Drägerheft 395
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Drägerheft 395
Drägerheft Big Data Wo Daten mit Sicherheit weiterbringen 395 Feuer-Zeug Drägerheft 395 Wie sich ein Brandlabor in Rowdys hineindenkt Außer Atem Technik für das Leben 2014 Thriller über einen natürlichen Reflex 3. Ausgabe 2014 Künstliches Koma Seele ohne Ausweg Langzeitnarkose: Gefangen im eigenen Körper Feuer, Wasser, Erde, Luft – ohne die vier Elemente kann der Mensch nicht leben. Und doch muss er sich vor ihren Gefahren schützen: Seit 125 Jahren stehen Dräger und „Technik für das Leben“ auch für den Umgang mit ihnen. „Diese vier Elemente zu bannen, gerade wenn sie wild stürmend und tosend daherbrechen, ohne das bedrohte Menschenleben mit Kraft und Energie zu entreißen, und sie so wieder in die Schranken zurückzuzügeln – das war, aus kleinsten Anfängen heraus geboten, die Arbeit des Drägerwerks.“ Hauptpastor Wilhelm Mildenstein, Marienkirche Lübeck, am 16. Januar 1928, anlässlich der Beerdigung von Bernhard Dräger Sie ist nicht nur Heimatplanet, sondern – im engeren Sinn – die Erdkruste: von der Ackerkrume über die TauTona-Mine in Südafrika, die noch aus 3.900 Meter Tiefe Gold fördert, bis zur Forschungsbohrung SG-3 auf der russischen Kola-Halbinsel in 12.262 Meter Tiefe. Mehr als 20 Millionen Menschen verdienen weltweit als Kumpel ihre Kohle. Ihre Arbeit ist ebenso unverzichtbar wie gefährlich. Dieses Risiko mindern ein Ausbau der Bergwerke nach dem Stand der Technik sowie die technische Ausrüstung und Ausbildung von Grubenwehren. INH ALT 1.000 Quadratmetern 4 E R FAHR U N GE N Aus aller Welt: Helga Tschugg, leitende Pflegekraft aus Innsbruck, und Andreas Friedl von der dortigen Berufsfeuerwehr helfen den Menschen auf verschiedene Art und Weise. 22 ATMEN 22 E S S AY Atmung: Eine atemberaubende Reise durch einen lebenswichtigen Reflex, den man kaum bemerkt. 6 S T R E IF Z Ü GE Der etwas andere Blick auf die Themen dieser Ausgabe: und was es sonst noch dazu zu sagen gibt. 28 K R ANK ENH AU S - I T Datenschutz: In Krankenhäusern werden immer mehr Daten digital verwaltet. Doch wie sicher sind die Systeme, und wie wird man den Anforderungen der Behörden gerecht? 8 FO K U S Langzeitnarkose: Im Koma empfinden Menschen völlig anders. Künstlich in einen veränderten Bewusstseinszustand gebracht, kämpfen sie parallel zur Genesung ihres Körpers ihren ganz eigenen Kampf. Wie kann man ihnen diesen Weg erleichtern? 32 K R ANK ENH AU S Hygiene: Die frühe Erkennung einer Blutvergiftung kann Leben retten, doch die Diagnose ist oft schwierig. Die Betroffenen haben nur dann gute Überlebenschancen, wenn schnell und beherzt eingegriffen wird. 18 BR AN DSC HU T Z Personenverkehr: Zündeln erlaubt! Gezielt Feuer legen, um Schäden zu vermeiden – das ist die Aufgabe des Brandlabors der DB Systemtechnik GmbH. 38 G E S E L L S C H AF T Datenflut: Das Informationszeitalter häuft täglich immer größere Datenmengen an. Big Data hat das Potenzial, sie nutzbar zu machen – auch in der Medizin. DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 28 SCHÜTZEN GET T Y IMAGES PRÜFEN ARNE WESENBERG 18 PETER THOMAS FOTO : GET T Y IMAGES. TITEL-ILLUSTRATION: ALINE ABREU Eine Oberfläche von rund weist ein Gramm Aktivkohle aus der Schale der Kokosnuss auf, die Stoffe aus der Luft bindet – mehr ab Seite 48. 44 MED I Z IN Geschichte: Eine Sonderausstellung in Mannheim beleuchtet noch bis Mitte 2015 die Geschichte und Zukunft der Medizintechnik. 48 SC HU LT ER BL I C K Arbeitsplatzmessungen: Der DrägerAnalysenservice bestimmt Schadstoffe in der Luft – auch wenn ihre Konzentration noch so gering ist. 52 EINBLIC K Alkohol-Interlocks: Der zweite Zündschlüssel – freie Fahrt gibt es nur für den, der vorher gepustet hat und ohne Atemalkohol ist. 3 ER FAHR UN GEN AU S A L L E R W E LT Menschen, die bewegen Helga Tschugg, leitende Pflegekraft, Universitätsklinik Innsbruck/Österreich schon, wie ungerecht das Leben sein kann, wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort ist. In einem unserer elf Betten liegt gerade eine Frau nach einem Sturz aus großer Höhe in den Bergen, ebenfalls querschnittsgelähmt. Der Absturz war nicht hoch genug, wie sie es sich erhofft hatte. Wie man mit all dem umgeht? 90 Prozent unserer Patienten leben weiter. Ein Tiroler hatte vor 16 Jahren einen Unfall. Er sitzt heute im Rollstuhl, spielt Posaune, fährt Mono-Ski. Manchmal frage ich ihn, ob er kommen kann, um mit den Patienten zu reden. So einer wie er ist ein Energielieferant, auch für das ganze Team. Aber man muss lernen, alles hierzulassen, in der Klinik – es in die Schublade zu legen, bevor man nach Hause geht. Als kleines Mädchen wollte ich Säuglingsschwester werden. Nun arbeite ich seit 30 Jahren in der Intensivpflege und bin bis heute froh darüber. Ich mag es, Empathie weiterzugeben. Früher hatten die Menschen mehr familiären Rückhalt, heute leben viele isolierter.“ FOTOS UND TEXTE: BARBARA SCHAEFER „Die Skisaison in Sölden wurde bereits Ende Oktober eröffnet – leider hatten wir gleich zwei Schwerverletzte: einen jungen Russen, Snowboarder, der nach einem schweren Unfall querschnittsgelähmt ist. Und einen Mann, der beim Ausladen seines Wagens überfahren wurde. Weihnachten heißt für uns Urlaubssperre, dann wird es hier voll und international. Tirol zählt 45 Millionen Übernachtungen pro Jahr. Früher gab es saisonale Pausen, da waren die Ski-Openings erst im Dezember. Was ich mir beruflich wünsche? Schwierig zu sagen. Wenn einer sich überschätzt, muss er mit dem Risiko leben. Wir hatten mal eine Studentin, begeisterte Gleitschirmfliegerin, ein Profi. Sie stürzte 50 Meter im freien Fall in die Tiefe und verstarb drei Tage später. Tragisch, aber sie wusste um das Risiko. Ich erinnere mich auch an einen jungen Motorradfahrer, der von einem entgegenkommenden Motorrad erfasst wurde. Er hat auch nicht überlebt. Da denkt man 4 DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Andreas Friedl, Ingenieur und Bereitschaftsoffizier, Berufsfeuerwehr Innsbruck/Österreich „Ich bin seit 22 Jahren bei der Feuerwehr und habe schon einiges erlebt: von der Katze auf dem Baum bis zum Waldbrand. 2008 brannte es zehn Tage lang, 40 Meter hohe Flammen schlugen aus dem Wald. Unterhalb der Martinswand ist es im Sommer extrem trocken, ein starker Föhnsturm blies noch dazu. Auch wenn Hubschrauber Wasser abwarfen: Wir gingen rein und hackten den steilen Waldboden auf, denn Wurzelbrände können noch tief unter der Erdoberfläche schwelen. Der Wald schützt die Stadt. Innsbruck ist die einzige Großstadt Europas mit Siedlungen in lawinengefährdetem Gebiet – Ende Oktober hatten wir schon 1,80 Meter Neuschnee auf den Bergen! Kürzlich brannte es in einer Tiefgarage, 400 Batterien explodierten. Da kamen wir körperlich an unsere Grenzen. Bei der Personensuche in extremer Rauchentwicklung haben wir neben Dräger- Atemschutzgeräten (Typ: PSS 5000) auch Twin-Packs dabei. Mit zwei Flaschen verdoppelt sich der Luftvorrat. Unsere größte Herausforderung? Vermutlich der Brenner-Basistunnel. Wenn der in einigen Jahren fertiggestellt ist, führen drei Röhren durch die 64 km lange Ader im Untergrund. In einem Zug sind dann bis zu 1.000 Fahrgäste. Das mag man sich gar nicht vorstellen, wenn da etwas passiert. Mein schlimmster Einsatz ist 15 Jahre her: Ein 18-jähriger Kanalarbeiter steckte kopfüber im Schacht fest. Wir hatten ihn schnell heraus, doch im Schacht war Wasser. Wie elend er da zugrunde gegangen sein muss – das hat mich lange beschäftigt. Manchmal müssen wir auch Hunde aus dem Inn retten. Da stehen dann Leute auf der Brücke und klatschen. Bei einer Personenrettung habe ich das noch nie erlebt, aber so ist unsere Gesellschaft nun mal. Als Feuerwehrmann kann man gut sein kleines Helferleinsyndrom pflegen.“ S T R EIF ZÜGE UM WAS ES HIER GEHT Stichwörter FOTOS: DDP IMAGES, PETER THOMAS, PATRICK OHLIGSCHLÄGER, GET T Y IMAGES Jedes von ihnen deckt auf dieser Doppelseite einen neuen Aspekt eines Artikels auf, zeigt ihn aus einer anderen Perspek tive. Denn jedes Thema hat viele Facetten. Die Erklärungen und Erläuterungen der Stichwörter werden auch aus Lexika, Wör terbüchern und Fachenzyklopädien zitiert – und sie enthalten Streifzüge durch andere Gebiete. Damit man manchen Aspekt mit anderen Augen sieht. 6 ANDERE WELTEN Nicht mehr Herr im eigenen Haus In wunderbaren Momenten fühlt sich der Mensch mit sich und seiner Umwelt im Einklang. Doch vielfach nimmt er schon im normalen Alltag widerstreitende Gefühle wahr: Der Bauch will Schokolade, der Kopf legt sein vernunftgesteuertes Veto ein. Sigmund Freuds Psychoanalyse brachte 1917 Ordnung in dieses Chaos, indem Freud das Unbewusste beschrieb – auch als Kränkung, dass das Ich nicht mehr Herr im eigenen Hause sei. Ähnlich dürfte es Komapatienten ergehen: mehr ab Seite 8 WUNDERKAMMER Begehbare Stätten der Aufklärung Nicht nur das Internet bildet. Museen bieten Ausstellungen nach Themen geordnet, stellen Dinge in einen erhellenden Zusammenhang, machen sie haptisch erlebbar. Sie gingen aus „Wunderkammern“ genannten Kunstsammlungen des Barocks hervor. Die Aufklärung wandelte den Blick vom Staunen in Wissenserwerb durch Anschauung. Medizintechnik ist ebenfalls ihr Thema: mehr ab Seite 44 DRÄGERHEFT 395 | 3/ 2014 NEBEN DER SPUR Hinterwäldler der Gesellschaft Sie stören, sie zündeln, sie brechen Streit und Gewalt vom Zaun: Rowdys. Ursprünglich bezeichnete dieser Begriff ungehobelte Hinterwäldler, die aneckten und alles dafür taten. „Rowdytum“ ist aber auch die stigmatisierende Bezeichnung für lediglich Unbequemes. Im Fall von Feuerteufeln jedoch ist klar, welche Rowdys am Werk sind, vor denen die Bahn sich schützt: mehr ab Seite 18 DIGITALISIERUNG WAHRNEHMUNG Die ganze Welt in 0 und 1 Der Nase nach Gewöhnt haben wir uns an das Zehnersystem, denn zehn Finger haben beide Hände. Doch Griechen und Chinesen beispielsweise rechneten im Fünfersystem, die Mayas in 20er-Schritten. Sumerer und Babylonier wiederum orientierten sich nicht am Menschen, sondern am Lauf der Sterne – ihr 60er-System eignete sich besonders für astronomische Berechnungen. Damit räumte das Universalgenie Gottfried Wilhelm Leibniz im Jahre 1697 radikal auf: Er entwickelte ein Dual- oder Binärsystem, das nur noch aus den Werten 0 und 1 besteht. Das sollte reichen zur Beschreibung der Welt und ließ sich universal übersetzen: in Ja und Nein, in Gott und Teufel, Mann und Weib, aber auch in Tag und Nacht. Etwas Drittes gibt es nicht, logisch. Der Strom ist an oder aus. Claude E. Shannons bahnbrechende Kommunikationstheorie verknüpft Dualsystem und frühe Computertechnik. Er legte damit die Grundlage – auch für das, was wir heute als „Big Data“ völlig neu sehen: mehr ab Seite 38 KEIME Die 30 Millionen Riechzellen der menschlichen Nase nehmen beispielsweise Substanzen wie Methylmercaptan im Knoblauch noch in unvorstellbar geringer Verdünnung wahr. Hunde leisten da sogar noch mehr. Doch bei vielen Schadstoffen kann man sich auf Nasen aus Fleisch und Blut nicht mehr verlassen. Dann helfen nur noch Analysen, die die notwendige Sicherheit geben: mehr ab Seite 48 Angriffe auf den Körper Fühlt sich der Mensch unwohl, wird gar krank, sind oft Keime die Ursache – Mikroorganismen, die im Körper ihr eigenes evolutionäres Programm der Vermehrung verfolgen. Auf Kosten des Wirts, der die Rechnung zu zahlen hat. Die Quittung besteht zumeist in einer Schwäche unterschiedlichen Grads, weil der Körper alles für die Abwehr der Eindringlinge mobilisiert. Deren Entdeckung überhaupt ist mit den Namen Louis Pasteur und Robert Koch verbunden. Seitdem weiß man, was man bekämpfen muss. Das aber ist nach wie vor schwierig, etwa bei einer Sepsis: mehr ab Seite 32 DRÄGERHEFT 394 | 2 / 2014 7 FOK U S L ANG Z EI T N ARKOS E Zwischen den Welten Grelles Licht, laut piepsende Maschinen, unbedachte Gespräche: Intensivstationen können Patienten das Leben retten – und sie auch verzweifeln lassen. Künstlich in einen veränderten BEWUSSTSEINSZUSTAND gebracht, kämpfen sie parallel zur Genesung ihres Körpers ihren ganz eigenen Kampf. Wie kann man ihnen diesen Weg erleichtern? ILLUSTRATIONEN: ALINE ABREU Klein steht der Mensch vor den Empfindungen, die ihn im Koma erwarten können: Was davon ist Realität, was Wahn? 8 DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 THEMA R U BR IK A n einem Montag wohnte die Angst in Dorothea Knappes* Haus. Es war Mittag, als sich die Kopfschmerzen wie Pfeilspitzen in ihre Schläfen rammten, ihr den Boden unter den Füßen wegzogen und 13 Tage Bewusstsein und vier Wochen Realität raubten. Als sie die Augen wieder aufschlägt, den Pfleger beobachtet (der gerade einer Kollegin zuruft, dass das alles wohl keinen Zweck mehr hätte, dann die Medikamente prüft), glaubt sie, er lasse Gift in ihre Adern fließen. Dann schließt sie die Augen wieder. 80 Prozent aller Intensiv patienten entwickeln ein Delir, 44 Prozent leiden noch Wochen und Jahre später an einer posttraumatischen Belastungsstörung, ein Drittel wird depressiv. Dahinter verbirgt sich ein veränderter Bewusstseinszustand, in dem sich die Patienten befinden, die in einen medizinischen Schlaf versetzt wurden. Atmung: so eigenständig wie möglich Das, was im Volksmund „künstliches Koma“ heißt, ist eigentlich gar kein Koma, sondern eher eine Art Langzeitnarkose. „Das diabetische Koma, das urämische Koma oder das nach einem Schädel-Hirn-Trauma ist Ausdruck einer Störung des zentralen Nervensystems (ZNS)“, erklärt Michael Bauer, Professor für Anästhesie am Universitätsklinikum Jena. „Das ZNS ist im Koma in seiner Funktion gestört, während es unter der Analgosedierung reversibel runtergeregelt wird.