11.35 S Rede Quo vadis_Freunde der Kammerspiele Bonn vom 20
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11.35 S Rede Quo vadis_Freunde der Kammerspiele Bonn vom 20
Quo vadis – oder was wird aus dem deutschen Stadttheater Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde der Kammerspiele, ich soll über die Zukunft des deutschen Stadttheaters reden, das tue ich gerne, zumal ich ja fast nichts anderes mehr mache und eigentlich auch nie gemacht habe. Denn nahezu alles, was der Bühnenverein so treibt, hat etwas mit der Zukunft des Stadttheaters zu tun. Das Besondere dabei ist allerdings, wir reden nicht nur darüber, sondern wir gestalten sie auch, die Zukunft von 140 öffentlich getragenen Theatern, der, um genauer zu sein, Stadt- und Staatstheater sowie Landesbühnen. Und ich kann Ihnen aus leidvoller Erfahrung sagen, darüber reden ist einfach, etwas zu tun bekanntlich deutlich schwerer. Wer das nicht glaubt, der möge einmal mit Gewerkschaften über Tarifverträge, mit Verlegern über Urheberrecht oder – horribile dictu - mit Politikern über öffentliche Zuschüsse oder gesetzliche Rahmenbedingungen für die Kunst zu verhandeln ist. Zurzeit tobt wieder einmal eine Debatte im Netz: die Zukunft des Stadttheaters. Es ist etwa das 127. Wortgefecht zu diesem Thema - oder vielleicht auch nur die immer wieder neue Aufwärmung des Dauerthemas Theaterkrise. Gustav Gründgens soll ja schon seinerzeit morgens ins Theater gekommen sein, um als erstes die Krise zu begrüßen. Nun versucht sich die Universität Hildesheim mit diesem Thema zu profilieren und hat mehrere Wissenschaftler gebeten, sich in einer Art Vorlesungsreihe zur Sache zu äußern. Da wird dann das Ende des Stadttheaters besungen und mit dem Ende des Wohlfahrtsstaates begründet. Oder es wird geweissagt, dass die Zukunft des Theaters in der Provinz liegt, was, wenn es denn stimmte, Sie als theaterbegeisterte Bonner sogleich veranlassen sollte, Bonn zur Provinz zu erklären. Deprofessionalisierung und Laienbeteiligung wird zur Zukunftsvision hochstilisiert. Man arbeitet sich ab an Begriffen wie transkulturellem Theater und fordert neue performative Spielweisen, nicht Spielwiesen, zeitgenössische und experimentelle Inszenierungen, die Vereinfachung und Entschleunigung von Produktionsprozessen und vieles mehr. Dabei unternimmt man nicht einmal die Anstrengungen zu definieren, was man mit alldem eigentlich genau meint und wohin das ganz pragmatisch führt. Man tut so, als habe sich nichts getan in den letzten Jahren: keine Tarifreform, keine Flexibilisierung der inneren Strukturen, keine Öffnung des Theaters in neue gesellschaftliche Räume, keine Entwicklung bei Regie und Inhalten. Das Wort Zuschauer kommt in den meisten Vorträgen im Übrigen so gut wie nicht vor. Und am Ende beteiligen sich dann in den Kommentaren zu den eher theoretischen Vorträgen die selbsternannten Experten. Sie kommentieren selbstverständlich unter Pseudonym: Plittipatsch und Pumuckl, Lore aus Singapore, der Festangestellte und der Neckermann. Alles nachzulesen, wenn es Sie interessiert, in dem auch in diesem Punkte verdienstvollen Portal nachtkritik.de. Es ist doch immer schön, so einen Einblick in die Debattenkultur hierzulande zu bekommen. Sie sehen, Sie finden mich überrascht, allerdings auch leicht überfordert, denn schließlich bin ich ja genauso wenig ein Hellseher, wie die zuvor genannten Damen und Herren. Wenn ich von Journalisten gefragt werde, wie viele Stadttheater in der Zukunft geschlossen werden, dann antworte ich stets: gar keins. Es gehe nur um die Frage, wie, was und wie viel jedes einzelne Haus in 20 Jahren produziere. Und an diese Frage will ich mich ein wenig herantasten, wobei ich nicht über das Theater in Bonn, sondern viel über das Theater generell sprechen werde. Aber – schließlich sind wir hier bei den Freunden der Kammerspiele – ich möchte mich weniger auf die Oper und das Orchester, sondern