Große Evaluation im Rahmen der Europaschulen in Hessen Thema
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Große Evaluation im Rahmen der Europaschulen in Hessen Thema
Große Evaluation im Rahmen der Europaschulen in Hessen Thema: Europäische Literatur des 19. Jahrhunderts Fach: Deutsch Zeit: Dezember 2006 bis Februar 2007 Verantwortliche Lehrkraft: Petra Dürholt Lerngruppe: Fachoberschule der Jahrgangsstufe 12 Bereich Gesundheit Anzahl der Schüler: 28 Schüler Bezug zum europäischen Curriculum: ……………………… Ort, Datum -Fachwissen -Werte und Sozialkompetenz -Intellektuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten -Organisationsspezifische Aufgaben …………………… Lehrkraft …………………… Schulleiter Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 3 2. Kurzfassung des Projektberichtes 4 3. Ziele 6 4. Rechtfertigung der Ziele 7 5. Beschreibung der Aktivitäten 7 5.1 Das Evaluationsthema im Kontext der Unterrichtsreihe 8 5.2 Themenüberblick 9 5.3 Intention 10 5.4 Durchführung des Projekts 10 6. Evaluationskriterien–Indikatoren-Methoden 13 7. Auswertung der Daten 14 8. Interpretation der Daten bezogen auf die Projektziele 23 9. Reflexion und Vorausblick 25 10. Literaturverzeichnis 26 11. Anhang 27 2 1. Einleitung Die Deutsche Literaturgeschichte umfasst ausgehend von der Literatur des frühen Mittelalters um 800 ungefähr 12 Jahrhunderte. In diesen Jahrhunderten existieren oft gleichzeitig verschiedene literarische Strömungen, die sich auch zeitlich oft nur sehr schwer eingrenzen lassen. Im Laufe der Schulzeit begegnen die Schüler immer wieder ‚klassischen Autoren’ aus verschiedenen Jahrhunderten, deren Werke sie jeweils isoliert betrachten. Der Autor wird biographisch erarbeitet und sein Werk gelesen und besprochen. Die Einordnung eines Werkes in historische Zusammenhänge und die Intention des Autors bleibt oft unberührt oder kann nur im besten Fall fächerübergreifend bearbeitet werden. Schüler erfahren die Literaturgeschichte demnach nicht als ein sich aus den historischen Gegebenheiten ergebendes Ganzes, sondern sie erleben sie selektiert. Zusammenhänge von gesellschaftlicher Situation und Literatur bleiben ihnen somit oft verborgen. Der Rahmenplan im Fach Deutsch der Oberstufe sieht die Auseinandersetzung mit der deutschen Literaturgeschichte vor, exemplarisch auf die Epochen der Aufklärung, der Klassik und der Romantik. Darum habe ich mich entschlossen, im Hinblick auf den Schulabschluss, den die Schüler1 der Fachoberschule 12 anstreben, ein gewisses Spektrum an Allgemeinbildung im Bereich der Literaturgeschichte zu vermitteln, das über die Erarbeitung dieser drei Epochen hinausgeht. Der sogenannte Blick über den ‚Tellerrand’ soll es sein, den die Schüler in der Unterrichtsreihe machen. Die Literatur, ganzheitlich betrachtet, soll den Schülern die Möglichkeit eröffnen, sich historische und gesellschaftspolitische Zusammenhänge zu erarbeiten und diese zu analysieren. Ein besseres ‚Weltverständnis’ und das Bewusstmachen von Ursache und Wirkung von Entwicklungsprozessen in einer Gesellschaft soll durch diese Art der Betrachtung erreicht werden. Exemplarisch an einer Epoche, die des 19. Jahrhunderts, in der auch verschiedene literarische Strömungen nebeneinanderher liefen, werde ich mit den Schülern den Blick der Literaturbetrachtung auf die europäische Länder ausweiten. Verband schon im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, des Enlightments und des Siècle de Lumières die Autoren Englands, Frankreichs, Italiens und Deutschlands thematisch in ihren Werken und in deren Bestrebungen auf die gesellschaftliche Entwicklung Einfluss zu nehmen, so sind diese Bestrebungen der Autoren des 19. Jahrhunderts noch deutlicher zu erkennen. Ausgehend von den Entwicklungen in Frankreich und der Französischen Revolution und der Industriellen Revolution in England konstituiert sich die europäische Literatur des 19. Jahrhunderts. In der nachfolgenden Evaluation steht demnach nicht die allgemeine Arbeit rund um die Literaturgeschichte im Vordergrund, sondern die Literatur des 19. Jahrhunderts, bzw. die Literatur des Realismus in Europa. 1 Die Bezeichnung ‚Schüler’ steht im Dienste der besseren Lesbarkeit für die weibliche und die männliche Form. 3 2. Kurzfassung des Projektberichtes Schule: Berufliche Schulen Bad Hersfeld Lerngruppe: Klasse 12 der Fachoberschule Gesundheit (25 Schülerinnen und 3 Schüler) Thema des Projektes: Europäische Literatur im 19. JahrhundertEin Vergleich Projektzeitraum: Dezember 2006 bis Februar 2007 Verantwortliche Lehrkraft: Petra Dürholt Thema der Unterrichtsreihe: Deutsche Literaturgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart Evaluationsfrage: Sind Schüler in der Lage nach der Erarbeitung einer Epoche, deren Autoren und deren Werke eine Talkrunde zu gestalten? Sind sie in der Lage, in Gestalt der Autoren, das Publikum zu informieren über ihre schriftstellerische Tätigkeit und ihre Wirkungsabsicht auf die Leserschaft ihrer Zeit? Bezug zum europäischen Curriculum: Bezug zum Lehrplan im Fach Deutsch: -Fachwissen (Literatur, Literaturbeschaffung, Umgang mit den modernen Medien) -Werte und Sozialkompetenz (Teamfähigkeit, Toleranz) -Intellektuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten (Informationsbeschaffung und deren Auswertung, Zusammenhänge und Entscheidungswege begreifen, Kulturelle Unterschiede, Vorstellung und Traditionen berücksichtigen und die Erweiterung im Bereich europäische Fremdsprachenkenntnisse) -Organisationsspezifische Aufgaben (Zeitmanagement) -Individuum im Spannungsfeld von Ideal und Wirklichkeit -Leben in der Gesellschaft (zwischenmenschliche Beziehungen, Rolle der Frau) 4 Erfolgskriterien: in der Gruppe gut zusammenarbeiten sich für Literatur begeistern und Spaß haben an der Arbeit Ergebnisse strukturiert präsentieren ‚Autorenrunde’ organisieren und durchführen Indikatoren: gute und produktive Zusammenarbeit in der Gruppe selbständige Erarbeitung der einzelnen Arbeitsergebnisse Talkrunde planen und durchführen Datenerhebung/Methoden: Blitzlicht, Interview, Fragebögen, Kreative Schreibanlässe, Leserbriefe, Beobachtungsbogen, Talkrunde Ergebnisse: Erarbeitung der Literaturgeschichte in Auszügen sehr gute Schülerbeteiligung gute Organisation der Arbeitsgruppen gute Zusammenarbeit in der Gruppe zufriedenstellende Präsentation der Ergebnisse zufriedenstellende ‚Autorenrunde’ 5 3. Ziele Übergeordnetes Ziel des Projektes soll die Kenntnis von gesellschaftlichen Entwicklungszusammenhängen der Länder Europas mittels literarischer Werke sein. Mittels europäischer Autoren und ihrer Werke sollen die Schüler Gemeinsamkeiten in der Literatur erkennen. Neben dem Erwerb dieser fachlichen Kompetenz sollen die Schüler durch den Einsatz und die Anwendung verschiedener Methoden ihre Methodenkompetenz erweitern. Die damit einhergehende gemeinsame Organisation von Themen und die Arbeit in der Gruppe soll des Weiteren auch die Sozialkompetenz der Schüler fördern. Im Einzelnen strebe ich an, dass die Schüler... ... eine Bibliothek und ihre Organisation kennen lernen und sich dort selbst zurechtfinden können. ... eine korrekte Literaturrecherche im Internet durchführen können. ... Strategien entwickeln, um eine Informationsflut zu reduzieren. ... Biographien von deutschen und europäischen Autoren kennen lernen und diese in deren beruflichen Werdegang einordnen können. ... sich mit verschiedenen literarischen Formen2 vertraut machen. ... ihr Wissen über die deutsche und europäische Literatur erweitern. ... eine Vorstellung von dem Begriff des ‚Europäischen’ entwickeln. ... verschiedene Sozialformen3 selbständig organisieren und durchführen können. ... verschiedene Formen der Präsentation von Arbeitsergebnissen kennen lernen und durchführen. ... eine Identifikationsleistung mit den Autoren erbringen und in der Rolle der Autoren deren Werke präsentieren können. dass ich als verantwortliche Lehrkraft... ... den Schülern so viel organisatorischen Freiraum lasse, dass diese eine Eigendynamik entwickeln können und somit eine Neugier auf das unbekannte Wissensfeld. … nur dann den Schülern Hilfestellung gebe, wenn sie es wünschen. … mich so weit es geht zurücknehmen kann und den Schüler selbständiges Arbeiten ermögliche. ... in der Lage bin, verschiedene Methoden der Evaluation umzusetzen. 2 3 Roman, Kurzgeschichte, Drama, Gedicht, Zeitungsartikel u.a. Einzelarbeit, Partnerarbeit und die Arbeit in einem Team 6 4. Rechtfertigung der Ziele Einen Überblick zu haben über europäische Literatur und ihre Autoren sowie deren Werke gehört zur Allgemeinbildung. Schüler, die die Fachhochschulreife anstreben, sollten ein Basiswissen im Bereich der deutschen und europäischen Literatur haben. Der Rahmenlehrplan Deutsch sieht für den Deutschunterricht in der Oberstufe Unterrichtssequenzen vor, bei denen die Schüler sich mit Literaturgeschichte beschäftigen und Zusammenhänge von Literatur und Wirklichkeit erkennen sollen. Gerade in einem sich immer weiter konstituierenden Europa ist es daher notwendig, dass sich die Schüler die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede der Staaten bewusst machen. Neben den Fächern Politik und Geschichte bietet es sich auch für den Deutschunterricht an, historische und gesellschaftliche Ereignisse in literarischer Darstellungsform zu erarbeiten. Zeitzeugenberichte in den verschiedensten literarischen Formen und auf unterschiedlichstem Niveau zu lesen, ermöglicht eine Erweiterung der fächerübergreifenden Kenntnisse. Thematisch einzuordnen ist diese Unterrichtsreihe in verschiedene unterrichtliche Vorgaben aus folgenden Bereichen: 1. 2. 3. Europäische Curriculum Rahmenlehrplan Deutsch für die Fachoberschule Schulprogramm der Beruflichen Schulen Bad Hersfeld 5. Beschreibung der Aktivitäten Unterrichtsgegenstand zu Beginn der Jahrgangsstufe 12 ist im Unterricht die deutsche Literaturgeschichte in Auszügen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Am Anfang der Unterrichtsreihe steht der Besuch und die Führung in der Schulmediothek an sowie die Information über Ausleihe und die Vergabe von Ausweisen an die Schüler. Der ‚althergebrachten’ und traditionellen Informationsbeschaffung steht somit auch in Zeiten von Internet nichts mehr im Wege. Diese Unterrichtsreihe eignet sich neben der fachlichen Beschäftigung mit dem Thema ebenso für die Erweiterung der Methodenkompetenz und der Sozialkompetenz, da die Schüler intensiver als sonst gefordert sind, sich in Arbeitsgruppen zu organisieren und ihre Ergebnisse adäquat zu präsentieren. Nach der Literatursichtung erarbeiten sich die Schüler in Partnerarbeit oder in Kleingruppen von maximal 4 Schülern die von ihnen gewählten Epochen. Wesentlich ist hier, dass die Schüler zunächst einen Epochenüberblick liefern. Der Epochenüberblick erfasst historische und politische Ereignisse, die gesellschaftliche Situation der Zeit sowie auch die technischen Entwicklungen des Jahrhunderts. Im Anschluss daran wählen die Schüler einen oder zwei Autoren, deren Leben und Werk sie ebenfalls den Mitschülern in Kurzform präsentieren. Am Ende von jeder Gruppenpräsentation steht die gemeinsame Erarbeitung eines literarischen Textauszuges in der gesamten Lerngruppe. Dies soll allen Schülern die Möglichkeit geben, auf minimalster Ebene einen Eindruck von der jeweiligen Epoche zu gewinnen. Hier werden die Arbeitsweisen der Autoren sowohl auf inhaltlicher Ebene als auch auf stilistischer Ebene betrachtet. Die Referate werden dann von den Schülern schriftlich, in Form einer Hausarbeit, abgegeben und von mir bewertet. Hierbei ist es wichtig, dass die Schüler auch die Methode des wissenschaftlichen Arbeitens, die korrekte Angabe der von ihnen verwendeten Literatur beherrschen. 7 Meine Aufgabe während der Unterrichtsreihe besteht darin, die Schüler bei der Findung und Sichtung des Materials zu unterstützen und ihnen Tipps bei der Auswahl der Autoren und deren Werke zu geben. Ebenso erfordert es meine Aufmerksamkeit, die Arbeit in den Gruppen zu beobachten und Schüler, die sich geschickt zurückziehen und eher ‚arbeiten’ lassen, in die Gruppe zu integrieren und mit Aufgaben zu versorgen, sofern dies die Gruppe nicht selbst leisten kann. Ebenso erfordert diese Arbeit von den Schülern ein hohes Maß an Selbstdisziplin. Ergänzend zu der Unterrichtseinheit bietet sich z.B. nach der Bearbeitung der Zeit der Weimarer Klassik eine Fahrt in das von uns 130 Kilometer entfernt liegende Weimar an. Dort bekommen die Schüler eine thematisch organisierte Stadtführung ‚Auf den Spuren der Klassiker’ und sie erhalten die Möglichkeit im Goethe Nationalmuseum oder auch im Schiller-Museum Literatur vor Ort zu erleben. 5.1 Das Evaluationsthema im Kontext der Unterrichtsreihe Als ich mich bereit erklärt habe, die große Evaluation in diesem Schuljahr zu schreiben, habe ich mir überlegt, welches Thema aus meinem Unterricht auch im Rahmen einer großen Evaluation für eine Europaschule geeignet sein könnte. Da ich mich persönlich für Literaturgeschichte interessiere und die Auseinandersetzung mit Ideal und Wirklichkeit in literarischen Texten im Lehrplan für den Deutschunterricht der 12. Klasse vorgesehen ist, habe ich mich entschieden, das Thema der Unterrichtsreihe auf die europäische Literaturgeschichte zu erweitern, exemplarisch an einer Epoche, die mir neben dem Zeitalter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts als eine dafür geeignete Epoche erscheint: Die Epoche des Realismus. Das 19. Jahrhundert ist ein Jahrhundert in Europa, das ausgehend von der Französischen Revolution 1789 die weitere Entwicklung in Europa prägt und sich in der Literatur der europäischen Autoren widerspiegelt. Im Gegensatz zu den vorangegangen Epochen und auch zu den sich noch anschließenden Epochen der Literaturgeschichte wird diese Epoche von allen Schülern erarbeitet. 8 5.2 I. Themenüberblick Gemeinsamer Einstieg: Arbeitsblatt: ‚Die Chronik der Sperlingsgasse’ (Wilhelm Raabe) II. Themenerarbeitung in der Gruppe und Präsentation vor der Klasse -Historischer Hintergrund -Industrielle Revolution und die technischen Entwicklungen -Erziehung und Familie im 19. Jahrhundert (Frauenrolle-Männerrolle, Bildungs,- und Gesundheitswesen) -Die Gesellschaft (Arbeitergesellschaft, Bürgertum und führende Schichten) -Autoren des 19. Jahrhunderts und ihre Werke Deutschland (deutschsprachiger Raum): Theodor Fontane, Gottfried Keller, Wilhelm Raabe England: Charles Dickens, Sir Walter Scott Frankreich: Honoré de Balzac, Gustave Flaubert, Stendhal Italien: Alessandro Manzoni (obwohl eher ein Romantiker) Spanien: Gustavo Adolfo Bécquer Dänemark: Hans Christian Andersen Norwegen: Henri Ibsen Auch die außerhalb Europas auf die Gesellschaft Einfluss nehmenden Autoren wie Fjodor Dostojewski, Lew Tolstoi werden genannt. III. Die Werke der einzelnen Autoren Lektüre der folgenden Romananfänge und deren Vergleich hinsichtlich Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Bewertung der schriftstellerischen Arbeitsweise IV. Verfilmungen und Hörbeispiele der einzelnen Werke Fontane: Effi Briest (Film), Irrungen-Wirrungen (Hörtext) Dickens: A Christmas Carol, Oliver Twist (Film) Keller: Kleider machen Leute (Hörtext) Balzac: Père Goriot (Film) Flaubert: Madame Bovary (Film) V. Vertiefung der Literatur von Theodor Fontane Begriff der Gesellschaftskritik bei Fontane Erziehung und Bildung Duellfrage bei Fontane ‚Muss es sein’? VI. ‚Tote leben länger’ – Schreiben hält fit. Planung und Durchführung einer Gesprächsrunde der Autoren 9 5.3 Intention Ein wichtiges Ziel der gesamten Unterrichtsreihe ist die Erarbeitung der einzelnen Epochen und der literarische Werke. Die Schüler sollen im Rahmen der Reihe erkennen, dass die literarischen Werke immer auch ein Zeitzeugnis darstellen, dass Schriftsteller immer auch Zeugen und Chronisten ihrer Epoche und der sich dort vollziehenden gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse sind. Vielleicht mehr noch, dass Schriftsteller am Fortgang ihrer Epoche beteiligt sind, indem sie Kritik üben und versuchen in ihren Möglichkeiten Einfluss zu nehmen. 5.4 Durchführung des Projekts Das Projekt wurde vom 20. 11. 2006 bis zum 06. Februar 2007 an der Europaschule in Bad Hersfeld mit einer 12. Klasse der Fachoberschule Fachrichtung Gesundheit durchgeführt. Abzüglich der Weihnachtsferien und der 14-tägigen Abschlussfahrt der Klasse umfasst das Projekt ungefähr eine Stundenzahl von 17 Doppelstunden. Nicht mit eingerechnet sind die Termine für die Filmvorführungen am Nachmittag und die Stunden außerhalb des Deutschunterrichts, in denen sich die Schüler in ihren Kleingruppen getroffen haben, um das ein oder andere Thema noch auszuarbeiten. Insgesamt waren 3 Schüler und 25 Schülerinnen im Alter von 17 bis 22 beteiligt. Am 20.11. 2006 startete das Projekt. Um sich der Epoche zu nähern, wählte ich einen gemeinsamen Einstieg in das Thema bei dem zunächst Begriffe wie ‚realistisch’ und ‚Realismus’ auf ihre Herkunft und ihren Gebrauch erörtert wurden. Mittels eines Arbeitsblattes4 wurde der Begriff auch thematisch eingeordnet. Als nächstes wurde mit den Schülern der weitere inhaltliche und organisatorische Verlauf vereinbart und die Zielsetzung besprochen. Am Ende des Projektes sollte eine Talkrunde stehen, in der die Autoren sich und ihre Werke kurz vorstellten. Anschließend sollte über Motivation und Absicht der Inhalte diskutiert werden. In den nächsten Stunden erarbeiteten die Schüler in Gruppenarbeit ihre Themen. Zunächst mussten sich die Schüler in Kleingruppen organisieren. Dies verlief reibungslos, da die Schüler gewohnt sind, in Gruppen zu arbeiten. Nachdem sich die Gruppen zusammengefunden hatten, begann die Materialsuche im Internet und in der Schulbibliothek. Ferner stellte ich den Schülern Material zur Verfügung. Am Ende der Stunden berichtete mir jeweils der Gruppensprecher über den Stand der Arbeit. Die Schüler präsentierten die Ergebnisse ihrer Arbeit auf Wandplakaten5 am 28.11.2006. Ergänzend zu ihrer Arbeit erhielten sie das Informationsblatt ‚Geschichte und Gesellschaft im Überblick’6. Nach der Gruppenarbeitsphase holte ich von den Schülern mittels eines Fragebogens7 ihre Einschätzung zur gemeinsamen Arbeit ein. 4 siehe Anhang siehe Auswertung der Daten Punkt I 6 siehe Anhang 7 siehe Auswertung der Daten Punkt II 5 10 In den darauf folgenden Doppelstunden haben wir die Wandplakate inhaltlich ausführlicher besprochen und vertiefend die Autoren und deren Werke betrachtet. Kurze Inhaltsangaben zu den Werken und Kurzbiographien wurden zu Hilfe genommen. Zur Überprüfung des bisher Gelernten teilte ich einen Kurztest8 aus. Nach dieser ersten Gruppenarbeitsphase entschlossen sich die Schüler nun in Partnerarbeit weiter zu arbeiten. Am 11. und 12. 