Benjamin und sein wundersames Erbe - Dragana Thibaut

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Benjamin und sein wundersames Erbe - Dragana Thibaut
Benjamin
und sein wundersames
Erbe
Inhalt
Kapitel 1 – Der Geburtstagswunsch
Kapitel 2 – Das Wort „verrückt“
Kapitel 3 – Unheimliche Frau Schnarrer
Kapitel 4 – Der Denkzettel
Kapitel 5 – Das Geheimnis
Kapitel 6 – Der Weg ins Feenreich
Kapitel 7 – Das Ziel Tante Genofeva
Kapitel 8 – Benjamins Feenfamilie
Kapitel 9 – Der Ernst beginnt
Kapitel 10 – Die Kensern
Kapitel 11 – Hederas
Kapitel 12 – Der Umweg
Kapitel 13 – Die Begegnung
Kapitel 14 – Der Kampf
Kapitel 15 – Der Geburtstagswunsch
Kapitel 1 – Der Geburtstagswunsch
„Benjamin?!
Beeeeenjaaaaaaamiiiiin?!“,
hörte
Benjamin ganz dumpf, wie durch einen dichten
Nebel.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du bei Einbruch
der Dunkelheit im Haus sein sollst?“, erkannte
Benjamin nun seinen Vater, und schon hob der ihn
hoch. Dabei klemmte er Benjamin wie einen Fußball
unter seinen Arm, sodass Benjamins Kopf inklusive
Beine im Laufrhythmus mitwippten.
„Ich muss wohl im Stall eingeschlafen sein“,
murmelte Benjamin vor sich hin und empfand es als
sehr schade, dass er sein Strohbett verlassen musste, denn das war mehr als bequem.
„Weißt du, was alles hätte passieren können?“,
unterbrach die tiefe Männerstimme seines Vaters
seine Gedanken, und schon zählte der mögliche
Gefahren auf. Doch Benjamin hörte gar nicht mehr
hin. Stattdessen hob er den Kopf und blickte
nochmals zu seinem Strohbett und dem
wundervollen Pferd, welches daneben stand. Er war
so froh, dass seine Großmutter dieses Tier hatte.
Immer, wenn Benjamin bei ihr war, verbrachte er fast
jede freie Minute bei der Stute, die den Namen
„Wolke“ trug. Er versank regelrecht in ihren treuen,
dunklen Augen und bewunderte jedes Mal aufs Neue
die herrliche Schimmelmusterung.
Gerade wollte er den Kopf wieder senken, da
passierte etwas völlig Unmögliches. Ihm war so, als
hätte ihm Wolke zugezwinkert. Benjamin riss seine
Augen so weit wie möglich auf. Er traute seinen
Augen nicht. Zur Sicherheit rieb er sich das ganze
Gesicht. Da! Sie tat es noch mal. Doch genau in dem
Moment ging sein Vater mit ihm zur Stalltür hinaus.
Benjamin wehrte sich lautstark: „Papa, Papa, geh
noch mal zurück! Bitte!“
Doch all sein Flehen brachte nichts. Sein Vater ließ
sich nicht beirren. „Du kannst morgen wieder zu
Wolke gehen, für heute ist es genug, Benjamin.“ Das
sagte er in jenem Tonfall, bei dem Benjamin genau
wusste, dass jeglicher Widerstand zwecklos war.
Also senkte er seinen Kopf und ließ sich gehorsam
ins Haus tragen.
Seine Großmutter erwartete ihn in der Küche mit
einem Lächeln. Rasch befreite sie sich von ihrer
Schürze, zupfte sich ihre grauweißen Haare zurecht
und streckte die Arme nach ihm aus.
Benjamin riss sich von seinem Vater los, rannte
gleich in ihre Arme und drückte seine Großmutter so
fest er nur konnte. „Oma, wo warst du denn?“, wollte
er gleich wissen. „Als wir heute angereist sind,
konnte ich dich nirgends finden“, informierte er sie
umgehend.