mehr auf das Schauspiel besinnen. Und so fängt es nun auch an: Als der Schauspieler Ernst Josef Aufricht 1927 das Theater am Schiffbauerdamm übernehmen wollte, fehlte ihm – wen überrascht das – nur eines: Geld. 50.000 Reichsmark sollte er unter anderem beim Berliner Polizeipräsidenten als Kaution für die Theaterkonzession hinterlegen. Um für die delikate Angelegenheit eine Regelung zu finden, hatte sich Aufricht bei dem Berliner Bankier Herzfeld in dessen Privatbüro, Unter den Linden 21, einzufinden. Als Aufricht das Büro Herzfelds betrat, eröffnete dieser das Gespräch mit folgenden Sätzen: „Ihr Vater hat sie bei mir für 100.000 Reichsmark akkreditiert. Er hat mich ebenfalls angewiesen, in ihrem Namen 50.000 Reichsmark als Kaution beim Polizeipräsidium zu hinterlegen und ihren Pachtvertrag mit den Eigentümern des Theaters am Schiffbauerdamm zu garantieren. Darf ich jetzt bitten, mir zu folgen.“ Herzfeld ging voraus, führte Aufricht in ein Klosett und sagte: „Wenn ich Ihnen das Geld bar auszahle und sie werfen es hier hinein und ziehen“, er zog, „dann ist es weg und Sie haben keinen Ärger gehabte. Wenn Sie damit ein Theater eröffnen, ist es auch verloren und Sie werden viel Ärger haben.“ 2 Aufricht tat das, was jeder Intendant tut: er nahm das Geld. Damit war der Pachtvertrag über das Theater am Schiffbauerdamm perfekt. Wenig später, nämlich am 31. August 1928, wurde unter Aufrichts Leitung das Theater am Schiffbauerdamm feierlich wieder eröffnet, und zwar mit einem Stück, das ein Welterfolg werden sollte, der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht. Warum erzähle ich Ihnen diese Theater-Anekdote? Nun, weil sich aus ihr für den heutigen Tag eine klare Erkenntnis ableiten lässt. Für ein erfolgreiches Theater braucht man zunächst zwei Dinge: Erstens Geld und zweitens ein gutes Theaterstück. Damit lässt sich zwanglos zum Thema überleiten, jedenfalls zu einem Teil des Themas. Denn wer sich die Frage stellt, wohin das Theater geht, der kann und muss sich auch mit den Entwicklungen beschäftigen, die es schon immer durchlaufen hat. Theater gab es schon vor 2000 Jahren. Natürlich hat es sich verändert und musste es sich verändern. Aber man muss das Theater-Rad auch nicht jedes Jahr neu erfinden. Wir wollen nun nicht gleich über Geld reden, sondern lieber über Inhalte. Also soll es erst einmal um die Frage gehen, was ist ein gutes Stück? Die Frage lässt sich zunächst einfach beantworten: Ein gutes Theaterstück ist ein Stück, das sich über Jahrzehnte, teilweise sogar über Jahrhunderte in den Spielplänen der Theater durchgesetzt hat. Und natürlich fallen Sie einem jetzt alle ein, die großen Autoren der Weltliteratur: Aischylos, Sophokles und Euripides, Shakespeare und Molière, natürlich Goethe und Schiller, Tschechow und Ibsen, Pirandello sowie viele andere. Und so ist schnell eine Aufgabe umschrieben, die das Theater von jeher hatte und weiterhin haben wird: die Pflege der Weltliteratur. Theaterstücke sind geschrieben, um aufgeführt zu werden. Werden sie nicht aufgeführt, sterben sie. Beispiele dafür gibt es genug. Goethe hat in seinem Theater in Weimar viel Kotzebue gespielt, wer kennt heute noch Kotzebue? Glaubt wirklich jemand, die 5,3 Millionen Zuschauer, die das Schauspiel der öffentlich getragenen Theater, also der Stadt-und Staatstheater sowie der Landesbühnen, jährlich besuchen, würden alle die Theaterstücke lesen, die sie auf der Bühne sehen? Nein, das wäre sicher nicht der Fall. Ich sehe jetzt praktisch Ihren Gesichtern an, wie Ihre grauen Zellen um die Frage kreisen, ob man denn die Stücke, die man gemeinhin als Klassiker bezeichnet, überhaupt noch als solche zu sehen bekomme. Schließlich gebe es ja das so verpönte Regietheater, das manchem Stück schlicht den Garaus mache. Nun, meine 3 Damen und Herren, ich räume ein, nicht alles, was das Regietheater produziert, gelingt. Doch ist und bleibt das