12. 2006 hatte ich den Schülern verschiedene Romananfänge9 ausgeteilt. Hierbei stand die Erarbeitung der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede auf inhaltlicher wie auch auf sprachlicher und stilistischer Ebene im Vordergrund. Sie sollten das Thema des ersten Kapitels in Form einer Inhaltsangabe notieren, die dort beschriebenen Personen und deren Eigenschaften herausarbeiten und schließlich die detaillierte Beschreibung wahrnehmen. Die Ergebnisse wurden dann von den Schülern vorgetragen und in der Klasse besprochen. Um die Ergebnisse der Schüler zu bewerten, sammelte ich diese dann ein. Bei dieser Aufgabe erkannten die Schüler sehr gut, dass jeder Autor im ersten Kapitel seines Romans ein Spektrum an Personen vorstellt, dass er eine ausführliche Beschreibung der Landschaft oder aber eine ausführliche Schilderung der gesellschaftlichen Situation liefert. Vor allem aber fiel ihnen auf, wie detailliert die Autoren beschreiben. In den letzten beiden Doppelstunden vor den Weihnachtsferien, am 18. und 19. 12.2006 schauten wir die Literaturverfilmung ‚A Christmas Carol’ und ‚Oliver Twist’ von Charles Dickens. Für die Schüler war es sehr interessant, wie sie sagten, dass die Werke dieses Autors über seine Epoche hinaus immer wieder gelesen, ja sogar verfilmt werden und thematisch aktuell sind. Leseauftrag für die Ferien war die Lektüre von Effi Briest in Auszügen. Nach den Ferien am 15.01.2007 haben wir die Arbeitsergebnisse noch einmal in Erinnerung gerufen und sind dann zu Theodor Fontane und Effi Briest übergegangen. Nach einem Inhaltsüberblick des Romans stand die Frage nach der Gesellschaftskritik im Vordergrund. Mittels Mind-Map und Arbeitsblatt haben die Schüler erarbeitet, was der Begriff Gesellschaftskritik10 bedeutet; exemplarisch an der Duellfrage und an der Frage nach dem Ehrbegriff des Barons von Instetten im Roman11, die im Zentrum der nächsten Stunden am 16., 22. und 23. 01 2007 stand. Gemeinsam erarbeiteten die Schüler zunächst die Geschichte des Duells und den Duell-Codex12. Zum Abschluss sollten die Schüler einen Zeitungsbericht13 verfassen, in dem über das Duell zwischen Baron von Instetten und Major Crampas berichtet wurde. Sie sollten ferner das Ereignis kritisch betrachten und zum Duell an sich Stellung beziehen. Zur Abschlussbetrachtung des Romans und dem schriftstellerischen Selbstverständnisses Fontanes diente folgendes Zitat Fontanes, das die Schüler schriftlich interpretieren sollten14. „Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so dass wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren.“ 8 Arbeitsblatt. Testen Sie Ihr Wissen zur Gruppenarbeit. Die Romananfänge wurden von den Schülern nicht im Original gelesen, sondern in einer deutschen Übersetzung. Folgende Romananfänge gab ich in die Arbeitsgruppen: Dickens. Oliver Twist, Gustave Flaubert. Mme Bovary. Honoré de Balzac. Eine Frau von Dreißig Jahren. Theodor Fontane. Effi Briest und IrrungenWirrungen. Fjodor Dostojewski. Schuld und Sühne, Stendhal. Rot und Schwarz. 10 siehe Anhang 11 Theodor Fontane. Effi Briest. Siebenundzwanzigstes Kapitel. 12 Hergsell, Gustav. Der Duell-Codex und der Ehrenkodex Oder Regeln für Duellanten und Sekundanten im Duellieren. Aus dem Englischen. Dieses Buch beinhaltet zwei damals sehr bekannte Bücher über Duellregeln wie sie im 17. bis ins 19. Jahrhundert hinein - üblich waren. 9 13 14 siehe Auswertung der Daten (Zwei Zeitungsberichte unter Punkt III) siehe Auswertung der Daten (Vier Schülerinterpretationen unter Punkt IV) 11 In den nun folgenden zwei Doppelstunden (29. / 30. 01.2007) einigten sich die Schüler darauf, dass sie am Ende des Projekts nun wirklich die ‚Talkshow’ vorbereiten wollten. Ich hätte mir auch als Alternative und Evaluation des Projekts die Erstellung eines Readers vorstellen können, für den Fall, dass die Schüler sich am Ende doch noch gegen diese szenische Variante entscheiden könnten. Die Schüler entwickelten und klärten nun folgende Fragen und organisierten den groben Ablauf der Talkrunde: Welche Autoren nehmen an der Talkrunde teil? Wer schlüpft in die Rolle des Autors? Welche Aufgaben haben die Schüler, die keine Rolle übernehmen? Wird das Publikum mit eingebunden? Welche Themen sollen angesprochen werden? Wie soll der allgemeine Ablauf überhaupt sein? In welchem Rahmen soll die Talkrunde stattfinden? Wer moderiert die Runde? Sollen sich die ‚Autoren’ entsprechend kleiden? Sollen Textauszüge vorgetragen werden? Muss die Talkrunde wirklich damals stattfinden oder sitzen heute ‚tote Dichter’ zusammen, die ihre Werke auch auf DVD vorstellen? Welches Motto soll die Talkrunde haben? Am 05.02 2007 war es schließlich soweit und die Talkrunde unter dem Motto: ‚Tote leben länger – Schreiben hält fit’ konnte aufgezeichnet werden.15 Nach der Aufzeichnung der Autorenrunde, bei der die Schüler sichtlich viel Spaß hatten, schauten wir den Film in der darauffolgenden Stunde gemeinsam an. Im Anschluss an den Film konnte jeder im Blitzlichtverfahren seine Meinung zum Film kundtun. Eine schriftliche Einschätzung, eine kleine ‚Evaluation’16 der Schüler holte ich anschließend zusätzlich ein. 15 Auf den Titel legten sich die Schüler dann gemeinsam fest. Leider ist es an dieser Stelle nicht mölich, den Film zu zeigen. Bilder der Talkrunde sind jedoch Kapitel 7 zu sehen. 16 siehe Auswertung der Daten Punkt V 12 6. Evaluationskriterien / Indikatoren / Methoden Aus den formulierten Zielen ergeben sich mehrere Teilbereiche17 des zu evaluierenden Projektes. Das Projekt im Rahmen der Unterrichtsreihe wird nach dem folgendem Schema bewertet: Teilbereich I II Kriterien - Ziele Arbeitsergebnisse der Gruppenarbeit auf Wandplakaten übersichtlich und strukturiert darstellen Beurteilung der Zusammenarbeit in den Arbeitsgruppen III Einen Zeitungsbericht anfertigen und Stellung nehmen IV Das Zitat von Theodor Fontane in seiner Aussage erfassen V Beurteilung der Autorenrunde und die Einschätzung der Effektivität dieses Projekts Indikatoren Methoden Arbeitsergebnisse vor Gruppenpräsentation der Klasse frei vortra- Schülervorträge gen und anhand der Wandplakate erläutern Die Zusammenarbeit in der Gruppe einschätzen und bewerten Das Duell schriftlich beurteilen und kritisieren und die eigene Meinung formulieren Das Zitat des Autors zunächst in eigenen Worten wiedergeben und schließlich die Aussage des Autors in Zusammenhang bringen mit seinem Werk Pro und Contra zur Autorenrunde formulieren, Einschätzung der eigenen Leistung und eine kritische Stellungnahme verfassen 17 Fragebogen (Vordruck) Kurzreflexion (schriftlich) Kurzinterpretation (schriftlich) Blitzlicht/Gesprächsrunde/ Kurzkommentar zum Projekt Die Teilbereiche sind im Kapitel 7 (Auswertung und Darstellung von Daten) mit den Punkten I-V gekennzeichnet. 13 7. Auswertung und Darstellung von Daten Die Daten zur Evaluation des Projektes wurden mit Hilfe von Fragebögen, kurzen, schriftlichen Stellungnahmen der Schüler, mit schriftlichen Hausaufgaben, kreativen Schreibaufgaben und schließlich mit der Aufzeichnung der Autorenrunde am Ende des Projekts erhoben. Nicht alle Daten, die nötig waren für das Endergebnis, können im Folgenden dargestellt werden. I. Erstellen der Wandplakate Die von den Schülern erarbeiteten Wandplakate enthielten alle wesentlichen Informationen, die im Arbeitsauftrag gefordert waren. Bei der Präsentation der Arbeitsergebnisse war es für die Gruppe jedoch schwierig, nur anhand der Plakate ihren Mitschülern die wesentlichen Informationen zur weiterführenden Arbeit zu vermitteln. Hier hätten sie strukturierter und optisch optimal arbeiten müssen. Auch die einzelnen Teilbereiche hätten sie unter den Gruppenmitgliedern aufteilen müssen, sodass nicht nur ein Schüler vor der Klasse die Verantwortung für die Informationsvermittlung trägt. 14 II. Einschätzung der Gruppenarbeit 1. Das Arbeiten in der Gruppe gefällt mir gut. 14 12 10 8 6 4 2 0 Ic h s tim m e voll z u 2. Ic h s tim m e z u Ic h s tim m e nur teilw eis e zu Ic h s tim m e eher nic ht z u Ic h s tim m e überhaupt nic ht z u Durch die Gruppenarbeit verstehe ich Vieles besser. 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 Ich stimme voll zu 3. Ich stimme zu Ich stimme nur teilw eise zu Ich stimme eher nicht zu Ich stimme überhaupt nicht zu Oft haben wir bei der Gruppenarbeit Probleme miteinander 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 Ich stimme voll Ich stimme zu Ich stimme nur Ich stimme zu teilweise zu eher nicht zu 15 Ich stimme überhaupt nicht zu 4. Es gibt Personen in unserer Arbeitsgruppe, die sich vor der Arbeit drücken. 14 12 10 8 6 4 2 0 Ich stimme voll zu 5. Ich stimme zu Ich stimme nur teilweise zu Ich stimme eher nicht zu Ich stimme überhaupt nicht zu Die Arbeit in unserer Gruppe wurde gerecht verteilt. 12 10 8 6 4 2 0 Ich stimme voll zu 6. Ich stimme zu Ich stimme nur teilweise zu Ich stimme eher nicht zu Ich stimme überhaupt nicht zu Ich lerne lieber alleine. 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 Reihe1 Ich stimme voll zu Ich stimme Ich stimme Ich stimme Ich stimme zu nur teilweise eher nicht zu überhaupt nicht zu zu 16 7. Wenn ich Stoff lernen muss, dann kann ich das besser alleine als in der Gruppe. 8. 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 Ich stimme voll zu Ich stimme zu Ich stimme nur teilweise zu Ich stimme eher nicht zu Ich stimme überhaupt nicht zu Zu Beginn und am Ende des Projekts habe ich einen Fragebogen zur Gruppenarbeit ausgeteilt, wobei hier nur die Ergebnisse des ersten Fragebogens abgedruckt sind. Ich wollte anhand dieses Fragebogens die Schülermeinung zur Zusammenarbeit in der Gruppe einholen. Während die Gruppen arbeiteten stellte ich fest, dass es wie so häufig einige Schüler gab, die sich der Arbeit und der Verantwortung entzogen. Daraufhin sprach ich mit den Gruppensprechern, die mir meinen Eindruck bestätigten. Nach einer gemeinsamen ‚Krisensitzung’ in der Klasse entwickelte sich die Beteiligung der etwas ‚zurückhaltenden’ Schüler zum Positiven, was auch aus den Ergebnissen des Fragebogens hervorgeht. Der Großteil der Schüler war mit der Arbeit in der Gruppe und mit den Arbeitsergebnissen zufrieden. Es geht aber auch aus dem Fragebogen hervor, dass bei der Erarbeitung eines Themas viele mit der Gruppenarbeit gut zurecht kommen, einige aber doch, was das Lernen und Festigen des Stoffes angeht, dies lieber in Einzelarbeit machten. 17 III. Zeitungsbericht über das Duell zwischen Baron von Instetten und Major Crampas Exemplarisch werden hier zwei Zeitungsberichte vorgestellt. Eine Frage der Ehre - Duell Gestern, am 08. August, fand um 16 Uhr ein Duell zwischen Baron von Instetten und Major Crampas statt. Grund dafür war ein Briefwechsel aus vergangenen Tagen, der ein Liebesverhältnis zwischen Major Crampas, einem Freund der Familie und der jungen Frau von Instetten vermuten lässt. Nicht genug damit, dass Baron von Instetten, der diese Briefe fand, daraufhin seine Frau aus dem Haus wies, der uns allen bekannte, wohl recht konservativer Mann, sah sich auch noch in der Pflicht seine Ehre zu verteidigen und forderte den ehemaligen Liebhaber zum Duell. Dieses verlief tödlich für den Major. Für den Baron ist somit seine Ehre wieder hergestellt. Das ehemalige Familienglück jedoch ist zerstört. War es das wirklich wert??? Thema des Tages: Duell zwischen von Instetten und Major Crampas Heute Morgen um 6 Uhr auf einer Lichtung im Wald, in der Nähe von Stettin trugen Bedienstete des Majors von Crampas den Leichnam ihres Herren fort. Er unterlag in einem Duell, zu dem ihn sein alter Freund, Baron von Instetten, gefordert hatte. Dieser fand nach Jahren in einer alten Kommode Briefe des Majors an seine Ehefrau, aus der er schließen konnte, dass beide eine Romanze hatten. Diese Briefe können doch wohl nicht der Grund für eine solche Bluttat sein. Nein, so wie wir den Herrn Baron von Instetten kennen, vermuten wir eher, dass es sich in seiner Ehre gekränkt fühlte und diese rehabilitiert sein wollte. Recht antiquierte Vorstellungen. Mag für ihn seine Ehre auch wiederhergestellt sein, sein Familienglück und die Liebe seiner Frau sind für alle Zeit verloren. War dies ‚aller Ehre wert’ ??? Das Duell gilt leider immer noch als gerechtes Mittel, die Ehre wiederherzustellen, jedoch in der heutigen Zeit, in der die Gesellschaft ‚Gleichberechtigung’, ‚Freiheit’ und ‚Vernunft’ fordert, scheint diese Art der Ehrwiederherstellung doch recht veraltet und nicht zeitgemäß. Schreiben Sie uns Ihre Meinung zum Thema des Tages. 18 Nach ausführlicher Bearbeitung der Duellfrage in Effi Briest im Klassenverband wollte ich nun wissen, inwieweit sich die Schüler in die Problematik eingefunden hatten und wie sie diese vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen bewerten. Anhand der Kommentare, die leider weniger als von mir gewünscht dem Erscheinungsbild eines Zeitungsberichtes gleichen, kann ich erkennen, dass die Schüler die Sinnlosigkeit des Duells erfasst haben. Ich hätte aber mehr noch erwartet, dass auch historische und politische Zusammenhänge zum Tragen kommen, denn diese waren ebenfalls Teil des Unterrichts. Insgesamt ist dieses Arbeitsergebnis für mich nicht zufriedenstellend. IV. Nicht korrigierte Schülerinterpretationen des Zitats von Theodor Fontane über die Literatur seiner Zeit „Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so dass wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren.“ 1. Theodor spiegelt in seinem Roman Effi Briest das Leben in der damaligen Zeit wider. Im Mittelpunkt steht der Ehebruch Effis und die sich daraus für den E- hemann zwangläufig ergebende Duellfrage. Das Duell war zur Zeit Fontanes legitim, wenn auch gesellschaftlich nicht mehr zeitgemäß. Die Personen im Roman bringen Erlebnisse, Gefühle wie Wut und Trauer zum Ausdruck. Als Ehemann in der Funktion eines Landrats betrogen zu werden, war damals eine Schande für das Ansehen in der Gesellschaft. Liegt auch in Fontanes Roman der Zeitpunkt des Vergehens schon Jahre zurück und die Verjäh rungstheorie wird zur Sprache gebracht und somit die Kritik des Autors, so sieht der Leser jedoch an dem Vollzug des Duells als Wiedergutmachung empfangenen Unrechts. Die Absicht Fontanes könnte es gewesen sein, den Lesern zu vermitteln, dass eventuell die Gesellschaft nicht mehr weiß, ob die Personen in dem Buch fiktive Figuren waren oder ob es das Leben in der Zeit wirklich stattgefunden hat. 2. Der Autor beobachtet die Menschen seiner Zeit und beschreibt diese in seinen Romanen. Die Romane basieren also auf realen Erlebnissen. Ich interpretiere das Zitat von Fontane wie folgt: Fontane nimmt sich ein Ereignis aus dem realen Leben und bearbeitet es literarisch. Später wusste der Leser nicht mehr, ob er eine Geschichte gelesen hatte oder ob sich diese Geschichte nicht auch in seinem Umfeld hätte zuge tragen haben können. 3. Fontane will damit sagen, dass sein Roman so real erscheinen wird, dass der Leser später nicht mehr unterscheiden kann, ob es eine frei erfundene Ge- schichte ist, die er liest oder ob es ein Bericht über ein reales Ereignis ist. Die Gestalten in seinen Romanen haben reale Vorbilder, seine Themen basieren auf wirklichen Geschehnissen. Da Fontane ein gesellschaftskritischer Autor war, glaube ich, dass er das Leben seiner Zeit gut dargestellt hat und sich auch der Leser in der heutigen Zeit ein Bild dieser Epoche machen kann. 4. Fontane versetzt seine fiktiven Personen geschickt in reale Ereignisse und lässt sie Probleme auf dieselbe Art und Weise lösen wie die damalige Gesell schaft es getan hat. Er spiegelt die gesellschaftlichen Verhältnisse und Le bensumstände wider anhand seiner erdachten Figuren. Der Leser weiß schließ lich nicht mehr, ob diese Personen 19 wirklich gelebt haben oder ob sie erfunden aus dem realen Leben gegriffen sind sind, da die geschilderten Situationen wie Nachdem nun das Projekt thematisch zum Ende gekommen war und die Grundlagen für die Arbeit an der Autorenrunde geschaffen waren, wollte ich mittels eines Zitats von Fontane überprüfen, ob die Schüler die Intention der Autoren des Realismus bezüglich ihrer Figurenkonstellation und deren Funktion im Roman erfasst hatten. Zusammenfassend kann ich sagen, dass alle Schüler diese Erkenntnisleistung im Großen und Ganzen erreicht haben. V. Einige Schülermeinungen zur Autorenrunde ‚Tote leben länger – Schreiben hält fit’ Fragestellung an die Schüler: -Habt ihr euer Ziel erreicht, mittels einer Autorenrunde eure Arbeitsergebnisse noch einmal zu wiederholen und zu festigen? -Ist ein Film ein geeignetes Medium dafür? -Verbesserungsvorschläge eurerseits Ich finde den Film eigentlich ganz gut, weil vieles sehr spontan und lustig war. Ich denke, dass wir unser Ziel erreicht haben, denn durch den Film hat jeder etwas über die verschiedenen Autoren gehört. Mein einziger Verbesserungsvorschlag ist vielleicht noch freier zu reden und eventuell das Publikum mehr einzubinden. Eigentlich finde ich solche Filme nicht förderlich. Der Lernwert ist 0. Die Talkrunde hat mir gut gefallen. Wir haben einmal spielerisch etwas über die Autoren wiederholt. Ich finde da alle sehr gut, da alle gut mitgemacht haben. Eine abwechslungsreiche Art etwas zu lernen. Der Film hat mir etwas gebracht. Demnächst mehr verkleiden. Ich fand die Autorenrunde eigentlich ganz gut. Das Problem war nur, dass man einiges nicht gut verstehen konnte, da im Publikum oft gelacht wurde. Aber es war auch zu witzig, unsere Mitschüler in diesen Rollen zu sehen. Ich denke schon, dass wir unser Ziel erreicht haben. Auf diese Art und Weise haben wir noch einmal alle gelernten Informationen zu den Autoren wiederholt. Es hat viel Spaß gemacht und es war einmal etwas anderes. Die Idee, einen Film zu drehen, fand ich recht gut. Es war abwechslungsreich und eine gute Wiederholung des Stoffes. Auch, wenn ich mir nicht alles, was die Autoren sagten merken konnte, so habe ich mir doch wenigstens die Namen und einige Werke gemerkt. 