„Ich war spazieren“, sagte sie und strich ein paar
Strohhalme aus seinen Haaren, bevor sie
weitersprach. „Schließlich hattet ihr euch erst für
morgen angekündigt.“ Mit diesem Satz richtete sie
einen strengen Blick auf ihren Sohn.
Benjamins Vater rieb sich den Nacken. Das tat er
immer, wenn ihm eine Situation sichtlich
unangenehm war. Er räusperte sich kurz, bevor er
eine Erklärung abgab: „Tut mir leid, Mutter! Ich
konnte meine Arbeit etwas früher beenden, und so
entschloss ich mich spontan loszufahren. Ich wollte
noch von unterwegs anrufen, doch dann gab mein
Akku den Geist auf.“
Mit einem Nicken nahm sie die Entschuldigung ihres
Sohnes an und wandte sich wieder ihrem Enkel zu.
„Mein lieber Junge, lass dich anschauen.“ Schon war
sie dabei, Benjamin in Position zu rücken, damit sie
sich ein besseres Bild machen konnte. „Groß bist du
geworden! Wenn du so weitermachst, wirst du noch
so groß wie dein Vater.“
Benjamin blickte hoch zu seinem Vater. Klein war der
wirklich nicht. Vielleicht würde er selbst tatsächlich
eines Tages so groß sein, dann hätte er zumindest
sonst noch etwas von ihm, und nicht nur die
dunkelblonden Haare.
„Sag, hast du Hunger, mein Schatz?“, wollte seine
Großmutter wissen.
Benjamin musste gar nicht selbst antworten, denn
als ob sein Magen wusste, worum es ging, knurrte
dieser wie auf Kommando.
Seine Großmutter nickte wohlwollend. „Aaahh, alles
klar, dann schlage ich vor, dass ihr schnell auspackt,
und in der Zwischenzeit richte ich uns ein leckeres
Abendbrot.“
Das musste sie kein zweites Mal sagen. Ihre Männer
drehten sich auf dem Absatz um und schritten zur
Tat.
Beim Essen erzählten und amüsierten sich alle
köstlich. Es war eine richtig ausgelassene Stimmung.
Benjamin betrachtete seinen Vater. Es war selten
geworden, dass dieser so zufrieden schien. Er lachte
kaum noch, seit Benjamins Mutter verschwunden
war. Über ihr Verschwinden durfte auch nie
gesprochen werden. Genau genommen wusste
Benjamin so gut wie nichts darüber, nur dass seine
Mama seit fünf Jahren wie vom Erdboden
verschluckt war.
Benjamin konnte nicht länger innehalten und fing
wieder mit der gleichen Bettelei an: „Ach, Paps,
können wir nicht für immer bei Oma bleiben? Dir
gefällt es doch hier auch am allerbesten.“
Die Gesichtszüge seines Vaters wurden schlagartig
ernst. „Junge, Kind, das hatten wir doch bestimmt
schon tausend Mal.“ Er machte eine kurze Pause,
bevor er weitersprach. „Wir müssen dort leben, wo
ich Arbeit habe. Ich weiß, dass das nicht immer
einfach ist. Aber das Leben ist nun mal kein
Wunschkonzert.“
Betrübt schaute Benjamin zu Boden. Er kannte die
Gründe nur allzu gut. Sein Vater war ein erfolgreicher
Naturschützer. Insbesondere engagierte er sich
dafür, dass so wenig Land wie möglich für industrielle
Zwecke kaputt gemacht wurde. Dies hatte zur Folge,
dass sie ständig umherreisten. Es war immer das
gleiche, traurige Spiel: Kaum hatte Benjamin sich an
einen Ort gewöhnt oder sogar Freundschaften
geschlossen, zogen sie weiter.
Nach diesen Sätzen starrte jeder still in die Luft,
keiner fühlte sich dazu animiert, zu diesem Gespräch
noch etwas beizutragen. Das Schlagen der Standuhr
war eine regelrechte Erlösung.
„Es ist spät geworden“, seufzte die alte Dame. „Zeit
fürs Bett.“
Gähnend stimmte Benjamin ihr zu.