“ Analgosedierung bedeutet Schmerzhemmung (Analgesie) bei gleichzeitiger Beruhigung (Sedierung) mit Medikamenten. Die Patienten werden in der Regel invasiv beatmet, mittels Tubus, oder über eine nichtinvasive Beatmung dabei unterstützt. Anders als noch Mitte des letzten Jahrhunderts setzt man heute darauf, so viel Eigenatemantrieb des Patienten wie möglich zu erhalten. Moderne Intensivbeatmungsgeräte helfen dabei. Die Narkosetiefe ist dann so flach wie möglich und so tief wie nötig. Gleiches gilt für die Dauer der Sedierung und der Beatmung. In regelmäßigen Abständen wird die Narkosetiefe durch Messung der Gehirnströme überprüft – mittels prozessiertem EEG (Elektroenzephalogramm) > * Name geändert DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 9 FOK U S L ANG Z EI T N ARKOS E „Patienten werden nur so weit sediert, dass sie das Drumherum ertragen“ > oder Sedierungs-Scores, wie der Richmond Agitation-Sedation Scale (RASS), die auf Beobachtung und die klinische Beurteilung des Patienten setzt. Auf Intensivstationen wird diese Beurteilung nach den aktuellen Leitlinien der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften alle acht Stunden empfohlen. Hinzu kommen sogenannte Sedierungsfenster, innerhalb derer man den Patienten quasi kurz aufwachen lässt oder in eine leichte Narkose bringt, um ihn neurologisch beurteilen zu können. „Wenn der Patient unter Analgosedierung einen Schlaganfall entwickelt, kann das vollkommen maskiert sein und übersehen werden“, erklärt der Jenaer Spezialist Michael Bauer. Eine möglichst flache Sedierung bedeutet ein Bewusstsein, das zwar verändert, aber nicht ausgeschaltet ist. „Diese Handhabung beschleunigt die Heilung, erleichtert das spätere Aufwachen und verkürzt die Verweildauer auf der Intensivstation“, bekräftigt André Gottschalk, Leiter der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerzmedizin am Diakoniekrankenhaus Friederikenstift in Hannover. „Patienten werden nur so weit sediert, dass sie das Drumherum ertragen. Sie sollen möglichst wach sein und kommunizieren können – durch Händedruck oder Augenzwinkern.“ Ohne Orientierung und Zeitgefühl Vier Wochen brauchte Dorothea Knappe, um ihren Angehörigen und den Pflegekräften Vertrauen zu schenken. Die 64-Jährige steckte nach dem Aufwachen im Delir – ohne Orientierung und Zeit- > 10 DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Wer beobachtet hier wen? Im Koma verschiebt sich das Bewusstsein – winzige, scheinbar nichtige Details bekommen beängstigende Aufmerksamkeit DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 11 FOK U S L ANG Z EI T N ARKOS E Beruhigend, wenn der Rhythmus von Tag und Nacht erhalten bleibt > gefühl, verursacht durch einen unregelmäßigen Tag-Nacht-Rhythmus und das Gefühl des Ausgeliefertseins. Es war wieder ein Montag, als sie in der Reha eine Therapie begann und anfing zu verstehen, was mit ihr passiert war. Eine völlig fremde Umgebung, ungewohnte Geräusche und Gerüche manipulieren die unter Medikamenten getrübte Wahrnehmung – und lassen der Fantasie freien Lauf. Wird dann noch sorglos mit dem Zeitgefühl der Patienten umgegangen, indem auch nachts das Licht brennt und Geräte laut Alarm schlagen, kommen die Betroffenen völlig aus dem Konzept. „Wir achten sehr darauf, die Nacht auch weitestgehend Nacht sein zu lassen, dimmen das Licht, schalten die Geräte leiser, schließen auch mal die Türen zu den Zimmern“, bemerkt André Gottschalk. Tagsüber werde darauf Wert gelegt, möglichst häufig gewohnte Situationen für den Patienten zu schaffen, etwa durch regelmäßigen und häufigen Besuch. In der Narkose erschossen, vergiftet und gefoltert Nicht von seiner Seite wich Clemens Hagens Verlobte Kimberly Hoppe. Wegen einer geplatzten Bauchschlagader verblutete er fast innerlich und konnte nur mit Unmengen an Blutkonserven sowie zwei Wochen Analgosedierung gerettet werden. Während sie an seinem Bett verharrte, schien er zu schlafen. Tatsächlich suchten ihn Urängste heim. „Ich habe in dieser Phase alles andere als geschlafen“, sagt der Journalist über seine Zeit zwischen den Welten. „Und es war keineswegs friedlich: Ich bin um mein Leben > 12 DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Langzeitnarkose, die nach schweren Unfällen oder lebensbedrohlichen Erkrankungen eingesetzt wird. Körpertemperatur wird abgesenkt auf 32 bis 35˚ C (normal ca. 37˚ C). Hirnaktivität eines Komapatienten (1), bei vollem Bewusstsein (2). Das verlangsamt den Stoffwechsel und mindert den Sauerstoffverbrauch – so hat der Körper mehr Reserven. 1 2 Ärzte übernehmen die Kontrolle über die Grundfunktionen des Körpers. Ernährt wird über eine Magensonde oder intravenös. Anders als ein natürlich eingetretenes Koma kann das künstliche von den Ärzten jederzeit beendet werden. Risiken und Nebenwirkungen eines künstlichen Komas sind nach Ansicht von Experten eher gering. DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 13 FOK U S L ANG Z EI T N ARKOS E Ein feindliches Land ist das Koma. Und groß die Sehnsucht nach Heimat > gerannt, wurde erschossen, vergiftet und gefoltert. Kimberly betrog mich mit anderen Männern, liebte mich nicht mehr.“ Seine lebensbedrohliche Situation verarbeitete der 52-Jährige in schlimmsten Albträumen. „Alles war so realistisch, wirkte wie ein 3-D-Kino – mit mir als Hauptfigur. Nur dass Kinofilme und normale Albträume ein schnelles Ende finden. Man wacht auf, geht in die Küche, trinkt ein Glas Wasser, und alles ist wieder gut. Diese Träume aber waren anders. Ich hatte keinen Ausschaltknopf, konnte nicht aufstehen. Das war eine Tortur für die Psyche!“ Drei Monate und unzählige Gespräche später konnte er all das zumindest ein Stück weit vergessen. Verarbeitet hat er das Erlebte, indem er zusammen mit seiner Verlobten ein Buch schrieb (siehe auch Seite 16). Sie hatte eigenständig und unwissend, welch großen Gefallen sie ihrem Freund damit tat, gleich am ersten Tag angefangen, Tagebuch zu schreiben, und führte es am Krankenbett fort – eine Praxis, die immer populärer wird. Das Intensivtagebuch kann Patienten später eine bessere Orientierung geben und eine immense Hilfe sein, posttraumatische Belastungsstörungen und andere psychische Leiden zu verarbeiten. Die Idee stammt aus Skandinavien. Pflegekräfte und Angehörige führen für den Patienten ein Tagebuch, sprechen ihn direkt an, kommentieren die Geschehnisse und erklären, was um ihn herum geschieht. Welche Maschinen an- oder abgestellt werden, wer zu Besuch kommt, welche Fortschritte gemacht werden. Sind die Patienten wieder bei Bewusst- 14 DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Wenn Ängste und unbewusste Erlebnisse das Leben beherrschen sein, in welchem Stadium auch immer, werden ihnen die Bücher ausgehändigt. Das Problem, das Patienten in der Sedierung haben, weiß Pflegeforscher Peter Nydahl, seien unbewusste Erlebnisse, die ihr späteres Verhalten nach dem Aufwachen störten. Diesem Kontrollverlust wirken Intensivtagebücher entgegen. Arbeit, die auf Beziehung baut Von Menschen, die aus Angst nicht mehr ins Fast-Food-Restaurant gehen können, weil sie das Piepen an der Kasse an die Intensivstation erinnert, weiß auch Peter Ammann zu berichten. Der Psychologe ist Spezialist auf dem Feld der prozessorientierten Komaarbeit – er schult auch Pflegekräfte und Seelsorger im Umgang mit Menschen in veränderten Bewusstseinszuständen. Für ihn ist es wichtig, dass alle Beteiligten eins verstehen: „Wir bestehen nicht allein aus Physiologie. Körperliche Prozesse sind eng mit dem Bewusstsein verbunden, beide beein- > Delir Wer um sein Leben ringt und den Kampf gewinnt, ist nicht zwangsläufig geheilt, wenn er die Intensivstation verlässt. Das Delir, das meist nach wenigen Tagen oder Wochen abklingt, wird nach neuesten Erkenntnissen für spätere kognitive Störungen verantwortlich gemacht. Demnach litten bei einer Nachuntersuchung 40 Prozent der an einer Studie des Vanderbilt University Medical Center beteiligten Patienten auch drei Monate später noch unter kognitiven Einschränkungen. Bei 34 Prozent von ihnen war diese Störung sogar noch ein Jahr später nachweisbar. 26 Prozent wiesen gar Defizite auf, die mit einer leichten Alzheimererkrankung vergleichbar sind. Da die Dauer des Delirs eine Rolle zu spielen scheint, aber noch nicht beeinflusst werden kann, empfehlen Mediziner vor allem vorbeugende Maßnahmen. Fehlen von Tageslicht, keine Besucher und Isolation gelten als größte Risikofaktoren für die Entwicklung eines Delirs. DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 15 FOK U S L ANG Z EI T N ARKOS E Der behutsame Umgang mit Komapatienten ist ebenso wichtig, wie ihre Erfahrungen zu würdigen FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA, UKSH/KIEL > flussen sich gegenseitig.“ Nicht nur der behutsame Umgang mit Patienten, die hilflos im Bett liegen, sei enorm wichtig, sondern auch, die inneren Erfahrungen von Menschen im Koma zu würdigen. „Die meisten Kontakte zu Komapatienten sind zweckgebunden, denn sie sollen etwas tun: reagieren und handeln“, sagt Ammann. Da nehme die Prozessarbeit eine andere Richtung. „Ich nähere mich ihrem Bewusstseinszustand und hole die Patienten dort ab, wo sie sich gerade aufhalten. Die ganze Arbeit basiert auf Beziehung.“ Diese einzugehen müssen alle Beteiligten bereit sein. „Wenn ich mich auf intensive Erfahrungen einlasse, kostet das natürlich Zeit. Aber es geht auch um eine Haltung dem Patienten gegenüber: Wie betrete ich den Raum? Denke ich daran, dass er daliegt, oder ignoriere ich es, weil ich glaube, dass er eh nichts mitbekommt?“ Ammann wird häufig hinzugezogen, um Patienten zu helfen, die in ihrer Situation feststecken, bei denen das „Weaning“ – die Entwöhnung vom Beatmungsgerät – nicht funktioniert. „Das Weaning ist ein ganz großer Schritt – und vor diesem Hintergrund muss ich den Patienten auch betrachten. Gibt es vielleicht nicht medizinische Gründe, warum er nicht wieder selbst aktiv wird?“ Schalter an, Schalter aus – dass dieses Prinzip für analgosedierte Patienten nicht funktioniert, ist mittlerweile auf allen Intensivstationen angekommen. Der richtige Umgang mit diesem Wissen ist ein Prozess, in dem sich viele Kliniken bereits befinden. Delir-Management, Intensivtagebücher und ganzheitliche Seelsorge, 16 Angehörige als aktiver Bestandteil am Krankenbett, Geräuschreduktion und nicht zuletzt der Respekt dem vermeintlich Schlafenden gegenüber sind Schritte, die einem Komapatienten an der Schwelle zwischen Leben und Tod den richtigen Weg weisen können. Dorothea Knappe kann ihren negativen Erlebnissen mittlerweile begegnen. Unlängst hat sie der Intensivstation, auf der sie sechs Wochen lag, einen Besuch abgestattet und ihrer Angst damit sagen können: Guten Tag und auf Wiedersehen – aber in Zukunft lieber ohne mich. Isabell Spilker Literatur: Clemens Hagen, Kimberly Hoppe: „Neun Minuten Ewigkeit: Eine Liebe zwischen Leben und Tod. Unser Koma-Tagebuch“, Eden Books, März 2014 Peter Ammann: „Reaching out to People in Comatose States: Contact and Communication“, Books on Demand, Januar 2012 Thomas Kammerer: „Traumland Intensivstation: Veränderte Bewusstseinszustände und Koma – interdisziplinäre Expeditionen“, Books on Demand, März 2006 Links: Peter Ammann www.peterammann.de Peter Nydahl www.nydahl.de Monitoring mittels EEG EEG-gestützte Monitoringverfahren analgosedierter Patienten stellen laut medizinischer Leitlinien eine wichtige Option bei tiefer Sedierung dar und sind auch empfehlenswert, um bei neuromuskulär blockierten Patienten eine zu flache oder zu tiefe Sedierung zu erkennen. Sie sollten unterstützend ab einem RASS (Richmond AgitationSedation Scale) von weniger als minus 3, also bei fehlender Reaktion auf Ansprache, hinzugezogen werden. Der Infinity Delta-Monitor ist in der Lage, sämtliche Bereiche der intensivmedizinischen Überwachung in einem Gerät anzuzeigen. Er wird in diesem Fall mit dem EEG-Pod verknüpft, der die Hirnströme in Echtzeit darstellt und eine kontinuierliche Onlineanalyse ermöglicht. Dräger-Monitore bieten ein modernes Alarm-Management und können Patienten (über eine Lautstärke- und Helligkeitsregelung sowie an verschiedene Situationen anzupassende Alarme) den TagNacht-Rhythmus erleichtern. Dräger DeltaMonitor: Nachrichten aus dem Innern des Körpers – mittels EEG-Pod DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Diese Tagebücher stiften Sinn PETER NYDAHL ist Pflegeforscher am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel und hat die Intensivtagebücher einst aus Schweden nach Deutschland importiert. Er hofft, dass sie bald flächendeckend für Patienten, die mehr als drei Tage beatmet werden, geführt werden. Auch deshalb leitet er Seminare und hält Vorträge zum Thema. Klinik-Architektur: heilende Wirkung Fahles Licht, kahle Wände, unangenehme Geräusche – das muss nicht sein: Auf einigen Stationen der Berliner Charité zum Beispiel genesen Patienten mit bestimmten Krankheitsbildern in eigens von Architekten und Mediengestaltern hergerichteten Zimmern. Denn in Räumen, die kühl, steril und voller medizinischer Geräte sind, ist der Heilungsprozess schnell gehemmt. Ein Höchstmaß an Privatsphäre, technische Geräte im Hintergrund und gedämpfte Alarmgeräusche machen die Zimmer fast schon zu gemütlichen Wohnräumen. Das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie geförderte Projekt „Parametrische (T)Raumgestaltung“ erforscht, welchen Effekt das Zimmer auf die Genesung hat, wenn es einerseits gemütlich und wohnlich ist, andererseits aber auch über technische Finessen (wie eine LEDgesteuerte Zimmerdecke) Tageszeiten darstellen kann. DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Herr Nydahl, wie viele Kliniken in Deutschland nutzen das Intensivtagebuch? Wir haben im Frühjahr verschiedene Kliniken befragt: Von den 140 Stationen nutzen es 44, neun weitere planen es. Gibt es Gründe, es nicht zu nutzen? Manche Kliniken haben nur kurze Verweildauern auf der Intensivstation – nach einfachen Operationen etwa, da lohnt es sich nicht. Bei anderen liegt es tatsächlich am Personalmangel. Derzeit gibt es leider keine Station, bei der alle Pflegekräfte mitmachen. Inwieweit können die Tagebücher Intensivpatienten tatsächlich helfen? Wenn man Patienten fragt, woran sie sich erinnern, antworten die meisten: „An nichts!