20 Ich fand die Autorenrunde lustig. Was ich nicht so gut fand war, dass das Publikum wenig einbezogen wurde. Ebenso hätten wir auch mehr den Raum gestalten können. Doch es war einmal eine gute Abwechslung zum normalen Unterricht. Meiner Meinung nach war dieses Projekt eine gute Idee. Wir konnten uns selbständig vieles erarbeiten und zum Schluss haben wir mit dem Film noch einmal alles wiederholt, was wir gelernt haben. Wir haben viel Spaß dabei gehabt. Meiner Meinung nach wurde man mit diesem Projekt näher an die verschiedenen Autoren herangebracht. Ich habe viel mehr über die Autoren in den anderen Ländern gehört und es war interessant zu lesen, dass sich die Autoren aus verschiedenen Ländern doch alle mit der Situation in ihrem Land beschäftigt haben. Das Ziel, eine Autorenrunde zu gestalten haben wir erreicht, jedoch würde ich mich beim nächsten Mal besser vorbereiten. Der Film war eigentlich ganz in Ordnung, aber wir hätten alles noch viel interessanter gestalten können. Mir selber hat es Spaß gemacht in die Rolle eines Autors zu schlüpfen, auch wenn es mich einige Überwindung gekostet hat vor der Klasse in Verkleidung zu reden. Der Film war im Großen und Ganzen gut strukturiert und die Stimmung hat mir auch gut gefallen. Meine Aufregung sollte ich beim nächsten Mal besser beherrschen. Vielleicht hätten wir das Publikum mehr einbinden sollen. Ich fand die Autorenrunde gut, da es besser war als theoretischer Unterricht. Nicht gut fand ich, dass die Schüler, die keine Rolle hatten, zum Schluss weniger mitgemacht haben. Ich persönlich habe mein Ziel erreicht. Ich habe meinen Text gelernt und gut gespielt. Ich habe durch die Autorenrunde noch einmal die Autoren und ihre Werke wiederholen können. Demnächst würde ich mich mehr beteiligen. Vielleicht den Raum schöner gestalten. Es war toll, dass sich die Leute getraut haben, so etwas zu machen. Meiner Meinung nach ist nicht viel hängen geblieben. Ich konnte mir die Autoren nicht merken und auch nicht, was sie geschrieben haben. Die Art, wie wir alles wiederholt haben fand ich gut, den einen Film zu drehen war lustig und mal etwas anderes als ein Referat. Die Autoren haben ihre Rolle gut gespielt und viel Einsatz gezeigt. Schade, dass nur einige mitwirken konnten. Ich finde, dass wir unser Ziel erreicht haben. Es hat Spaß gemacht und wir konnten viel dabei lernen. Demnächst würde ich den Raum besser gestalten und das Publikum mehr einbinden. 21 Zu der Autorenrunde, der so genannten ‚Talkshow’ möchte ich positiv werten, dass sich die Schüler überhaupt bereit erklärten, diese Methode auszuprobieren. Ich wollte nun abschließend feststellen, inwieweit das erworbene Wissen zum Tragen kommt und ob die Schüler in der Lage sind, diese Autorenrunde komplett für eine Aufzeichnung zu gestalten. Im Zeitraum der Vorbereitung habe ich den Schülern demnach nur als Beratung zur Seite gestanden, wenn sie mich darum baten. Die Schüler organisierten selbständig, wer welchen Autor übernimmt, worüber jeder Autor sprechen sollte, welche Medien mitgebracht werden sollten etc. Es wurden Moderatoren gewählt, deren Aufgabe es sein sollte, die Sendung zu moderieren. Während meiner Beobachtungen stellte ich fest, dass sich die Schüler nicht einigen konnten, ob sie sich nun verkleiden sollten, um den Autor besser darzustellen. Auch über den Gesprächsrahmen der einzelnen Autoren waren sie sich nicht einig. Die Vorstellung der Autoren sollte nur kurz sein und von Kärtchen abgelesen werden. Bücherausgaben, DVDs zu den Werken sollte ich mitbringen, „das Publikum sprechen wir dann spontan an“, und „dann machen wir das schon“. Einen Probelauf, den ich vorgeschlagen hatte, wollten sie nicht machen, die Räumlichkeiten wurden auch nicht sonderlich verändert und die Schüler hielten sich nach zwei Doppelstunden zur Aufnahme bereit. Es war mir hier bereits klar, dass diese Vorbereitung nicht austreichend sein würde für ein optimales Ergebnis, aber es war mir wichtig, dass die Schüler im Nachhinein dies selbst kritisch beurteilten. Wie aus den Kommentaren hervorgeht, beurteilten alle Schüler die Szenerie als positiv. Schließlich bemängelten die Schüler dann selbst, dass sie nicht ausreichend vorbereitet waren, dass die Räumlichkeiten hätten dekoriert werden müssen und dass man das Publikum hätte mehr einbinden müssen. „Beim nächsten Mal machen wir das besser“, so die Mehrheit. 22 8. Interpretation der Daten bezogen auf die Projektziele Insgesamt ergibt sich aus den Daten zunächst eine zufriedenstellende Beurteilung aller am Projekt beteiligten Schüler. War die Erarbeitung der Textbeispiele doch häufig sehr anstrengend, waren die Schüler nicht müde, unbekannte Begriffe im Lexikon oder im Internet zu suchen oder auch unverständliche Textstellen zu erfragen. Die Lerngruppe hat sich recht homogen gezeigt, da sie alle ein gemeinsames Ziel, die Autorenrunde: vor Augen hatten. Ein Grund für die gute Atmosphäre war auch die meist selbständige Arbeit in den Gruppen, die nach anfänglichen Schwierigkeiten immer besser wurde. Ebenso bewerteten die Schüler auch die intensive Arbeit an einer Epoche als gut, da sie nun besser die ‚Zusammenhänge’ verstünden und die Arbeit eines Autors auch vor dem ‚Hintergrund seiner Generation’ betrachten würden18. Ferner waren sie auch schließlich in der Lage, die nicht so gut gelungenen Ergebnisse kritisch zu bewerten und sich konstruktiv zu äußern, indem sie Verbesserungsvorschläge machten. Bezogen auf die Ziele des Projekts interpretiere ich die Ergebnisse wie folgt: -Die gute Zusammenarbeit in der Gruppe konnte Teilergebnisse liefern und gut auf die ‚Autorenrunde’ vorbereiten. -Die Wandplakate blieben bis zum Schluss des Projekts in der Klasse hängen und waren somit eine ständige Gedankenstütze bei der Erarbeitung weiterer Lerninhalte. -Der von den Schülern verfasste Zeitungsartikel zeigt, dass sie die Kritik eines Autors an der gesellschaftlichen Situation mittels eines Romans verstanden haben, einschätzen und beurteilen können. -Die Interpretation des Zitats zeigt abschließend zum Thema, dass die Schüler nun Literatur sensibilisierter und kritischer betrachten können, da sie verschiedene Interpretationsmethoden wiederholt und angewandt haben. -Die Kommentare zur gefilmten Autorenrunde sind einerseits eine positive Bewertung der Schüler, ein Thema zunächst zu erarbeiten und die Arbeitsergebnisse einmal ‚spielerisch’ zu interpretieren, andererseits zeigen aber auch ihre Beurteilungen, dass sie festgestellt haben, dass es doch einiges an Vorbereitung und Übung mehr bedarf, um eine Talkrunde filmreif zu gestalten. Es zeigt, dass sie in der Lage sind, ihre Arbeit kritisch zu betrachten und konstruktive Verbesserungsvorschläge zu machen. 18 neben allen anderen Interpretationsmethoden, die sie bisher kennengelernt haben 23 9. Reflexion und Vorausblick Die Unterrichtsreihe Deutsche Literaturgeschichte im Überblick ist ein Bestandteil des Deutschunterrichts in der Oberstufe. Diese Unterrichtsreihe wird bis auf wenige Ausnahmen von den Schülern immer als sehr informativ empfunden und die Mehrzahl der Schüler zeigt sich interessiert im Umgang mit Texten aus anderen Epochen. Je nach Epoche wird ein weiterer Bereich neben der Literaturgeschichte erarbeitet, z.B. die Sozialgeschichte, Kunst oder Musik. Ebenso spielt gerade in den Klassen mit dem Schwerpunkt Gesundheit auch das Gesundheitswesen und die Hygienebedingungen in der Zeit eine große Rolle. Wenn auch alles nur ‚im Überblick’ betrachtet werden konnte und vieles in Form von Kurzvorträgen vorgestellt wurde, so erhielten die Schüler doch einen Eindruck und entwickelten eine Vorstellung von den Lebensbedingungen der und Arbeitsweisen der Schriftsteller anderer Jahrhunderte. Gerade in einer, über die Grenzen Deutschlands hinaus betrachteten Epoche erhielt auch der Begriff von ‚Europa’ für die Schüler eine andere Dimension. Das Unterrichtsprojekt wie oben dargestellt, eine Epoche ausführlich zu behandeln und diese Epoche auch noch auf andere Länder Europas auszuweiten ist von den Schülern insgesamt auch als positiv bewertet worden. Sie lernten einige Autoren näher kennen, dessen Romane sie bisher nur in Verfilmungen oder sogar in Walt Disney Animationen kannten. Ich musste jedoch feststellen, dass das Thema sehr umfangreich war und für die Schüler im Nachhinein an einigen Stellen sicherlich eine Überforderung darstellte. Daraus werde ich für den künftigen Unterricht meine Konsequenzen ziehen und zum Beispiel das Spektrum der europäischen Autoren, sofern ich wieder einmal einen Blick über den ‚Tellerrand’ wagen werde, auf drei Autoren begrenzen und diese umso intensiver bearbeiten. Die Lektüre der vielen Textauszüge, wenn auch leider nur in deutscher Übersetzung, hat nicht nur viel Zeit in Anspruch genommen. Die Sprache der Autoren, die Formulierungen und die Ausdrucksweise waren sicherlich manchmal doch recht schwierig. Auch die Erarbeitung der Biographien der Autoren stellte eine Überforderung an die Schüler dar, da sie die Informationen über die Personen auf ein wesentliches Minimum für die Mitschüler kürzen mussten. Wesentliches vom Unwesentlichen unterscheiden war recht schwierig. Überrascht war ich um so mehr, dass die Schüler nach all der Arbeit immer noch bereit waren, eine Autorenrunde, der sie anfangs spontan zugestimmt hatten, zu gestalten. Dies bedeutete schließlich, eine komplette Wiederholung des Stoffes und dessen Aufbereitung für eine moderne ‚Talkrunde’. Dass ich mich bei der Erarbeitung und Gestaltung der ‚Talkrunde’ zurückgenommen habe, sollte die Eigenständigkeit der Schüler fördern und ihnen eventuell zum Schluss auch zeigen, dass so eine Autorenrunde eben nicht so einfach zu gestalten ist. Ein Großteil der Schüler hatte sicherlich Spaß bei der Umsetzung der Autorenrunde. Einige aber haben sich der Arbeit entzogen und nur noch wenig zum gemeinsamen Ergebnis beigetragen. Eine andere Ergebnissicherung, ich erwähnte sie oben bereits, hätte die Erstellung eines Readers sein können. Ich habe vor einigen Jahren eine ‚Reise durch die deutsche Literaturgeschichte’ mit einer 10. Klasse des Gymnasialzweiges gemacht und damals diese Variante der Ergebnissicherung gewählt. Die Schüler, die dann anschließend die Oberstufe besuchten, berichteten mir, dass der von ihnen erstellte Reader zur Literaturgeschichte eine hilfreiche Grundlage bildete für die Arbeit im Leistungskurs Deutsch. Nun diesmal hatte ich mich anders entschieden und für die Schüler bot diese Art der Berabeitung auch eine Abwechslung und die Autorenrunde gab ihnen zum Schluss auch noch einmal das Gefühl, selbst etwas produziert zu haben. Die Unterrichtsreihe insgesamt und der ‚Ausflug’ ins europäische Ausland hat den Schülern und mir Spaß gemacht und das Ergebnis wird ihnen hoffentlich in guter Erinnerung bleiben. 24 25 10. Literaturverzeichnis Da für dieses Projekt viele verschiedene literarische Ausgaben der einzelnen Werke (Romane) verwendet wurden, ebenso verschiedene Nachschlagewerke und Biographien in Gebrauch waren, werde ich in der Literaturliste nur die Literatur auflisten, die sich zur Bearbeitung des Themas für den Unterricht mit Schülern eignet. Coen, Annette: Effi Briest. Literaturkartei. Verlag an der Ruhr. 1999 Diekhanns, Johannes (Hrsg.) Einfach Deutsch. Aktiv lesen. Methodentraining. Schöningh. 2004 Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Kröner. 1992, S. 113 - 127 Geisen, Richard: Grundwissen Medien. Klett. 2000 Hug, Wolfgang u.a. (Hrsg.) : Geschichtliche Weltkunde Band 2. Diesterweg. 1980 Knöbl, Stephan (Hrsg.): Blickfeld Deutsch. Ein Arbeitsbuch für die Oberstufe. Schöningh. 2002 Lindenhahn, Reinhard (Hrsg.): Arbeitshefte zur LiteraturgeschichteRealismus- Texte und Übungen. Cornelsen 2001 Lorenz, Otto: Kleines Lexikon literarischer Grundbegriffe. UTB. 1992 von Borries, Ernst und Erika (Hrsg.): Weber-Kellermann, Ingeborg: Deutsche Literaturgeschichte in 12 Bänden. dtv. 1991. Band 7. Die deutsche Familie. Suhrkamp. 1998 26 11. Anhang 27 Die Chronik der Sperlingsgasse (Wilhelm Raabe) 1. Was verbinden Sie mit einer Chronik? y 2. Welche Informationen erwarten Sie, wenn Sie den Werktitel "Die Chronik der Sperlingsgasse" hören? DIE CHRONIK DER SPERLINGSGASSE (WILHELM RAABE) Unter dem Pseudonym Jacob Corvinus erscheint 1857, der erste Roman des jungen Wilhelm Raabe (1831-1910). "Die Chronik der Sperlingsgasse", die Raabe während seines Studienaufenthaltes in Berlin, teilweise in den Hörsälen der dortigen Philosophischen Fakultät, schrieb, wurde ein ähnlicher Publikumsliebling wie Freytags Roman und begründete, zusammen mit dem "Hungerpastor" (1864) und anderen frühen Werken, den guten Ruf, den der Autor sein Leben lang bei seiner Lesergemeinde genoss. Auch der finanzielle Erfolg, den ihm "Die Chronik der Sperlingsgasse" bescherte, bewog Raabe schnell dazu, eine Existenz als Schriftsteller zu wagen. So veröffentlichte er im Laufe seines Lebens rund 60 Romane und längere Erzählungen von durchaus unterschiedlichem Wert. Der "Federansetzungstag" für sein Erstlingswerk ist der 15. November 1854 - sowohl der Autor Raabe als auch seine kauzige Erzählerfigur, der alte Gelehrte Johannes Wachholder, nehmen die Schreibarbeit auf. Einen Winter und ein Frühjahr lang wird Wachholder aus seiner Dachkammer heraus die Ereignisse in der kleinen Sperlingsgasse, einer Berliner Vorstadtstraße, aufzeichnen und damit ein realistisches Bild der politischen und gesellschaftlichen Situation der Zeit entwerfen. Gleichzeitig werden die tagebuchartigen Einträge durchwoben und durch längere Rückblicke in die Vergangenheit, durch eingestreute Gedichte, Lieder und Briefe, durch die komplexe Verstrickung von Motiven und Lebensgeschichten der erzählten Figuren. Die Fülle der Episoden und Details wird einzig durch den Chronisten, durch seine Beobachtungen und Erinnerungen, durch sein Nebeneinander von Gestern und Heute zusammengehalten, sein Studierzimmerausschnitt begrenzt den Blick auf das Weltganze in "diesem Traum- und Bilderbuch“ der Sperlingsgasse. 28 29 Theodor Fontane Irrungen, Wirrungen Roman Erstes Kapitel An dem Schnittpunkte von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber dem »Zoologischen«, befand sich in der Mitte der siebziger Jahre noch eine große, feldeinwärts sich erstreckende Gärtnerei, deren kleines, dreifenstriges, in einem Vorgärtchen um etwa hundert Schritte zurückgelegenes Wohnhaus, trotz aller Kleinheit und Zurückgezogenheit, von der vorübergehenden Straße her sehr wohl erkannt werden konnte. Was aber sonst noch zu dem Gesamtgewese der Gärtnerei gehörte, ja die recht eigentliche Hauptsache derselben ausmachte, war durch eben dies kleine Wohnhaus wie durch eine Kulisse versteckt, und nur ein rot und grün gestrichenes Holztürmchen mit einem halb weggebrochenen Zifferblatt unter der Turmspitze (von Uhr selbst keine Rede) ließ vermuten, daß hinter dieser Kulisse noch etwas anderes verborgen sein müsse, welche Vermutung denn auch in einer von Zeit zu Zeit aufsteigenden, das Türmchen umschwärmenden Taubenschar und mehr noch in einem gelegentlichen Hundegeblaff ihre Bestätigung fand. Wo dieser Hund eigentlich steckte, das entzog sich freilich der Wahrnehmung, trotzdem die hart an der linken Ecke gelegene, von früh bis spät aufstehende Haustür einen Blick auf ein Stückchen Hofraum gestattete. Überhaupt schien sich nichts mit Absicht verbergen zu wollen, und doch mußte jeder, der zu Beginn unserer Erzählung des Weges kam, sich an dem Anblick des dreifenstrigen Häuschens und einiger im Vorgarten stehenden Obstbäume genügen lassen. Es war die Woche nach Pfingsten, die Zeit der langen Tage, deren blendendes Licht mitunter kein Ende nehmen wollte. Heut' aber stand die Sonne schon hinter dem Wilmersdorfer Kirchturm, und statt der Strahlen, die sie den ganzen Tag über herabgeschickt hatte, lagen bereits abendliche Schatten in dem Vorgarten, dessen halb märchenhafte Stille nur noch von der Stille des von der alten Frau Nimptsch und ihrer Pflegetochter Lene mietweise bewohnten Häuschens übertroffen wurde. Frau Nimptsch selbst aber saß wie gewöhnlich an dem großen, kaum fußhohen Herd ihres die ganze Hausfront einnehmenden Vorderzimmers und sah, hockend und vorgebeugt, auf einen rußigen alten Teekessel, dessen Deckel, trotzdem der Wrasen auch vorn aus der Tülle quoll, beständig hin und her klapperte. Dabei hielt die Alte beide Hände gegen die Glut und war so versunken in ihre Betrachtungen und Träumereien, daß sie nicht hörte, wie die nach dem Flur hinausführende Tür aufging und eine robuste Frauensperson ziemlich geräuschvoll eintrat. Erst als diese letztre sich geräuspert und ihre Freundin und Nachbarin, eben unsre Frau Nimptsch, mit einer gewissen Herzlichkeit bei Namen genannt hatte, wandte sich diese nach rückwärts und sagte nun auch ihrerseits freundlich und mit einem Anfluge von Schelmerei: »Na, das is recht, liebe Frau Dörr, daß Sie mal wieder rüberkommen. Und noch dazu vons ›Schloß‹. Denn ein Schloß is es und bleibt es. Hat ja 'nen Turm. Un nu setzen Sie sich... Ihren lieben Mann hab' ich eben weggehen sehen. Und muß auch. Is ja heute sein Kegelabend.« Die so freundlich als Frau Dörr Begrüßte war nicht bloß eine robuste, sondern vor allem auch eine sehr stattlich aussehende Frau, die, neben dem Eindruck des Gütigen und Zuverlässigen, zugleich den einer besonderen Beschränktheit machte. Die Nimptsch indessen nahm sichtlich keinen Anstoß daran und wiederholte nur: »Ja, sein Kegelabend. Aber, was ich sagen wollte, liebe Frau Dörr, mit Dörren seinen Hut, das geht nicht mehr. Der is ja schon fuchsblank und eigentlich schimpfierlich. Sie müssen ihn ihm wegnehmen und einen andern hinstellen. Vielleicht merkt er es nich... Und nu rücken Sie ran hier, liebe Frau Dörr, oder lieber da drüben auf die Hutsche... Lene, na Sie wissen ja, is ausgeflogen un hat mich mal wieder in Stich gelassen.« »Er war woll hier?« 30 »Freilich war er. Und beide sind nu ein bißchen auf Wilmersdorf zu; den Fußweg lang, da kommt keiner. Aber jeden Augenblick können sie wieder hier sein.« »Na, da will ich doch lieber gehn.« »O nich doch, liebe Frau Dörr. Er bleibt ja nich. Und wenn er auch bliebe, Sie wissen ja, der is nicht so.« »Weiß, weiß. Und wie steht es denn?