Außergewöhnliche des täglichen Theaterlebens in Deutschland, dass wir all die Stücke, die sich seit Jahrzehnten und Jahrhunderten auf den Spielplänen befinden, immer neu nach ihrer Aktualität befragen. Und ausschließlich das hält das Theater lebendig. Natürlich bin auch ich manchmal im Zweifel, ob es richtig ist, die Stücke bis zur Unkenntlichkeit zu zerstückeln. Sicher wird diesbezüglich zuweilen über das Ziel hinausgeschossen. Doch wer glaubt, wir hätten mit der Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts das 20. Jahrhundert bestreiten können, und könnten mit der Aufführungspraxis des 20. Jahrhunderts das 21. Jahrhundert im Theater erfolgreich bespielen, der unterliegt einem gewaltigen Irrtum. Darstellende Kunst bleibt darstellende Kunst, also Kunst. Sie muss sich immer weiter entwickeln, will sie überlebensfähig sein. Das liegt in der Natur der Sache. Das gilt für die darstellende Kunst wie für die bildende Kunst. Auch heute malt niemand mehr ein Bild im Stil von Rubens oder Rembrandt. Wir erwarten von der Kunst eine Herausforderung, eine Aufforderung zum Denken und zur Reflexion der heutigen Zeit. Das Theater ist und bleibt also ein gegenwartsbezogener Denkraum, ist kein Archiv. Gäbe es nicht die Konfrontation mit dem Heute, wäre Theater langweilig. Deshalb müssen wir auch weiterhin auf die Gestaltungskraft der Regisseure setzen, um unser Publikum zu den neuen Ufern einer immer neuen Zeit zu führen. Allerdings bedarf es aus meiner Sicht im Schauspiel schon eines sich Besinnens auf die Sprache. Das gilt zunächst jedenfalls für die Stücke der Vergangenheit. Natürlich ist es zuweilen notwendig, die Sprache eines Stückes dem gegenwärtigen Sprachgebrauch ein wenig anzupassen, obwohl auch da über das Ziel hinausgeschossen wird, wie sich der aktuellen Debatte über bestimmte Begrifflichkeiten in Kinderbüchern entnehmen lässt. Die Chance der Neugestaltung hat man jedenfalls immer bei der Neuübersetzung von Stücken in fremder Sprache. Ein englischer Kollege hat mir einmal gesagt: "Ihr habt es gut, ihr könnt den Shakespeare stets neu übersetzen, wir müssen ihn immer im Original spielen." Dennoch: Sprechtheater ist und bleibt nun einmal der Sprache, in der es stattfindet, verpflichtet. Und deshalb haben wir, selbst wenn das Stück nicht mehr urheberrechtlich geschützt ist, die Pflicht, es sprachlich nicht vollständig zu verändern. Wollen wir es im Einzelfall dennoch tun, muss es dafür sehr plausible und überzeugende künstlerische Gründe geben, die aus der Aufführung erkennbar sein 4 müssen. "Faust Wurzel aus eins und zwei" von Christoph Marthaler war so ein Beispiel, das Goethe brillant vom Sockel holte und es sich deshalb leisten konnte, die Sprache Goethes massiv zu verändern. Alles andere wird dem Wert der Literatur nicht gerecht. Womit sich die Frage stellt, wie es um neue Stücke steht. In jeder Spielzeit werden in Deutschland rund 500 neue dramatische Sprachwerke uraufgeführt. Etwa 75 solcher Stücke kommen in jeder Spielzeit zu einer deutschsprachigen Erstaufführung. Das ist eine gewaltige Zahl, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, dass darin auch die Uraufführungen und deutschsprachigen Erstaufführungen der Privattheater sowie der freien Szene enthalten sind. Selbstverständlich richtet sich die Sprache eines neuen Stückes auch danach, in welchem sozialen Milieu es spielt. Schließlich geht es ja im Theater darum, die Wirklichkeit abzubilden, um den Zuschauer zu veranlassen, sich mit eben dieser auseinanderzusetzen. Es gehört deshalb dazu, dass sich neue Stücke in unterschiedliche soziale Milieus begeben. Die darzustellenden Abgründe existieren ja bekanntlich nicht nur am Rande der Gesellschaft, sondern durchaus auch in ihrer Mitte. Und in diesem Zusammenhang möchte ich hier vor einer häufig geäußerten Meinung warnen. Nämlich der, dass die bürgerliche Gesellschaft, das Bürgertum, vom Aussterben bedroht sei. Daran