“ Interessanter ist, sie nach ihren Träumen zu fragen. Abhängig von der Art der Sedierung und dem Grad der Entzündung steigt das Risiko der „delusional memories“ – der Erinnerungen, deren Herkunft sie nicht mehr kennen. Das gilt vor allem für langzeitbeatmete Patienten. Ich erinnere mich an einen jungen Motorradfahrer, der nach einem Thorax-Trauma eine Woche im Rotorest-Bett lag. Er war tief sediert, hatte keine Erinnerung an die Zeit, erzählte aber, davon geträumt zu haben, zur See gefahren zu sein und in einer Koje gelegen zu haben, aus der er immer herauszufallen drohte. Wie hätte ihm da ein Tagebuch helfen können? Tagebücher helfen im Sinne der Salutogenese, der Gesundheitsentstehung, wie der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky es einst definierte. Demnach können wir gesunden, wenn wir etwas verstehen, um es besser handhaben zu können, und lernen, damit umzugehen. Verändert sich für Pflegekräfte die Beziehung zum Patienten, wenn sie versuchen, seiner Gefühlswelt mit dem Tagebuch nahezukommen? Vor allem jüngere Kollegen haben manchmal Schwierigkeiten damit. Ich sehe das professionell. Man schreibt natürlich empathisch und überlegt, wie die Situation aus der Sicht des Patienten aussehen könnte, und formuliert es dann sachlich. Man liest auch mal die Einträge der Angehörigen, die auch aufgefordert sind, mitzuarbeiten und zu schreiben. Aus Patientensicht sind deren Einträge die wichtigsten. Patienten und Angehörige machen ganz unterschiedliche Entwicklungen durch. Die Angehörigen sitzen am Bett, und die Patienten träumen wirr. Danach wieder zusammenzufinden, dafür kann das Tagebuch einen guten Beitrag leisten. 17 BR AN D SC HU T Z PERSONENV ERKEHR Feuer und Flamme Die Bahn zählt zu den sichersten Verkehrsmitteln. Auch deshalb rücken Experten der DB SYSTEMTECHNIK GMBH regelmäßig den Werkstoffen zu Leibe, die später in den Zügen verbaut werden sollen – im hauseigenen Brandlabor. S chwarz und schwärzer legen sich die dicken Rauchschwaden vor das Feuer – bis der toxische Vorhang die Flammen ganz verbirgt. In dem Versuchsraum herrscht jetzt Sichtweite null. Menschen wären hier orientierungslos. Giftig ist die Atmosphäre in der Smoke Box sowieso, das zeigen die Messwerte auf dem Computerbildschirm, der die Ergebnisse des angeschlossenen Spektrometers wiedergibt. Die Tabelle listet verschiedene Kohlenstoff-, Stickstoff- und Schwefeloxide auf, dazu Methan, Cyanwasserstoff und Bromwasserstoff. „Diese Werte sind gewissermaßen der Fingerabdruck eines Verbrennungsprozesses“, sagt Andreas Böttger. Der Brandschutzingenieur testet an diesem Vormittag im Brandlabor der DB Systemtechnik GmbH Schutzhüllen für Leuchtstoffröhren auf ihren möglichen Einsatz in Eisenbahnfahrzeugen. Hierfür schneidet er Proben auf eine definierte Länge und richtet sie in einem speziellen Behälter aus. Ähnlich gehen die Brandschutzexperten bei allen anderen Versuchen vor, um reproduzierbare Messergebnisse für Faktoren wie Brandverhalten, Rauchgastoxizität und optische Rauchdichte zu ermitteln. In der Rauchdichtekammer werden die wenige Zentimeter großen Proben durch eine konische Heizwendel erhitzt, bis sie in Flammen ste- 18 hen. Aus der Prüfkammer wird zur Messung ein Gasstrom entnommen, von den anteiligen Rußpartikeln gefiltert und dem Spektrometer zugeführt, das die Konzentration der verschiedenen Schadgase ermittelt. Fast 1.000 Versuche pro Jahr Das Brandlabor ist seit knapp 15 Jahren im brandenburgischen Kirchmöser zu Hause. In diesem Jahr hat es der Ingenieurdienstleister der Deutschen Bahn für rund 400.000 Euro erweitert, um Prüfungen nach der neuen europäischen Norm DIN EN 45545-2:2013 (werkstofftechnischer Brandschutz in Schienenfahrzeugen) vornehmen zu können. Dafür ist es von der Deutschen Akkreditierungsstelle gemäß DIN EN ISO/IEC 17025 (Prüf- und Kalibrierlaboratorien) akkreditiert worden. Rund 1.000 Brandprüfungen führen die Ingenieure Jahr für Jahr durch: vom dicken Verbundwerkstoff für den Fußboden von Regionalzügen bis zu zahlreichen Kunststoffen, die das Innere moderner Reisezüge prägen. „Wir untersuchen und zertifizieren nahezu alle Komponenten, die später in Eisenbahnfahrzeugen zum Einsatz kommen“, bestätigt Dr. Katrin Mädler. Die Ingenieurin leitet die Abteilung Werkstoff- und Fügetechnik mit ihren rund 30 Mitarbeitern. Die historischen Backsteingebäude in Kirchmöser, eine knap- DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Feuer frei: Das definierte Zündinitial der Propangasflamme im „kleinen Brennkasten“ entspricht dem eines Feuerzeugs pe Bahnstunde von Berlin entfernt, liegen idyllisch zwischen Wäldern und Seen. Dabei hat die 4.000-Seelen-Gemeinde eine explosive Geschichte. Die Anlagen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut, als Sprengstofffabrik. Später entstand daraus ein Entwicklungszentrum der Deutschen Reichsbahngesellschaft – von diesem Kapitel zeugen heute neben dem Standort der DB Systemtechnik und des Umweltservice der Deutschen Bahn zahlreiche private Unternehmen des Bahnsektors in der Nachbarschaft. Neben den Brandprüfungen im hauseigenen Labor erstellen und bewerten die Ingenieure auch Brandschutzkonzepte für Züge – etwa bei Neukonstruktionen wie den Triebzug ICx, der künftig die Intercity-Züge der Deutschen Bahn ablösen soll. Aber auch bei umfassenden Renovierungen, dem sogenannten Re-Design, sind die Fachleute aus Kirchmöser gefragt. Sie haben unter anderem die technische Auffrischung des ICE 1, ICE 2 und ICE T aus brandschutztechnischer Sicht begleitet. Die im März 2013 in Kraft getretene europäische Norm für den Brandschutz in Eisenbahnfahrzeugen spiegelt jenen Fortschritt in Technik und Betrieb der Fernverkehrsstrecken wider, der in den letzten Jahrzehnten mit dem Neubau des Schnellfahrnetzes, der Planung immer längerer Tunnel und durch die Indienststellung von Hochgeschwindigkeitstriebzügen einsetzte. Durch die DIN EN 45545-2:2013 hat sich auch die gegenseitige Anerkennung von Brandprüfungen durch die verschiedenen Zulassungsstellen der einzelnen Länder verbessert. „Die Einführung der Norm war vor dem Hintergrund des zunehmenden Bahnverkehrs – > DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 19 BR AN D SC HU T Z PERSONENV ERKEHR Laboratmosphäre: Moderne Messtechnik prägt die Arbeitsplätze im brandenburgischen Kirchmöser Ab in den Ofen: Die zugeschnittenen Proben kommen in die Smoke Box > über mehrere Ländergrenzen hinweg – wichtig“, sagt Dr. Christian Bohne. Der Ingenieur leitet das Arbeitsgebiet Werkstofftechnik Fahrzeug. Zudem gebe es nun ein ganzheitliches sowie wissenschaftlich fundiertes Regelwerk, das – in Bezug auf den Brandschutz in Schienenfahrzeugen – ein einheitliches Sicherheitsniveau in Europa gewährleiste. Die Kontinuität der Anstrengungen im Brandschutz reicht bei der Eisenbahn noch viel weiter zurück. Denn während der Schutz vor der Gefahr eines Brands im Zug heute vor allem die Folgen von Vandalismus und technischen Fehlern betrifft, reiste das Feuer lange Zeit in der Bahn mit, trieb sie sogar an. Erst 1977 gewöhnte die damalige Bundesbahn ihren Lokomotiven das Rauchen ab: Ende der Dampftraktion, das bei der Reichsbahn der DDR 1988 folgte. 30 Jahre später galt das dann auch für die Fahrgäste – absolutes Rauchverbot in Zügen seit September 2007. Zentrale Gasversorgung Der Versuch mit den Leuchtstoffröhren ist inzwischen abgeschlossen. Brandschutzingenieur Böttger testet schon die Endkappen der Leuchtstoff-Schutzröhren, die aus einem hellen Thermoplast bestehen. „Nun hat unser kleiner Brennkasten seinen großen Auftritt!“ Er arbeitet mit einer Propangasflamme, deren Größe sich an einem Feuerzeug orientiert – neben Farbsprühdosen und spitzen Gegenständen eines der klassischen Werkzeuge beim Vandalismus in und an Zügen. Die Versuche im kleinen Brennkasten liefern Rückschlüsse auf die Entzündbarkeit von Werkstoffen. Dazu wird gemessen, wie sich die Flamme am Prüf- 20 objekt in der Vertikalen entwickelt, ob es ein brennendes Abtropfen gibt und wann die Flamme erlischt. Gespeist wird der Brenner über eine Gasversorgungsanlage von Dräger, als Quelle dienen Druckflaschen in einem gesicherten Unterstand im Freien. Neben Propangas liefert die Anlage auch Methan und Stickstoff (als Nullgas) sowie ein aus Kohlenmonoxid, Kohlendioxid und Stickstoff bestehendes Prüfgas ins Labor. Der im Nachbarraum stehende Brandschacht dient dazu, Materialproben für drei Minuten mit einer Propangasflamme zu beaufschlagen. Die Energie, die hier freigesetzt wird, entspricht der eines brennenden Zeitungsstapels. Der Internationale Eisenbahnverband hat dieses als „Papierkissen“ bezeichnete Zündinitial exakt definiert. Bei diesen und anderen Versuchen wird es in den Testapparaten sehr heiß – bis zu 500 Grad Celsius werden bei Messungen der seitlichen Flammenausbreitung erreicht. Dabei wird ein Prüfkörper diagonal zu einem Flächenbrenner eingespannt, der die Oberfläche des zu prüfenden Werkstoffs mit bis zu 50 Kilowatt Wärmeenergie je Quadratmeter bestrahlt. Auch deshalb ist das Brandlabor klimatisiert. Die Proben lagern vor den Versuchen sogar in einer Klimakammer, die auf 23 Grad Celsius und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit eingestellt ist. Bei diesen Bedingungen sind alle Materialien mindestens 48 Stunden zu lagern, um die reproduzierbaren Ergebnisse zu erhalten. „Kompositwerkstoffe, etwa Bodenplatten mit Holzkern und aufgeklebten Schichten, werden sogar 14 Tage gelagert, damit Temperatur und Kernfeuchte der Norm entsprechen“, sagt Andreas Böttger. DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 FOTOS: PETER THOMAS Ende der Dampftraktion: 1977 gewöhnte die damalige Bundesbahn ihren Lokomotiven das Rauchen ab In der Hitze der Nacht: Die Heizwendel lässt von der Probe aufsteigende Dämpfe rot glühen Schwarz auf weiß: Was von den Tests übrig bleibt, wird dokumentiert und aufbewahrt Vielfältig: Diese Anlage liefert Druckluft, Propan und weitere Gase ins Brandlabor Ganz gleich ob Proben in der Rauchkammer in Flammen aufgehen oder die Brandschutzexperten Fußbodensegmente mit sengender Hitze bestrahlen und mittels Sauerstoffverbrauchskalorimetrie die Wärmefreisetzung eines Materials analysieren: Alle Prüfungen sollen zeigen, ob die verwendeten Materialien die gewünschten Anforderungen erfüllen. Ausschlaggebend für die Zulassung eines Werkstoffs ist die Gefahrenstufe des Eisenbahnfahrzeugs. Alle Züge und Wagen werden einer bestimmten Stufe zugeordnet, die ein Produkt aus Betriebsszenario und Bauart darstellt – von Klasse 1 (nicht für Tunnel und Erhöhungen vorgesehen) bis Klasse 4 (für Tunnelabschnitte und Erhöhungen ohne seitliche Evakuierungsmöglichkeiten). Bei den Bauarten wird zwischen den Varianten N (Standardfahrzeuge), A (Automatischer Fahrbetrieb), D (Doppelstockfahrzeuge) und S (Schlafwagen) unterschieden. Je höher die Gefahrenstufe, desto größer die Anforderungen an die getesteten Werkstoffe. Manchmal werden die Experten sogar zu Brandursachenermittlern – wie bei der Rekonstruktion eines Feuers in der Zugtoilette auf dem Weg von den Niederlanden nach Deutschland. Auslöser des Kleinbrands: die Flamme eines Feuerzeugs. Allerdings erwies sich hier nicht Vandalismus als Triebkraft, sondern die Suche eines Schmugglers nach seinem Cannabis-Päckchen, das er hinter einer Wandverkleidung versteckt hatte. Ein Plus an Sicherheit kann auch durch solche Ereignisse erreicht werden: Die Erkenntnisse fließen in Neukonstruktionen ein. Peter Thomas 21 E S S AY AT M UNG Von null auf 21 Prozent Normalerweise atmet der Mensch unbewusst – erst wenn dieser Reflex eingeschränkt wird, tritt die ATMUNG ins Bewusstsein. Und doch wurden die physiologischen Fakten dieser vitalen Funktion erst spät entdeckt. 22 A FOTO : ARNE WESENBERG Die Kraft der Lunge: Einen Luftballon aufzupusten zeigt die Kraft des luftleitenden Systems DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 ls der Mann im blauen Neoprenanzug wieder an die Oberfläche gelangt, sind 22 Minuten vergangen. 22 Minuten mit nur einem einzigen Atemzug. 