« »Ja, wie soll es stehn? Ich glaube, sie denkt so was, wenn sie's auch nich wahr haben will, und bildet sich was ein.« »O du meine Güte«, sagte Frau Dörr, während sie, statt der ihr angebotenen Fußbank, einen etwas höheren Schemel heranschob. »O du meine Güte, denn is es schlimm. Immer wenn das Einbilden anfängt, fängt auch das Schlimme an. Das is wie Amen in der Kirche. Sehen Sie, liebe Frau Nimptsch, mit mir war es ja eigentlich ebenso, man bloß nichts von Einbildung. Und bloß darum war es auch wieder ganz anders.« Frau Nimptsch verstand augenscheinlich nicht recht, was die Dörr meinte, weshalb diese fortfuhr: »Und weil ich mir nie was in'n Kopp setzte, darum ging es immer ganz glatt und gut, und ich habe nu Dörren. Na, viel is es nich, aber es is doch was Anständiges, und man kann sich überall sehen lassen. Und drum bin ich auch in die Kirche mit ihm gefahren und nich bloß Standesamt. Bei Standesamt reden sie immer noch.« Die Nimptsch nickte. Frau Dörr aber wiederholte: »Ja, in die Kirche, in die Matthäikirche un bei Büchseln. Aber was ich eigentlich sagen wollte, sehen Sie, liebe Frau Nimptsch, ich war ja woll eigentlich größer und anziehlicher als die Lene, un wenn ich auch nicht hübscher war (denn so was kann man nie recht wissen, un die Geschmäcker sind so verschieden), so war ich doch so mehr im Vollen, un das mögen manche. Ja, so viel is richtig. Aber wenn ich auch sozusagen fester war un mehr im Gewicht fiel un so was hatte, nu ja, ich hatte so was, so war ich doch immer man ganz einfach un beinah simpel, un was nu er war, mein Graf, mit seine fuffzig aufm Puckel, na, der war auch man ganz simpel und bloß immer kreuzfidel un unanständig. Und da reichen ja keine hundert Mal, daß ich ihm gesagt habe: ›Ne, ne, Graf, das geht nicht, so was verbitt' ich mir...‹ Und immer die Alten sind so. Und ich sage bloß, liebe Frau Nimptsch, Sie können sich so was gar nich denken. Gräßlich war es. Und wenn ich mir nu der Lene ihren Baron ansehe, denn schämt es mir immer noch, wenn ich denke, wie meiner war. Und nu gar erst die Lene selber. Jott, ein Engel is sie woll grade auch nich, aber propper und fleißig un kann alles und is für Ordnung un fürs Reelle. Und sehen Sie, liebe Frau Nimptsch, das is grade das Traurige. Was da so rumfliegt, heute hier un morgen da, na, das kommt nicht um, das fällt wie die Katz immer wieder auf die vier Beine, aber so'n gutes Kind, das alles ernsthaft nimmt und alles aus Liebe tut, ja, das ist schlimm... Oder vielleicht is es auch nich so schlimm; Sie haben sie ja bloß angenommen, un is nich Ihr eigen Fleisch und Blut, un vielleicht is es eine Prinzessin oder so was.« Frau Nimptsch schüttelte bei dieser Vermutung den Kopf und schien antworten zu wollen. Aber die Dörr war schon aufgestanden und sagte, während sie den Gartensteig hinuntersah: »Gott, da kommen sie. Und bloß in Zivil, un Rock un Hose ganz egal. Aber man sieht es doch! Und nu sagt er ihr was ins Ohr, und sie lacht so vor sich hin. Aber ganz rot is sie geworden... Und nu geht er. Und nu... wahrhaftig, ich glaube, er dreht noch mal um. Nei, nei, er grüßt bloß noch mal, und sie wirft ihm Kußfinger zu... Ja, das glaub' ich; so was lass' ich mir gefallen... Nei, so war meiner nich.« Frau Dörr sprach noch weiter, bis Lene kam und die beiden Frauen begrüßte. 31 Effi Briest Theodor Fontane Erstes Kapitel In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung und Lage genau dem Seitenflügel entsprechend, lief eine ganz in kleinblättrigem Efeu stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen weißgestrichenen Eisentür unterbrochene Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit seinem blitzenden, weil neuerdings erst wieder vergoldeten Wetterhahn aufragte. Fronthaus, Seitenflügel und Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschließendes Hufeisen, an dessen offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und angekettetem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren horizontal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei Stricken hing - die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend. Zwischen Teich und Rondell aber und die Schaukel halb versteckend standen ein paar mächtige alte Platanen. Auch die Front des Herrenhauses - eine mit Aloekübeln und ein paar Gartenstühlen besetzte Rampe - gewährte bei bewölktem Himmel einen angenehmen und zugleich allerlei Zerstreuung bietenden Aufenthalt; an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz entschieden bevorzugt, besonders von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute wieder auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange saßen, in ihrem Rücken ein paar offene, von wildem Wein umrankte Fenster, neben sich eine vorspringende kleine Treppe, deren vier Steinstufen vom Garten aus in das Hochparterre des Seitenflügels hinaufführten. Beide, Mutter und Tochter, waren fleißig bei der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten zusammenzusetzenden Altarteppichs galt; ungezählte Wollsträhnen und Seidendocken lagen auf einem großen, runden Tisch bunt durcheinander, dazwischen, noch vom Lunch her, ein paar Dessertteller und eine mit großen schönen Stachelbeeren gefüllte Majolikaschale. Rasch und sicher ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber während die Mutter kein Auge von der Arbeit ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi führte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik durchzumachen. Es war ersichtlich, daß sie sich diesen absichtlich ein wenig ins Komische gezogenen Übungen mit ganz besonderer Liebe hingab, und wenn sie dann so dastand und, langsam die Arme hebend, die Handflächen hoch über dem Kopf zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit auf, aber immer nur flüchtig und verstohlen, weil sie nicht zeigen wollte, wie entzückend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung mütterlichen Stolzes sie voll berechtigt war. Effi trug ein blau und weiß gestreiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid, dem erst ein fest zusammengezogener, bronzefarbener Ledergürtel die Taille gab; der Hals war frei, und über Schulter und Nacken fiel ein breiter Matrosenkragen. In allem, was sie tat, paarten sich Übermut und Grazie, während ihre lachenden braunen Augen eine große, natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte verrieten. Man nannte sie die »Kleine«, was sie sich nur gefallen lassen mußte, weil die schöne, schlanke Mama noch um eine Handbreit höher war. Eben hatte sich Effi wieder erhoben, um abwechselnd nach links und rechts ihre turnerischen Drehungen zu machen, als die von ihrer Stickerei gerade wieder aufblickende Mama ihr zurief: »Effi, eigentlich hättest du doch wohl Kunstreiterin werden müssen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich glaube beinah, daß du so was möchtest.« »Vielleicht, Mama. Aber wenn es so wäre, wer wäre schuld? Von wem hab ich es? Doch nur von dir. Oder 32 meinst du, von Papa? Da mußt du nun selber lachen. Und dann, warum steckst du mich in diesen Hänger, in diesen Jungenkittel? Mitunter denk ich, ich komme noch wieder in kurze Kleider. Und wenn ich die erst wiederhabe, dann knicks ich auch wieder wie ein Backfisch, und wenn dann die Rathenower herüberkommen, setze ich mich auf Oberst Goetzes Schoß und reite hopp, hopp. Warum auch nicht? Drei Viertel ist er Onkel und nur ein Viertel Courmacher. Du bist schuld. Warum kriege ich keine Staatskleider? Warum machst du keine Dame aus mir?« »Möchtest du's ?« »Nein.« Und dabei lief sie auf die Mama zu und umarmte sie stürmisch und küßte sie. »Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer, wenn ich dich so sehe ... « Und die Mama schien ernstlich willens, in Äußerung ihrer Sorgen und Ängste fortzufahren. Aber sie kam nicht weit damit, weil in ebendiesem Augenblick drei junge Mädchen aus der kleinen, in der Kirchhofsmauer angebrachten Eisentür in den Garten eintraten und einen Kiesweg entlang auf das Rondell und die Sonnenuhr zuschritten. Alle drei grüßten mit ihren Sonnenschirmen zu Effi herüber und eilten dann auf Frau von Briest zu, um dieser die Hand zu küssen. Diese tat rasch ein paar Fragen und lud dann die Mädchen ein, ihnen oder doch wenigstens Effi auf eine halbe Stunde Gesellschaft zu leisten. »Ich habe ohnehin noch zu tun, und junges Volk ist am liebsten unter sich. Gehabt euch wohl.« Und dabei stieg sie die vom Garten in den Seitenflügel führende Steintreppe hinauf. Und da war nun die Jugend wirklich allein. Zwei der jungen Mädchen - kleine, rundliche Persönchen, zu deren krausem, rotblondem Haar ihre Sommersprossen und ihre gute Laune ganz vorzüglich paßten - waren Töchter des auf Hansa, Skandinavien und Fritz Reuter eingeschworenen Kantors Jahnke, der denn auch, unter Anlehnung an seinen mecklenburgischen Landsmann und Lieblingsdichter und nach dem Vorbilde von Mining und Lining, seinen eigenen Zwillingen die Namen Bertha und Hertha gegeben hatte. Die dritte junge Dame war Hulda Niemeyer, Pastor Niemeyers einziges Kind; sie war damenhafter als die beiden anderen, dafür aber langweilig und eingebildet, eine lymphatische Blondine, mit etwas vorspringenden, blöden Augen, die trotzdem beständig nach was zu suchen schienen, weshalb denn auch Klitzing von den Husaren gesagt hatte: »Sieht sie nicht aus, als erwarte sie jeden Augenblick den Engel Gabriel?« Effi fand, daß der etwas kritische Klitzing nur zu sehr recht habe, vermied es aber trotzdem, einen Unterschied zwischen den drei Freundinnen zu machen. Am wenigsten war ihr in diesem Augenblick danach zu Sinn, und während sie die Arme auf den Tisch stemmte, sagte sie: »Diese langweilige Stickerei. Gott sei Dank, daß ihr da seid.« »Aber deine Mama haben wir vertrieben«, sagte Hulda. »Nicht doch. Wie sie euch schon sagte, sie wäre doch gegangen; sie erwartet nämlich Besuch, einen alten Freund aus ihren Mädchentagen her, von dem ich euch nachher erzählen muß, eine Liebesgeschichte mit Held und Heldin und zuletzt mit Entsagung. Ihr werdet Augen machen und euch wundern. Übrigens habe ich Mamas alten Freund schon drüben in Schwantikow gesehen; er ist Landrat, gute Figur und sehr männlich. « »Das ist die Hauptsache«, sagte Hertha. »Freilich ist das die Hauptsache, 'Weiber weiblich, Männer männlich' - das ist, wie ihr wißt, einer von Papas Lieblingssätzen. Und nun helft mir erst Ordnung schaffen auf dem Tisch hier, sonst gibt es wieder eine Strafpredigt.« Im Nu waren die Docken in den Korb gepackt, und als alle wieder saßen, sagte Hulda: »Nun aber, Effi, nun ist es Zeit, nun die Liebesgeschichte mit Entsagung. Oder ist es nicht so schlimm? « »Eine Geschichte mit Entsagung ist nie schlimm. Aber ehe Hertha nicht von den Stachelbeeren genommen, eher kann ich nicht anfangen - sie läßt ja kein Auge davon. Übrigens nimm, soviel du willst, wir können ja hinterher neue pflücken; nur wirf die Schalen 33 weit weg oder noch besser, lege sie hier auf die Zeitungsbeilage, wir machen dann eine Tüte daraus und schaffen alles beiseite. Mama kann es nicht leiden, wenn die Schlusen so überall herumliegen, und sagt immer, man könne dabei ausgleiten und ein Bein brechen.« »Glaub ich nicht«, sagte Hertha, während sie den Stachelbeeren fleißig zusprach. »Ich auch nicht«, bestätigte Effi. »Denkt doch mal nach, ich falle jeden Tag wenigstens zwei-, dreimal, und noch ist mir nichts gebrochen. Was ein richtiges Bein ist, das bricht nicht so leicht, meines gewiß nicht und deines auch nicht, Hertha. Was meinst du, Hulda?« »Man soll sein Schicksal nicht versuchen; Hochmut kommt vor dem Fall.« »Immer Gouvernante; du bist doch die geborene alte Jungfer.« »Und hoffe mich doch noch zu verheiraten. Und vielleicht eher als du.« »Meinetwegen. Denkst du, daß ich darauf warte? Das fehlte noch. Übrigens, ich kriege schon einen und vielleicht bald. Da ist mir nicht bange. Neulich erst hat mir der kleine Ventivegni von drüben gesagt: 'Fräulein Effi, was gilt die Wette, wir sind hier noch in diesem Jahre zu Polterabend und Hochzeit.'« »Und was sagtest du da?« »'Wohl möglich', sagte ich, 'wohl möglich; Hulda ist die Älteste und kann sich jeden Tag verheiraten.' Aber er wollte davon nichts wissen und sagte: 'Nein, bei einer anderen jungen Dame, die geradeso brünett ist, wie Fräulein Hulda blond ist.' Und dabei sah er mich ganz ernsthaft an... Aber ich komme vom Hundertsten aufs Tausendste und vergesse die Geschichte.« »Ja, du brichst immer wieder ab; am Ende willst du nicht.« »Oh, ich will schon, aber freilich, ich breche immer wieder ab, weil es alles ein bißchen sonderbar ist, ja beinah romantisch.« »Aber du sagtest doch, er sei Landrat.« »Allerdings, Landrat. Und er heißt Geert von Innstetten, Baron von Innstetten.« Alle drei lachten. »Warum lacht ihr?« sagte Effi pikiert. »Was soll das heißen?« »Ach, Effi, wir wollen dich ja nicht beleidigen und auch den Baron nicht. Innstetten, sagtest du? Und Geert? So heißt doch hier kein Mensch. Freilich, die adeligen Namen haben oft so was Komisches.« »Ja, meine Liebe, das haben sie. Dafür sind es eben Adelige. Die dürfen sich das gönnen, und je weiter zurück, ich meine der Zeit nach, desto mehr dürfen sie sich's gönnen. Aber davon versteht ihr nichts, was ihr mir nicht übelnehmen dürft. Wir bleiben doch gute Freunde. Geert von Innstetten also und Baron. Er ist geradeso alt wie Mama, auf den Tag.« »Und wie alt ist denn eigentlich deine Mama?« »Achtunddreißig.« »Ein schönes Alter.« »Ist es auch, namentlich wenn man noch so aussieht wie die Mama. Sie ist doch eigentlich eine schöne Frau, findet ihr nicht auch? Und wie sie alles so weg hat, immer so sicher und dabei so fein und nie unpassend wie Papa. Wenn ich ein junger Leutnant wäre, so würd ich mich in die Mama verlieben.« 34 »Aber Effi, wie kannst du nur so was sagen«, sagte Hulda. »Das ist ja gegen das vierte Gebot.« »Unsinn. Wie kann das gegen das vierte Gebot sein? Ich glaube, Mama würde sich freuen, wenn sie wüßte, daß ich so was gesagt habe.« »Kann schon sein«, unterbrach hierauf Hertha. »Aber nun endlich die Geschichte.« »Nun, gib dich zufrieden, ich fange schon an ... Also Baron Innstetten! Als er noch keine zwanzig war, stand er drüben bei den Rathenowern und verkehrte viel auf den Gütern hier herum, und am liebsten war er in Schwantikow drüben bei meinem Großvater Belling. Natürlich war es nicht des Großvaters wegen, daß er so oft drüben war, und wenn die Mama davon erzählt, so kann jeder leicht sehen, um wen es eigentlich war. Und ich glaube, es war auch gegenseitig.« »Und wie kam es nachher?« »Nun, es kam, wie's kommen mußte, wie's immer kommt. Er war ja noch viel zu jung, und als mein Papa sich einfand, der schon Ritterschaftsrat war und Hohen-Cremmen hatte, da war kein langes Besinnen mehr, und sie nahm ihn und wurde Frau von Briest ... Und das andere, was sonst noch kam, nun, das wißt ihr ... das andere bin ich.« »Ja, das andere bist du, Effi«, sagte Bertha. »Gott sei Dank; wir hätten dich nicht, wenn es anders gekommen wäre. Und nun sage, was tat Innstetten, was wurde aus ihm? Das Leben hat er sich nicht genommen, sonst könntet ihr ihn heute nicht erwarten. « »Nein, das Leben hat er sich nicht genommen. Aber ein bißchen war es doch so was.« »Hat er einen Versuch gemacht?« »Auch das nicht. Aber er mochte doch nicht länger hier in der Nähe bleiben, und das ganze Soldatenleben überhaupt muß ihm damals wie verleidet gewesen sein. Es war ja auch Friedenszeit. Kurz und gut, er nahm den Abschied und fing an, Juristerei zu studieren, wie Papa sagt, mit einem 'wahren Biereifer'; nur als der Siebziger Krieg kam, trat er wieder ein, aber bei den Perlebergern statt bei seinem alten Regiment, und hat auch das Kreuz. Natürlich, denn er ist sehr schneidig. Und gleich nach dem Kriege saß er wieder bei seinen Akten, und es heißt, Bismarck halte große Stücke von ihm und auch der Kaiser, und so kam es denn, daß er Landrat wurde, Landrat im Kessiner Kreise.« »Was ist Kessin? Ich kenne hier kein Kessin.« »Nein, hier in unserer Gegend liegt es nicht; es liegt eine hübsche Strecke von hier fort in Pommern, in Hinterpommern sogar, was aber nichts sagen will, weil es ein Badeort ist (alles da herum ist Badeort), und die Ferienreise, die Baron Innstetten jetzt macht, ist eigentlich eine Vetternreise oder doch etwas Ähnliches. Er will hier alte Freundschaft und Verwandtschaft wiedersehen.« »Hat er denn hier Verwandte?« »Ja und nein, wie man's nehmen will. Innstettens gibt es hier nicht, gibt es, glaub ich, überhaupt nicht mehr. Aber er hat hier entfernte Vettern von der Mutter Seite her, und vor allem hat er wohl Schwantikow und das Bellingsche Haus wiedersehen wollen, an das ihn so viele Erinnerungen knüpfen. Da war er denn vorgestern drüben, und heute will er hier in HohenCremmen sein.« »Und was sagt dein Vater dazu?« »Gar nichts. Der ist nicht so. Und dann kennt er ja doch die Mama. Er neckt sie bloß.« 35 In diesem Augenblick schlug es Mittag, und ehe es noch ausgeschlagen, erschien Wilke, das alte Briestsche Haus- und Familienfaktotum, um an Fräulein Effi zu bestellen: Die gnädige Frau ließe bitten, daß das gnädige Fräulein zu rechter Zeit auch Toilette mache; gleich nach eins würde der Herr Baron wohl vorfahren. Und während Wilke dies noch vermeldete, begann er auch schon auf dem Arbeitstisch der Damen abzuräumen und griff dabei zunächst nach dem Zeitungsblatt, auf dem die Stachelbeerschalen lagen. »Nein, Wilke, nicht so; das mit den Schlusen, das ist unsere Sache... Hertha, du mußt nun die Tüte machen und einen Stein hineintun, daß alles besser versinken kann. Und dann wollen wir in einem langen Trauerzug aufbrechen und die Tüte auf offener See begraben.« Wilke schmunzelte. Is doch ein Daus, unser Fräulein, so etwa gingen seine Gedanken. Effi aber, während sie die Tüte mitten auf die rasch zusammengeraffte Tischdecke legte, sagte: »Nun fassen wir alle vier an, jeder an einem Zipfel, und singen was Trauriges.« »Ja, das sagst du wohl, Effi. Aber was sollen wir denn singen?« »Irgendwas; es ist ganz gleich, es muß nur einen Reim auf 'u' haben; 'u' ist immer Trauervokal. Also singen wir: Flut, Mach alles wieder gut ... « Flut, Und während Effi diese Litanei feierlich anstimmte, setzten sich alle vier auf den Steg hin in Bewegung, stiegen in das dort angekettelte Boot und ließen von diesem aus die mit einem Kiesel beschwerte Tüte langsam in den Teich niedergleiten. »Hertha, nun ist deine Schuld versenkt«, sagte Effi, »wobei mir übrigens einfällt, so vom Boot aus sollen früher auch arme, unglückliche Frauen versenkt worden sein, natürlich wegen Untreue.