Da stand sie auf und drückte ihrem Enkel einen Kuss
auf die Stirn mit den Worten: „Geh nach oben, mein
Großer, dein Bett erwartet dich bereits.“
Benjamin stand auf, wünschte eine gute Nacht und
schleppte sich die Treppe hoch in sein Zimmer. Sein
Schlafanzug lag schon bereit und er streifte ihn sich
über, bevor er halb schlafend zum Zähneputzen
ging. Schnell befand er sich im Traumland, denn der
Tag war wirklich lang und anstrengend gewesen.
Mitten in der Nacht wachte Benjamin auf, ihm war
heiß und kalt zugleich. Er drehte sich von der einen
zur anderen Seite mit dem Wunsch, gleich wieder
einzuschlafen. Doch er vernahm Stimmen. Er öffnete
die Augen, da sah er Licht durch den Türschlitz
schimmern. Behutsam stand er auf und öffnete
langsam die Tür. Tapsend bewegte er sich zum
Treppengeländer, dort ging er in die Hocke, hielt sich
an den Geländerstangen fest und blickte hinunter.
Sein Vater und seine Großmutter standen unten in
der Diele. Sie zischten sich mit angespannten
Gesichtern an. Zuerst konnte Benjamin gar nichts
verstehen, erst als sein Vater seine Großmutter an
den Schultern packte und dabei lauter wurde, hörte
er seinen Vater:
„Hast du Tante Genofeva getroffen? Du hast sie
getroffen, nicht wahr? Lebt meine Liebste noch?
Bitte, das ist vielleicht unsere letzte Chance!“
Die Großmutter holte tief Luft: „Beruhige dich,
Siegesmund. Ja. Sie lebt noch. Das ist das
Wichtigste, doch sie muss wohl sehr schwach
geworden sein. Ihre Energie ist für unsere
Verbündeten kaum noch wahrnehmbar. Meine liebe
Schwägerin Genofeva ist besorgt um den Jungen.
Wir müssen mehr denn je auf ihn aufpassen.
Genofeva ist überzeugt, dass er das ‚Erbe‘ in sich
trägt. Sollte dem so sein, so kann es nicht mehr lange
dauern, bis sich die ersten Anzeichen zeigen. Ach,
Siegesmund, ich bin so besorgt um unseren kleinen
Benjamin.“
Benjamins Vater legte sein Gesicht in seine Hände
und schüttelte dabei den Kopf. So hatte Benjamin ihn
noch nie gesehen.
Seine Großmutter öffnete die Wohnzimmertür:
„Komm, Siegesmund, lass uns in Ruhe weiterreden.“
Mit diesen Worten verschwanden die zwei im
Wohnzimmer.
Die eben gehörten Gesprächsfetzen brachten
Benjamin völlig durcheinander. In seinem Kopf
hämmerten tausend Fragen. Wer war Tante
Genofeva? Soweit er wusste, gab es keine lebenden
Verwandten mehr. Seine Gedanken überschlugen
sich, ihm wurde regelrecht schlecht. Er überlegte:
Sprachen die etwa von Mama? Das würde ja
bedeuten, sie wüssten, wo sie ist. Vielleicht bei
dieser Tante? Was für ein Erbe soll ich in mir tragen?
Die sprachen doch von mir, oder? Ja. Oma sagte
ganz deutlich, sie würde sich Sorgen um mich
machen. Aber warum?
Benjamin saß wie angewachsen auf der ersten Stufe
und ließ seinen Blick ohne Ziel in der Diele
umherschweifen. Er betrachtete das Bücherregal,
den alten Ledersessel, die Risse im Leder des
Sessels, dann schaute er zum Türrahmen, zu der
Petersilie.
Petersilie? Der ganze Raum, nein eigentlich das
ganze Haus, war behangen mit Petersilie. Seitdem
er denken konnte, trocknete seine Großmutter
Petersilie, aber so extrem war ihm das noch nie
aufgefallen. Insbesondere waren die Türrahmen
damit behangen. Er liebte seine Oma sehr, doch er
hasste den fürchterlichen Petersilientee, den er
immer trinken sollte. Seit einigen Jahren stellte seine
Großmutter sogar Petersilienbonbons her, die er
ebenso grauenhaft fand.