3. Mai 2012: Im eiskalten Wassertank einer Londoner Tauchschule hat Stig Åvall Severinsen, Yogameister, Mediziner und Apnoe-Taucher, gerade einen Weltrekord gebrochen. Eine Leistung, die nur dank jahrelangen Trainings, jahrtausendealten Kniffen der Atemkunst und vorbereitender Reinsauer stoffatmung möglich war. Denn wenn der Mensch für eins nicht gemacht ist, dann zum Leben ohne Sauer stoff, ohne den steten Rhythmus von Ein- und Ausatmung. Fremd mutet es an, wenn er auf Lebewesen trifft, die keinen Sauerstoff brauchen. Einst gehörte ihnen die Welt: den Anaerobiern, den Luftlosen. Diese Kreaturen leben zwar fort, an den Rändern heißer Quellen und unter der Erde, doch das Prinzip der Atmung hat sie vor 2,4 Milliarden Jahren verdrängt. Damals entdeckten Einzeller, Algen und Pflanzen die Fotosynthese, spalteten Kohlendioxid und reicherten die Atmosphäre mit Sauerstoff an – von null auf 21 Prozent Volumenanteil. Er wurde zum hocheffizienten Verbrennungsstoff tierischen Lebens und machte den Menschen erst möglich. Doch was genau ist die Atmung eigentlich? „Was für eine Frage, eben genau das!“, hätte die Antwort alter Philosophen gelautet: das Leben selbst! In indogermanischen Sprachen (wie dem Deutschen) ist die enge Bindung der Begriffe erhalten. Das Sanskrit-Wort > 23 Kreisläufe bestimmen das Leben, auch innerhalb des menschlichen Körpers – wissenschaftlich beschrieben wurden sie erst spät > „atman“, Zentralbegriff in der indischen Philosophie, bezeichnet die ewige Substanz des menschlichen Selbst. Sein deutscher Verwandter („Atem“) benennt, was man heute als Ein- und Ausatmen von Luft versteht. Mit Neugier und Mikroskop Und seine seltenere Spezialform „Odem“ bedeutet das Althergebrachte: Atem als Leben. Auf Englisch heißt Atem zwar „breath“, doch verdeckt eine sprachliche Neuerung, dass das altenglische Wort für Atem „þm“ (æthm) ist. „Qi“, die alles durchdringende Lebenskraft des chinesischen Daoismus, bezeichnet ebenfalls den Atem. Die Menschen wussten stets um seine fundamentale Kraft, doch erst die wissenschaftliche Moderne enthüllte funktionale Details. Mit Neugier, Mikroskop und mechanischer Pumpe wurde ein Weg eingeschlagen, den Lebenshauch zu ersetzen und zu stützen. Man lernte durch Forschung, dass der Sauerstoff-Stoffwechsel 15-mal mehr Energie gewinnt als der anaerobe. Ein 1,3 Kilogramm schweres Gehirn (mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen und deren 100 Billionen Verästelungen) ließe sich ohne „oxidativen Stoffwechsel“ nicht konstruieren, geschweige denn erhalten. Das erklärt, warum Retter bei einem Atemstillstand um Sekunden ringen. Atmung bezeichnet heute zweierlei. Die „innere Atmung“ ist die Nährstoffverbrennung in der einzelnen Zelle, die „äußere“ dagegen das, was sich bewusst erleben lässt – die Züge der ein- und ausströmenden Luft im Brustkorb, die 24 Einfach mal die Luft anhalten: ApnoeTauchern genügt ein einziger Atemzug, um mehrere Minuten unter Wasser zu bleiben – schwere Pressluftflaschen und voluminöse Tarierjackets brauchen sie nicht Anpassung an Belastungen, etwa beim Sport. Jede Zelle des Körpers und die spezialisierten Gasaustausch-Membrane der Lunge verbindet der Kreislauf miteinander. Herz und Lunge sind so etwas wie die Logistik-Provider im Organismus. Sie müssen liefern: jederzeit, ununterbrochen, überallhin. Die Atmosphäre mit sich tragen! Es dauerte lange, bis die Atmung in dieser Weise verstanden wurde – und länger noch, bis die Grundlagen der Technik geschaffen waren, die es selbstverständlich erscheinen lassen, dass Menschen an Orten überleben, denen sie von Natur aus nicht gewachsen sind: in Rauch und Gasnebel, unter Wasser, im All. Man darf staunen, dass es heute möglich ist, den DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 FOTO : FRANCK SEGUIN/CORBIS AT M UN G DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 E S S AY mechanischen Anteil der Atmung zeitweilig annähernd perfekt zu ersetzen. Den Blutkreislauf, der Sauerstoff zu allen Zellen trägt, erklärte erst der britische Arzt William Harvey im späten 17. Jahrhundert korrekt. Die Lungen, so hatte es der lange alles überragende griechische Arzt Galenos verbindlich verkündet, brächten diverse Seelenkräfte in den Leib und dienten sonst als kühlender Blasebalg. Dass es in Wahrheit um spezifische Gase geht, fanden Naturforscher des 17. und 18. Jahrhunderts in mehreren Schritten heraus: Vincenzo Viviani und Evangelista Torricelli wiesen 1643 mittels Pumpen den atmosphärischen Luftdruck nach. Der englische Aristokrat Robert Boyle nutzte die Luftpumpe, um Glaszylinder leer zu saugen. Kerzen erloschen, Versuchstiere starben. Und 1676 zeigte Richard Lower, dass das Blut im Lungenkreislauf mit etwas vital Wichtigem aufgeladen wurde. Erst im 19. Jahrhundert glückte es, das Bild der Atmung zu vervollständigen: durch die Evolutionslehre, die Charles Darwin 1859 begründete, und durch das explosive Wachstum der Physiologie als Wissenschaft in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Nach Hunderttausenden Experimentierstunden werden Lungenatmung und Kreislaufsteuerung schließlich so genau verstanden, dass man endlich den einen Wunsch erfüllen kann, den Alexander von Humboldt schon 1799 geäußert hatte: Wer in tiefe Stollen gehen, wer Menschen vor Feuer retten und in den Meeren tauchen will, sollte seine Atemluft mit sich führen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert greift schlagartig alles ineinander, was > 25 E S S AY AT M UNG Atmen versorgt den Körper mit Energie – eine Leistung, die atemlos macht DAS MENSCHLICHE GEHIRN > auf getrennten Gebieten gereift ist: das nun umfassende Wissen über die Körperfunktionen des Menschen. Die Technik der Kompression von Gasen und ihrer anschließenden Druckreduktion. Chemische Verfahren zur Sauerstoffgewinnung, mit denen sich Selbstretter für den Bergmann bauen lassen. Mechanische Steuerungen für die rhythmische Beatmung, welche eine wirksame Wiederbelebung erlauben: Basistechnologien, auf die Johann Heinrich Dräger und seine Nachfolger ihre überraschenden Innovationen gründen. Was heute einfach erscheint, 1.800 Liter Luft in eine Flasche zu pressen und sie präzise dosiert einatmen zu können, ist in Wahrheit die Frucht von Hunderten Jahren Wissensdurst und Erfahrungsgewinn. Ebenso das Filtrieren reiner Atemluft und die der Selbstregulation des Körpers angepasste Beatmungsunter stützung, etwa während einer intensivmedizinischen Behandlung. Nichts von dieser technischen Perfektion macht das Wunder Atmung kleiner. Umso mehr staunt man, wenn man einem Rekordtaucher wie Stig Åvall Severinsen begegnet, und man sieht, wie er den Strom des Lebens gezielt in die Regionen seiner Lungen lenkt. Auch dann, wenn man längst mit maschineller Hilfe zuschauen könnte: Der Dräger PulmoVista 500, für die Optimierung der Beatmung von Patienten konstruiert, könnte präzise visualisieren, auf welche Weise er seinen Atem leitet. Es wäre ein Treffen verschiedener Ergebnisse mensch licher Meisterschaft. Silke Umbach 26 Rund 1,3 kg schwer, mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen und deren 100 Billionen Verästelungen – ohne „oxidativen Stoffwechsel“ könnte es nicht existieren. 1 ATEMZUG FÜR 22 1 MINUTEN* ATEMZUG IN 90 * unter Wasser brauchte Apnoe-Taucher Stig Åvall Severinsen am 3. Mai 2012: Weltrekord! MINUTEN* * Entenwal DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 VON AUF 21 %* CIRCA 25.000 * Die Anreicherung von Sauerstoff in der Atmosphäre vor rund 2,4 Milliarden Jahren; durch Einzeller, Algen und Pflanzen MAL ATMET EIN MENSCH AM TAG* * und bewegt dabei – mit durchschnittlich 17 Atemzügen pro Minute – mehr als 12.000 Liter Luft. FÜR DIE AUFNAHME DES SAUERSTOFFS SIND ETWA MILLIONEN LUNGENBLÄSCHEN* VERANTWORTLICH. * Sie messen zwischen 50 und 250 Millionstel Meter im Durchmesser. Ihre Oberfläche erreicht bis zu 120 Quadratmeter. DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 ILLUSTRATIONEN: DEPOSITPHOTOS, SHUT TERSTOCK 300 27 K R ANK ENH AU S - I T DAT ENSCHU T Z Wie gut sind Europas Kliniken in Sachen Digitalisierung und Vernetzung? Im internationalen Vergleich liegen die USA an der Spitze D en Stolz über das Erreichte trägt Henning Schneider, Leiter der Abteilung Informationstechnologie (IT) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), auch Monate später noch in der Stimme. Im Frühjahr 2014 wurde dem Krankenhaus zum zweiten Mal offiziell bestätigt, dass es die elektronisch verwalteten Daten seiner Patienten auf höchstem Niveau vor unerlaubtem Zugriff schützt. „Jeder UKE- Mitarbeiter trägt täglich maßgeblich dazu bei“, sagt Schneider. In Krankenhäusern ist der Datenschutz ein höchst sensibles Thema. Dort werden besonders schützenswerte Patientendaten erhoben, verarbeitet und archiviert. Grundlage für das UKE-Zertifikat bildet der „IT-Grundschutz“-Katalog, den das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) definiert. Hier sind rund 40.000 Maßnahmen gelistet, mit denen Organisationen ihre Hard- und Software sowie die eigenen Notfallroutinen auf Herz und Nieren testen können. Alle drei Jahre muss das Zertifikat erneuert werden. Schneider hat knapp eine Million Euro und ein Fünftel der Arbeitszeit seiner Mitarbeiter investiert. „Sicherheit kostet Geld“, sagt er. „Man braucht eine Zertifizierung, weil man sich sonst nicht die Zeit dafür nimmt, die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen.“ Eine testierte Netzinfrastruktur mag vor externen Angriffen durch Hacker und andere Datendiebe schützen – den missbräuchlichen Zugriff durch das Klinikpersonal aber verhindert sie nicht vollständig. Das UKE hat daher das Papier aus der 28 Verwaltung verbannt und auf die elektronische Patientenakte (EPA) umgestellt. Die EPA vereint sensible Patientendaten wie Adressen, Röntgenbilder und Medikation in einer zentralen IT-gestützten Datenbank, auf die sich von überall zugreifen lässt – egal ob Ärzte und Pflegepersonal sich gerade auf der Station oder im Operationssaal befinden. Acht Stufen der Digitalisierung Allerdings regelt ein umfangreiches Berechtigungskonzept, wer darauf zugreifen darf und wer nicht. „Mithilfe der EPA können die Patienten nachvollziehen, wer ihre Daten eingesehen hat“, erklärt Schneider die Vorteile der Digitalisierung. Die Daten können zudem nicht mehr verloren gehen und sind stets auf dem aktuellen Stand. „EPAs erhöhen nicht nur die Zugriffssicherheit auf die Patientendaten, sondern auch die Sicherheit des Patienten während der Behandlung.“ Wie stark sie genutzt werden, ermittelt die Organisation Healthcare Information and Management Systems Society (HIMSS) über das EMR AMModell, das den Grad der bereits erreichten Digitalisierung auf einer achtstufigen Skala misst. Stufe 0 bedeutet, dass ein Krankenhaus Patientendaten ausschließlich auf Papier verwaltet. Stufe 7 heißt, dass es keine papiernen Akten mehr gibt. Die regionalen Unterschiede sind groß. Im internationalen Vergleich liegen die USA an der Spitze. In Europa haben die Niederlande und Spanien die Nase vorn; dort hat bereits mehr als die Hälfte aller Krankenhäuser die Stufen 4 bis > DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Der elektronische Patient FOTO : GET T Y IMAGES Adressen, Röntgenbilder, Diagnosen: In Krankenhäusern werden immer mehr Daten digital verwaltet. Doch wie sicher sind die IT-Systeme vor Hackerangriffen, und wie wird man dem Thema DATENSCHUTZ gerecht? DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 29 DAT ENSCHU T Z > 7 erreicht (siehe Seite 31). In Deutschland hingegen nutzten 2013 erst 12,8 Prozent der Krankenhäuser die elektronische Patientenakte auf einem relativ hohen Niveau. In einer anderen Kennzahl treten die Unterschiede noch deutlicher zutage. In Europa haben lediglich zwei Hospitäler die Stufe 7 erreicht. Das Hospital Marina Salud im spanischen Dénia bei Valencia und das UKE in Hamburg. In den USA hingegen zählt die HIMSSStatistik 179 Krankenhäuser in insgesamt 29 Bundesstaaten. Hier fördert der Staat die Einführung der EPA. Mit dem Health Information Technology for Economic and Clinical Health Act wurde 2009 auch ein Förderprogramm von rund 26 Milliarden US-Dollar für die Digitalisierung der Krankenhäuser aufgelegt. Zertifizierung ist aufwendig In puncto Sicherheit aber bedeutet Masse nicht automatisch Klasse. Denn die Zahl der Krankenhäuser, die sich in Sachen IT-Datenschutz hat zertifizieren lassen, erscheint auch in den USA sehr übersichtlich. Ein Beispiel: Die Health Information Trust Alliance (HITRUST) ist ein privates Unternehmen, das 2008 das Zertifizierungsverfahren Common Security Framework (CSF) vorstellte. CSF folgt dem Anspruch, in puncto Datensicherheit alle regulatorischen und technischen Vorgaben an IT-Systeme zu harmonisieren, die in der US-Gesundheitsbranche zu befolgen sind. Bis heute aber gibt es nur wenige veröffentlichte Kundenreferenzen. Im April 2014 gab HITRUST bekannt, dass das Children’s Medical Center in Dallas den CSF-Prozess erfolgreich durchlaufen habe – eine Premiere. „Wir freuen uns sehr darüber, dieses wichtige Zertifikat als erstes Krankenhaus in Texas zu erhalten“, sagte Geschäftsführer Chris Durovich damals. „Es zeigt, welchen enormen Aufwand wir betrieben haben, um die Qualität und Sicherheit unserer Informationstechnologie zu erhöhen.“ Die Zertifizierung folgte einem Rahmen- 30 Persönliche Treffen mit Vertretern der Datenschutzbehörde schaffen Transparenz programm, das HITRUST und die texanischen Gesundheitsbehörden zuvor vereinbart hatten. Auch in diesem Fall spielte die Größe des Krankenhauses eine entscheidende Rolle. Das Children’s Medical Center ist die sechstgrößte Kinderklinik in den USA. Warum ist das so relevant, und warum lassen sich vor allem kleine Kliniken nicht zertifizieren? „Dafür gibt es drei wesentliche Gründe“, sagt Thomas Jäschke, Professor für IT-Sicherheit an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in Essen. Erstens stehe das Thema bei den Verantwortlichen nicht ganz oben auf der Prioritätenliste, zweitens fehle es an Fachpersonal. „Und drittens müssen Datenschützer und IT-Leiter für eine Zertifizierung eng zusammenarbeiten. Das aber scheitert oft an der mangelnden IT-Expertise des Datenschutzbeauftragten.