glaube ich nicht und mag ich nicht glauben. Eher bin ich vom Gegenteil überzeugt. Der Citoyen ist gefragter denn je. Es ist nach wie vor das Theater, das in der Lage ist, den Raum für den Diskurs der bürgerlichen Gesellschaft zu bieten. Deshalb muss das Theater aber auch ihre Fragen auf der Bühne verhandeln und so den Zuschauer für sich gewinnen. Der Zuschauer, der sich langweilt, ist ein verlorener Zuschauer. Ich habe schon oft den Satz gesagt und wiederhole ihn hier: Es ist besser, ein Zuschauer verlässt Türe knallend den Saal, als dass er einschläft. Vor allzu Speziellem ist also zu warnen. Das Theater ist kein Elfenbeinturm. Niemand hat in diesem öffentlich getragenen Gebäude das Recht, sich um sich selbst zu drehen. Gefordert ist die Auseinandersetzung mit der Welt. Das setzt voraus, dass man sie kennt. Nur dann steht Theater im Mittelpunkt der Gesellschaft. Diese Nähe zur Lebenswelt bedeutet zugleich, dass das Theater eine Haltung haben muss. Beliebiges gibt es in der Gesellschaft genug. Wer daran interessiert ist, hat im Fernsehen ausreichend Gelegenheit, diesem Interesse nachzugehen. „Das Theater ist ein Unternehmen, das Abend-Unterhaltung verkauft," hat Berthold Brecht einmal 5 gesagt. Man darf aber Unterhaltung nicht mit billiger Zerstreuung verwechseln. Das Publikum erwartet zu Recht, dass man etwas von ihm fordert. Wer als Theatermacher nichts will, hat im Theater nichts verloren. Es geht eben nicht darum, sich dem Publikum anzubiedern. Dieter Hildebrand hat einmal gesagt (und August Everding hat ihn oft zitiert): „Wer seinem Publikum hinterherläuft, wird auf Dauer nur dessen Arsch sehen.“ Letztlich ist also das Theater immer politisch. Es sind eben die Bretter, die die Welt bedeuten. Um alle diese Aufgaben zu bewältigen braucht das Theater Menschen; Menschen die Theater machen. Denn Theater ist kreatives Schaffen. Nachdem bisher der Zuschauer reichlich bedacht war, geht es jetzt also um die Akteure. Entscheidet sich eine Gesellschaft dazu ein Theater zu unterhalten, entscheidet sie sich auch für das Existieren von Künstlern und deren kreatives Schaffen. Beginnen wir noch einmal mit den Autoren. Niemand würde Stücke schreiben, wenn sie nicht aufgeführt werden. Niemand würde sich also ohne Theater in dramatischer Literatur mit der Gesellschaft auseinandersetzen. Tatsächlich geben allein die öffentlich getragenen Theater jährlich 33 Millionen Euro für Urheberabgaben im weitesten Sinne aus, etwa die Hälfte davon geht an die Autoren im Sprechtheater. Der Einzelne kann zwar oft nicht allein von dem Geld leben, das er aus seiner Autorentätigkeit bekommt, dennoch ist die Verdienstmöglichkeit ein wesentlicher Antrieb für das Schreiben von Stücken. Nicht anders ist es mit den künstlerischen Akteuren auf und hinter der Bühne, also auch mit den Schauspielern. Dabei ist das Besondere des deutschen Stadttheaters, dass es – vor allem im Schauspiel – vom Ensemble-Gedanken geprägt ist. Schauspieler werden in Deutschland nicht wie in anderen europäischen Ländern von Projekt zu Projekt, sondern mit befristeten Arbeitsverträgen für eine oder mehrere Spielzeiten dauerhaft beschäftigt. Das zeichnet das deutsche Stadttheater aus, führt aber auch zu höheren Kosten. Wir sind beim Geld angelangt. In diesem Zusammenhang ist einmal mit der elenden Diskussion aufzuräumen, die öffentlichen Gelder würden zur Verbilligung der Eintrittskarten zur Verfügung gestellt. Wie oft ist in der Zeitung nachzulesen, dass ein Theater pro verkaufter Karte diesen oder jenen Betrag an öffentlichen Zuschüssen bekommt. Wer glaubt, die öffentlichen Zuschüsse seien dazu da, die Theaterkarte mitzufinanzieren, der irrt jedoch. Die Theaterkarten werden auch in Deutschland weitgehend zu marktgerechten Preisen verkauft. Wobei unter marktgerecht zu verstehen ist, dass andere Preise am Markt 6 nicht zu erzielen sind. Und höhere Eintrittspreise machen ohnehin nur dann Sinn, wenn nach der Preiserhöhung mindestens die gleiche Anzahl von Besuchern kommt. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, niedrigere Preise wären wirtschaftlicher, weil dann mehr Menschen kämen, was die Akzeptanz des Theaters fördern würde. Beispiele für diese These gibt es zu nennen. Die öffentlichen Zuschüsse dienen also ausschließlich dazu, den Künstlern und allen anderen Theatermitarbeitern ein angemessenes Einkommen zu garantieren, was sie ohne diese öffentlichen Zuschüsse nicht hätten. Die öffentliche Hand finanziert also den künstlerischen Betrieb. Dabei sind sie zugleich eine Art Risikoprämie. Denn die öffentliche Finanzierung macht das Schauspiel wie das Theater unabhängiger von den Einnahmen. Kunst ohne Risiko ist nicht möglich. Und insofern sind die öffentlichen Zuschüsse ein Beitrag zum künstlerischen Schaffen aller an einer Theaterproduktion Beteiligten. Diese Zuschüsse sind ein Tribut an die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Kunst. Jedoch sprudelt das öffentliche Geld für die Kultur nicht mehr wie früher. In Deutschland hat die geringere Bezuschussung dazu geführt, dass auch in den Schauspielhäusern der Ensemblegedanke immer mehr infrage gestellt wird. Insgesamt haben die öffentlich getragenen Theater in den letzten 20 Jahren etwa 6500 Stellen abgebaut. Damit allein leisten sie jährlich einen gewaltigen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung der öffentlichen Hand. Statt 3000 Schauspieler beschäftigen wir heute nur noch 2000. Das ist eine Reduzierung um ein Drittel. Zugleich ist die Zahl der sogenannten unständig Beschäftigten erheblich gestiegen. Wurden in der Spielzeit 1992/1993 etwa 8000 Verträge im Jahr von den Stadt- und Staatstheatern sowie Landesbühnen als Gastverträge abgeschlossen, beläuft sich die Zahl der heute mit unständig Beschäftigten abgeschlossenen Verträge, über alle Sparten verteilt, auf weit über 20.000. Daran erkennt man, wohin der Trend geht. Immer mehr passen wir uns einer Praxis an, die – ich erwähnte es schon – in anderen europäischen Ländern üblich ist: Wir beschäftigen die künstlerischen Mitarbeiter, auch Schauspieler, auf der Grundlage von Verträgen, die nur für eine einzelne Produktion abgeschlossen werden. Wenn diese Entwicklung sich so fortsetzt, zeichnet sich letztlich das Ende des Ensembletheaters ab. Das wird die Theaterwelt erheblich verändern, sowohl hinsichtlich der Quantität als auch der Qualität der Vorstellungen. 7 Damit können wir – vorrangig unter sozialen Aspekten – tiefer in die Frage eindringen, zu wessen Lasten es eigentlich geht, wenn die öffentlichen Zuschüsse weiter zurückgefahren werden. Es geht immer zulasten des Personals. Wer die Kürzung der Theaterfinanzierung verlangt, verlangt die Entlassung von Mitarbeitern, deren Fehlen dann nur noch durch Gastverträge, und auch damit nur unzureichend aufgefangen werden kann. Sollte sich die Theaterlandschaft dahingehend entwickeln, dass wir zunehmend die Mitarbeiter kurzfristig und im oben genannten Sinne unständig beschäftigen, dann bedeutet das, dass wir uns um ihre soziale Absicherung kümmern müssen. Ansonsten manövrieren wir uns in eine Situation, in der sich niemand mehr entscheidet, Schauspieler zu werden. Solch eine soziale Absicherung lässt sich jedoch nur über die Arbeitslosenversicherung erzielen. In unserem Nachbarland Frankreich erhalten Schauspieler, wenn sie in einem Jahr drei Monate beschäftigt waren, für die restlichen neun Monate eine Arbeitslosenunterstützung, von der sie durchaus leben können. Das gilt natürlich auch für andere darstellende Künstler. Insgesamt kostet das die französische Sozialversicherung eine Milliarde Euro im Jahr, also die Hälfte der Zuschüsse, die in Deutschland für die Theater und Orchester unseres Landes zur Verfügung gestellt werden. Eine Milliarde Euro für ungewolltes Nichtstun, anstelle von zwei Milliarden, die hierzulande