« »Aber doch nicht hier.« »Nein, nicht hier«, lachte Effi, »hier kommt sowas nicht vor. Aber in Konstantinopel, und du mußt ja, wie mir eben einfällt, auch davon wissen, so gut wie ich, du bist ja mit dabeigewesen, als uns Kandidat Holzapfel in der Geographiestunde davon erzählte.« Gustave Flaubert: Frau Bovary Erstes Kapitel Es war Arbeitsstunde. Da trat der Rektor ein, ihm zur Seite ein »Neuer«, in gewöhnlichem Anzuge. Der Pedell hinter den beiden, Schulstubengerät in den Händen. Alle Schüler erhoben sich von ihren Plätzen, wobei man so tat, als sei man aus seinen Studien aufgescheucht worden. Wer eingenickt war, fuhr mit auf. Der Rektor winkte ab. Man setzte sich wieder hin. Darauf wandte er sich zu dem die Aufsicht führenden Lehrer. »Herr Roger!« lispelte er. »Diesen neuen Zögling hier empfehle ich Ihnen besonders. Er kommt zunächst in die Quinta. Bei löblichem Fleiß und Betragen wird er aber in die Quarta versetzt, in die er seinem Alter nach gehört.« 36 Der Neuling blieb in dem Winkel hinter der Türe stehen. Man konnte ihn nicht ordentlich sehen, aber offenbar war er ein Bauernjunge, so ungefähr fünfzehn Jahre alt und größer als alle andern. Die Haare trug er mit Simpelfransen in die Stirn hinein, wie ein Dorfschulmeister. Sonst sah er gar nicht dumm aus, nur war er höchst verlegen. So schmächtig er war, beengte ihn sein grüner Tuchrock mit schwarzen Knöpfen doch sichtlich, und durch den Schlitz in den Ärmelaufschlägen schimmerten rote Handgelenke hervor, die zweifellos die freie Luft gewöhnt waren. Er hatte gelbbraune, durch die Träger übermäßig hochgezogene Hosen an und blaue Strümpfe. Seine Stiefel waren derb, schlecht gewichst und mit Nägeln beschlagen. Man begann die fertigen Arbeiten vorzulesen. Der Neuling hörte aufmerksamst zu, mit wahrer Kirchenandacht, wobei er es nicht einmal wagte, die Beine übereinander zu schlagen noch den Ellenbogen aufzustützen. Um zwei Uhr, als die Schulglocke läutete, mußte ihn der Lehrer erst besonders auffordern, ehe er sich den andern anschloß. Es war in der Klasse Sitte, beim Eintritt in das Unterrichtszimmer die Mützen wegzuschleudern, um die Hände frei zu bekommen. Es kam darauf an, seine Mütze gleich von der Tür aus unter die richtige Bank zu facken [altes Wort für "werfen" (Anm. des Lektorats)], wobei sie unter einer tüchtigen Staubwolke laut aufklatschte. Das war so Schuljungenart. Sei es nun, daß ihm dieses Verfahren entgangen war oder daß er nicht gewagt hatte, es ebenso zu machen, kurz und gut: als das Gebet zu Ende war, hatte der Neuling seine Mütze noch immer vor sich auf den Knien. Das war ein wahrer Wechselbalg von Kopfbedeckung. Bestandteile von ihr erinnerten an eine Bärenmütze, andre an eine Tschapka, wieder andre an einen runden Filzhut, an ein Pelzbarett, an ein wollnes Käppi, mit einem Worte: an allerlei armselige Dinge, deren stumme Häßlichkeit tiefsinnig stimmt wie das Gesicht eines Blödsinnigen. Sie war eiförmig, und Fischbeinstäbchen verliehen ihr den inneren Halt; zu unterst sah man drei runde Wülste, darüber (voneinander durch ein rotes Band getrennt) Rauten aus Samt und Kaninchenfell und zuoberst eine Art Sack, den ein vieleckiger Pappdeckel mit kunterbunter Schnurenstickerei krönte und von dem herab an einem ziemlich dünnen Faden eine kleine goldne Troddel hing. Diese Kopfbedeckung war neu, was man am Glanze des Schirmes erkennen konnte. »Steh auf!« befahl der Lehrer. Der Junge erhob sich. Dabei entglitt ihm sein Turban, und die ganze Klasse fing an zu kichern. Er bückte sich, das Mützenungetüm aufzuheben. Ein Nachbar stieß mit dem Ellenbogen daran, so daß es wiederum zu Boden fiel. Ein abermaliges Sich-darnach-bücken. »Leg doch deinen Helm weg!« sagte der Lehrer, ein Witzbold. Das schallende Gelächter der Schüler brachte den armen Jungen gänzlich aus der Fassung, und nun wußte er gleich gar nicht, ob er seinen »Helm« in der Hand behalten oder auf dem Boden liegen lassen oder aufsetzen sollte. Er nahm Platz und legte die Mütze über seine Knie. »Steh auf!« wiederholte der Lehrer, »und sag mir deinen Namen!« Der Neuling stotterte einen unverständlichen Namen her. »Noch mal!« Dasselbe Silbengestammel machte sich hörbar, von dem Gelächter der Klasse übertönt. »Lauter!« rief der Lehrer. »Lauter!« Nunmehr nahm sich der Neuling fest zusammen, riß den Mund weit auf und gab mit voller Lungenkraft, als ob er jemanden rufen wollte, das Wort von sich: »Kabovary!« Höllenlärm erhob sich und wurde immer stärker; dazwischen gellten Rufe. Man brüllte, heulte, grölte 37 wieder und wieder: »Kabovary! Kabovary!« Nach und nach verlor sich der Spektakel in vereinzeltes Brummen, kam mühsam zur Ruhe, lebte aber in den Bankreihen heimlich weiter, um da und dort plötzlich als halbersticktes Gekicher wieder aufzukommen, wie eine Rakete, die im Verlöschen immer wieder noch ein paar Funken sprüht. Währenddem ward unter einem Hagel von Strafarbeiten die Ordnung in der Klasse allmählich wiedergewonnen, und es gelang dem Lehrer, den Namen »Karl Bovary« festzustellen, nachdem er sich ihn hatte diktieren, buchstabieren und dann noch einmal im ganzen wiederholen lassen. Alsdann befahl er dem armen Schelm, sich auf die Strafbank dicht vor dem Katheder zu setzen. Der Junge wollte den Befehl ausführen, aber kaum hatte er sich in Gang gesetzt, als er bereits wieder stehen blieb. »Was suchst du?« fragte der Lehrer. »Meine Mü…«, sagte er schüchtern, indem er mit scheuen Blicken Umschau hielt. »Fünfhundert Verse die ganze Klasse!« Wie das Quos ego bändigte die Stimme, die diese Worte wütend ausrief, einen neuen Sturm im Entstehen. »Ich bitte mir Ruhe aus!« fuhr der empörte Schulmeister fort, während er sich mit seinem Taschentuche den Schweiß von der Stirne trocknete. »Und du, du Rekrut du, du schreibst mir zwanzigmal den Satz auf: Ridiculus sum!« Sein Zorn ließ nach. »Na, und deine Mütze wirst du schon wiederfinden. Die har dir niemand gestohlen.« Alles ward wieder ruhig. Die Köpfe versanken in den Heften, und der Neuling verharrte zwei Stunden lang in musterhafter Haltung, obgleich ihm von Zeit zu Zeit mit einem Federhalter abgeschwuppte kleine Papierkugeln ins Gesicht flogen. Erwischte sich jedesmal mit der Hand ab, ohne sich weiter zu bewegen noch die Augen aufzuschlagen. Abends, im Arbeitssaal, holte er seine Ärmelschoner aus seinem Pult, brachte seine Habseligkeiten in Ordnung und liniierte sich sorgsam sein Schreibpapier. Die andern beobachteten, wie er gewissenhaft arbeitete; er schlug alle Wörter im Wörterbuche nach und gab sich viel Mühe. Zweifellos verdankte er es dem großen Fleiße, den er an den Tag legte, daß man ihn nicht in der Quinta zurückbehielt; denn wenn er auch die Regeln ganz leidlich wußte, so verstand er sich doch nicht gewandt auszudrücken. Der Pfarrer seines Heimatdorfes hatte ihm kaum ein bißchen Latein beigebracht, und aus Sparsamkeit war er von seinen Eltern so spät wie nur möglich auf das Gymnasium geschickt worden. Sein Vater, Karl Dionys Barthel Bovary, war Stabsarzt a.D.; er hatte sich um 1812 bei den Aushebungen etwas zuschulden kommen lassen, worauf er den Abschied nehmen mußte. Er setzte nunmehr seine körperlichen Vorzüge in bare Münze um und ergatterte sich im Handumdrehen eine Mitgift von sechzigtausend Franken, die ihm in der Person der Tochter eines Hutfabrikanten in den Weg kam. Das Mädchen hatte sich in den hübschen Mann verliebt. Er war ein Schwerenöter und Prahlhans, der sporenklingend einherstolzierte, Schnurr- und Backenbart trug, die Hände voller Ringe hatte und in seiner Kleidung auffällige Farben liebte. Neben seinem Haudegentum besaß er das gewandte Getue eines Ellenreiters. Sobald er verheiratet war, begann er zwei, drei Jahre auf Kosten seiner Frau zu leben, aß und trank gut, schlief bis in den halben Tag hinein und rauchte aus langen Porzellanpfeifen. Nachts pflegte er sehr spät heimzukommen, nachdem er sich in Kaffeehäusern herumgetrieben hatte. Als sein Schwiegervater starb und nur wenig hinterließ, war Bovary empört darüber. Er übernahm die Fabrik, büßte aber Geld dabei ein, und so zog er sich schließlich auf das Land zurück, wovon er sich goldne Berge erträumte. Aber er verstand von der Landwirtschaft auch nicht mehr als von der Hutmacherei, ritt lieber spazieren, als daß er seine Pferde zur Arbeit einspannen ließ, trank seinen Apfelwein flaschenweise selber, anstatt ihn in Fässern zu verkaufen, ließ das fetteste Geflügel in den eignen Magen gelangen und schmierte sich 38 mit dem Speck seiner Schweine seine Jagdstiefel. Auf diesem Wege sah er zu guter Letzt ein, daß es am tunlichsten für ihn sei, sich in keinerlei Geschäfte mehr einzulassen. Für zweihundert Franken Jahrespacht mietete er nun in einem Dorfe im Grenzgebiete von Caux und der Pikardie ein Grundstück, halb Bauernhof, halb Herrenhaus. Dahin zog er sich zurück fünfundvierzig Jahre alt, mit Gott und der Welt zerfallen, gallig und mißgünstig zu jedermann. Von den Menschen angeekelt, wie er sagte, wollte er in Frieden für sich hinleben. Seine Frau war dereinst toll verliebt in ihn gewesen. Aber unter tausend Demütigungen starb ihre Liebe doch rettungslos. Ehedem heiter, mitteilsam und herzlich, war sie allmählich (just wie sich abgestandner Wein zu Essig wandelt) mürrisch, zänkisch und nervös geworden. Ohne zu klagen, hatte sie viel gelitten, wenn sie immer wieder sah, wie ihr Mann hinter allen Dorfdirnen her war und abends müde und nach Fusel stinkend aus irgendwelcher Spelunke zu ihr nach Haus kam. Ihr Stolz hatte sich zunächst mächtig geregt, aber schließlich schwieg sie, würgte ihren Grimm in stummem Stoizismus hinunter und beherrschte sich bis zu ihrem letzten Stündlein. Sie war unablässig tätig und immer auf dem Posten. Sie war es, die zu den Anwälten und Behörden ging. Sie wußte, wenn Wechsel fällig waren; sie erwirkte ihre Verlängerung. Sie machte alle Hausarbeiten, nähte, wusch, beaufsichtigte die Arbeiter und führte die Bücher, während der Herr und Gebieter sich um nichts kümmerte, aus seinem Zustande griesgrämlicher Schläfrigkeit nicht herauskam und sich höchstens dazu ermannte, seiner Frau garstige Dinge zu sagen. Meist hockte er am Kamin, qualmte und spuckte ab und zu in die Asche. Als ein Kind zur Welt kam, mußte es einer Amme gegeben werden; und als es wieder zu Hause war, wurde das schwächliche Geschöpf grenzenlos verwöhnt. Die Mutter nährte es mit Zuckerzeug. Der Vater ließ es barfuß herumlaufen und meinte höchst weise obendrein, der Kleine könne eigentlich ganz nackt gehen wie die Jungen der Tiere. Im Gegensatz zu den Bestrebungen der Mutter hatte er sich ein bestimmtes männliches Erziehungsideal in den Kopf gesetzt, nach welchem er seinen Sohn zu modeln sich Mühe gab. Er sollte rauh angefaßt werden wie ein junger Spartaner, damit er sich tüchtig abhärte. Er mußte in einem ungeheizten Zimmer schlafen, einen ordentlichen Schluck Rum vertragen und auf den »kirchlichen Klimbim« schimpfen. Aber der Kleine war von friedfertiger Natur und widerstrebte allen diesen Bemühungen. Die Mutter schleppte ihn immer mit sich herum. Sie schnitt ihm Pappfiguren aus und erzählte ihm Märchen; sie unterhielt sich mit ihm in endlosen Selbstgesprächen, die von schwermütiger Fröhlichkeit und wortreicher Zärtlichkeit überquollen. In ihrer Verlassenheit pflanzte sie in das Herz ihres Jungen alle ihre eigenen unerfüllten und verlorenen Sehnsüchte. Im Traume sah sie ihn erwachsen, hochangesehen, schön, klug, als Beamten beim Straßen- und Brückenbau oder in einer Ratsstellung. Sie lehrte ihn Lesen und brachte ihm sogar an dem alten Klavier, das sie besaß, das Singen von ein paar Liedchen bei. Ihr Mann, der von gelehrten Dingen nicht viel hielt, bemerkte zu alledem, es sei bloß schade um die Mühe; sie hätten doch niemals die Mittel, den Jungen auf eine höhere Schule zu schicken oder ihm ein Amt oder ein Geschäft zu kaufen. Zu was auch? Dem Kecken gehöre die Welt! Frau Bovary schwieg still, und der Kleine trieb sich im Dorfe herum. Er lief mit den Feldarbeitern hinaus, scheuchte die Krähen auf, schmauste Beeren an den Rainen, hütete mit einer Gerte die Truthähne und durchstreifte Wald und Flur. Wenn es regnete, spielte er unter dem Kirchenportal mit kleinen Steinchen, und an den Feiertagen bestürmte er den Kirchendiener, die Glocken läuten zu dürfen. Dann hängte er sich mit seinem ganzen Gewicht an den Strang der großen Glocke und ließ sich mit emporziehen. So wuchs er auf wie eine Lilie auf dem Felde, bekam kräftige Glieder und frische Farben. Als er zwölf Jahre alt geworden war, setzte es seine Mutter durch, daß er endlich etwas Gescheites lerne. Er bekam Unterricht beim Pfarrer, aber die Stunden waren so kurz und so unregelmäßig, daß sie nicht viel Erfolg hatten. Sie fanden statt, wenn der Geistliche einmal gar nichts anders zu tun hatte, in der Sakristei, im Stehen, in aller Hast in den Pausen zwischen den Taufen und Begräbnissen. Mitunter, wenn er keine Lust hatte auszugehen, ließ der Pfarrer seinen Schüler nach dem Ave-Maria zu sich holen. Die beiden saßen 39 dann oben im Stübchen. Mücken und Nachtfalter tanzten um die Kerze; aber es war so warm drin, daß der Junge schläfrig wurde, und es dauerte nicht lange, da schnarchte der biedere Pfarrer, die Hände über dem Schmerbauche gefaltet. Es kam auch vor, daß der Seelensorger auf dem Heimwege von irgendeinem Kranken in der Umgegend, dem er das Abendmahl gereicht hatte, den kleinen Vagabunden im Freien erwischte; dann rief er ihn heran, hielt ihm eine viertelstündige Strafpredigt und benutzte die Gelegenheit, ihn im Schatten eines Baumes seine Lektion hersagen zu lassen. Entweder war es der Regen, der den Unterricht störte, oder irgendein Bekannter, der vorüberging. Übrigens war der Lehrer durchweg mit seinem Schüler zufrieden, ja er meinte sogar, der »junge Mann« habe ein gar treffliches Gedächtnis. So konnte es nicht weitergehen. Frau Bovary ward energisch, und ihr Mann gab widerstandslos nach, vielleicht weil er sich selber schämte, wahrscheinlicher aber aus Ohnmacht. Man wollte nur noch ein Jahr warten; der Junge sollte erst gefirmelt werden. Darüber hinaus verstrich abermals ein halbes Jahr, dann aber wurde Karl wirklich auf das Gymnasium nach Rouen geschickt. Sein Vater brachte ihn selber hin. Das war Ende Oktober. Die meisten seiner damaligen Kameraden werden sich kaum noch deutlich an ihn erinnern. Er war ein ziemlich phlegmatischer Junge, der in der Freizeit wie ein Kind spielte, in den Arbeitsstunden eifrig lernte, während des Unterrichts aufmerksam dasaß, im Schlafsaal vorschriftsmäßig schlief und bei den Mahlzeiten ordentlich zulangte. Sein Verkehr außerhalb der Schule war ein Eisengroßhändler in der Handschuhmachergasse, der aller vier Wochen einmal mit ihm ausging, an Sonntagen nach Ladenschluß. Er lief mit ihm am Hafen spazieren, zeigte ihm die Schiffe und brachte ihn abends um sieben Uhr vor dem Abendessen wieder in das Gymnasium. Jeden Donnerstag abend schrieb Karl mit roter Tinte an seine Mutter einen langen Brief, den er immer mit drei Oblaten zuklebte. Hernach vertiefte er sich wieder in seine Geschichtshefte, oder er las in einem alten Exemplar von Barthelemys »Reise des jungen Anacharsis«, das im Arbeitssaal herumlag. Bei Ausflügen plauderte er mit dem Pedell, der ebenfalls vom Lande war. Durch seinen Fleiß gelang es ihm, sich immer in der Mitte der Klasse zu halten; einmal errang er sich sogar einen Preis in der Naturkunde. Aber gegen Ende des dritten Schuljahres nahmen ihn seine Eltern vom Gymnasium fort und ließen ihn Medizin studieren. Sie waren der festen Zuversicht, daß er sich bis zum Staatsexamen schon durchwürgen würde. Die Mutter mietete ihm ein Stübchen, vier Stock hoch, nach der Eau-de-Robec zu gelegen, im Hause eines Färbers, eines alten Bekannten von ihr. Sie traf Vereinbarungen über die Verpflegung ihres Sohnes, besorgte ein paar Möbelstücke, einen Tisch und zwei Stühle, wozu sie von zu Hause noch eine Bettstelle aus Kirschbaumholz kommen ließ. Des weiteren kaufte sie ein Kanonenöfchen und einen kleinen Vorrat von Holz, damit ihr armer Junge nicht frieren sollte. Acht Tage darnach reiste sie wieder heim, nachdem sie ihn tausend-und abertausendmal ermahnt hatte, ja hübsch fleißig und solid zu bleiben, sintemal er nun ganz allein auf sich selbst angewiesen sei. Vor dem Verzeichnis der Vorlesungen auf dem schwarzen Brette der medizinischen Hochschule vergingen dem neubackenen Studenten Augen und Ohren. Er las da von anatomischen und pathologischen Kursen, von Kollegien über Physiologie, Pharmazie, Chemie, Botanik, Therapeutik und Hygiene, von Kursen in der Klinik, von praktischen Übungen usw. Alle diese vielen Namen, über deren Herkunft er sich nicht einmal klar war, standen so recht vor ihm wie geheimnisvolle Pforten in das Heiligtum der Wissenschaft. Er lernte gar nichts. So aufmerksam er auch in den Vorlesungen war, er begriff nichts. Um so mehr büffelte er. Er schrieb fleißig nach, versäumte kein Kolleg und fehlte in keiner Übung. Er erfüllte sein tägliches Arbeitspensum wie ein Gaul im Hippodrom, der in einem fort den Hufschlag hintrottet, ohne zu wissen, was für ein Geschäft er eigentlich verrichtet. Zu seiner pekuniären Unterstützung schickte ihm seine Mutter allwöchentlich durch den Botenmann ein Stück Kalbsbraten. Das war sein Frühstück, wenn er aus dem Krankenhause auf einen Husch nach Hause kam. Sich erst hinzusetzen, dazu langte die Zeit nicht, denn er mußte alsbald wieder in ein Kolleg oder zur Anatomie oder Klinik eilen, durch eine Unmenge von Straßen hin40 durch. Abends nahm er an der kargen Hauptmahlzeit seiner Wirtsleute teil. Hinterher ging er hinauf in seine Stube und setzte sich an seine Lehrbücher, oft in nassen Kleidern, die ihm dann am Leibe bei der Rotglut des kleinen Ofens zu dampfen begannen. An schönen Sommerabenden, wenn die schwülen Gassen leer wurden und die Dienstmädchen vor den Haustüren Ball spielten, öffnete er sein Fenster und sah hinaus. Unten floß der Fluß vorüber, der aus diesem Viertel von Rouen ein häßliches Klein-Venedig machte. Seine gelben, violett und blau schimmernden Wasser krochen träg zu den Wehren und Brücken. Arbeiter