“ FOTOS: ELENA/SHOTSHOP, SUPERBILD-YOUR PHOTO TODAY K R ANK ENH AU S - I T Vertrauen in die Cloud fehlt Dabei sind die Sicherheit von IT-Systemen und der Datenschutz keine individuelle Kür, sondern gesetzliche Pflicht. Wer ihr nicht nachkommt, dem können die deutschen Datenschutzbehörden im Zweifel erhebliche Sanktionen auferlegen. Ganz zu schweigen von dem Imageschaden, der entstünde, wenn sich Datendiebe in die EPA hackten und so Patientendaten in die Hände Dritter gelangten. Datenschützer und die IT-Industrie haben verschiedene Versuche gestartet, dem sperrigen Thema Auftrieb zu verleihen. Die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder Eine bunte Reihe: Patientenakten auf Papier lassen sich nicht vernetzen – und nur schwer verschicken. Eine Digitalisierung kann nennenswerte Vorteile bieten DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Alles im Blick: Elektronische Patientenakten zeigen ihr Wissen dort, wo es benötigt wird Elektronische Patientenakten: Wie häufig werden sie in Krankenhäusern genutzt?¹ Nutzung (%) eher starke Nutzung (in den Stufen 4 bis 7)² eher schwache Nutzung (in den Stufen 0 bis 3)² USA 61,0 39,0 Niederlande 50,8 49,2 Spanien 50,6 49,4 Österreich 38,1 61,9 Deutschland 12,8 87,2 Quelle: HIMSS ¹ = USA: Q2/2014; Rest: Q4/2013; ² = gemäß EMRAM = Electronic Medical Record Adoption Model DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 veröffentlichte im Juli 2011 eine „Orientierungshilfe zur datenschutzkonformen Gestaltung und Nutzung von Krankenhausinformationssystemen (KIS)“. Darin wurden die Anforderungen konkretisiert, die sich aus den geltenden datenschutzrechtlichen Regelungen, den Vorgaben zur ärztlichen Schweigepflicht für den Krankenhausbetrieb und den Einsatz von Informationssystemen in Krankenhäusern ergeben. Zudem wurden Maßnahmen zu deren technischen Umsetzung beschrieben. Eine überarbeitete Fassung der Orientierungshilfe wurde im April 2014 vorgestellt. Die IT-Industrie wiederum will den Krankenhäusern mit Cloud-Angeboten beispringen. Doch nachdem Edward Snowden die Abhörpraxis der Geheimdienste publik gemacht hatte, ist das Vertrauen vieler IT-Verantwortlicher in die Sicherheit von Cloud-Angeboten wie Schnee in der Sahara geschmolzen. Auch die deutschen Datenschutzbehörden reagierten. Im Juli 2013 kündigten sie an, aufgrund datenschutzrechtlicher Bedenken den Neubetrieb von Cloud-Anwendungen aus „unsicheren Drittstaaten“ nicht mehr zu genehmigen. Im Datenschutzkonzept des UKE sind Cloud-Dienste bislang nicht vorgesehen. Dennoch stimmt man sich eng mit den Hamburger Behörden ab. „Wir pflegen eine offene und transparente Zusammenarbeit“, erklärt Schneider sein Erfolgsrezept. „Dazu gehört auch, dass wir uns einmal im Quartal persönlich mit Vertretern der Datenschutzbehörde treffen.“ Frank Grünberg 31 R UBR IK THEMA Der septische Schock Wettlauf mit der Zeit Bei einer BLUTVERGIFTUNG zählt jede Minute. Die Betroffenen haben nur dann gute Überlebenschancen, wenn schnell und beherzt eingegriffen wird. 32 DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 H YGI E N E E s gibt eine Erkrankung, an der jeden Tag allein in Deutschland 137 Menschen sterben, die enorme Kosten verursacht und von der die meisten nicht einmal den Namen kennen. Eine Krankheit ohne jedes Rampenlicht, mit hoher Sterblichkeit, schlimmen Spätfolgen und Dutzenden von kläglichen Niederlagen bei der Entwicklung passender Medikamente: der septische Schock – die letzte Eskalationsstufe einer Infektion, gegen die sich der Körper mit sämtlichen Mitteln wehrt. Beim septischen Schock eskalieren Infektion und Immunantwort. Beide Prozesse schaukeln sich gegenseitig hoch, mit fatalen Folgen für den gesamten Organismus. Diese Eskalation folgt einer schicksalhaften Choreografie, das Blut trägt die Mikroorganismen in jeden Winkel des Körpers. Das Immunsystem produziert daraufhin eine ganze Armada von Immunzellen. Die generalisierte Entzündung schädigt die Innenseiten der Blutgefäße, Flüssigkeit tritt aus, der Blutdruck sackt ab, die Gerinnungskontrolle wird demontiert, und am Ende werden sogar die Organe in die Knie gezwungen – wenn die Eskalation nicht frühzeitig gestoppt wird. Oft beginnt alles mit einer Infektion der Atemwege, des Bauchraums, der Knochen oder der Weichteile. DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 K R ANK ENH AU S Die Eskalation verläuft in drei Stufen. Die erste ist die Sepsis, bei der Bakterien im Blut eine Entzündung im gesamten Körper auslösen, gefolgt von der schweren Sepsis, bei der ein Organ versagt, meist die Niere. Beim septischen Schock versagt zusätzlich der Kreislauf. Mit jeder Stufe nimmt die Sterblichkeit zu. Hippokrates, der berühmteste Arzt des Altertums, stufte sie als Fäulnis des Bluts ein. Über 2.000 Jahre später nannte der deutsche Medizin-Nobelpreisträger Paul Ehrlich sie „Horror autotoxicus“ – Grauen der Selbstvergiftung. Der Volksmund spricht von einer Blutvergiftung. Nicht nur in Deutschland sterben mehr Menschen an einem septischen Schock als an Brust- oder Darmkrebs. Wenige reden darüber. Auf den Intensivstationen ist der septische Schock die führende Todesursache, bundesweit die dritthäufigste Todesursache hinter HerzKreislauf-Erkrankungen und Krebs. Die Sepsis tritt trotz aller medizinischen Fortschritte immer häufiger auf, weil die Bevölkerung älter und somit auch kränker geworden ist, weil mehr komplizierte Operationen gemacht werden und weil mehr multiresistente Keime im Umlauf sind. Wie bei allen akut lebensbedrohlichen Erkrankungen zählt auch hier der Faktor Zeit. Eine heraufziehende Sepsis ist nicht leicht zu erkennen, und schnell ist es zu spät. Es gibt keinen einzigen Laborwert, der eine drohende Sepsis sicher diagnostizieren kann. Das Krankheitsbild ist sehr heterogen. Die traditionell zur Diagnose herangezogenen Symptome und Laborwerte sind sehr unspezifisch. Sie > 33 K R ANK ENH AU S H YGIE N E > können auch als Ausdruck eines Unwohlseins (miss)verstanden werden. Laut den Kriterien der Deutschen Sepsis-Gesellschaft e.V., die den internationalen Leitlinien entsprechen, sollten Ärzte bei Fieber, einer beschleunigten Atmung, einem schnellen Herzschlag und einer hohen Zahl an weißen Blutkörperchen hellhörig werden. Diese vier Anzeichen werden auch als SIRS-Kriterien bezeichnet, wobei die Abkürzung für Systemisches Inflammatorisches Response Syndrom steht. „Allerdings sind zwei Kriterien bereits dann erfüllt, wenn ich joggen gewesen bin“, sagt Dr. Matthias Gründling, Oberarzt an der Universitätsklinik Greifswald. „Nach dem Laufen hat man nämlich eine beschleunigte Atmung und einen beschleunigten Herzschlag. Das zeigt, wie schwer eine Sepsis zu erkennen ist und wie unspezifisch die Symptome anfangs sind.“ Die goldene Stunde Bei einer Sepsis müssen die Mikroorganismen so schnell wie möglich unschädlich gemacht und die negativen Auswirkungen auf den Organismus eingedämmt werden. Deshalb sollte möglichst früh eine Antibiotikatherapie starten. Studien haben gezeigt, dass jede Verzögerung und jeder Fehlgriff bei der Wahl der Antibiotika die Prognose des Patienten verschlechtern. Ist bereits ein septischer Schock eingetreten, steigt die Sterberate mit jeder Stunde, die Antibiotika später gegeben werden, um sieben Prozent an. „Es gibt eine goldene Stunde, in der die Behandlung den größten Erfolg haben kann“, sagt Gründling. „Allerdings darf man die Antibiotika nicht wahllos geben. Das würde die Resistenzentwicklung fördern.“ Gründling kennt das Dilemma, schnelle und sichere Diagnosen zu stellen und dabei eine Übertherapie zu vermeiden. „Wir haben unlängst während einer Konferenz über dieses Problem diskutiert. Am Ende waren sich alle einig: Da es derzeit keine bessere Behandlung als den schnellen Einsatz eines passenden Antibiotikums gibt, gibt es auch keine Alternative zu dieser Therapie.“ 34 Sepsis kann zum Dieb werden – und das Leben mitnehmen DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Bei der Sepsis stockt auch die Arzneimittelentwicklung. Vor einigen Jahren musste sogar das bis dahin einzige zugelassene Medikament wieder vom Markt genommen werden. In der Liste der gescheiterten klinischen Entwicklungen stehen inzwischen mindestens 25 entzauberte Hoffnungsträger. „Vielleicht wurden die einzelnen Phasen und die zugrunde liegenden Pathomechanismen falsch gewichtet“, kommentiert Gründling die Situation. „Bei der Sepsis gibt es nicht nur eine generalisierte Entzündung, sondern auch eine Immunschwäche.“ Sepsis oder Schlaganfall? Nach allem, was man heute weiß, tritt die Überaktivität des Immunsystems am Anfang der Krankheit auf. Später sind die Immunzellen so erschöpft, dass eine Immunschwäche eintritt. Die meisten Kandidaten aus der klinischen Entwick- lung sind darauf ausgerichtet gewesen, die Entzündung und die Aktivierung des Immunsystems einzudämmen. Obwohl diese Therapien vielleicht in der Frühphase wirken, sind sie schädlich, wenn die Immunschwäche eingetreten ist. Vielleicht müssen diese Einsichten bei der klinischen Entwicklung stärker berücksichtigt werden. „Weil sich die Sepsis oft als Begleiterscheinung einer anderen Erkrankung, einer Operation oder eines Polytraumas tarnt, müssen wir lernen, sie besser vorherzusehen“, sagt Gründling. „Dazu müssen wir nach ersten Anzeichen suchen. Etwa indem wir regelmäßig alle relevanten Vital- und Laborparameter messen, die Ausscheidungsmenge bestimmen und ein feines Gespür dafür entwickeln, ob die Patienten wegen einer drohenden Sepsis unruhig und verwirrt sind oder etwa wegen eines Schlaganfalls.“ Bei Notfällen müsse die Sepsis so lange als Differenzialdiagnose in Betracht gezogen werden, bis sie sicher auszuschließen sei. In Greifswald konnte die durchschnittliche Sterberate von den in Deutschland üblichen 54 Prozent beim septischen Schock durch besseres Training, sorgfältige Überwachung und konsequente Ergebniskontrolle auf 31 Prozent reduziert wer- Häufigkeit einer posttraumatischen Belastungsstörung nach: Vergewaltigung 55,5 % Krieg 38,8 % Lebensrettung auf der Intensivstation 22 % Misshandlung 11,5 % Brand-/Naturkatastrophen 4,5 % Quelle: lindgruen-gmbh.com für den World Sepsis Day den (siehe auch: www.sepsisdialog.de). Für die Erkennung einer Sepsis hat Dräger nun zusammen mit der Universitätsklinik Greifswald eine Software entwickelt. SmartSonar Sepsis speichert alle anfallenden Patientendaten und vergleicht sie mit den Grenzwerten für eine Sepsis. Werden diese überschritten, benachrichtigt das Programm das klinische Personal. „Die Entscheidung, ob eine Infektion vor- > Eine Infektion läuft Amok Drei Stufen einer Eskalation Quelle: lindgruen-gmbh.com für den World Sepsis Day 1. Sepsis: Die Infektion breitet sich aus 2. Schwere Sepsis: Ein Organ versagt, meist die Niere 3. Septischer Schock: Der Kreislauf versagt Gehirn Infektion Lungen Leber Nieren DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 35 K R ANK ENH AU S H YGIE N E In den Entwicklungsländern ist die Zahl der Sepsis-Toten besonders hoch Entwicklungsländer über 1.120 Sepsis-Tote pro 100.000 Menschen Eine gute Intensivmedizin rettet Leben Quelle: lindgruen-gmbh.com für den World Sepsis Day > liegt und eine Antibiotikatherapie eingeleitet wird, trifft nach wie vor der Arzt. Das Programm erkennt und meldet kritische Entwicklungen, sodass wir schneller reagieren können“, sagt Gründling. Es ist geplant, dass Gründling und seine Kollegen 2015 eine klinische Studie mit SmartSonar Sepsis machen. Die Studie soll auch in Hamburg, Kiel und Dresden durchgeführt werden und randomisiert sein. Derzeit diskutiere man noch über die primären und sekundären Endpunkte. „Nach allem, was wir wissen, sollte ein früheres Erkennen der Sepsis zu einem früheren Einsatz der Antibiotika und damit zu einer geringeren Sterblichkeit führen. Es ist aber auch denkbar, dass der frühere Einsatz der Antibiotika die Spätfolgen der Sepsis reduziert“, sagt Gründling. Patienten, die eine schwere Sepsis überlebt haben, leiden oft unter körperlichen, kognitiven und psychischen Spätfolgen. Im Gegensatz zu anderen Patienten haben sie ein doppelt so hohes Risiko, in den nächsten fünf Jahren zu sterben. Viele entwickeln auch eine posttraumatische Belastungsstörung, weil sich die dramatischen Stunden auf der Intensivstation tief in ihre Seelen gebohrt haben (siehe auch Seite 8 ff.). In vielen Kliniken ist man deshalb dazu übergegangen, Tagebücher zu führen, damit die Betroffenen später nachvollziehen können, was in dieser Zeit passiert ist. Die kürzlich veröffentlichte Welt-Sepsis-Deklaration kennt vor allem ein Ziel: weniger Sepsis und weniger Sepsis-Tote. Mit Aufklärung, Prävention und einem beherzten Eingreifen kann schon viel erreicht werden. Dr. Hildegard Kaulen 36 Schwellenländer über 540 Sepsis-Tote pro 100.000 Menschen Industrieländer über 13 Sepsis-Tote pro 100.000 Menschen Sepsis ist ein Notfall Frühzeitiger Einsatz des richtigen Antibiotikums rettet Leben Quelle: lindgruen-gmbh.com für den World Sepsis Day 100 % Überlebende in Prozent Effektiv mit Antibiotika behandelte Patienten 80 % 60 % 40 % 20 % 0 1 2 3 4 5 6 9 12 24 36 Stunden Zeit bis Therapiebeginn Was genau macht der SmartSonar Sepsis? SIRS FOTO : DRÄGERWERK AG & CO. KGAA 10 % Die Software unterstützt den Arzt bei der möglichst frühen und exakten Erkennung eines SIRS sowie den Eskalationsstufen einer Sepsis. Sie bewertet und klassifiziert bis zu 30 Vitaldaten, alle Verlaufsdaten der zurückliegenden 24 Stunden und die wichtigsten Informationen zur Diagnose. Sie ermittelt daraus einen SepsisSchweregrad, dem ein farbiges Symbol zugeordnet wird. Der SmartSonar Sepsis bekommt die Daten derzeit über das Patientendaten-Managementsystem (PDMS) ICM von Dräger. Geplant ist auch eine Schnittstelle zur Dräger Innovian Solution Suite. Eine Übersichtsseite listet alle beobachteten Patienten. Die Detailseite zeigt aktuelle wie entscheidungsrelevante Werte und einen 24-Stunden-Trend sowie ein mögliches Organversagen an. Über das Logbuch kann nachvollzogen werden, wie eine Therapieentscheidung zustande gekommen ist. Alle medizinischen Entscheidungen sind hinterlegt und bis zu sieben Tage sichtbar. Eine chronologisch geordnete Tabelle zeigt den Wechsel des Sepsis-Status an und gibt an, was zum Statuswechsel geführt hat. 20 % 40 % bis zu 80 % 28-TageSterblichkeit Eine systemische Reaktion auf eine nicht spezifische Schädigung mit mindestens zwei der folgenden Symptome: • Temperatur: > 38 ˚C oder < 36 ˚C • Herzfrequenz: > 90/min • Atemfrequenz: > 20/min oder PaCO² < 33 mmHg • Leukozyten: > 12.000/mm³ oder < 4.000/mm³ oder > 10 % unreife neutrophile Granulozyten Sepsis SIRS mit vermuteter oder nachgewiesener Infektion Schwere Sepsis Sepsis mit ≥ 1 Organdysfunktion • Kardiovaskulär (volumenrefraktäre Schock Hypotension) • Renal • Respiratorisch • Hepatisch • Hämatologisch • ZNS • Metabolische Azidose ohne erkennbare Ursache Quelle: Sepsis-Leitlinie der Deutschen Sepsis-Gesellschaft e.V. Sepsis ist eine häufige, aber wenig beachtete Erkrankung Quelle: lindgruen-gmbh.com für den World Sepsis Day 377 331,8 223 Lunge Brust Häufigkeit pro 100.000 Einwohner in den USA 22,8 Prostata Sepsis Kosten für staatlich unterstützte Forschung in Millionen US-Dollar 208 91 $ Schlaganfall Krebs Herzinfarkt HIV Prostata Brust 317 $ Lunge 1.236 $ 2.277 $ 2.900 $ DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 37 BIG DATA ILLUSTRATION: GET T Y IMAGES Die Vermessung der Welt 38 DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 DAT E N F LU T G E S E L L S C H AF T Das Informationszeitalter häuft täglich immer größere DATENMENGEN an. Wie lassen sich aus dieser Quantität neue Erkenntnisse gewinnen? Die Erwartungen an die Ergebnisse sind gewaltig – auch in der Medizin. W 2012 sollen weltweit 2,8 Zettabyte an Datenvolumen entstanden sein – das entspricht einer Zahl mit 22 Stellen. Experten gehen davon aus, dass es bis 2020 sogar 40 Zettabyte werden können DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 as wäre wenn? Wenn die Geschwindigkeiten moderner Verkehrsmittel sich alle zwei Jahre verdoppelten? Heute 200 km/h, in zwei Jahren 400 km/h und in vier Jahren 800 km/h. Bald wären alle Menschen Nachbarn. Jeder könnte sich zu jeder Zeit an jedem Ort mit jedem treffen. Bei Computern gibt es diese Beschleunigung wirklich: Prozessoren werden immer leistungsstärker, Speicher immer größer, sodass sich Daten immer schneller analysieren, sortieren und verschieben lassen. Mit einem ähnlichen Effekt: Die Daten rücken zusammen. Mit Big Data verbinden Experten gewaltige Hoffnungen. In den Datenmengen sollen grundlegend neue Erkenntnisse für die Wissenschaft stecken – und neue Chancen für die Wirtschaft. Auch in der Medizin weckt Big Data große Erwartungen. Wie breiten sich Krankheiten aus, wie lassen sie sich frühzeitig erkennen und erfolgreich therapieren? Auf solche und andere Fragen soll Big Data Antworten finden. Das „Big“ sagt schon, worum es geht: um Größe. Und darum, Datenberge anzuhäufen, um aus ihnen mit cleveren Rechenmethoden wertvolles Wissen zu destillieren. Qualität aus Quantität. Die Technologie-Analysten des Beratungsunternehmens Gartner definieren Big Data als „Informationsbestände mit großem Volumen, hoher Geschwindigkeit und breiter Vielfalt, die nach neuen Verarbeitungsformen verlangen, um verbesserte Entscheidungen, Erkenntnisse und Prozesse zu ermöglichen“. Gartner spricht auch von den „drei V“: Volume, Velocity, Variety – Menge, Geschwindigkeit, Vielfalt. Vor ein paar Jahren noch galt ein Terabyte (eine Billion oder 1.000.000.000.000 Byte) als große Datenmenge. Heute fassen die meisten Festplatten so viel. Im Jahr 2012 erzeugte die Menschheit ein Datenvolumen von 2,8 Zettabyte (siehe auch Grafik Seite 42). Mobiltelefone, Kameras, RFIDEtiketten, Kreditkarten, Sensoren, Server – sie alle tragen zur anschwellenden Datenflut bei. Daten, und mit ihnen zu rechnen, das mag etwas trocken klingen. Wie spannend jedoch die Ergebnisse sein können, zeigt eines der ersten Big-DataProjekte überhaupt: Google Flu Trends. Im Jahr 2009 kündigte der Internetkonzern Google dieses Projekt im weltweit renommierten Wissenschaftsmagazin „Nature“ an. Die Idee: aus den Anfragen an die Google-Suchmaschine bevorstehende Grippewellen vorherzusagen. Einfach wie genial. Wenn die Menschen in einer bestimmten Gegend vermehrt „Fieber“, „Wadenwickel“, „Apothekennotdienst“ oder andere Suchbegriffe mit Grippebezug googeln, dann muss etwas im Anflug sein. „Mit großen Datenbeständen können wir Dinge tun, die vorher nicht möglich waren“ Nicht nur die Medien feierten das Projekt. Auch die amerikanische Seuchenschutzbehörde CDC war begeistert, die Ausbreitung einer Grippe ohne eine einzige Patientenuntersuchung verfolgen zu können – in Echtzeit, und zudem spottbillig. Die Google-Entwickler brauchten sich nicht einmal in das Thema zu vertiefen. Sie überließen die ganze Arbeit einfach den Algorithmen. Es wirkte, als hätten sie Wissen aus dem > 39 G E S E L L S C H AF T DAT EN F LU T Big Data ist keine Zauberei, ebenso wenig, wie einst die Alchemie wertlose Metalle in Gold verwandeln konnte – doch Big Data kann Goldadern erschließen > Nichts gezaubert, wobei das so natürlich nicht stimmt: Kein Konzern verfügt über größere Datenmengen als Google. Dabei war Google Flu Trends nur die Demonstration eines viel umfassenderen Prinzips. Auch der Mediziner und Google-Vordenker Larry Brilliant geriet ins Schwärmen: „Ich stelle mir einen Menschen vor, der online geht und vor einem Cholera-Ausbruch in seiner Straße gewarnt wird.“ Aus den Datenschätzen lassen sich nicht nur Infektionswellen vorhersagen, sondern auch Finanzkrisen und Hungersnöte. „Mit großen Datenbeständen können wir Dinge tun, die vorher nicht möglich waren“, sagt Kenneth Cukier, Big-DataExperte beim britischen Wirtschaftsmagazin „Economist“. „Der einzige Weg, die globalen Herausforderungen zu meistern – die Menschen zu ernähren, sie mit Energie und Medizin zu versorgen –, liegt in der effektiven Nutzung von Daten.“ Das Geburtsjahr von Google Flu Trends kann auch als der Beginn von Big Data gelten. Die Techniken des Datenschürfens („Data Mining“) waren bereits einige Jahre zuvor entstanden, doch erst 2009 wurde das Thema „big“. Es entbrannte ein regelrechter Hype. Ein viel beachteter Beitrag im Digitalkulturmagazin „Wired“ sah schon „das Ende der Theorie“ kommen. Wissenschaftliche Theorien und statistische Modelle könnten eines Tages überflüssig werden, prophezeiten die Autoren. „Mit genügend Daten sprechen die Zahlen für sich.“ Tatsächlich gelangen Wissenschaftlern Durchbrüche, die sie sonst wohl nicht geschafft hätten – zumindest nicht so schnell. Einst dauerte die Decodie- 40 rung des menschlichen Genoms wegen der aufwendigen Rechnerei ein ganzes Jahrzehnt. Mit heutigen SequenzierAutomaten wäre sie an weniger als einem Tag zu schaffen. Ein weiterer Triumph: Die Entdeckung des Higgs-Teilchens am Europäischen Kernforschungszentrum CERN. Der Beschleuniger LHC erzeugt jährlich 15 Petabyte (15.000.000.000.000.000 Byte) an Daten, das entspricht ungefähr 15.000 Jahren digitaler Musik. Aus diesem Wust mussten die Forscher das schwache Signal des Higgs-Teilchens herausfiltern. Ein wesentlicher Bereich der heutigen Teilchenphysik besteht im Wälzen großer Datenmengen. Aber ist diese Entwicklung tatsächlich das Ende der Theorie? Physiker würden das bestreiten. Sie brauchen ihre Theorien weiterhin, auch um zu wissen, wonach sie in den Datenbergen suchen. Überhaupt lässt sich feststellen, dass die erste Big-Data-Euphorie zu weit ging. Computer identifizieren verdächtige Krankheitsmuster Nun werden die Grenzen von Big Data sichtbar – aber auch die Chancen. Es ist eben nicht so, dass die Zahlen für sich sprechen. Der trügerische Anschein von Objektivität ist ein Risiko. Algorithmen sind fehlbar, sie erledigen den Schritt von den Daten zum Wissen nicht von allein. Das mussten auch die Entwickler von Google Flu Trends erfahren. Der Politikwissenschaftler David Lazer glich die Prognosen mit der Wirklichkeit ab und stellte fest, dass Flu Trends regelmäßig danebenlag. Immer wieder hatte das System falschen Alarm ausgelöst. Die Medien, die Flu Trends zunächst bejubelt hat- DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 ten, überschütteten es nun mit Häme. „Google Flu Trends irrt sich drei Jahre in Folge“, schrieb das eigentlich technologiefreundliche Magazin „New Scientist“. Lazer fand keineswegs nur Schlechtes über Flu Trends heraus. Er zeigte, dass den Entwicklern einige folgenreiche – aber vermeidbare – Fehler unterlaufen waren. Wenn man das System in einem größeren Kontext sieht, bleibt es sehr nützlich. Kombiniert man beispielsweise die Prognosen von Flu Trends mit den klassisch erhobenen Befunden der Seuchenschutzbehörde CDC, erhält man Vorhersagen, die deutlich zuverlässiger sind als Flu Trends und CDC jeweils für sich genommen. Big Data kann also eine wichtige Ergänzung herkömmlicher Methoden sein. Mittlerweile erschließen Entwickler, Wissenschaftler und Mediziner das wahre Potenzial. So können Forscher der Universität Toronto frühgeborenen Babys das Leben retten, indem sie ihre Vitalfunktionen aufzeichnen und mit Big-Data-Methoden auf verdächtige Muster analysieren. Die Algorithmen warnen mit hoher Treffsicherheit vor bevorstehenden Infektionen. Das funktioniert nur, weil Computer diese verdächtigen Muster aus riesigen Datenmengen extrahiert haben – mit bloßem Auge wären sie nicht zu erkennen. Überhaupt: Leben retten. Am New York Genome Center erproben Onkologen Big Data als Waffe gegen Krebs. Die Idee: die Therapie auf jeden Einzelfall zuzuschneiden. Die Ärzte nehmen eine Gewebeprobe des Tumor und sequenzieren das Erbgut, um die Mutationen der Krebszellen zu erkennen. Anschließend richten sie die Medikation auf diese Mutationen aus. Die Kunst dabei ist, die harmlosen Mutationen von jenen zu unterscheiden, die das Tumorwachstum befeuern. Dabei soll ein Großrechner helfen. Die Mediziner füttern ihn mit den Gendaten, der Rechner gleicht sie mit einer gewaltigen Datenbank ab, in der zig Millionen medizinische Fachartikel gespeichert sind, und entwickelt einen Therapievorschlag. Damit nimmt der Großrechner eine Schlüsselrolle im Behandlungsprozess ein, macht den Menschen damit aber nicht überflüssig. DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Die Werkzeuge der Datenschürfer Immer noch müssen Ärzte die Therapievorschläge bewerten, müssen Forscher die Fachartikel schreiben, die der Computer durchforstet. Und seine Vorschläge können nur so gut sein wie die Daten, über die er verfügt. Big Data ist keine Zauberei – ebenso wenig, wie einst die Alchemie wertlose Metalle in Gold verwandeln konnte. Doch Big Data kann Goldadern erschließen, die mit früheren Mitteln unerreichbar waren. Statistiker sagt Wahlergebnisse in allen US-Bundesstaaten richtig voraus Der Datenanalyse-Markt wächst laut dem Magazin „Economist“ um rund zehn Prozent pro Jahr – doppelt so schnell wie die gesamte Softwarebranche. Und auch im Gesundheitswesen boomt Big Data. Der maßgebliche Kopf hinter Google Flu Trends, Matt Mohebbi, hat den Konzern inzwischen verlassen und ein eigenes Start-up gegründet. Die Geschäftsidee ist, mit Big-Data-Methoden eine Entscheidungshilfe dafür zu geben, welche Medikamente ein Patient verschrieben bekommen soll – wohlgemerkt: Entscheidungshilfe. Big Data hat auch Gebiete erfasst, die man normalerweise nicht mit Computern und Algorithmen in Verbindung bringt – etwa die Politik: Bei seinem erfolgreichen Wahlkampf um die zweite Amtszeit als amerikanischer Präsident im Jahr 2012 verließ sich Barack Obama wesentlich auf BigData-Analysen. Ein hundertköpfiges Team von Analysten, ausgestattet mit gewaltiger Rechenpower, wertete Umfragen, Presseberichte und soziale Medien aus. Der Statistiker Nate Silver sagte mit cleveren Algorithmen sogar die Wahlergebnisse in > Das Durchforsten großer Datenmengen nach wertvollen „Nuggets“ ist eine spezielle technische Herausforderung. Zunächst braucht man dazu geräumige Datenspeicher. Doch Kapazität ist nicht alles, es kommt vor allem auf Geschwindigkeit an. Die Daten müssen schnell abrufbar sein. Gewöhnliche Festplatten mit üblichen Datenverbindungen sind meist zu langsam. Für Big-Data-Anwendungen werden oft „Solid State Drives“ und „Direct Attached Storage“-Systeme eingesetzt, die blitzschnell reagieren können. Die Berechnungen geschehen häufig in massiv parallel verarbeitenden Datenbanken („massively parallel processing“, MPP), die also viele Rechenprozesse gleichzeitig ausführen können. Um auf diese Weise Zeit zu sparen, muss die Berechnung in mehrere Teile gegliedert werden, die nebeneinanderher laufen