Plötzlich ging unten wieder die Tür auf. Benjamin
erschrak, da er so vertieft in seine Gedanken war.
Seine Großmutter nahm die Hand seines Vaters und
sagte: „Mein lieber Sohn, uns bleibt nichts anderes
übrig, als erst mal abzuwarten. Trotz all der Sorgen
habe ich Hoffnung, und womöglich ist unser Junge
stärker, als wir es uns vorstellen können. Vergiss
nicht, wer dein Vater und somit sein Großvater war
und wer seine Mutter ist. Du weißt selbst nur zu gut,
wie mächtig die zwei Familien sind. In dieser ganzen
Reihe bin nur ich die Normalsterbliche. Ich bin nach
wie vor davon überzeugt, dass du keine Kräfte hast,
weil da noch jemand seine Finger im Spiel hat, und
nicht, weil meine Gene in dir überwiegen.“
Siegesmund strich sorgenvoll die Hand durch sein
Haar, bevor er seiner Mutter eine gute Nacht
wünschte. „Schlaf schön, ich werde jetzt zu Bett
gehen. Ich bin so müde, so unendlich müde. Seitdem
meine geliebte Lavendula verschwunden ist, schlafe
ich nicht mehr richtig. Nur wenn ich vor Erschöpfung
nicht mehr stehen kann, gelingt es mir, ein paar
Stunden Ruhe im Schlaf zu finden.“
Benjamin huschte in sein Zimmer. Er wollte nicht,
dass die zwei ihn entdeckten, denn er wusste genau,
dass das Gehörte nicht für seine Ohren bestimmt
war. Mit einem Satz sprang er ins Bett und deckte
sich zu. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Jetzt
wusste er, dass es um seine Mutter ging, weil sein
Vater sie bei ihrem Namen genannt hatte –
Lavendula. Damit die Verwirrung komplett wurde, fiel
ihm ein, was er vorhin mit Wolke erlebt hatte. Was
hatte das alles nur zu bedeuten? Er zermarterte sich
das Hirn und schlief darüber ein.
Am nächsten Morgen küssten ihn warme
Sonnenstrahlen wach, worauf er tiefer unter die
Decke kroch. Doch dann roch er sie schon, die
besten Pfannkuchen der Welt. Im Sauseschritt zog
er sich an und vollzog eine Katzenwäsche, um so
schnell wie möglich zu den Pfannkuchen zu
gelangen. Unten in der Küche angekommen, fand er
einen köstlich gedeckten Frühstückstisch. Es war
aber niemand da.
Auf seinem Teller lag ein Zettel: „Lieber Benjamin,
wir sind in den Lebensmittelmarkt gefahren, um
einige Besorgungen zu erledigen. Dauert nicht
lange! Deine Oma.“
Während er den Zettel las, verdrückte er schon den
ersten Pfannkuchen. Den noch dampfenden
Petersilientee goss er in den Abfluss und füllte die
Tasse mit Limo. Nach dieser Stärkung ging er gleich
auf die Koppel zu Wolke.
Wolke stand ganz ruhig und gelassen da. Man
konnte sich fast einreden, dass sie auf Benjamin
gewartet hatte, denn als er auf sie zulief, begrüßte
sie ihn mit mehrfachem Kopfnicken. Die Möhren, die
er dabeihatte, verspeiste sie umgehend.
„Meine liebe Wolke“, sprach Benjamin die Stute an.
„Hast du mir gestern zugezwinkert?“
Das Pferd kaute teilnahmslos.
„Gib mir doch Antwort oder zumindest ein Zeichen.“
Da vernahm Benjamin hinter sich eine bekannte
Stimme: „Mann, Mann, Mann, Benjamin, dir ist schon
klar, dass da ein Gaul vor dir steht?“
Freudig drehte er sich um, damit er seinen besten
und wahrscheinlich einzigen Freund Maximilian Brun
begrüßen konnte. „Mensch, Max, wie schön, dich zu
sehen!“
„Ebenso“, gab dieser cool von sich, grinste und
stupste Benjamin freundschaftlich an, bevor er
weitersprach: „Mann, Mann, Mann, manchmal
zweifel ich schon an dir. Komm mit mir zum Teich,
bevor du hier weiter den armen Gaul bedrängst. Ich
hab da ein paar Kaulquappen entdeckt. Die können
zwar auch nicht sprechen, sind jedoch trotzdem ganz
interessant.“
Beide lachten über die Anmerkung und begaben sich
auf den Weg.