ausschließlich für das vor allem künstlerische, ganzjährige Schaffen bezahlt werden. Damit müssten sich jene einmal ernsthaft auseinandersetzen, die über weitere Kürzungen von Zuschüsse für die Theater in Deutschland nachdenken. Doch man muss die Frage nach der Zukunft des Ensembles auch mit dem Blick des Publikums stellen. Ensemble führt zu kontinuierlichem Arbeiten. Ensemble bedeutet Präsenz in der Stadt. Der in der Stadt tätige Künstler setzt sich also mit dem, was die Menschen dort umtreibt, auseinander und lässt es in die künstlerische Arbeit einfließen. Er ist eben nicht ein Künstler, der für eine Produktion anreist, um anschließend die Stadt wieder zu verlassen. Das Ensemblemitglied ist und bleibt ein Künstler der Stadt. Zugleich ist der Repertoirebetrieb mit seinen zahlreichen und verschiedenen Produktionen die Kehrseite des Ensemblebetriebes. Niemand könnte in diesem Umfang den Bürgern ein Theaterprogramm anbieten, wie es in einem Ensemblebetrieb geschieht. Man kann dabei sein künstlerisches Profil an den Erwartungen und Auseinandersetzungen in der Stadt schärfen. Am Ende ist der Ensemble- und Repertoirebetrieb eine Garantie für Qualität. Deswegen beneiden uns 8 zahlreiche Künstler im Ausland um diese Theaterstruktur. Wir dürfen sie also nicht unnötig gefährden. Doch stattdessen hadern wir gerne mit den Kosten, die ein solcher Betrieb zur Folge hat. Die Städte, so heißt es immer wieder, hätten kein Geld. Ich erwähnte es schon, die Theater und Orchester unseres Landes kosten die öffentliche Hand jährlich ca. zwei Milliarden Euro. Das sind rund 0,2 Prozent aller öffentlichen Budgets. Glaubt jemand wirklich, man könne mit der Reduzierung dieses Betrages, sagen wir einmal, auf 0,18 Prozent die öffentlichen Haushalte sanieren? Ist es tatsächlich eine Perspektive für eine Stadt, ihre Künstler zu entlassen? Stimmt es, dass es den Städten so schlecht geht? Und wenn all dies zutrifft, dann ist darüber zu diskutieren, wie man ihre Situation wirklich verbessern kann. Durch immer weitere Kürzungen im Kulturbereich sicher nicht. Im Zuge der Bildungsdebatte hierzulande tritt immer mehr die ästhetische Bildung in den Mittelpunkt des Interesses. Von Schauspielern wird erwartet, dass sie nicht nur ihre künstlerische Arbeit auf der Bühne leisten, sondern ebenso in anderen Zusammenhängen für Bildungsarbeit zur Verfügung stehen. Aber auch das ist nicht möglich, wenn die Schauspieler umherziehen und nicht in der Stadt bleiben, in der sie sind. Gerade unter dem Aspekt der ästhetischen Bildung gewinnt der Ensemblegedanke seinen besonderen Reiz. Es wird in der Bildung viel über Nachhaltigkeit gesprochen. Nachhaltigkeit setzt Kontinuität voraus, und es gibt im Theater keine bessere Kontinuität als das Ensemble. Theater braucht nicht nur Menschen. Es braucht auch Räume. Wer sich die Frage stellt, in welchen Räumen das Theater spielt, der wird feststellen, dass es auch hier in den letzten 20 Jahren eine erhebliche Veränderung gegeben hat. Spielten die deutschen Stadttheater und Staatstheater sowie Landesbühnen in der Spielzeit 1992/93 noch in 587 Spielstätten, waren es in der Spielzeit 2010/2011 bereits 890. Das Theater hat also seine angestammte Spielstätte verlassen, um sich neue Räume zu erschließen. Das war kein Selbstzweck. Denn die Zukunft des Theaters liegt auch in der Gewinnung neuer Publikumsschichten. Um die Theaterarbeit den Bürgern näher zu bringen, kann das Theater nicht erwarten, dass nur die Bürger zu ihm kommen. Es muss auch auf die Bürger zugehen. Und wer zugleich einen Blick darauf wirft, wie viele soziale Projekte die Theater in den letzten zehn Jahren entwickelt haben, sieht im physischen Erschließen neuer Räume auch einen programmatischen 9 Zusammenhang. Theater ist zunehmend auch zur Sozialarbeit geworden. Es ist dann die Kunst, die die Möglichkeit hat, auf spielerische Weise die Probleme der unterschiedlichsten Menschen