können – das geht oft nur mit viel Einfallsreichtum der Programmierer. Die Algorithmen, die dabei ausgeführt werden, können ganz simple Suchmethoden sein oder raffinierte Rechenwerkzeuge – wie statistische Analysen oder genetische Algorithmen, die sich selbst in einem Selektionsprozess immer weiter verbessern. Inzwischen bieten einige IT-Unternehmen auch fertige Hardware- und Software-Lösungen für Big Data an. 41 G E S E L L S C H AF T DAT EN F LU T Der Kern besteht darin, aus gewaltigen Datenmengen entsprechende Vorhersagen zu destillieren > sämtlichen 50 US-Bundesstaaten richtig voraus – und schlug damit alle Demoskopen, die es mit traditionellen Werkzeugen versuchten. Zwei Jahr später, bei den US-Kongresswahlen im November 2014, gehörte Big Data bereits zum Standardarsenal vieler Kandidaten. Eine ganze Reihe von Unternehmen bietet Big-DataDienstleistungen für Politikprofis an. FiscalNote zum Beispiel, gegründet 2013 im Silicon Valley in Kalifornien, prognostiziert die Ergebnisse von Abstimmungen in den Parlamenten der Bundesstaaten und im Washingtoner Kongress auf der Grundlage von Wahlergebnissen, Umfragen und Wahlkampfbudgets. Die Algorithmen haben bereits jetzt eine Treffergenauigkeit von 95 Prozent, in den nächsten Jahren soll sie auf 99 Prozent steigen. Ein ähnliches Ziel im ökonomischen Sektor Maßeinheiten für Datenmengen Präfix Bytes Datenmenge Byte 1 Ein Buchstabe Kilobyte (KB) 1.000 Eine Textseite Megabyte (MB) 1.000.000 Ein kleines Foto Gigabyte (GB) 1.000.000.000 Ca. 8,5 Minuten HD-Video-Material Terabyte (TB) 1.000.000.000.000 Ca. 250.000 MP3-Dateien Petabyte (PB) 1.000.000.000.000.000 Die geschätzte Speicherkapazität aller Rechenzentren weltweit 2002 Exabyte (EB) 1.000.000.000.000.000.000 Die fünffache Datenmenge aller jemals gedruckten Bücher Zettabyte (ZB) 1.000.000.000.000.000.000.000 Die geschätzte Menge aller jemals von Menschen gesprochenen Worte würde digitalisiert 42 ZB entsprechen Yottabyte (YB) 1.000.000.000.000.000.000.000.000 Unfassbar viel Quellen: Alle Angaben sind Wikipedia und der Studie „How Much Information?“ (2009) entnommen 42 verfolgt das New Yorker Start-up Estimize, das mit ausgeklügelten Algorithmen die künftigen Erträge von Unternehmen aus den Finanzdaten der Vergangenheit vorherzusagen versucht. Noch ist das alles ein vornehmlich amerikanisches Phänomen. Doch auch deutsche Unternehmen beginnen sich der Sache anzunehmen. So wird beispielsweise versucht, die Überwachung der ICE-Züge auf Big-Data-Methoden umzustellen. Vernetzte Sensoren sollen den Zustand von Türen, Klimaanlagen und Antriebssystemen überwachen und Algorithmen aus den Daten frühzeitig Schäden erkennen. Auch Hochschulen reagieren: Die erste deutsche Professur für Big Data Analytics hat die Bauhaus-Universität in Weimar geschaffen. Ein Schwerpunkt der Forschung besteht darin, mit neuen Methoden der Datenanalyse die Leistung von Suchmaschinen zu verbessern. Mit dem Hunger auf Daten wächst die Neigung, sie zu missbrauchen Angesichts dieser Erfolge dürfen die Beschränkungen nicht in Vergessenheit geraten. Der Kern von Big Data besteht darin, aus Datenmengen, die für menschliche Augen unmöglich zu überschauen sind, mit bloßer Rechenkraft Vorhersagen zu destillieren. Wie fundiert und zuverlässig können diese Vorhersagen sein? Weil ihr Zustandekommen so intransparent ist, lässt sich das in vielen Fällen schwer einschätzen. Ein heftig umstrittener Fall ist die Klimaforschung mit ihren daten- und rechenintensiven Modellen der Erdatmosphäre. Auf ihren DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 „Je mehr Daten, desto persönlicher“ FOTO : MARION VOHLA, VLAD SASU PROF. DR. CHRISTIAN HESSE lehrt Mathematische Statistik an der Universität Stuttgart. Er ist einer der führenden deutschen Experten für Big Data. Prognosen gründen weitreichende politische Entscheidungen. Selbst die Klimaforscher sind sich nicht immer einig über die Fehlermarge. Gerade weil sie für den menschlichen Geist nicht nachvollziehbar sind, haben Big-Data-Analysen nicht zwingend die Überzeugungskraft wissenschaftlicher Argumente. Und dann ist da noch der Einwand, den kein noch so großer Erfolg entkräften kann: Mit dem Hunger auf Daten wächst die Neigung, sie zu missbrauchen. Eine Krankenversicherung zum Beispiel, die sich Zugang zu den Kreditkartentransaktionen ihrer Versicherten verschafft und ihnen dann eine Risikoprämie für Übergewicht aufbrummt, wenn sie Kleider in Übergrößen bestellt haben, überschreitet die Grenze zur Schnüffelei. Gerade weil in den Daten so viel Potenzial steckt, muss die Privatsphäre der Nutzer geschützt bleiben. Das größte Big-Data-Unternehmen der Welt ist der amerikanische Geheimdienst NSA. Allein das im Jahr 2013 in Betrieb genommene Datenzentrum in Bluffdale im Bundesstaat Utah soll laut dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ eine Speicherkapazität von einem Yottabyte haben – eine Billion Terabyte! Aus diesen Datenmengen, abgefischt vor allem aus den globalen Kommunikationsnetzen, versucht man staatsfeindliche Aktivitäten vorherzusagen. Algorithmen können Menschen schnell zu potenziellen Terroristen erklären. Nichts zeigt deutlicher, dass Big Data trotz des großen Potenzials nie die ganze Wahrheit sein kann. Wenn aus Daten Wissen generiert werden soll, gehört die menschliche Perspektive stets dazu. Tobias Hürter DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Professor Hesse, derzeit wird viel über die Möglichkeiten von Big Data diskutiert: Wo liegen die Grenzen? Christian Hesse: Big Data findet seine natürlichen Grenzen an den persönlichen Rechten der Menschen. Inzwischen ist es möglich, kostengünstig das Genom von Patienten zu sequenzieren und auszuwerten. Wenn eine Krankenversicherung diese Daten dazu nutzt, um Versicherten mit der Anlage einer Erbkrankheit eine Risikoprämie aufzubrummen, dann überschreitet sie diese Grenzen. So weit die Ethik, und technisch gesehen? Braucht es nicht immer noch den Arzt, der auf den einzelnen Patienten eingeht? Ja, den braucht es – schon um gezielte Untersuchungen durchzuführen. Aber bei Big Data in der Medizin geht es ja gerade darum, Therapien individuell auf Patienten zuzuschneiden. Je mehr Daten, desto persönlicher. Wie funktioniert das? Man nimmt alle Daten, die von einem Patienten zur Verfügung stehen. Messwerte, Medikationen, Gendaten – das können Zigtausende Datenpunkte sein – und gleicht sie mit den Daten von Millionen anderer Patienten ab. Mit der „NächsteNachbarn-Methode“ findet der Computer ähnliche Fälle. Er kann sehen, welche Therapien erfolgreich waren, und den Arzt mit Vorschlägen unterstützen. Warum ist das besser als der herkömmliche Ansatz? Üblicherweise geht es ja so: Ein Arzt lernt, welche Symptome auf welche Krankheiten hindeuten. Dazu kommen die Erfahrungen aus seiner Praxis. Das ist ein vergleichsweise kleiner Radius. Big-Data-Verfahren stützen sich auf ein viel breiteres Fundament. Kann Big Data damit ärztliche Diagnosen überflüssig machen? Nein, aber wesentlich unterstützen. Was Big Data überflüssig macht, ist der bisherige Ansatz mit seiner Komplexität und Fehleranfälligkeit. In Deutschland werden jährlich 300.000 Krankenhausaufenthalte und mehrere Tausend Todesfälle durch fehlerhafte Medikamentendosierungen verursacht. Big-Data-Verfahren können helfen, zumindest einige davon zu vermeiden. 43 R UBR IK THEMA Diese komplett eingerichtete Zahnarztpraxis stammt aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts G ESCH I CH T E Mit Herzblut ins Museum Eine neue Sonderausstellung beleuchtet die Geschichte und Zukunft der MEDIZINTECHNIK. Dem Besucher öffnet sich noch bis Sommer 2015 ein faszinierendes Kaleidoskop technischer, wissenschaftlicher und sozialer Entwicklungen – mit mehr als 700 Exponaten. Seelensitz und Technik: Ein Herz mit modernem Unterstützungssystem eröffnet die Sonderausstellung im Mannheimer Technoseum DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 MEDI Z IN D ie Melodie des Lebens legt sich mit wuchtigem Beat über den Eingang zur Ausstellung im Mannheimer Technoseum. „Herzblut“ heißt diese Reise durch die Medizintechnik auf rund 900 Quadratmetern – von den Anfängen im Anatomischen Theater und der Aufklärung bis zu den Visionen von Robotern in der Medizin. Den Takt gibt gleich zu Beginn die Projektion einer Magnetresonanz tomografieAufzeichnung des schlagenden Herzens vor, untermalt vom rhythmischen Herzklopfen. Vor der Installation steht ein transparenter Torso, dessen Herz an ein modernes Unterstützungssystem angeschlossen ist. Dieses Exponat steht für die Schnittstelle der Medizintechnik zu jenem Organ, das – je nach Perspektive – als Sitz der Seele oder Hochleistungsblutpumpe gilt. Noch bis zum 7. Juni 2015 folgt „Herzblut – Geschichte und Zukunft der Medizintechnik“ zwei Erzählsträngen: Einerseits geht es darum, wie Medizintechnik den Blick auf den menschlichen Körper prägt und die Möglichkeiten von Diagnose und Therapie erweitert. Spiegelbildlich dazu wird gefragt, wie sich diese Technik fortentwickelt. Beide Ebenen ergeben einen ganzheitlichen Blick auf die Ideen und Innovationsgeschichten, zu denen neben vielen lebensrettenden Entwicklungen auch Gräueltaten wie die Menschenversuche während der NS-Zeit gehören. Vor der Behandlung steht das Begreifen dessen, was im Körper bei einer Krankheit passiert: Innovationen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse > 45 M ED I Z IN GESCH I CH T E > eröffnen seit dem 19. Jahrhundert neue Blicke auf und in den Körper. So begründen Röntgenaufnahmen (deren erst noch zu interpretierendes Bild der Schriftsteller Thomas Mann als „Innenporträt“ genau fasste), Stethoskop, Blutdruckmessgerät und Fieberthermometer neue Diagnosemöglichkeiten auf der Grundlage exakt quantifizierbarer und damit vergleichbarer Gesundheitsdaten. Die Heilkunst machte sich wissenschaftliche Methoden und Instrumente zunutze. Diese Vermessung des Körpers gehört auch zu den Grundlagen neuer Behandlungsmethoden bis zur Operation unter Narkose. Und sie bereitet jenen Labor verfahren den Weg, auf denen heute rund zwei Drittel aller Diagnosen beruhen. Zwei Gase für die Narkose: Der Mischnarkoseapparat Roth-Dräger (1910) arbeitete mit Äther und Chloroform Letzte Rettung Stahlsarg: Die Eiserne Lunge revolutionierte in den 1930er-Jahren die Medizintechnik. Dank ihr überlebten Tausende Menschen todbringende Seuchen – mancher blieb sogar Jahrzehnte in der monströsen Maschine gefangen Blauer Heinrich hinter Glas Viele Pionierleistungen haben sich zu medizinischen Standards entwickelt. „Das Selbstmessen des Blutzuckers oder des Blutdrucks beispielsweise ist heute eine Selbstverständlichkeit – vor 100 Jahren wäre das undenkbar gewesen“, sagt Dr. Alexander Sigelen. Der Historiker hat die Ausstellung in zweieinhalb Jahren mit einem Team konzipiert. Sie wollten darin nicht allein Einblicke in den Maschinenraum von Arztpraxen, Krankenhäusern, Laboren und Apotheken gewähren, sondern vitale Verbindungen zu den Lebenswelten der verschiedenen Epochen herstellen. So gehören zu den Exponaten auch der Porzellanhandgriff einer Toilettenspülung und der „Blaue Heinrich“, eine weit verbreitete Taschenspuckflasche für Tuberkulosepatienten, als Symbole der Hygienebewegung. 46 Hochtechnologie der Messingära: das Bedienpult eines frühen Röntgengeräts – mit Röhren, Analogskalen und Marmorplatte DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 Kleiner Griff, große Wirkung: Toilettenspülung als Symbol der Hygienebewegung. Seit 2001 gibt es sogar den Welttoilettentag Eindrücklich zeigt die Schau die Entwicklung der Anästhesie als technikorientierte Wissenschaft im vergangenen Jahrhundert. Zwei nebeneinander platzierte Leihgaben von Dräger spannen dabei den Jahrhundertbogen von der Frühzeit der Narkose bis zum heutigen Stand dieser Technologie. Aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts stammt der RothDräger-Mischnarkoseapparat. Den neuesten Stand der Technik leistungsfähiger Anästhesiearbeitsplätze zeigt direkt daneben ein Dräger Perseus A500. Polio: Geißel der Menschheit Zeichen der Zukunft: Bionische Prothetik steuert technische Gliedmaßen über Muskeloder Nervenimpulse Neben diesen Leihgaben zeigt sich Technik auch in weiteren Bereichen der Ausstellung – etwa wenn es um die sichere Beherrschung von Gasen in der Medizin geht. Das trifft auf den kompletten Operationssaal aus den 1950er-Jahren mit Narkose- und Beatmungstechnik von Dräger ebenso zu wie auf die legendäre Eiserne Lunge zur Beatmung von Polio-Patienten. Die heute nahezu vergessenen Maschinen waren damals bei vielen Erkrankten die einzige Hoffnung während der Polio-Epidemien. Denn bis zur Erfindung eines Impfstoffs (durch den US-Immunologen Jonas Salk, 1954) war Kinderlähmung eine der schlimmsten Geißeln der Menschheit. Insgesamt zeigt die Mannheimer Ausstellung mehr als 700 Exponate, viele davon aus der seit 25 Jahren bestehenden Sammlung des Technoseums zur Medizintechnik mit heute rund 3.000 Objekten. Ästhetisch zieht sich dabei die Präsentation der Geräte wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Das betont auch Ruudi Beier, der Gestalter der Schau: „Es ist uns wichtig, die Exponate nicht nur im Kontext ihrer Wirkung zu zeigen, sondern auch eindeutig als technische Geräte.