kauerten am Ufer und wuschen sich die Arme in der Flut. An Stangen, die aus Speichergiebeln lang hervorragten, trockneten Bündel von Baumwolle in der Luft. Gegenüber, hinter den Dächern, leuchtete der weite klare Himmel mit der sinkenden roten Sonne. Wie herrlich mußte es da draußen im Freien sein! Und dort im Buchenwald wie frisch! Karl holte tief Atem, um den köstlichen Duft der Felder einzusaugen, der doch gar nicht bis zu ihm drang. Er magerte ab und sah sehr schmächtig aus. Sein Gesicht bekam einen leidvollen Zug, der es beinahe interessant machte. Er ward träge, was gar nicht zu verwundern war, und seinen guten Vorsätzen mehr und mehr untreu. Heute versäumte er die Klinik, morgen ein Kolleg, und allmählich fand er Genuß am Faulenzen und ging gar nicht mehr hin. Er wurde Stammgast in einer Winkelkneipe und ein passionierter Dominospieler. Alle Abende in einer schmutzigen Spelunke zu hocken und mit den beinernen Spielsteinen auf einem Marmortische zu klappern, das dünkte ihn der höchste Grad von Freiheit zu sein, und das stärkte ihm sein Selbstbewußtsein. Es war ihm das so etwas wie der Anfang eines weltmännischen Lebens, dieses Kosten verbotener Freuden. Wenn er hinkam, legte er seine Hand mit geradezu sinnlichem Vergnügen auf die Türklinke. Eine Menge Dinge, die bis dahin in ihm unterdrückt worden waren, gewannen nunmehr Leben und Gestalt. Er lernte Gassenhauer auswendig, die er gelegentlich zum besten gab. Béranger, der Freiheitssänger, begeisterte ihn. Er lernte eine gute Bowle brauen, und zu guter Letzt entdeckte er die Liebe. Dank diesen Vorbereitungen fiel er im medizinischen Staatseramen glänzend durch. Man erwartete ihn am nämlichen Abend zu Haus, wo sein Erfolg bei einem Schmaus gefeiert werden sollte. Er machte sich zu Fuß auf den Weg und erreichte gegen Abend seine Heimat. Dort ließ er seine Mutter an den Dorfeingang bitten und beichtete ihr alles. Sie entschuldigte ihn, schob den Mißerfolg der Ungerechtigkeit der Examinatoren in die Schuhe und richtete ihn ein wenig auf, indem sie ihm versprach, die Sache ins Lot zu bringen. Erst volle fünf Jahre darnach erfuhr Herr Bovary die Wahrheit. Da war die Geschichte verjährt, und so fügte er sich drein. Übrigens hätte er es niemals zugegeben, daß sein leiblicher Sohn ein Dummkopf sei. Karl widmete sich von neuem seinem Studium und bereitete sich hartnäckigst auf eine nochmalige Prüfung vor. Alles, was er gefragt werden konnte, lernte er einfach auswendig. In der Tat bestand er das Examen nunmehr mit einer ziemlich guten Note. Seine Mutter erlebte einen Freudentag. Es fand ein großes Festmahl statt. Wo sollte er seine ärztliche Praxis nun ausüben? In Tostes. Dort gab es nur einen und zwar sehr alten Arzt. Mutter Bovary wartete schon lange auf sein Hinscheiden, und kaum hatte der alte Herr das Zeitliche gesegnet, da ließ sich Karl Bovary auch bereits als sein Nachfolger daselbst nieder. Aber nicht genug, daß die Mutter ihren Sohn erzogen, ihn Medizin studieren lassen und ihm eine Praxis ausfindig gemacht hatte: nun mußte er auch eine Frau haben. Um zu ihrem Ziele zu gelangen, mußte Mutter Bovary erst alle diese Nebenbuhler aus dem Felde schlagen, was sie sehr geschickt fertig brachte. Sie triumphierte sogar über einen Fleischermeister, dessen Anwartschaft durch die Geistlichkeit unterstützt wurde. Karl hatte in die Heirat eingewilligt in der Erwartung, sich dadurch günstiger zu stellen. Er hoffte, persönlich wie pekuniär unabhängiger zu werden. Aber Heloise nahm die Zügel in ihre Hände. Sie drillte ihm ein, was er vor den Leuten zu sagen habe und was nicht. Alle Freitage wurde gefastet. Er durfte sich nur nach ihrem Geschmacke kleiden, und die Patienten, die nicht bezahlten, mußte er auf ihren Befehl hin kujonieren. Sie erbrach seine Briefe, überwachte jeden Schritt, den er tat, und horchte an der Türe, wenn weibliche Wesen in seiner Sprechstunde waren. Jeden Morgen mußte sie ihre Schokolade haben, und die Rücksichten, die sie erheischte, nahmen 41 kein Ende. Unaufhörlich klagte sie über Migräne, Brustschmerzen oder Verdauungsstörungen. Wenn viel Leute durch den Hausflur liefen, ging es ihr auf die Nerven. War Karl auswärts, dann fand sie die Einsamkeit gräßlich; kehrte er heim, so war es zweifellos bloß, weil er gedacht habe, sie liege im Sterben. Wenn er nachts in das Schlafzimmer kam, streckte sie ihm ihre mageren langen Arme aus ihren Decken entgegen, umschlang seinen Hals und zog ihn auf den Rand ihres Bettes. Und nun ging die Jeremiade los. Er vernachlässige sie, er liebe eine andre! Man habe es ihr ja gleich gesagt, diese Heirat sei ihr Unglück. Schließlich bat sie ihn um einen Löffel Arznei, damit sie gesund werde, und um ein bißchen mehr Liebe. 42 Honoré de Balzac Die Frau von dreißig Jahren 1. Der erste Irrtum Anfang April des Jahres 1813 verhieß ein Sonntagmorgen den Parisern einen jener schönen Tage, an welchen sie zum erstenmal im Jahr ihr Pflaster frei von Schmutz und den Himmel wolkenlos sehen. Kurz vor Mittag bog ein mit zwei feurigen Pferden bespanntes prächtiges Kabriolett aus der Rue de Castiglione in die Rue de Rivoli ein und machte hinter einer Reihe von Equipagen halt, die vor dem kürzlich neueröffneten Gitter mitten auf der Terrasse des Feuillants standen. Der zierliche Wagen wurde von einem kränklich und vergrämt aussehenden Mann gelenkt, dessen ergrauendes Haar nur spärlich den gelblichen Schädel bedeckte und ihn vor der Zeit gealtert erscheinen ließ. Er warf die Zügel dem Lakaien zu, der dem Wagen zu Pferde gefolgt war, und stieg ab, um ein junges Mädchen herunterzuheben, dessen liebliche Schönheit die Aufmerksamkeit der müßigen Spaziergänger auf der Terrasse erregte. Wie sie oben am Kutschrand stand, ließ sich die Kleine willig um die Taille fassen und umschlang den Hals ihres Führers, der sie auf das Trottoir hob, ohne den Besatz ihres grünen Ripskleides gedrückt zu haben. Ein Liebhaber hätte nicht sorgsamer sein können. Der Unbekannte mußte der Vater des Mädchens sein, das, ohne ihm zu danken, vertraulich seinen Arm nahm und ihn ungestüm in den Garten zog. Der alte Vater bemerkte die verwunderten Blicke einiger junger Leute, und für einen Augenblick verflog die Trauer, die auf seinem Gesicht eingegraben war. Obwohl er längst das Alter erreicht hatte, wo sich die Männer mit den trügerischen Freuden der Eitelkeit bescheiden müssen, lächelte er. »Man hält dich für meine Frau«, sagte er dem jungen Mädchen ins Ohr, wobei er sich straffte und mit einer Langsamkeit dahinschritt, die die Kleine zur Verzweiflung brachte. Er schien für seine Tochter kokett zu sein und genoß wohl mehr als sie die bewundernden Blicke, welche die Gaffer auf die kleinen Füße richteten, die in Schnürstiefeln aus flohbraunem Prünell stockten, auf die zierliche Taille, die sich unter dem schmalen Kleid abzeichnete, auf den frischen Hals, den ein gestickter Kragen leicht verhüllte. Bisweilen hob sich das Kleid des jungen Mädchens beim Gehen und zeigte oberhalb der Stiefelchen durch die durchbrochenen seidenen Strümpfe hindurch die Rundung eines feingeformten Beines. So überholte auch manch ein Spaziergänger das Paar, um das junge, von braunen Löckchen umspielte Gesicht noch einmal zu betrachten und zu bewundern, dessen weißer, rosig überhauchter Ton ebenso von dem Widerschein des rosafarbenen Atlasfutters eines eleganten Hutes wie von der aus allen Zügen der hübschen Kleinen leuchtenden Sehnsucht und Ungeduld vertieft wurde. Eine leise Schelmerei belebte die schönen, mandelförmig geschnittenen schwarzen Augen, die, unter sanft gewölbten Brauen von langen Wimpern beschattet, in einem feuchten Glanz schimmerten. Lebenslust und Jugendfrische hatten ihr Füllhorn über das mutwillige Gesicht ergossen und über eine Büste, die trotz des nach der damaligen Mode unterhalb des Busens angebrachten Gürtels doch von zierlicher Anmut war. Der Huldigungen nicht achtend, blickte das junge Mädchen mit einer gewissen Unruhe auf das Schloß der Tuilerien, das offenbar das Ziel ihres hastigen Spazierganges war. Es war Viertel vor zwölf. Trotz der frühen Stunde kamen schon einige Frauen, die sich in vollem Staat hatten zeigen wollen, vom Schloß und wandten den Kopf noch einmal mißmutig zurück, um ihr Bedauern auszudrücken, daß sie zu einem ersehnten Schauspiel zu spät gekommen waren. Ein paar unwillige Worte, die der Enttäuschung der schönen Spaziergängerinnen entsprangen, waren von der hübschen Unbekannten im Vorbeigehen aufgefangen worden und hatten sie seltsam beunruhigt. Der alte Herr erspähte eher neugierig als spöttisch die Zeichen der Ungeduld und Furcht auf dem entzückenden Gesicht seiner Begleiterin, und er beobachtete sie wohl allzu genau, als daß der Hintergedanke des Vaters sich hätte verkennen lassen. - Dieser Sonntag war der dreizehnte des Jahres 1813. Zwei Tage später brach Napoleon zu jenem verhängnisvollen Feldzug auf, in dem er nacheinander Bessières und 43 Duroc verlieren, die denkwürdigen Schlachten von Lützen und Bautzen gewinnen, sich von Österreich, Sachsen, Bayern und von Bernadotte verraten sehen und die schreckliche Schlacht von Leipzig ausfechten sollte. Die prachtvolle Parade, die der Kaiser selbst kommandierte, war die letzte von denen, die so lange die Bewunderung der Pariser und der Fremden erregt hatten. Die alte Garde sollte zum letztenmal die kunstvollen Bewegungen ausführen, deren Pracht und Präzision den Riesen bisweilen selber in Erstaunen zu setzen vermochten, den Riesen, der sich zu seinem Zweikampf mit Europa rüstete. Es war ein Gefühl von Trauer, das eine Menge Schaulustiger im Sonntagsstaat zu den Tuilerien hinführte. Jeder schien die Zukunft zu erraten und vielleicht zu ahnen, daß die Phantasie sich noch oft das Bild dieses Schauspiels zurückrufen würde, wenn diese heldischen Zeiten Frankreichs, wie es heute ist, schon einen fast sagenhaften Charakter angenommen haben würden. »Laß uns doch schneller gehen, lieber Vater!« mahnte das junge Mädchen und zog den Greis mutwillig vorwärts, »ich höre die Trommler.« – »Das sind die Truppen, die in die Tuilerien einziehen«, beschwichtigte er. »Oder die defilieren ... es kommen schon alle zurück«, erwiderte sie mit einem kindlichen Mißmut, der den Greis lächeln ließ. »Die Parade beginnt erst um halb eins«, begütigte der Vater, der seiner ungestümen Tochter kaum mehr folgen konnte. 44 Erstes Kapitel Charles Dickens, Oliver Twist Handelt von dem Orte, wo Oliver Twist geboren ward, und von Umständen, die seine Geburt begleiteten In einer Stadt, die ich aus mancherlei Gründen weder nennen will, noch mit einem erdichteten Namen bezeichnen möchte, befand sich unter anderen öffentlichen Gebäuden auch eines, dessen sich die meisten Städte rühmen können, nämlich ein Armenhaus. In diesem wurde an einem Tage, dessen Datum dem Leser kaum von Interesse sein kann, der Kandidat der Sterblichkeit geboren, dessen Namen die Kapitelüberschrift nennt. Lange noch, nachdem er bereits durch den Armenarzt in dieses irdische Jammertal eingeführt war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es hielt nämlich ungernein schwer, Oliver zu bewegen, die Mühe des Atmens auf sich zu nehmen, allerdings eine schwere Arbeit, die jedoch die Gewohnheit zu unserm Wohlbefinden nötig gemacht hat. So lag er, eine geraume Zeit nach Luft ringend, auf einer kleinen Matratze, wobei sich die Waagschale seines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre Oliver damals von sorglichen Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelehrten Ärzten umgeben gewesen, so wäe er unzweifelhaft mit dem Tode abgegangen, so aber war niemand bei ihm als eine arme alte Frau, die infolge ungewohnten Biergenusses ziemlich benebelt war, und ein Armenarzt, der vertragsgemäß bei Geburten Hilfe leisten mußte. Oliver hatte deshalb die Sache mit der Natur allein auszufechten. Das Ergebnis war, daß Oliver nach einigen Anstrengungen atmete, nieste und endlich damit zustande kam, den Bewohnern des Armenhauses die Ankunft einer neuen Bürde für die Gemeinde durch ein so lautes Schreien anzukündigen, als sich füglich von einem Jungen erwarten ließ, der die ungemein nützliche Beigabe einer Stimme erst seit drei und einer viertel Minute besaß. Der Arzt saß vor dem Kamin und war bemüht, seine Hände bald durch Reiben, bald durch Ausstrecken über die Kohlen warm zu halten; als aber die junge Frau sprach, stand er auf, trat an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit, als man ihm zugetraut hätte: "Oh! Sie müssen nicht vom Sterben sprechen!" Die Wöchnerin streckte die Hand nach ihrem Kinde aus, der Arzt legte es ihr in die Arme. Sie küßte es leidenschaftlich auf die Stirn, dann fuhr sie mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild um sich, schauderte, sank zurück - und starb. "Sie hat ausgerungen", sagte der Arzt nach einer kurzen Untersuchung zu der alten Frau. "Ihr braucht nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreit, wahrscheinlich wird es etwas unruhig sein." Er zog bedächtig seine Handschuhe an. "Ihr könnt ihm dann ein wenig Haferschleim geben. "Sie wurde gestern abend auf Anordnung des Armenvorstehers hier eingeliefert", antwortete die alte Frau. "Man fand sie auf der Straße ohnmächtig; sie muß weit gelaufen sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen, jedoch, woher sie kam oder wohin sie wollte, weiß niemand." Der Arzt beugte sich über die Verblichene und hob ihre linke Hand hoch. "Ich sehe schon, es ist die alte Geschichte", sagte er kopfschüttelnd, "kein Trauring. Na! Gute Nacht!" Er ging zu seinem Abendessen, und die alte Frau setzte sich auf einen Schemel in der Nähe des Kamins und begann das Kind zu kleiden. In der Decke, die Oliver bisher umhüllt hatte, konnte man ihn ebensogut für das Kind eines Edelmannes als für das eines Bettlers halten. Aber jetzt in dem alten verwaschenen Kinderzeug, das durch langjährige Benutzung gelb geworden war, trug er Zeichen und Abzeichen seiner Stellung, nämlich die eines Gemeindekindes, einer Waise des Armenhauses, eines zum Hungern bestimmten Lasttieres, das von allen verachtet und von niemand bemitleidet, durch die Welt geknufft und gepufft wird. Oliver schrie laut und kräftig; hätte er wissen können, daß er eine Waise war und der zärtlichen Fürsorge von Kirchen- und Armenvorstehern ausgeliefert, so hätte er vielleicht noch lauter geschrien. 45 Stendhal: Rot und Schwarz 1. Kapitel Die kleine Stadt Verrières kann für eine der hübschesten der Freigrafschaft gelten. Ihre weißen Häuser mit Spitzdächern von roten Ziegeln schmiegen sich dem Hang einer Höhe an, deren wellige Silhouette von den Wipfeln mächtiger Kastanien getragen wird. Ein paar hundert Schritt unterhalb der ehedem von den Spaniern erbauten, heute verfallenen Befestigungen fließt der Doubs. Gegen Norden ist Verrières geschützt durch einen hohen Bergrücken, einen Ausläufer des Juragebirges. Die zackigen Gipfel des Verra sind schon bei den ersten Oktoberfrösten mit Schnee bedeckt. Ein munterer Bach, dem Gebirge entsprungen, durchrauscht das Städtchen und ergießt sich in den Doubs. Sein Wasser treibt eine Menge Sägemühlen. Diese einfache Industrie gewährt dem größeren Teil der mehr städtischen denn ländlichen Einwohnerschaft ein behagliches Dasein. Indessen verdankt das Städtchen seinen Reichtum nicht den Sägemühlen, sondern der Herstellung von bunter sogenannter Mülhauser Leinwand. Infolge der allgemeinen Wohlhabenheit sind seit Napoleons Sturz fast alle Häuserfassaden von Verrières neu erstanden. Kaum hat man den Ort betreten, so zerreißt einem der laute Lärm einer dröhnenden, gar bedrohlich aussehenden Maschine die Ohren. Ein paar Dutzend wuchtiger Hämmer erschüttern mit ihrem Auf und Nieder das Straßenpflaster. Sie werden durch ein Rad gehoben, das der Gebirgsbach treibt. Jeder dieser Hämmer stellt täglich viele, viele tausend Nägel her. Frische hübsche Mädchen schieben den Ungetümen Eisenstreifen zu, die im Handumdrehen zu Nägeln verwandelt werden. So grob diese Arbeit ist, sie wird doch immer von den Fremden angestaunt, die zum erstenmal in die Berge zwischen Frankreich und der Schweiz kommen. Fragt man, wem die schöne Nägelfabrik gehöre, die einen halbtaub macht, wenn man die Hauptstraße dahingeht, so erhält man in der breiten Mundart der Gegend die Antwort: »Na, dem Herrn Bürgermeister!« Wer ihn sehen will, braucht nur auf der Hauptstraße, die vom Doubs zur Höhe führt, eine Weile aufzupassen. Man kann hundert gegen eins wetten, daß alsbald ein großer stattlicher Mann mit gewichtiger Amtsmiene auftaucht, bei dessen Annäherung alle Leute flugs ihre Hüte ziehen. Sein Haar ist ergraut. Und grau ist auch sein Anzug. Er ist Ritter mehrerer Orden. Er hat eine hohe Stirn, eine Adlernase und ein alles in allem nicht unübles Gesicht. Auf den ersten Blick findet man darin wohl die Würde des Stadtoberhauptes gepaart mit der geselligen Gewandtheit des angehenden Fünfzigers. Weltmännische Augen entdecken allerdings gar bald die unangenehmen Merkmale von Selbstzufriedenheit und Dünkel, denen sich geistige Beschränktheit und Phantasiearmut gesellen. Schließlich kommt man dahinter, daß die ganze Pfiffigkeit dieses Mannes darin besteht, sich prompt bezahlen zu lassen, was man ihm schuldet, seinen eigenen Pflichten dagegen möglichst spät nachzukommen. So sieht also der Bürgermeister von Verrières aus: Herr von Rênal. Hat er die Straße gravitätisch durchschritten, dann verschwindet er im Rathaus. Hundert Schritte weiter bergauf erblickt man ein recht stattliches Haus, daran einen großartigen Garten hinter einem schmiedeeisernen Gitter. Darüber sieht man die Kammlinie der Burgunder Berge, wie zur Augenweide hingezaubert. Es ist ein Bild, vor dem der Wanderer den üblen Dunstkreis des kleinlichen Geldsinnes, der ihn eben umfangen wollte, wieder vergißt. Man erfährt, daß dieses Haus dem Bürgermeister gehört. Die Erträgnisse seiner großen Nägelfabrik gestatten ihm diesen Prachtbau aus Hausteinen, der unlängst erst fertig geworden ist. Die Familie Rênal, angeblich alter spanischer Herkunft, war längst vor der Eroberung des Landes durch Ludwig XIV. hier ansässig. Die Restauration von 1815 machte ihn zum Bürgermeister. Seitdem schämt sich Rênal, Fabrikant zu sein. Und doch wären die Mauern, die den herrlichen Garten in verschiedene Terrassen gliedern, bis hinab zum Doubs, ohne das kaufmännische Geschick ihres Besitzers nicht vorhanden. Man findet in Frankreich bei weitem keine so malerischen Gärten wie 46 im Umkreis von deutschen Handelsstädten wie Leipzig, Frankfurt, Nürnberg und andernorts. In der Freigrafschaft steigt man in der Achtung seiner Mitbürger, je mehr man Steine auf seinem Grundstück türmt. Der Garten des Herrn von Rênal war voll solcher Bauten, obendrein aber ein Gegenstand der Bewunderung, weil gewisse kleine Parzellen des Gartens bei ihrer Erwerbung buchstäblich mit Gold aufgewogen worden waren. So lag zum Beispiel die Sägemühle, die einem am Eingang von Verrières durch ihre Lage am Doubsufer und durch die am Dache angebrachte Firma mit dem Namen SOREL in Riesenlettern auffällt, noch vor sechs Jahren an der Stelle, wo man zur Zeit die Mauer der vierten Rênalschen Gartenterrasse aufführt. Der Bürgermeister hat bei all seinem Hochmut manchen Gang zum alten Sorel machen müssen, einem dickköpfigen groben Bauern, und ihm reichliche Goldfüchse auf den Tisch gezählt, ehe er die Verlegung der Mühle erreichte. Dazu mußte er in Paris seinen ganzen Einfluß aufbieten, bis er die Genehmigung zur Ableitung des öffentlichen Baches bekam, der die Mühle trieb. Dieser Gnadenbeweis ward ihm nach den Wahlen von 182* zuteil. Sorel erhielt fünfhundert Schritt abwärts am Doubs vier Morgen Land für einen. Und obgleich der neue Platz für seinen Bretterhandel weit günstiger war, so verstand es Vater Sorel – wie er jetzt in seiner Wohlhabenheit allgemein hieß – doch, seinem ungeduldigen und gebietshungrigen Nachbarn überdies sechstausend Franken abzuknöpfen. Dieses Abkommen wurde von den durchtriebenen Spießbürgern viel bekrittelt. Und einmal, an einem Sonntag (es ist jetzt vier Jahre her), da begegnete Herr von Rênal, als er im Bürgermeisterstaat aus der Kirche kam, dem alten Sorel samt seinen drei Söhnen und merkte von weitem, wie der Alte, seiner ansichtig, lächelte. Bei diesem Lächeln ging dem Bürgermeister eine Erleuchtung auf. Seitdem meint er, den Tausch hätte er billiger haben können. 