einer Stadt zu artikulieren und mit Ihnen zusammen aufzuarbeiten. Die Politik fordert vom Theater, insbesondere vom Schauspiel, Bildungsarbeit sowie soziale Arbeit zu leisten, und dafür den angestammten Raum des Stadttheaters zu verlassen. Das führt zunehmend zu Grundsatzdebatten. Einerseits ist es unverzichtbar, dass sich das Stadttheater in der beschriebenen Weise öffnet, um in den immer stärker von ihm erwarteten interkulturellen Dialog zu treten. Andererseits erfährt es – gerade mit Rücksicht auf zurückgehende Zuschüsse – eine an die Belastungsgrenze gehende Herausforderung, wenn es neben der künstlerischen Arbeit noch andere, bildungspolitische oder sozialpolitische Defizite auffangen soll. Theater bleibt ein Kunstbetrieb. Die Aufgaben des Schauspiels für die Literatur wurden oben beschrieben, sie sind ernst zu nehmen. Einen Spagat kann man auf Dauer nicht durchhalten. Deswegen bedarf es einer Debatte um neue und alte Prioritäten. Und auch deswegen habe ich zunächst für die Perspektive der Zukunft die Perspektive der Vergangenheit gewählt. Wenn ich bisher habe deutlich werden lassen, dass der beschriebene Ist-Zustand und die beschriebene Entwicklung Vorzeichen für die Zukunft sind, so muss man doch noch einmal konkreter die Frage stellen, ob alles so bleiben kann wie es ist. Die Antwort wird lauten: Ja und nein. Also will ich auf der Grundlage dieser alten und neuen Perspektive wagen, einige Thesen für die Zukunft, vor allem des Schauspiels, aufzustellen: 1. Es gibt keine bessere Theaterstruktur als den Ensemble-und Repertoirebetrieb. Wir sollten versuchen, sie zu retten und zu erhalten. Das gilt vor allem für das Schauspiel. Ensemble- und Repertoirebetrieb machen aber keinen Sinn als l´art pour l´art. Wenn Ensembles so zusammenschrumpfen, dass sie die Qualität nicht mehr oder nur noch unter einem Höchstmaß an Selbstausbeutung halten können, macht der Ensemblebetrieb keinen Sinn mehr. Es gibt auch für Künstler die Grenze einer zumutbaren Arbeitsbelastung. 10 2. Wer den Ensemblebetrieb abschaffen will, muss eine sozialpolitische Perspektive für die Beschäftigung von Schauspielern und anderen Künstlern schaffen. Der taxifahrende Schauspieler ist jedenfalls für die Bundesrepublik Deutschland keine Zukunftsvision. 3. Das Schauspiel ist unverzichtbarer Bestandteil des Stadttheaters. Es ist die Sparte, die mehr als alle anderen den gesellschaftlichen Diskurs aufrechterhält. Sie ist für die Selbstreflexion der Gesellschaft unverzichtbar. 4. Das Theater wird sich in Zukunft zum Zentrum der darstellenden Künste entwickeln. Dies bedeutet für das Schauspiel, das sein Angebot über das Angebot von Bühnenaufführungen hinausgehen wird. Schon in wenigen Jahren werden die Spielpläne der Theater ergänzt werden durch ein Filmangebot. Denn auf Dauer wird der intellektuelle, anspruchsvolle Film es schwer haben, sich in den kommerziellen Kinos zu behaupten. Es wird also unabhängig von der Produktion auch für die Vorführung des anspruchsvollen Films einer öffentlichen Finanzierung bedürfen. Hier gibt es neue Aufgaben des Schauspiels, deren Verwirklichung insbesondere auch jungen Menschen die Schwellenangst gegenüber dem Theater nehmen werden. 5. Zur Öffnung des Stadttheaters hin zu einem Zentrum der darstellenden Künste wird auch eine stärkere Kooperation mit freien Theatern gehören. Dennoch sollte man sich davon nicht zu viel versprechen. Es hat seine Vorteile, dass sich das Stadttheater, die freie Szene und die Privattheater ihre Domäne erhalten und beim Spielplan wechselseitig Rücksicht aufeinander nehmen. Für die Stadt entsteht gerade dadurch ein wichtiges Stück kulturelle Vielfalt, für die sie allerdings die notwendigen Gelder bereitstellen sollte, auch für die Privattheater und für die freie Szene. Gerade da geht es ja nicht um viel Geld. 6. Will das Theater der Zukunft seine Zuschauer erreichen, wird es sich stärker der digitalen Medien bedienen müssen. Schon die Legitimation der öffentlichen Finanzierung wird es notwendig machen, einzelne Theaterproduktionen einem breiten Publikum über das Internet anzubieten. Das Urheberrecht ist auf diese Entwicklung überhaupt nicht vorbereitet und bedarf deshalb dringend einer Änderung. Wer sich die heutigen urheberrechtlichen Vorschriften im Bereich der darstellenden Künste ansieht, wird feststellen, dass sie von einem antiquierten Theaterbegriff ausgehen. 