“ Peter Thomas www.technoseum.de/ausstellungen/herzblut Der rund 450 Seiten starke Katalog zur Ausstellung ist im Museum für 24,95 Euro und im Buchhandel für 29,95 Euro erhältlich. DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 47 Feine Nase Was liegt da in der Luft? Der DRÄGER-ANALYSENSERVICE bestimmt verschiedenste Substanzen und deren Konzentrationen – in Operationssälen, Industrieanlagen oder in Büros. Ein Röhrchen im Glaskolben aufzubauen ist Präzisionsarbeit A RB E I T SP L AT ZM ES SU N GE N Kurven wie beim EKG Mitte der 1980er-Jahre stand der Analysenservice nur der Entwicklung im eigenen Haus zur Verfügung. Mittlerweile lassen hier auch Krankenhäuser die Konzentration von Narkosegasen in ihren Operationssälen untersuchen. Uta Speth, Mitarbeiterin der ersten Stunde, erinnert sich noch genau daran, wie aufwendig die weitgehend manuellen Analysen und ihre Auswertung damals waren: „Die DRÄGERHEFT 395 | 3/ 2014 FOTOS: PATRICK OHLIGSCHLÄGER W ie bringt man nur diesen „Schwamm“ von rund 1.000 Quadratmetern in einem schmalen Glasröhrchen unter? „Das ist im Prinzip ganz einfach“, sagt Dirk Rahn-Marx. „Es braucht nur ein Gramm Aktivkohle!“ Nicht irgendeine, sondern solche, die aus Kokosnussschalen gewonnen wird – mit einer besonders großen Oberfläche. Im Analysenservice von Dräger, den der Chemie-Ingenieur leitet, fängt man Flüchtiges und Unsichtbares ein: Substanzen aus der Luft, um sie zu identifizieren und zu quantifizieren. Die schwebenden Stoffe setzen sich in den Poren der Aktivkohle fest und reichern sich dort an. So lassen sich noch Substanzen bestimmen, deren Konzentration in der Größenordnung von Milliardsteln (ppb: parts per billion) liegt. Das ist ungefähr so, als wolle man fünf Menschen innerhalb der gesamten Erdbevölkerung finden. Dirk Rahn-Marx leitet den Dräger-Analysenservice – und ist immer noch fasziniert von seiner Arbeit Ergebnisse wurden auf langen perforierten Papierstreifen gespeichert, zusammengerollt und mit Gummibändern gesichert!“ Heute werden unter anderem Gaschromatografen und Massenspektrometer eingesetzt, die binnen einer Stunde die Einzelstoffe aus der Luftprobe trennen und grafisch darstellen können – wie ein Elektrokardiogramm (EKG). Jeder Zacken (Peak) ist eine gefundene Substanz und die Höhe des Ausschlags ein Maß für ihre Konzentration in der Probe. „Wir unterscheiden hauptsächlich zwischen Messungen am Arbeitsplatz, im Büro sowie im Freien“, sagt Dirk RahnMarx, „prüfen beispielsweise aber auch Druckluft in der Produktion auf ihre Reinheit.“ Da wurde etwa ein Büro renoviert, und nach dem Wiedereinzug leidet die halbe Mannschaft an Kopfschmerzen. Liegen S C HU LT ER BLIC K da Schadstoffe in der Luft? Oder eine Chemiefabrik möchte über die gesetzlichen Vorschriften hinaus prüfen, was sich von ihrer Produktion noch in der Luft jenseits des Werkzauns befindet. Dann gibt es Menschen, die fest davon überzeugt sind, ihr Nachbar wolle sie durch „irgendwelche Ausdünstungen“ vergiften. In diesen und anderen Fällen kann der nach ISO 17025 akkreditierte Dräger-Analysenservice helfen. „Dafür lassen wir uns erst einmal sehr genau die Lage erklären“, schildert Rahn-Marx einen typischen Durchlauf. Diese Informationen – die im Firmengeschäft fast immer von Experten kommen – kreisen die Aufgabe und die gesuchte(n) Substanz(en) näher ein. Es ist ein Unterschied, ob man nach Formaldehyd, Benzol oder Terpenen sucht, die im Holzfußboden eines frisch renovierten Büros nachgewiesen werden sollen. Nach dieser Aufgabe richten die Dräger-Experten ihr Instrumentarium aus – und der Kunde weiß, welche Röhrchen oder Mess-Sets für seine Fragestellung die richtigen sind. Die Sammelröhrchen sind oft mit Aktivkohle oder anderen chemo-physikalischen „Schwämmen“ gefüllt. Methanol etwa oder die in der Kunststofffertigung anfallenden Ausgangsstoffe (Isocyanate) lassen sich hiermit nicht einfangen. Dazu sind andere poröse Materialien wie Silikagel notwendig – oder solche, bei denen ein Filter mit einer chemischen Substanz imprägniert wurde, damit der zu messende Stoff bereits bei der Probenahme zu stabilen Verbindungen reagiert (Chemisorption). Die Probe nimmt in den meisten Fällen der Kunde nach einer von zwei Methoden: > 49 SC HULT ER B L IC K ARB E I TS P L AT Z MES S UN GE N „Das ist mitunter so, als wolle man fünf Menschen innerhalb der gesamten Erdbevölkerung finden“ > Kurz- oder Langzeitmessung. Die Kurzzeitmethode wird vor allem an Arbeitsplätzen bei Konzentrationen im ppm-Bereich (parts per million: Teile je Million; Milligramm je Kubikmeter) genutzt. Hierzu wird das an beiden Enden verschmolzene Glasröhrchen mit einem speziellen Werkzeug geöffnet, das ähnlich wie ein Bleistiftanspitzer funktioniert. Das Röhrchen wird dann zur Probenahme in eine automatische Pumpe (z. B. Dräger X-act 5000) eingesetzt, die eine Durchleitung von definierten Luftmengen erlaubt. Anders ließe sich später die Konzentration des Schadstoffs nicht berechnen. Für die Langzeitmessung gibt es spezielle Diffusionssammler, die an beiden Enden mit Celluloseacetat verschlossen sind. „Durch diese Filter“, so Rahn-Marx, „diffundieren die Schadstoffe aus der Umgebungsluft auf die Aktivkohle – Ausdünstungen von Lacken zum Beispiel. Über die Messdauer können wir dann die Konzentration ermitteln.“ Die ORSA-Diffusionssammler werden mit einem Clip im Raum oder etwa am Jackenkragen befestigt. „Ist die Probe ordnungsgemäß gesammelt, schickt der Kunde sie nach Lübeck, wo sie mit einer individuellen Nummer erfasst und bei rund sechs Grad Celsius gelagert wird – damit sie frisch bleibt und sich in Gehalt wie Konzentration so gut wie nicht ändert.“ Im nächsten Schritt werden die Proben analysiert. Dazu wäscht man die gesammelten Substanzen aus der Aktivkohle und füllt eine definierte Menge dieser Flüssigkeit in kleine Glasbehälter, mit denen die Analysegeräte bestückt werden. Gaschromatografie mit Massenspektrometer, Thermodesorption, Flüssigchromato- 50 grafie und Infrarot-Spektrometrie zählen unter anderem zu den Verfahren, mit denen die Proben nach allen Regeln der Kunst und allen möglichen Molekülen durchleuchtet werden („Screening“). „Daraus resultieren dann oft lange Listen von Substanzen und ihren Konzentrationen“, zeigt Dirk Rahn-Marx auf eine EKG-Kurve (Chromatogramm), die das Ergebnis visualisiert. Das ist allerdings nur ein Zwischenergebnis. „Nun müssen wir, gestützt auf eine riesige Datenbank, alle Signale identifizieren und die Ergebnisse auf Plausibilität prüfen.“ Sind die Schadstoffe identifiziert und ihre Konzentrationen festgestellt, geht es an die Dokumentation. Auf die wiederum kann der Kunde sich verlassen, auch wenn ihn das Ergebnis mitunter überrascht. Mancher kann es nicht fassen So stellte der Analysenservice in einer Druckluftprobe Öl fest. Der Kompressor arbeitete definitiv ohne Schmierung, nur stand wegen dieser Messung die Produktion beim Kunden still. „Der wollte das Ergebnis nicht so recht glauben, ließ sie wiederholen – mit demselben Ergebnis“, erinnert sich Rahn-Marx. Schließlich seien sogar zwei Experten des Unternehmens zu Dräger gekommen und hätten den Analysenservice auditiert. Doch dort war alles in Ordnung. „Daraufhin“, sagt Rahn-Marx, „haben wir den Prozess der Probenahme beim Kunden genauer untersucht. Tatsächlich hatte er die Probe durch einen neuen Kunststoffschlauch gezogen, der noch Spuren ölähnlicher Dämpfe ausgaste. Und genau die haben wir gefunden!“ Als die Druckluft dann direkt am Ventil abgenommen und gemessen wurde, war alles in Ordnung. Vielschichtige Kunstwerke Das wirft einen Blick darauf, bei hochpräzisen Messungen immer die gesamte Prozesskette im Auge zu behalten. Und die fängt schon bei der Produktion der Sammelröhrchen an. Neben der vollautomatischen Fertigung werden einige noch per Hand gefüllt, etwa die mit Aktivkohle. Selbst die einfachen Röhrchen enthalten durch Halteelemente getrennte Sammel- und Kontrollschichten. Es gibt aber auch kompliziert aufgebaute Sammelsysteme, die zusätzlich einen imprägnierten Glasfaserfilter (u. a. für Formaldehyd) oder ein Molekularsieb (u. a. für Lachgas) enthalten. Manche von ihnen gleichen durch ihren vielschichtigen Aufbau wahren Kunstwerken. Ihre Produktion erfordert viel Erfahrung. „Einige Kollegen machen das schon seit Jahrzehnten“, sagt Rahn-Marx. Nach vielen Kontrollen werden die Enden der meisten Röhrchen mit einer zweimal zehnflammigen Maschine zugeschmolzen. Vor der Auslieferung folgen nochmals Kontrollen, damit die Voraussetzungen für hochpräzise Messungen gegeben sind. Selbst dann, wenn mancher mit den hieb- und stichfesten Ergebnissen nicht zufrieden ist, wie Dirk Rahn-Marx sich schmunzelnd erinnert: „Noch nie konnten wir nachweisen, dass jemand seinen Nachbarn mit Gasen vergiften wollte.“ Nils Schiffhauer Fotostrecke: So entsteht ein Dräger-Röhrchen www.draeger.com/395/analyse DRÄGERHEFT 395 | 3 / 2014 IMPRESSUM Herausgeber: Drägerwerk AG & Co. KGaA, Unternehmenskommunikation Anschrift der Redaktion: Moislinger Allee 53–55, 23558 Lübeck / [email protected], www.draeger.com Chefredaktion: Björn Wölke, Tel. +49 451 882 20 09, Fax +49 451 882 39 44 Redaktionelle Beratung: Nils Schiffhauer Artdirektion, Gestaltung, Bildredaktion und Koordination: Redaktion 4 GmbH Schlussredaktion: Lektornet GmbH Druck: Dräger+Wullenwever print+media Lübeck GmbH & Co. KG ISSN 1869-7275 Sachnummer: 90 70 384 Die rotierenden Röhrchen werden durch Gasflammen steigender Größe verschmolzen Die Beiträge im Drägerheft informieren über Produkte und deren Anwendungsmöglichkeiten im Allgemeinen. Sie haben nicht die Bedeutung, bestimmte Eigenschaften der Produkte oder deren Eignung für einen konkreten Einsatzzweck zuzusichern. Alle Fachkräfte werden aufgefordert, ausschließlich ihre durch Aus- und Fortbildung erworbenen Kenntnisse und praktischen Erfahrungen anzuwenden. Die Ansichten, Meinungen und Äußerungen der namentlich genannten Personen sowie der externen Autoren, die in den Texten zum Ausdruck kommen, entsprechen nicht notwendigerweise der Auffassung der Dräger werk AG & Co. KGaA. Es handelt sich ausschließlich um die Meinung der jeweiligen Personen. Nicht alle Produkte, die in dieser Zeitschrift genannt werden, sind weltweit erhältlich. Ausstattungspakete können sich von Land zu Land unterscheiden. Änderungen der Produkte bleiben vorbehalten. Die ak tuellen Informationen erhalten Sie bei Ihrer zuständigen Dräger-Vertretung. © Drägerwerk AG & Co. KGaA, 2014. Alle Rechte vorbehalten. Diese Veröffentlichung darf weder ganz noch teilweise ohne vorherige Zustimmung der Drägerwerk AG & Co. KGaA wiedergegeben werden, in einem Datensystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise, weder elektronisch noch mechanisch, durch Fotokopie, Aufnahme oder andere Art übertragen werden. Im Chromatogramm zeichnen sich viele kleine und große Zacken ab, denen dann Substanzen zugeordnet werden FOTOS: PATRICK OHLIGSCHLÄGER Im Gaschromatografen werden die Proben nach allen Regeln der Kunst durchleuchtet Die Dräger Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, ist Hersteller folgender Produkte: PSS 5000 (Seite 5), Probenahmen (Seite 48 ff.), X-act 5000 (Seite 50) sowie Interlock 7000. Die Dräger Medical GmbH, Lübeck, ist Hersteller des PulmoVista 500 (Seite 26), SmartSonar Sepsis (Seite 33 ff.) sowie des Intensive Care Managers (ICM; Seite 37) und Perseus A500 (Seite 47). Die Draeger Medical Systems, Inc. (Telford, USA), ist Hersteller der Inifinty Delta Monitore (Seite 16) und Innovian Solution Suite (Seite 37). www.draeger.com EIN BL IC K ALKOHOL-IN T E RLOCKS Handteil für die Bedienung und den Atemalkoholtest 1 7 4 5 6 3 Das Interlock 7000 prüft, wie tief ein Fahrer ins Glas geschaut hat. Je nach Promillegrenze lässt sich die Zündung einschalten und der Motor starten oder eben nicht. Die atemalkoholgesteuerte Wegfahrsperre besteht aus einem Handteil 1 und einer Steuereinheit 2 – optional sind ein GPRS-Modul und eine Kamera erhältlich. Selbst bei Temperaturen um den Gefrierpunkt ist das Gerät nach wenigen Sekunden einsatzbereit. Das biologisch abbaubare Mundstück 3 ist beheizt, wie auch der Sensor im Innern des Handteils mit seinem farbigen Display 4 samt Benutzerführung (derzeit in 23 Sprachen). Pustet der Fahrer in das Mundstück, leitet ein Balg die Atemprobe an den Sensor, ohne dass Speichel oder Essensreste darauf gelangen. Über die Öffnung 5 entweicht die Atemluft. Nach erfolgreicher Messung signalisieren farbige Leuchtdioden 6 parallel zu unterschiedlichen Signaltönen den jeweiligen Status: Freigabe (grün), Nicht-Freigabe (rot) oder die Aufforderung, den Test zu wiederholen (blau). Die Daten gelangen über ein Spiralkabel 7 zur Steuereinheit und werden dort verschlüsselt gespeichert. Die für alle Lichtverhältnisse geeignete Infrarotkamera (mit biometrischer Gesichtserkennung) stellt sicher, dass die Atemprobe ausschließlich vom Fahrersitz abgegeben wird. Aufnahmen während der Fahrt können einen möglichen Fahrerwechsel feststellen und gegebenenfalls Aktionen einleiten. Das GPRS-Modul eröffnet die Datenkommunikation mit einem Server über eine Mobilverbindung. Es enthält auch ein GPS-Modul zur Bestimmung des Standorts bei festgelegten Ereignissen, etwa einem Wiederholungstest. Das Modul kann zudem bestimmte Auffälligkeiten übertragen, die das Gerät erkennt. Entwickelt wurde das Interlock 7000 für den präventiven Einsatz in Lkw, Bussen und Taxen – aber auch für Teilnehmer sogenannter Trunkenheitsfahrerprogramme mit ihren zum Teil sehr individuellen Vorgaben. FOTO : DRÄGERWERK AG & CO. KGAA Warten oder starten? 2 52 FOTO : BLIND Die Steuereinheit übernimmt die Auswertung und einiges mehr DRÄGERHEFT 393 | 1 / 2013