47 Fjodr Dostojewski: Schuld und Sühne I An einem der ersten Tage des Juli – es herrschte eine gewaltige Hitze – verließ gegen Abend ein junger Mann seine Wohnung, ein möbliertes Kämmerchen in der S …gasse, und trat auf die Straße hinaus; langsam, wie unentschlossen, schlug er die Richtung nach der K … brücke ein. Einer Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe war er glücklich entgangen. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dache des hohen, vierstöckigen Hauses und hatte in der Größe mehr Ähnlichkeit mit einem Schranke als mit einer Wohnung. Seine Wirtin, die ihm diese Kammer vermietet hatte und ihm auch das Mittagessen lieferte und die Bedienung besorgte, wohnte selbst eine Treppe tiefer, und jedesmal, wenn er das Haus verlassen wollte, mußte er notwendig auf der Treppe an ihrer Küche vorbeigehen, deren Tür fast immer weit offen stand. Und jedesmal, wenn der junge Mann vorbeikam, ergriff ihn ein peinliches Gefühl der Feigheit, dessen er sich stirnrunzelnd schämte. Er steckte bei der Wirtin tief in Schulden und fürchtete sich deshalb davor, mit ihr zusammenzutreffen. Nicht daß Schüchternheit und Feigheit in seinem Charakter gelegen hätten; ganz im Gegenteil; aber er befand sich seit einiger Zeit in einem aufgeregten und gereizten Gemütszustande, der große Ähnlichkeit mit Hypochondrie hatte. Er hatte sich derartig in sein eigenes Ich vergraben und sich von allen Menschen abgesondert, daß er sich schlechthin vor jeder Begegnung scheute, nicht nur vor einer Begegnung mit seiner Wirtin. Die Armut hatte ihn völlig überwältigt; aber selbst diese bedrängte Lage empfand er in der letzten Zeit nicht mehr als lastenden Druck. Auf Brotarbeit hatte er ganz verzichtet; er hatte keine Lust mehr zu irgendwelcher Tätigkeit. In Wahrheit fürchtete er sich vor keiner Wirtin in der Welt, mochte sie gegen ihn im Schilde führen, was sie wollte. Aber auf der Treppe stehenzubleiben, allerlei Gewäsch über allen möglichen ihm ganz gleichgültigen Alltagskram, all diese Mahnungen ans Bezahlen, die Drohungen und Klagen anzuhören und dabei selbst sich herauszuwinden, sich zu entschuldigen, zu lügen – nein, da war es schon besser, wie eine Katze auf der Treppe vorbeizuschlüpfen und sich, ohne von jemand gesehen zu werden, flink davonzumachen. Übrigens war er diesmal, als er auf die Straße hinaustrat, selbst erstaunt darüber, daß er sich so vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin fürchtete.»Eine so große Sache plane ich, und dabei fürchte ich mich vor solchen Kleinigkeiten!« dachte er mit einem eigentümlichen Lächeln. »Hm… ja… alles hat der Mensch in seiner Hand, und doch läßt man sich alles an der Nase vorbeigehen, einzig und allein aus Feigheit… das ist schon so die allgemeine Regel… Merkwürdig: wovor fürchten die Menschen sich am meisten? Am meisten fürchten sie sich vor einem neuen Schritte, vor einem eignen neuen Worte… Übrigens schwatze ich viel zuviel. Darum handle ich auch nicht, weil ich soviel schwatze. Vielleicht aber liegt die Sache auch so: weil ich nicht handle, darum schwatze ich. Da habe ich nun in diesem letzten Monat das Schwatzen gelernt, wenn ich so ganze Tage lang im Winkel lag und an weiß Gott was dachte. Nun also: wozu gehe ich jetzt aus? Bin ich etwa imstande, das auszuführen? Ist es mir etwa Ernst damit? Ganz und gar nicht. Ich amüsiere mich nur mit einem müßigen Spiel der Gedanken; Tändelei! Ja, weiter nichts als Tändelei!« Auf der Straße war eine furchtbare Hitze; dazu noch die drückende Schwüle und das Gedränge; überall Kalkhaufen, Baugerüste, Ziegelsteine, Staub und jener besondere Sommergestank, den jeder Petersburger, soweit er nicht in der Lage ist, in die Sommerfrische zu gehen, so gut kennt. All dies zerrte plötzlich auf das unangenehmste an den ohnehin schon reizbaren Nerven des jungen Mannes. Der unerträgliche Dunst aus den gerade in diesem Stadtteile besonders zahlreichen Kneipen und die Betrunkenen, auf die man trotz Werktag und Arbeitszeit fortwährend stieß, vollendeten das widerwärtige, traurige Kolorit dieses Bildes. Ein Ausdruck des tiefsten Ekels spielte einen Augenblick auf den feinen Zügen des jungen Mannes. (Um dies beiläufig zu erwähnen: er hatte ein ungewöhnlich hübsches Äußeres, schöne, dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war über Mittelgröße, schlank und wohlge48 baut.) Aber bald versank er in tiefes Nachdenken oder, richtiger gesagt, in eine Art von Geistesabwesenheit und schritt nun einher, ohne seine Umgebung wahrzunehmen; ja, er wollte sie gar nicht wahrnehmen. Nur ab und zu murmelte er etwas vor sich hin, zufolge jener Neigung, mit sich selbst zu reden, die er sich soeben selbst eingestanden hatte. Gleichzeitig kam ihm auch zum Bewußtsein, daß seine Gedanken sich zeitweilig verwirrten und daß er sehr schwach war: dies war schon der zweite Tag, daß er so gut wie nichts gegessen hatte. Er war so schlecht gekleidet, daß ein anderer, selbst jemand, der die Armut schon gewohnt war, sich geschämt hätte, bei Tage in solchen Lumpen auf die Straße zu gehen. Übrigens war dieser Stadtteil von der Art, daß es schwer war, durch die Kleidung hier jemand in Verwunderung zu versetzen. Die Nähe des Heumarktes , die übergroße Zahl gewisser Häuser und ganz besonders die Fabrikarbeiter- und Handwerkerbevölkerung, die sich in diesen inneren Straßen und Gassen von Petersburg zusammendrängte, brachten mitunter in das Gesamtbild einen so starken Prozentsatz derartiger Gestalten hinein, daß es sonderbar gewesen wäre, wenn man sich bei der Begegnung mit einer einzelnen solchen Figur hätte wundern wollen. Aber in der Seele des jungen Mannes hatte sich bereits so viel ingrimmige Verachtung angesammelt, daß er trotz all seiner mitunter stark jünglingshaften Empfindlichkeit sich seiner Lumpen auf der Straße nicht mehr schämte. Anders beim Zusammentreffen mit irgendwelchen Bekannten oder mit früheren Kommilitonen, denen er überhaupt nicht gern begegnete … Als indessen ein Betrunkener, der gerade in einem großen Bauernwagen mit einem mächtigen Lastpferde davor auf der Straße irgendwohin transportiert wurde, ihm plötzlich im Vorbeifahren zurief: »He, du! Hast'nen deutschen Deckel auf dem Kopf!«, aus vollem Halse zu brüllen anfing und mit der Hand auf ihn zeigte: da blieb der junge Mann stehen und griff mit einer krampfhaften Bewegung nach seinem Hute. Es war ein hoher, runder Hut, aus dem Hutgeschäft von Zimmermann, aber schon ganz abgenutzt, völlig fuchsig, ganz voller Löcher und Flecke, ohne Krempe und in greulichster Weise eingeknickt. Aber es war nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, das sich seiner bemächtigte, eine Art Schreck. ›Hab ich's doch gewußt!‹ murmelte er bestürzt. ›Hab ich's mir doch gedacht! Das ist das Allerwiderwärtigste! Irgendeine Dummheit, irgendeine ganz gewöhnliche Kleinigkeit kann den ganzen Plan verderben! Ja, der Hut ist zu auffällig … Er ist lächerlich, und dadurch wird er auffällig. Zu meinen Lumpen ist eine Mütze absolut notwendig, und wäre es auch irgend so ein alter Topfdeckel, aber nicht dieses Ungetüm. So etwas trägt kein Mensch. Eine Werst weit fällt den Leuten so ein Hut auf, und sie erinnern sich daran … Ja, das ist es: sie erinnern sich seiner nachher, und schon ist der Indizienbeweis da. Bei solchen Geschichten muß man möglichst unauffällig sein, … die Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten, die sind die Hauptsache! Gerade diese Kleinigkeiten verderben immer alles …‹ Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es von seiner Haustür waren: genau siebenhundertunddreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er sich sein Vorhaben schon lebhaft ausmalte. Damals freilich glaubte er selbst noch nicht an diese seine Phantasiegemälde und kitzelte nur sich selbst mit ihrer grauenhaften, aber verführerischen Verwegenheit. Jetzt, einen Monat später, hatte er bereits angefangen, die Sache anders zu betrachten, und trotz aller höhnischen Monologe über seine eigene Schwäche und Unschlüssigkeit hatte er sich unwillkürlich daran gewöhnt, das »grauenhafte« Phantasiegemälde bereits als ein beabsichtigtes Unternehmen zu betrachten, wiewohl er an seinen Entschluß noch immer selbst nicht recht glaubte. Sein jetziger Ausgang hatte sogar den Zweck, eine Probe für sein Vorhaben zu unternehmen, und mit jedem Schritte wuchs seine Aufregung mehr und mehr. Das Herz stand ihm fast still, und ein nervöses Zittern überkam ihn, als er sich einem kolossalen Gebäude näherte, das mit der einen Seite nach dem Kanal, mit der andern nach der …straße zu lag. Dieses Haus hatte lauter kleine Wohnungen, in denen allerlei einfache Leute wohnten: Schneider, Schlosser, Köchinnen, Deutsche verschiedenen Berufes, alleinstehende Mädchen, kleine Beamte usw. Durch die beiden Haustore und auf den beiden Höfen des Hauses war ein fortwährendes Kommen und Gehen. Hier gab es drei oder vier Hausknechte zur Aufsicht. Der junge Mann war sehr da- 49 mit zufrieden, daß er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte gleich vom Tore aus unbemerkt rechts eine Treppe hinauf. Die Treppe war dunkel und eng, ein »Wirtschaftsaufgang«; aber er hatte dies alles schon studiert und kannte es, und diese ganze Örtlichkeit gefiel ihm: in solcher Dunkelheit war selbst ein neugierig forschender Blick nicht weiter gefährlich. ›Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, wie würde es dann erst sein, wenn es wirklich zur Ausführung der Tat selbst käme?‹ dachte er unwillkürlich, während er zum dritten Stock hinaufstieg. Hier versperrten ihm Möbelräumer, entlassene Soldaten, den Weg, die aus einer Wohnung Möbel heraustrugen. Er hatte schon früher in Erfahrung gebracht, daß hier eine deutsche Beamtenfamilie wohnte. ›Also dieser Deutsche zieht jetzt aus; folglich ist für einige Zeit im dritten Stock an diesem Aufgang und an diesem Treppenabsatz die Wohnung der Alten als einzige bewohnt. Das ist günstig … für jeden Fall‹, überlegte er wieder und klingelte an der Tür der Alten. Die Glocke rasselte schwach, wie wenn sie aus Blech wäre statt aus Messing. In solchen großen Mietshäusern mit diesen kleinen Wohnungen findet man fast immer solche Türklingeln. Er hatte den Ton dieser Glocke schon vergessen, und nun war es, als ob dieser besondere Ton ihn auf einmal an etwas erinnerte und es ihm wieder klar vor die Seele brächte … Er fuhr zusammen; seine Nerven waren doch schon recht schwach geworden. Es dauerte nicht lange, da wurde die Tür einen schmalen Spalt weit geöffnet; durch diesen Spalt hindurch betrachtete die Bewohnerin den Ankömmling mit offenkundigem Mißtrauen; von ihr waren nur die aus der Dunkelheit hervorfunkelnden Augen zu sehen. Aber da sie auf dem Treppenabsatz eine Menge Menschen sah, faßte sie Mut und öffnete die Tür ganz. Der junge Mann trat über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Bretterwand in zwei Teile geteilt war; hinter dieser Wand befand sich eine winzige Küche. Die Alte stand schweigend vor ihm und blickte ihn fragend an. Es war ein kleines, verhutzeltes Weib von etwa sechzig Jahren, mit scharfen, tückischen, kleinen Augen und kleiner, spitzer Nase; eine Kopfbedeckung trug sie nicht. Das hellblonde, nur wenig ergraute Haar war stark mit Öl gefettet. Um den dünnen, langen Hals, der mit einem Hühnerbeine Ähnlichkeit hatte, hatte sie einen Flanellappen gewickelt, und auf den Schultern hing trotz der Hitze eine ganz abgetragene, vergilbte Pelzjacke. Die Alte hustete und räusperte sich alle Augenblicke. Der junge Mann mußte sie wohl mit einem eigentümlichen Blick angesehen haben; denn in ihren Augen funkelte auf einmal wieder das frühere Mißtrauen auf. »Mein Name ist Raskolnikow, Student; ich war schon einmal vor einem Monat bei Ihnen«, beeilte sich der junge Mann mit einer leichten Verbeugung zu sagen; denn es fiel ihm ein, daß er sehr liebenswürdig sein müsse. »Ich erinnere mich, Väterchen; ich erinnere mich recht gut, daß Sie hier waren«, erwiderte die Alte bedächtig, hielt jedoch dabei weiter ihre fragenden Augen unverwandt auf sein Gesicht geheftet. »Nun also … ich komme wieder in einer solchen Angelegenheit«, fuhr Raskolnikow fort, etwas befangen und verwundert über das Mißtrauen der Alten. ›Aber vielleicht ist sie immer so, und ich habe es das erstemal nur nicht beachtet?‹, dachte er mit einem unangenehmen Gefühl. Die Alte schwieg ein Weilchen, wie wenn sie etwas überlegte, dann trat sie zur Seite und sagte, indem sie auf die ins Zimmer führende Tür zeigte und dem Besucher den Vortritt ließ: »Treten Sie ein, Väterchen.« Das kleine Zimmer, in welches der junge Mann eintrat, war gelb tapeziert; an den Fenstern hingen Musselingardinen; auf den Fensterbrettern standen Geranientöpfe; in diesem Augenblick war das Zimmer von der untergehenden Sonne hell erleuchtet. ›Die Sonne wird 50 also auch dann so scheinen!‹ dachte Raskolnikow unwillkürlich und ließ einen schnellen Blick über das ganze Zimmer gleiten, um die Lage und Einrichtung möglichst kennenzulernen und sich einzuprägen. Etwas Besonderes war im Zimmer nicht zu sehen. Das Mobiliar, durchweg sehr alt und aus gelbem Holze, bestand aus einem Sofa mit gewaltiger, geschweifter hölzerner Rückenlehne, einem ovalen Tische vor dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem Spiegelchen am Fensterpfeiler, einigen Stühlen an den Wänden und zwei oder drei billigen, gelb eingerahmten Bildern, welche deutsche Fräulein mit Vögeln in den Händen darstellten – das war die ganze Einrichtung. In der Ecke brannte vor einem kleinen Heiligenbilde das Lämpchen. Alles war sehr sauber: die Möbel und die Dielen waren blank gerieben; alles glänzte nur so. ›Das ist Lisawetas Werk‹, dachte der junge Mann. In der ganzen Wohnung hätte man kein Stäubchen finden können. ›Bei boshaften alten Witwen ist solche Reinlichkeit häufig‹, fuhr Raskolnikow in seinen Überlegungen fort und schielte forschend nach dem Kattunvorhang vor der Tür nach dem zweiten kleinen Zimmerchen, wo das Bett und die Kommode der Alten standen; in dieses Zimmer hatte er bisher noch nicht hineinschauen können. Die ganze Wohnung bestand nur aus diesen beiden Zimmern. 51 Testen Sie Ihr Wissen zur Gruppenarbeit: Welche Regierungsform gibt es in Frankreich um 1900? 1870/71 war der ……………………. Prägendes Ereignis für den Fortschritt war die ……………………………………….. . Sie ging von ……………………………………….. aus. Es bildete sich in der Gesellschaft eine neue ‚Schicht’, die man bezeichnet als….. Die Bewohner verließen ihre Dörfer um in den Städten zu arbeiten. Dies nennt man.. Diese Gesellschaftsschicht verliert zunehmend an Bedeutung:…… Eine der literarischen Epochen im Anschluss an die Romantik heißt….. Nennen Sie zwei französische Autoren des 19. Jahrhunderts. Theodor ………………… war einer der bekanntesten Autoren des Realismus. …………………………………… ist der Autor von ‚A Christmas Carol und von …………………….. Balzac, schaffte mit der ‚Comédie humaine’ein Werk im Umfang von…………………………..Bänden. Effi Briest – ein gesellschaftskritischer Roman?? 52 Sehen wir es recht, so sind es im wesentlichen drei Punkte, an denen der gesellschaftskritische Gehalt des Romans festgemacht wird, und zwar 1. an Innstettens Ehrbegriff und der Duellproblematik, 2. an Effis Scheidung und den Folgen, die diese für sie hat, 3. an der Art und Weise von Effis Verheiratung bzw. an der ihr zugemuteten Ehe. Die beste Möglichkeit, Fontanes Intentionen in diesen Punkten genauer zu bestimmen, bietet sich zweifellos in dem bekannten Sachverhalt an, dass er sich bei seinem Roman auf einen wirklichen Vorfall, die Ardenne-Geschichte, gestützt hat, ihm also bestimmte Konstellationen historisch vorgegeben waren. Erstaunlicherweise hat man diese Möglichkeit bisher kaum genutzt, sondern sich bei Vergleichen mit dieser Geschichte im Wesentlichen mit dem Nachweis von Motivparallelen zufrieden gegeben. Prüfen wir deshalb einmal anhand dieses Bezugspunktes, der ja auch didaktisch interessant ist, was sich an gesellschaftskritischen Tendenzen für Fontanes Roman ergibt. 