Max war natürlich voll ausgerüstet. In seinem
Rucksack befanden sich ein großes Glas, ein
Köcher, eine Lupe und, nicht zu vergessen, etwas
zum Essen. Max hatte immer Hunger und aß am
liebsten pausenlos. Dabei sah er gar nicht danach
aus. Im Gegenteil, er war sehr dünn, fast dürr. Wenn
er ein Stück Brot kaute, wusste jeder genau, wo sich
der Happen befand, denn an dieser Stelle beulte sich
seine Wange deutlich aus. Ein bisschen erinnerte
Max Benjamin an einen Igel. Er hatte kurze borstige
Haare und eine lange dünne Nase, die sich unter
Umständen ganz lustig bewegte. Die Nase hatte er
von seinem Vater. Benjamin musste immer
aufpassen, dass er nicht laut losprustete, wenn er
Herrn Brun sprechen sah. Automatisch fiel ihm auch
Frau Brun ein. Klein, mollig, die Haare immer leicht
wirr, aber trotzdem adrett. Sie war eine sehr
liebevolle und fürsorgliche Mutter. Es musste sehr
schön sein, eine Mutter zu haben. Benjamin hing
diesem Gedanken einen Moment lang nach, denn
während er die Familie Brun vor Augen hatte, wurde
ihm bewusst, dass er sich an seine Mutter nur noch
schemenhaft erinnern konnte. Es fiel ihm schwer, ihr
Gesicht vor sein geistiges Auge zu holen. An was er
sich jedoch genau erinnern konnte, war ihr einzigartiger Geruch. Er würde diesen unter Hunderten
herausfiltern. Auch ihre Berührungen fehlten ihm.
Wenn er sie beschreiben müsste, so würde er sagen:
„Mama hat die weichsten Hände der Welt.“
„Halllooooooo!“, wurde er aus seiner Melancholie
gerissen. „Erde an Wasser! Mann, hörst du mir
überhaupt zu?“, empörte sich Max.
„Entschuldige, Max, ich wollte nicht unhöflich sein.
Übrigens heißt es ‚Erde an Jupiter‘“, korrigierte
Benjamin ihn.
„Na, wie dem auch sei. Bitte reiche mir den Köcher“,
wiederholte Max seine Anweisung, denn mittlerweile
waren sie am Teich angelangt. Mit Freude assistierte
Benjamin und schaute interessiert zu, wie Max eine
Kaulquappe nach der anderen herausfischte und
diese in sein Glas verfrachtete. Eine Weile
schwiegen sie, bevor Max wissen wollte, welchen
Geburtstagswunsch Benjamin hatte.
„Geburtstagswunsch“, läutete es in Benjamins Kopf.
Ihm waren seine Geburtstage fast gleichgültig
geworden. So zuckte er nur mit den Schultern.
Max konnte sein Entsetzen nicht verbergen.
„Mensch, Benjamin, das ist ja wohl nicht dein Ernst!
Dein zehnter Geburtstag ist in ein paar Tagen. Das
ist ein besonderer Geburtstag, von da an sind all
deine Geburtstage zweistellig. Mann, Mann, Mann
aber auch! Muss ich mir etwa auch noch überlegen,
was du dir wünschen sollst? Also auf jeden Fall
brauchst du eine Schokoladentorte – oder am besten
gleich zwei – eine für dich und eine für mich.
Vielleicht sollte die zweite Torte aber doch keine
Schokoladentorte sein, sondern lieber eine
Bananentorte oder sogar eine Erdbeer... ne, ne,
lieber keine Erdbeertorte, obwohl ...“
Während Max von den Torten träumte, verstaute er
seinen Fang im Rucksack, Benjamin hingegen stand
nur da und schwieg. Zum ersten Mal überlegte er
sich, was er sich wirklich wünschen sollte. Doch egal
was ihm auch einfiel, es erschien ihm sinnlos.
