zu Hause gebrauchen kann. Und wenn ich zurückfahre, habe ich ein gutes Gefühl. Ich erlebe dann mehr Engagement und Energie in mir. Ein Problem ist allerdings der Aufwand für das Kommen.“ Das Stichwort „Aufwand“ benennt zugleich die Hürde für eine aktive Mitgestaltung der Netzwerkpolitik: Als maßgeblich gilt dabei ganz offenbar der Faktor „Zeit“ (bei weiten Anfahrtwegen auch die finanzielle Belastung). Denn die abschlägigen Kommentare betonen immer wieder das eigene enge Arbeitszeitbudget und den Zwang, andere Prioritäten (z.B. Verwaltungsreform) zu setzen. Eine typische Aussage ist hier: „Das liegt schlicht an meiner Arbeitsüberlastung. Wenn ich wieder mehr Zeit habe, werde 37 ich auch wieder auf das Netzwerk zukommen.“ Anzumerken ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass immerhin ein Viertel der Mitgliedsfrauen hinsichtlich der Frage nach dem voraussichtlichen Ausmaß der eigenen Teilhabe am Netzwerk in 1999 meinen bzw. hoffen, dass sie Zeit für eine aktive Mitarbeit im Netzwerk werden aufbringen können. dabei gesehen: Ein jährlicher Mitgliedsbeitrag - verbunden mit „sozialer Staffelung“ und der „Möglichkeit, Tagungen ermäßigt zu nutzen“. Oder: ein Dienstleistungsansatz, bei dem „die Leistung kostendeckend honoriert wird“. Jede vierte Frau lehnt Gebühren generell ab - weil „kein Budget dafür“ da ist und/oder weil die Förderung des Netzwerks „eine Landesaufgabe“ sei. Zukunftsperspektiven Im Sinne eines Ausblicks auf die weitere Entwicklung des Netzwerks haben wir in den Telefoninterviews insbesondere zwei Fragen thematisiert: 1. Wie ist das Meinungsbild bezüglich eines Abgehens von der Beitragsfreiheit? 2. Zu welchen Themenschwerpunkten sollen im weiteren Netzwerktagungen durchgeführt werden? Die entsprechenden Ergebnisse werden abschließend kurz zusammengefasst. Perspektiven der Ressourcensicherung Bislang ist die Mitgliedschaft im Netzwerk kostenfrei. Machbar war dies dank der verbindlichen Bereitstellung von Infrastruktur-Ressourcen durch die drei „Träger-Institutionen“: Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen, Institut Frau und Gesellschaft (IFG) und das niedersächsische Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales. Ein neues Dilemma bringt jedoch die Kostenfrage wieder auf den Tisch: Einerseits mehren sich mit dem quantitativen und qualitativen Wachstum dieses Frauengesundheitsbündnisses auch die Ausgaben für Vernetzungspraxis. Andererseits muss mit einem weiteren Rückzug des Staates aus finanziellen Kann-Verpflichtungen gerechnet werden. Erschwerend kommt hinzu, dass das IFG zum 31.12. 1999 geschlossen werden muss, weil das Land seine Förderung einstellt womit das Netzwerk eine seiner drei Trägerinstitutionen verliert. Hinsichtlich des Umgangs mit dieser Problematik zeichnet sich in den Telefoninterviews folgende Grundstimmung ab: 3/4 aller befragten Mitgliedsfrauen signalisieren Bereitschaft, über die Entrichtung von Gebühren als „Ausfallbürge“ einzuspringen: „Eine Beteiligung an den Kosten ist o.k., wenn das Netzwerk sonst in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt würde.“ Zwei gangbare Wege werden Perspektiven der inhaltlichen Weiterarbeit Die anfangs benannte Orientierung des Netzwerks an den Grundsätzen der WHO bringt es mit sich, dass prinzipiell ein breites Spektrum an Fragestellungen, Konzepten und Methoden zur ‚Gesundheit von Frauen und Mädchen‘ zur Debatte steht. Auf den Netzwerk-Tagungen wird - mit Fachvorträgen, Praxisberichten und Arbeitsgruppen - Raum gegeben, sich mit ausgewählten Themen vertieft auseinander zu setzen. Angesichts der - oben skizzierten - Vielfalt von Arbeitsfeldern und disziplinären Zugängen sowie der engen Arbeitszeitbudgets der Multiplikatorinnen ist es auch Aufgabe der Evaluation, die spezifischen Interessen der Multiplikatorinnen zu eruieren. Das sich in Tabelle 2 widerspiegelnde Meinungsbild deutet darauf hin, dass das bislang praktizierte mehrdimensionale Herangehen an das Thema ‚Gesundheit von Frauen und Mädchen‘ bejaht wird. Typisch für diese Haltung ist z.B. folgender Kommentar einer Befragten: „Eigentlich sind alle Schwerpunkte wichtig. Sie sind schwer zu vergleichen und schwer zu gewichten“. Was noch zu sagen bleibt In lockeren Arbeitszusammenhängen können dreieinhalb Jahre Laufzeit schon eine „Ewigkeit“ darstellen - stets verbunden mit dem Risiko der Erstarrung und Selbstzweckhaftigkeit. Im Falle des ‚Netzwerks Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen‘ ist das „in die Jahre kommen“ jedoch als ein Ausbau- und Konsolidierungsprozess zu interpretieren. Dabei ist ihm sicherlich auch ein Stück weit der Anstrich des ‚ganz Besonderen‘ abhanden gekommen, weil die Zusammenarbeit jetzt auf „mehr Routine“ beruht. Doch ist als abschließendes Fazit der vorliegenden Evaluationsergebnisse festzuhalten, dass dieses Bündnis nach wie vor „auf dem richtigen Weg ist“ und frau auch weiterhin „auf eine aktive Zukunft des Netzwerks hoffen“ darf. Tab. 2: Tagungsschwerpunkte Frage: Das Netzwerk hat bislang zum Thema Frauengesundheit Tagungen in drei Schwerpunktbereichen durchgeführt. Welche dieser Dimensionen interessiert Sie persönlich mehr/weniger? Ergebnis: Interessenten-Verteilung (in %) (alle Befragten) gering mittel hoch 1. Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Lebensbedingungen und Gesundheit 11 35 54 2. Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Lebensphasen und Gesundheit 8 37 55 3. Betrachtung von gesundheitsstrukturellen Rahmenbedingungen 19 27 54 Quelle: Telefonbefragung zur Evaluation der Praxis des Netzwerks Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen (Frühjahr 1999) 38 Zitierte Literatur: - - - - Arnold, Rolf 1994: Qualitätssicherung in der Weiterbildung. In: Grundlagen der Weiterbildung (GdWZ) 1/1994 Helbrecht-Jordan, Ingrid; Deitermann, Bernhilde 1999: „Wie sag’ ich’s meinen Eltern?“ - Die ‚Weiterbildung: Familienbegleitung’. Bilanz eines Praxisforschungsprojekts. In: Zeitschrift für Frauenforschung 3/1999 Helbrecht-Jordan, I.; Sonntag, U. 1997: Ein Jahr Netzwerk - wir ziehen Bilanz. Ergebnisse der quantitativen Untersuchung, in: „...weil ich ein Mädchen bin“- Lifestyle und Gesundheit von Mädchen. Dokumentation der Tagung des Netzwerks Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen am 27.01.1997. Hannover Helbrecht-Jordan, I.; Sonntag, U. 1998: Netzwerkentwicklung 1997 - Verbreiterung und Strukturbildung. Vortrag auf der Tagung: „Programme für die Zukunft - Neue Impulse für eine frauenspezifische Gesundheitsförderung in der Kommune“ am 01.07.1998 Hannover Röhrig, Anja 1999: Das Netz der Frauen. In: Arbeitsmarkt Bildung/Kultur & Sozialwesen 14/99 Statistisches Bundesamt (StBA) 1997: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1997. Wiesbaden 39 Informationen zum Netzwerk Das Netzwerk Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen wurde Ende 1995 in Hannover gegründet. Es hat sich zum Ziel gesetzt, der Diskriminierung von Frauen und Mädchen im und durch das Gesundheitswesen konstruktiv zu begegnen. Die Förderung von Frauen- und Mädchengesundheit soll in den Kommunen verankert und etabliert werden. Dies geschieht durch Einbindung interessierter Frauen, Organisationen und Institutionen sowie der bereits vorhandenen Aktivitäten vor Ort. Das Netzwerk will Umsetzungsstrategien – auch für den polititschen Raum – entwerfen, den Frauen Handlungsperspektiven in ihren regionalen und kommunalen Bezügen eröffnen, Informations- und Erfahrungsaustausch unterstützen und gewährleisten, die Kompetenzen der Mitgliedsfrauen fördern und insbesondere zu Eigenaktivitäten anregen. Multiplikatorinnen aus Verwaltung, Verbänden, Institutionen und Initiativen, vorwiegend aus dem Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich, aber auch aus Forschung und Lehre, beteiligen sich an der Arbeit des Netzwerkes. Eine 40 große Gruppe bilden die kommunalen Frauenbeauftragten, die Interesse am Thema Frauengesundheit haben. Das Netzwerk Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen wird ab dem 1. Januar 2000 von dem Niedersächsischen Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales und der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. getragen. Das Netzwerk veranstaltet regelmäßig Tagungen, die jeweils dokumentiert werden. Kontaktadressen: Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales Ursula Jeß Gustav-Bratke-Allee 2 30169 Hannover Telefon (05 11) 120-29 70 Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. Ute Sonntag Fenskeweg 2 30165 Hannover Telefon (05 11) 3 50 00 52