11 Zwar wird im Mittelpunkt des Theaters immer das Live-Ereignis stehen. Dennoch ist für die Vermittlungsarbeit der Theater das Internet unerlässlich. 7. Theaterarbeit ist per se Bildungsarbeit und Arbeit im sozialen Raum. So begrüßenswert besondere darauf bezogene zusätzliche Projekte sind: die Kernaufgabe des Theaters besteht in seiner künstlerischen Arbeit. Die Vermittlung von literarischen Texten an junge Menschen wird immer schwieriger. Schule und Elternhaus sind mit der entsprechenden ästhetischen Bildung zunehmend überfordert. Daher bedarf es in den Städten dringend einer vermittelnden Tätigkeit zwischen Bildungseinrichtungen, Sozialverbänden und dem Theater. Die von der Bundeskulturstiftung finanzierten Kulturagenten weisen diesbezüglich einen richtigen Weg. 8. Deutschland ist eine große Schauspielnation. Es ist eines der größten Theaterländer der Welt. Wir werden nur eine Chance haben, das sich daraus ergebende Selbstverständnis des Landes wie auch dessen internationales kulturelles Ansehen zu bewahren. Wir müssen die Kulturbetriebe im Allgemeinen und das Theater im Besonderen nicht als die Chance zur Einsparung finanzieller Mittel ansehen, sondern eben als Teil unseres Selbstverständnisses. Die Vielfalt der Theater, auch der Schauspielhäuser in der Bundesrepublik Deutschland ist eines ihrer Alleinstellungsmerkmale. Dieses Alleinstellungsmerkmal macht die Städte attraktiv. Städte sind mehr als ein Ballungsraum, mehr als eine Einkaufszone ergänzt um Gaststätten, Restaurants und Kneipen. „Der Stolz, ein Theater zu haben, ist der Stolz, eine Stadt zu sein,“ hat der frühere Darmstädter Oberbürgermeisters Sabais einmal gesagt. Es wäre gut, wenn wir ein Stück dieses Stolzes zurückgewinnen würden. Ich habe, wie eingangs angekündigt, bisher eigentlich nichts über Bonn gesagt. Dabei will ich es auch belassen. Ich habe mir schon an anderer Stelle durch klare Statements einige Debatten eingehandelt, die jedoch weitgehend auf Missverständnissen beruhten. Und doch will ich am Ende dieser Stadt zurufen: Sie hat nur eine Chance mit der Kultur. Sie hat im Übrigen auch nur eine Chance mit dem Sport. Beide sitzen in einem Boot. Sie sind Teil der Lebensqualität dieser Stadt. Deshalb sollten sie sich nicht auseinanderdividieren lassen. Es ist kein Zufall, dass sie in einem Dezernat zusammengefasst sind. Sport ist ein Teil der Kultur, so war es schon im alten Griechenland. 12 Wichtig für das Theater in Bonn ist im Übrigen, dass ihm seine zentralen Räume weiterhin zur Verfügung stehen. Unabhängig von anderen kulturpolitischen Fragen, die sich in Bad Godesberg stellen, bedeutet das für das Schauspiel auch, dass es zu den dortigen Kammerspielen zumindest solange keine Alternative gibt, als im Zentrum der Stadt der Bau eines neuen Schauspielhauses schon aus finanziellen Gründen nicht realisiert ist. Dies gilt umso mehr, als die Kammerspiele in Bad Godesberg für eine Stadt in der Größenordnung von Bonn dem Schauspiel einen ausgezeichneten Raum bieten. Ihn, parallel zum Umbau der Beethovenhalle in eine veritable Konzerthalle und der Renovierung des Opernhauses, zu erhalten, erscheint mir wichtiger, als hochfliegende Neubaupläne. Renovieren ist auch eine prima Alternative, wie die Stadt Köln gerade unter Beweis stellt. In diesem Sinne, meine Damen und Herren, Theater wird sein, Theater muss sein, ohne Theater geht es nicht, sagt zumindest Tschechow. Und wo er recht hat, hat er recht. 13