1. Was zunächst das Duell angeht, so steht in Effi Briest bekanntlich die Frage im Vordergrund, ob es nicht auch bei dieser Sanktion den Verjährungsfall geben sollte, d.h. ob nicht auch die schwerste Beleidigung oder Kränkung irgendwann für erledigt gehalten werden müsse. Nicht also um die Legitimität des Duells schlechthin geht es, sondern lediglich um die Frage seiner Opportunität, wenn der Anlass wie hier sechs oder sieben Jahre zurückliegt. Das ist natürlich eine Einschränkung, und sie wiegt umso schwerer, als der Ardenne-Fall sie nicht enthielt. Hier hatte der Rittmeister von Ardenne das Verhältnis seiner Frau zu dem in seinem Hause verkehrenden Amtsrichter Hartwich vielmehr entdeckt, als es noch andauerte, d.h. es hätte sich an diesem Beispiel die Duellfrage bei weitem grundsätzlicher behandeln lassen. Nun könnte eingewendet werden, dass Fontane gerade dadurch, dass er den Anlass um Jahre zurückverlegt, Innstetten sich also persönlich nicht mehr gekränkt fühlt, das gesellschaftlich Zwanghafte dieses Rituals nur um so deutlicher zum Vorschein bringt. Aber ist dies wirklich der Fall, d.h. belastet er dadurch nicht doch eigentlich nur Innstetten? Wenn man immer wieder dessen Wort vom ,uns tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas' zitiert, um seine Verpflichtung zu diesem Duell unter Beweis zu stellen, so übersieht man, dass sogar er selbst später zu der Einsicht kommt, dass er sich das Ganze auch hätte ersparen können.8) Mit anderen Worten: Der ganze subtile Begründungsweg, auf dem Wüllersdorf und er sich darin einig werden, dass es keine Alternative gibt, kann am Ende nicht verbergen, dass Innstetten hier nur mit seiner eigenen Unsouveränität nicht fertig wird.9) Dass schon Fontanes Zeitgenossen ihn ein ,altes Ekel' nennen, zeigt die Wirkungslosigkeit seiner Rechtfertigungen zur Genüge. Ein Mann wie Ardenne hingegen, der nicht nur direkter provoziert, sondern auch seinem Ruf als Offizier verpflichtet war, konnte bei seinem Duellentschluss auf ein gewisses Verständnis immer rechnen, so dass sich an seinem Fall wirklich gesellschaftliche Zwänge hätten demonstrieren lassen. Eine geringe gesellschaftskritische Reichweite der Duell-Konstellation ergibt sich aber auch daraus, dass Crampas, als das Opfer dieses Duells, kaum Mitleid erregt. Einerseits ist er der, der Effi ,verführt', sie also ins Unglück gestürzt hat und der schon deshalb Strafe verdient, und andererseits ist er auch noch der, der sie bekommen, sie besessen hat und den wohl erst recht der Tod darum zu hart nicht trifft. Wie stark schon Fontane selbst auf einen solchen Sühne- und Vergeltungsgedanken ausgerichtet war, sieht man beiläufig daran, dass der vorgebliche Zweikampf, der hier stattfindet, für Innstetten völlig risikolos erscheint, also fast schon den Charakter einer Hinrichtung hat. Denn obwohl es Innstetten bei Crampas mit einem Be- 53 rufsoffizier zu tun hat, braucht er sich keinen Moment danach zu fragen, ob er gegen diesen ein Pistolenduell überhaupt wagen könne. Er wie auch Wüllersdorf gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass nur jener das Opfer sein könne.10) Wenn auf diese Weise Crampas' Tod aber letztlich nur recht und billig erscheint, so bedeutet das auch, daß auf das Duell hier kein so besonders kritisches Licht fällt. Im Übrigen werden die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse in diesem Punkt aber auch falsch eingeschätzt. Zum einen war man sich in einer breiten Öffentlichkeit in der Verurteilung des Duells längst einig, so daß eine Kritik an ihm keineswegs mehr prinzipiell ,Gesellschaftskritik' war, zum anderen wurde es als Sonderbrauch einer bestimmten kleinen Schicht für so wichtig dann auch wieder nicht gehalten. Das gilt jedenfalls für Fälle wie den Ardenne-Fall, der durchaus nicht, wie man des Öfteren zu lesen bekommt, für großes Aufsehen gesorgt hat. In der zufällig zwei Wochen nach diesem Duell stattfindenden Reichstagsdebatte über das Duellunwesen11) wird dieser jüngste Duellfall mit Todesfolge noch nicht einmal erwähnt, und auch Fontane selbst hat ja, obwohl zu dieser Zeit in Berlin, also am Ort des Geschehens, von dem Vorfall erst zwei Jahre später Kenntnis erhalten.12) Größeren Anteil nahm die Presse höchstens an Duellen aus beruflichen oder politischen Rivalitäten, so z.B. wenn ein Landrat jemanden allein schon deshalb vor die Pistole forderte, weil er gewagt hatte, seine Amtsführung zu kritisieren.13) Duelle um Liebesangelegenheiten erschienen im Vergleich dazu beinahe normal - auch wohl in der Sicht Fontanes. Mit der Duellfrage werde man so bald nicht fertig werden, schrieb er an Harden, denn eine Orientierung am Beispiel Englands mit seinen ,alles mit Moneten begleichenden Zuständen' erscheine ihm auch nicht ideal.14) Einleitung: Theodor Fontanes Vorbild für Effi Briest ist die 1853 geborene Elisabeth Freiin von Ploth. Sie verlobt sich im Jahr 1871 als 17-jährige mit dem 22-jährigen Leutnant Armand von Ardennes. 1873 heiraten die beiden und ziehen nach Berlin. Acht Jahre später kehrt Ardenne als Rittermeister zu den Husaren nach Düsseldorf zurück und Elisabeth folgt ihm. Die Familie Ardenne ist seit 1980 mit dem verheirateten Amtsrichter Emil Hartwich (er ist 10 Jahre älter als Elisabeth) freundschaftlich verbunden. Aus dieser Verbundenheit heraus geht Elisabeth mit 31 Jahren eine Beziehung mit ihm ein, da sie keine glückliche Ehe führt. Sie tragen sich beide mit dem Gedanken, sich scheiden zu lassen. Der misstrauisch gewordene Ardenne entdeckt in einer verschlossenen Kassette die Pläne der beiden; daraufhin reicht er seinerseits die Scheidung ein und fordert Emil Hartwich zum Duell, das am 27. November 1886 mit der schweren Verwundung von Hartwich endet. Dieser stirbt an seinen Verletzungen - die Kinder der Familie Ardenne werden nach der Scheidung dem Vater zugesprochen. Die geschiedene Elisabeth widmet sich dem Dienst an hilfsbedürftigen und kranken Menschen und stirbt 1952 fast 100-jährig am Bodensee. Ein Duell (lat.: duellum) ist ein freiwilliger Zweikampf mit gleichen, potenziell tödlichen Waffen, der von den Kontrahenten vereinbart wird, um eine Ehrenstreitigkeit auszutragen. Das Duell unterliegt traditionell festgelegten Regeln. Duelle sind heute in den meisten Ländern verboten. Als Zweck des Duells galt es, für eine wirkliche oder vermeintliche Beleidigung Genugtuung (Satisfaktion) zu erhalten bzw. zu geben. Dabei ging es nicht darum, wer im Zweikampf „siegte“, sondern ausschließlich darum, dass beide Duellanten durch 54 die bloße Bereitschaft, sich um ihrer „Mannesehre“ willen zum Kampf zu stellen und dafür Verletzung oder Tod zu riskieren, ihre persönliche Ehrenhaftigkeit unter Beweis stellten bzw. wiederherstellten. Unabhängig von seinem Ausgang hatte das Duell zur Folge, dass die Beleidigung als „gesühnt“ galt und beide Beteiligten in ihren Augen und im Urteil der Gesellschaft wieder als „Ehrenmänner“ angesehen wurden. Nicht jedermann war zur Teilnahme an diesem gesellschaftlichen Ritual berechtigt. Als „satisfaktionsfähig“ galt ursprünglich nur, wer das Recht zum Waffentragen hatte, d. h. Adlige, Offiziere und Studenten. Die wachsende politische, wirtschaftliche und soziale Bedeutung des Bürgertums im 19. Jahrhundert hatte zur Folge, dass schließlich auch Bürgerliche als satisfaktionsfähig betrachtet wurden, sofern sie der „besseren“ Gesellschaft angehörten und bereit waren, sich deren „Comment“, d. h. ihren ungeschriebenen Verhaltensregeln, zu unterwerfen. Die objektiven Kriterien für diese Zugehörigkeit waren nicht klar abgegrenzt, wurden aber jedenfalls durch ein akademisches Studium oder den Erwerb eines Reserveoffiziersgrades erfüllt. Das Duellwesen war also immer auch Ausdruck eines elitären Standesdenkens, das sich nach „unten“ dadurch abzugrenzen versuchte, dass man allein den Angehörigen der „höheren Gesellschaftskreise“ das dazu erforderliche „feinere Ehrgefühl“ zuschrieb. Ideologische Grundlage des Duellwesens war das Festhalten an der zumindest im 19. Jahrhundert längst anachronistisch gewordenen Vorstellung eines „ritterlichen“ Standes freier, waffentragender Männer, die sich und ihre Ehre selbst verteidigen können und müssen, ohne zu einer staatlichen Obrigkeit Zuflucht zu nehmen (siehe auch: Fehde). Die Ehre, um die es hier ging, war daher nicht nur persönliche Ehre, sondern zugleich Standesehre: Wer zu diesem Stand gehören wollte (als Adliger, Offizier, Student oder von diesen Gruppen gesellschaftlich akzeptierter Angehöriger des Bürgertums), war nicht nur berechtigt, sondern sozial verpflichtet, Angriffe auf seine Ehre abzuwehren, entweder, indem er Zurücknahme oder Entschuldigung erlangte, oder – wenn das verweigert wurde oder die Beleidigung zu schwer war – indem er den Beleidiger zum Duell forderte. Entzog er sich dieser Verpflichtung, wurde er von seinen Standesgenossen gesellschaftlich geächtet und als ehrlos betrachtet. Umgekehrt führten als unehrenhaft betrachtete Verhaltensweisen auch zum Verlust der Satisfaktionsfähigkeit. Auslöser des Duells war immer eine Beleidigung der Mannesehre. Als solche galt jede öffentliche Verächtlichmachung, z. B. durch direkte verbale Beleidigung oder Herabsetzung, indirekte üble Nachrede, tätlichen Angriff, aber auch Verletzung der Ehre oder sexuellen Integrität von Frauen, die in der Obhut des Beleidigten standen (vor allem die Ehefrau, aber auch Schwester, Tochter, Verlobte). Es wurde zwischen leichten, mittleren und schweren Beleidigungen unterschieden; bei leichten (z. B. einer unbedachten unhöflichen Bemerkung, die als beleidigend aufgefasst werden konnte), genügte in der Regel eine Entschuldigung, während bei schweren Beleidigungen (z. B. einem Schlag ins Gesicht) ein Duell unvermeidlich war. Der Beleidigte forderte den Beleidiger zum Duell, und zwar nicht persönlich, sondern durch einen oder (meistens) zwei Sekundanten, die er unter seinen Standesgenossen wählte. Offiziere und Studenten mussten zuvor einen „Ehrenrat“ oder ein „Ehrengericht“ anrufen, das den „Ehrenhandel“ prüfte, einen gütlichen Ausgleich herbeizuführen suchte und nur in schweren Fällen die Zustimmung zum Duell und zu den vereinbarten Bedingungen gab. Die Forderung musste innerhalb von 24 Stunden nach der Beleidigung ergehen oder nachdem der Beleidigte davon erfahren hatte. Die Sekundanten verhandelten mit den Sekundanten des Beleidigers über die Möglichkeit einer friedlichen Beilegung oder, wenn das nicht möglich war, über die Einzelheiten der Durchführung des Duells. Übliche Duellwaffen waren Säbel und Pistole. Ungewöhnliche Waffen oder Bedingungen bedurften der Zustimmung beider Seiten, ansonsten konnte der Beleidigte die Waffen und die Bedingungen bestimmen. Wegen des offiziellen Duellverbots wurden die Vorbereitungen möglichst geheim gehalten und Duelle meist in den frühen Morgenstunden an abgelegenen, einsamen Orten durchgeführt. Außer den Duellanten waren ein Arzt und die beiderseitigen Sekundanten, eventuell auch noch ein Unparteiischer anwesend, der gemeinsam mit den Sekundanten über die ordnungsgemäße Durchführung wachte. Die Waffen mussten für 55 beide Kämpfer genau gleich sein. Als Pistolen benutzte man ausschließlich einschüssige Vorderladerwaffen, die mit Schwarzpulver und bleiernen Rundkugeln im Kaliber 12 bis 17 mm geladen wurden. Die Treffergenauigkeit dieser Waffen, die oft noch glatte, nicht gezogene Läufe hatten, war nur gering; andererseits waren Verletzungen durch die großkalibrigen Geschosse schwer und führten oft noch Tage nach dem eigentlichen Duell zum Tode. Die Schärfe der Bedingungen (und damit die Gefährlichkeit des Duells) hing von der Schwere der Beleidigung ab. Bei Pistolenduellen variierten die Zahl der Schusswechsel (1, 2 oder 3) und die festgelegte Entfernung, die zwischen 15 und 100 Schritten (ca. 11-74 m) liegen konnte. Bei Säbelduellen wurde entweder bis zur ersten blutenden Wunde oder bis zur Kampfunfähigkeit gekämpft. Mit beiderseitiger Zustimmung konnten auch schärfere Ausnahmebedingungen vereinbart werden, bis hin zum Extremfall des sprichwörtlich gewordenen „Sich über das Sacktuch schießen“. Hierbei hielten die Duellanten ein Taschentuch an den diagonal gegenüberliegenden Enden fest und schossen gleichzeitig, wobei aber nur eine Pistole geladen war. 56 Zitate zur Epoche des 19. Jahrhunderts und zur Literatur des Realismus An die Realisten. -Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei gewappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierath aus eurer Leere machen möchtet, ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen: vor euch allein stehe die Wirklichkeit entschJeiert, und ihr selber wäret vielleicht der beste Theil davon, - oh ihr geliebten Bilder von Sais! Aber seid nicht auch ihr in eurem entschleiertsten Zustande noch höchst leidenschaftliche und dunkle Wesen, verglichen mit den Fischen, und immer noch einem verliebten Künstler allzu ähnlich? - und was ist für einen verliebten Künstler " Wirklichkeit" ! Immer noch tragt ihr die Schätzungen der Dinge mit euch herum, welche in den Leidenschaften und Verliebtheiten früherer Jahrhunderte ihren Ursprung haben! Immer noch ist eurer Nüchternheit eine geheime und unvertilgbare Trunkenheit einverleibt! Eure Liebe zur "Wirklichkeit" zum Beispiel- oh das ist eine alte uralte "Liebe"! In jeder Empfindung, in jedem Sinneseindruck ist ein Stück dieser alten Liebe: und ebenso hat irgend eine Phantasterel e1n Vorurtheil, eine Unvernunft, eine Unwissenheit, eine Furcht und was sonst noch Alles! daran gearbeitet und gewebt. Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran " wirklich" ? Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zuthat davon ab, ihr Nüchternen ! Ja, wenn ihr das könntet! Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschule vergessen könntet, -eure gesammte Menschheit und Thierheit! Es giebt für uns keine "Wirklichkeit" - und auch für euch nicht, ihr Nüchternen -, wir sind einander lange nicht so fremd, als ihr meint, und vielleicht ist unser guter Wille, über die Trunkenheit hinauszukommen, ebenso achtbar als euer Glaube, der Trunkenheit überhaupt unfähig zu sein." FRIEDRICH NIETZSCHE: DIE FRÖHLICHE WISSENSCHAFT. IN: BD,3, s. 421 F. (…) Bitte nicht zu realistisch! Noch 1830 wurde in Deutschland im Frühjahr 1848 zum zweiten Mal eine Revolution versucht. Vor allem das reiche und einflussreiche Besitz- und Bildungsbürgertum wollte endlich auch politisch mitbestimmen. Beim ersten Ansturm im März gaben die Fürsten dem Volkswillen nach, versprachen Reformen und bewilligten allgemeine Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Die trat' dann im Mai in der Frankfurter Paulskirche zusammen, arbeitete eine Verfassung aus und bot dem preußischen König die Kaiserkrone des neuen deutschen Reiches an. Doch Friedrich Wilhelm IV. wollte keine Krone aus den Händen derVolksvertreter, an der noch der "Ludergeruch der Revolution" hafte, wie er es nannte. "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!", soll er gesagt haben. Bald marschierten die Soldaten auch wieder und erstickten alle Bestrebungen, "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland" zu erlangen. Die Fürsten, die ihren Herrschaftsanspruch noch immer "von Gottes Gnaden" herleiteten, regierten weiter. Aber sie konnten die Entwicklungen in Richtung Demokratie und nationale Einheit nur noch verzögern, nicht mehr verhindern. Die von England ausgehende Industrialisierung veränderte das Lebender Menschen so grundlegend, dass man auch von einer "industriellen Revolution" spricht. Zahlreiche Erfindungen und Entdeckungen führten zu einem stürmischen Wirtschaftsaufschwung, Handwerksbetriebe und Manufakturen (kleine Fabriken) wurden von Großbetrieben verdrängt, weil die mit besseren Maschinen und weniger Menschen billiger produzieren konnten. Gleichzeitig zogen viele Landarbeiter in die schnell wachsenden Städte und bildeten dort mit den verarmten Handwerkern das so genannte Prole- 57 tariat, das nichts besaß als seine Arbeitskraft. Das Bürgertum profitierte am meisten von dieser Entwicklung und versuchte, seine fehlende politische Bedeutung durch Bildung und wirtschaftliche Macht auszugleichen. Man war optimistisch und glaubte an den Fortschritt, der zum Segen für die Menschheit werden sollte. Dieser Glaube hatte allerdings nichts mit überirdischen Wesen oder Mächten zu tun, sondern beruhte auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Welt und die Dinge schienen nur noch dazu da, um erforscht und verwertet zu werden. Alle negativen Seiten des Fortschritts wurden verharmlost - denn der Zweck heiligte die Mittel. Dieses neue Denken beeinflusste natürlich auch die Dichter. "Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus", schrieb Theodor Fontane und brachte damit die Sache auf den Begriff. Realistisch hatte auch die Literatur zu sein - alterdings nicht zurealistisch! " Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nächste Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten." Aufgabe der Literatur sei es, so Fontane weiter, die Wirklichkeit poetisch zu gestalten, um dem Leser sozusagen eine gereinigte, bessere Welt vorzuführen. In einfacher, gut verständlicher Sprache sollte von Menschen erzählt werden, die ihr Leben meistern, weil sie optimistisch sind und auch dann nicht aufgeben, wenn das Schicksal es nicht so gut mit ihnen meint. Ein wichtiges Mittel dieses "poetischen Realismus" war der Humor. Der Schweizer Gottfried Keller (1819-1890), der sich von 1848-1854 in Heidelberg und Berlin aufhielt, hat das "Programm" des poetischen Realismus in seinen Texten wie kaum ein anderer verwirklicht. Und bis heute steht seine Novelle Kleider machen Leute in vielen Deutschlehrplänen. (AUS. GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR. ERZÄHLTVON MANFRED MAI. MIT BILDERN VON ROTRAUT SUSANNE BERNER. WEINHEIMIBASEL: BELTZ & GELBERG, 2001, S. 83-84.) 58 „Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so dass wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren.“ (Theodor Fontane) 1. Interpretieren Sie diese Aussage Fontanes vor dem Hintergrund Ihres Wissens über die Epo che und formulieren Sie Ihre Meinung dazu. ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ ________________________________________________ Bilder aus der Talkrunde: ‚Tote leben länger, Schreiben hält fit’ 59 Die Autoren Die Sekretärin von Fontane trägt im Publikum ‚John Maynard’ vor. Das Publikum 60 Stendhal hat die Fahne seines Landes dabei – die Trikolore Stendhal und Wilhelm Raabe Gottfried Keller und Gustave Flaubert 61 Im Gespräch Der Kollege ist amüsiert Charles Dickens liest aus seinem Roman 62 63