Max quasselte den ganzen Rückweg über. An der
Straßengabelung
verabschiedeten
sie
sich
voneinander. Benjamin ging langsam den Zaun
entlang Richtung Tor. Da sah er zwei Nachbarinnen
stehen. Frau Schnarrer und Frau Horn. Die beiden
waren die unangenehmsten Erscheinungen des
ganzen Dorfes. Bei Frau Schnarrer hatte alles
irgendwie Überlänge. Sie war sehr schlank und groß,
speziell die Arme und Beine waren dünner und
länger als normal. Ihr ganzes Gesicht war alles
andere als einladend. Es war geprägt von einer
spitzen Nase mit schmalen Lippen und sehr
buschigen Augenbrauen. Das Seltsamste an dieser
Frau war, dass sie immer lange, schwarz glänzende
Handschuhe trug.
Frau Horn hingegen sah aus wie ein Klotz. Groß und
breit mit einem riesigen Kopf. Sie ging nie außer
Haus ohne ihr Hütchen, welches vier Nummern zu
klein war. Benjamin schluckte, da die Damen direkt
vor dem Eingang standen und er sich somit
bemerkbar machen musste, um nach Hause zu
kommen. Je näher er kam, desto besser sah er, wie
Frau Schnarrer mit spitzem Mund und wild fuchtelnd
auf Frau Horn einredete, während Frau Horn die
ganze Zeit ein „Oooohhh“ und „Aaaaah“ nach dem
anderen von sich gab. Er stand nun genau vor ihnen,
doch die Nachbarinnen waren so beschäftigt mit
Schnattern, dass sie ihn gar nicht wahrnahmen.
Ungewollt hörte er dem Gespräch zu.
„Frau Horn, haben Sie schon vernommen, dass
Anna Petersen seit gestern nicht allein ist? Ihr Sohn
Siegesmund ist mal wieder mit Enkel Benjamin
angereist. Erinnern Sie sich noch, vor etwas mehr als
zehn Jahren, kurz bevor der Enkel geboren wurde,
verstarb sein Großvater Peter Petersen. Angeblich
soll es ein Reitunfall gewesen sein, doch das glaube
ich nicht. Wenn Sie mich fragen, hatte Anna
Petersen was damit zu tun. Die Alte ist sowieso nicht
ganz dicht. Schauen Sie sich doch nur mal den
Gemüsegarten an, mehr als die Hälfte besteht aus
Petersilie. Dann dieses komische Verhältnis zu
diesem Pferd. Stellen Sie sich vor, die hat im Stall
einen Tisch mit Stühlen und isst dort oft zu Abend.
Das kann ich von meinem Schlafzimmerfenster aus
genau
sehen.
Dabei
ist
dieser
Gaul
gemeingefährlich. Gut gemeint habe ich es und
brachte ihm ein paar Möhren. Doch dieses Vieh
schnappte nach mir und wollte mich beißen. Meiner
Meinung nach sollte das Tier eingeschläfert werden“,
lästerte Frau Schnarrer ungeniert, worauf Frau Horn
entgegnete:
„Ooooh, was Sie nicht sagen, das werde ich
umgehend
in
der
nächsten
Singstunde
weitererzählen, schließlich sollen alle wissen, mit
wem wir es in der Nachbarschaft zu tun haben.“
Benjamin traute seinen Ohren nicht.
Doch dann setzte Frau Schnarrer noch eins
obendrauf: „Verrückt, sage ich Ihnen, die ganze
Familie ist verrückt. Schauen Sie sich doch den Vater
an, der reist die ganze Zeit in der Weltgeschichte
herum. Es wäre ja ein Wunder, wenn der Junge da
keinen Schaden nehmen würde. Wissen Sie noch,
vor etwa fünf Jahren ist doch seine Mutter
verschollen. Glauben Sie mir, die ist nicht verschollen, die hat es mit dieser verrückten Familie
nicht mehr ausgehalten und hat sie einfach
verlassen.“
Benjamin durchzog ein tiefer Schmerz. Sein ganzer
Körper verkrampfte sich. Tränen brannten in seinen
Augen, als er auch noch den zufriedenen Gesichtsausdruck von Frau Schnarrer sah.
„Sie lügen!“, schrie er aus vollem Leibe. „Das ist alles
gelogen. Das ist alles eine Lüge!“
Die zwei Frauen schauten ihn gefühllos an. Da schob
er beide mit all seiner Kraft zur Seite und rannte ins
Haus. Die Nachbarinnen empörten sich und hießen
ihn einen ungezogenen Flegel. Aber Benjamin hörte
nicht darauf. Stattdessen bohrte sich das Wort
„verrückt“ in sein Hirn. Im Haus ließ er seinen Tränen
freien Lauf. Er eilte die Treppe hinauf und überrannte
dort
fast
seine
Großmutter.
Im
Zimmer
angekommen, warf er die Tür hinter sich mit voller
Wucht zu. Weinend legte er sich ins Bett und zog die
Decke über den Kopf. Da ertönte ein behutsames
Klopfen.
„Lass mich allein“, schluchzte er zur Tür hin.
So leicht ließ sich seine Großmutter jedoch nicht abwimmeln. Sie klopfte nochmals und fragte mit ganz
ruhiger Stimme, ob sie eintreten dürfe. Benjamin
presste ein „Ja“ heraus und wartete ab.
Seine Großmutter trat langsam ein, setzte sich aufs
Bett und zog vorsichtig die Decke weg. „Schatz,
komm, beruhige dich und setz dich neben mich“, bat
sie.
Benjamin zögerte für einen kurzen Moment, bevor er
ihrer Bitte nachkam.
„Willst du mir nicht sagen, was passiert ist?“, fragte
sie schließlich.
Benjamin zuckte mit den Schultern, seufzte tief,
wischte mit den Handrücken die verbliebenen
Tränen ab und entschloss sich, doch zu berichten:
„Draußen vor dem Tor standen Frau Schnarrer und
Frau Horn. Die gaben nur Böses von sich, dass wir
alle verrückt seien und dass du schuld seist an Opas
Tod und dass man Wolke einschläfern müsse und ...
und ... dass Mama freiwillig gegangen sei, weil wir
alle verrückt seien.“ Beim letzten Teil des Satzes fing
er wieder an zu weinen. „Stimmt das, Oma? Sind wir
wirklich verrückt? Glaubst du, Mama hat uns
absichtlich verlassen? Lebt sie nun bei dieser Tante
Genofeva?“
Benjamin hatte jetzt mehr verraten, als er wollte. Er
schaute seine Großmutter mit großen Augen an und
war gespannt auf ihre Reaktion.
Anna Petersen zuckte regelrecht zusammen, als sie
den Namen ihrer Schwägerin aus Benjamins Mund
hörte. Sie ging jedoch nicht weiter darauf ein,
sondern sprach mit ruhiger Stimme: „Kind, deine
Mutter hat dich und deinen Vater über alles geliebt,
sie hätte euch niemals – niiiemals! – im Stich gelassen. Es gibt zu Lavendulas Verschwinden eine
Geschichte. Die werden wir dir auch bald –
wahrscheinlich sehr bald – erzählen. Nur nicht jetzt!
In Ordnung, Benjamin?“
Benjamin nickte. Er senkte den Kopf und flüsterte
kaum hörbar: „Oma, ich glaube, ich bin wirklich
verrückt, ich kann mich fast nicht mehr an Mama
erinnern. Ihr Gesicht, ich weiß nicht mehr, wie sie
aussieht. Wenn wir doch nur ein Foto hätten, warum
gibt es denn keine Fotografien von ihr?“
Benjamins Großmutter schob ihren Zeigefinger
unter sein Kinn und hob langsam seinen Kopf, bis
er sie ansah. Sie lächelte ihn an und nahm ihn an
der Hand: „Komm mal mit, ich habe da eine Idee.“
Sie führte ihn ins Bad, direkt vor den großen
Spiegel. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und
hauchte ihm ins Ohr: