SÜDWESTRUNDFUNK - Sendung: Donnerstag, 28

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SÜDWESTRUNDFUNK - Sendung: Donnerstag, 28
SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Buchkritik – Manuskriptdienst
Harro von Senger: Supraplanung.
Hanser Verlag 2008
19,90 Euro
Sendung: Donnerstag, 28. August 2008, 14:55 – 15:00 Uhr SWR2
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Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
China gibt einem westlichen Beobachter Rätsel auf. Er sieht hypermoderne Skylines
neben rückständigen Dörfern, Multi-Millionäre neben Wanderarbeitern und eine
boomende Wirtschaft neben einer notleidenden Natur. Was er hingegen nicht sieht,
sind demokratische Reformen nach westlichem Vorbild.
Warum entwickelt sich China trotz all dieser Widersprüche unaufhaltsam zur
Weltmacht? Ist Konfuzius wiederauferstanden? Wurde Manchester nach China
verlegt? Oder genießt dort gar der Pragmatismus den Rang einer politischen
Philosophie?
Gegen Spekulationen wie diese grenzt sich der Freiburger Jurist und Sinologe Harro
von Senger scharf ab. Er warnt davor, allein aufgrund von visuellen Eindrücken und
einzelnen Mosaiksteinen China nach westlichen Denkmustern zu beurteilen. Statt
dessen nimmt er ernst, worauf sich chinesische Politiker als Grundlage ihres
Denkens und Handelns berufen.
Für diese Herkulesaufgabe ist Professor von Senger in einzigartiger Weise geeignet:
Er ist einer der ganz wenigen Ausländer, die schon vor mehr als 30 Jahren
Landesgeschichte und marxistische Philosophie in China studierten. Er kennt die
wichtigsten offiziellen Dokumente in chinesischer Sprache und hat bereits einen
Bestseller über die uralten 36 Strategeme – das sind mit Weisheit eingesetzte Listen
- geschrieben. In seinem neuem Sachbuch mit dem Titel: „Supraplanung.
Unbekannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte“ fasst er seine Erkenntnisse
zusammen.
„Dieser Mann weiß alles über uns!“ rief eine chinesische Freundin spontan nach der
Lektüre aus.
Warum rechnet ein derart ausgewiesener Fachmann wie von Senger dennoch mit
einer negativen Resonanz im Westen? Weil er im längsten Kapitel seines Buches
etwas behauptet, das der öffentlichen Meinung hierzulande diametral
entgegengesetzt ist: Nämlich dass die Errichtung des Kommunismus nach wie vor
das Fernziel der Kommunistischen Partei Chinas sei und der Marxismus im Denken
der maßgeblichen Funktionäre und bei der Erziehung der Elite immer noch eine
tragende Rolle spiele.
Was den meisten Lesern auf den ersten Blick als provokative oder gar absurde
These erscheinen mag, erweist sich beim Weiterlesen als eine längst überfällige
Korrektur des gängigen westlichen Chinabildes.
Denn richtig verstanden ist der Marxismus keine starre Wirtschaftsdoktrin, sondern in
erster Linie eine Anleitung zum Handeln. Dabei bedient sich der chinesische
Marxismus bis heute Mao Zedongs Lehre vom Widerspruch.
Der zufolge ist unter all den Widersprüchen, die es auf dieser Welt gibt, ein
Hauptwiderspruch zu identifizieren und von der Politik vorrangig zu lösen. Aktuell
besteht der Hauptwiderspruch zwischen den wachsenden materiellen und kulturellen
Bedürfnissen des chinesischen Volkes und der rückständigen gesellschaftlichen
Produktion.
Um diesen Hauptwiderspruch zu lösen bedarf es des komplexen und
planenden Denkens in sehr langen Zeit- und Raumperspektiven. Harro von
Senger hat dafür den Begriff „Supraplanung“ geprägt, da bislang das Deutsche
kein dem chinesischen „mou-lüe“ adäquates Wort kannte.
Danach erstrebt die Regierung bis zum Jahre 2021 einen bescheidenen
Wohlstand für eine Milliarde Menschen und bis zum Jahre 2049 das Pro-KopfBruttoinlandsprodukt eines Schwellenlandes. Was im Westen oft als
Pragmatismus verkannt wird, ist in Wahrheit die flexible Reaktion auf die
ständig wechselnden Umstände auf dem Weg zu diesem unverrückbaren Ziel.
Um dieses zu verwirklichen, werden auch die aus der chinesischen
Geschichte überlieferten 36 Strategeme eingesetzt – und zwar nicht nur um
selbst vorwärts zu kommen, sondern auch um die Handlungen Dritter zu
beurteilen.
Harro von Senger hat die geistigen Quellen, aus denen die heutigen Lenker Chinas
schöpfen, erstmals überzeugend, fundiert und - aufgrund der Vielzahl von Zitaten
und Beispielen - auch sehr anschaulich offen gelegt. Wenn man Supraplanung, den
Sinomarximus und die Strategeme verstanden hat, durchzieht sich ein im Wortsinne
„roter Faden“ von Maos Anfängen in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts
bis heute, und die einzelnen Mosaiksteine aus den Bereichen der Wirtschaft, der
Politik und der Gesellschaft fügen sich wie von selbst zu einem Bild des modernen
China.
Abgesehen davon, dass Chinas Verhalten nach der Lektüre dieses Buches für uns
verständlicher und berechenbarer wird – sollte nicht jede Kritik, die wirken will, auf
der Kenntnis des Gegenüber beruhen?
Deshalb ist für mich als Sinologin „Supraplanung“ von Harro von Senger das
wichtigste und informativste Sachbuch, das in den letzten Jahren, wenn nicht
gar Jahrzehnten, zu China erschienen ist.
„Supraplanung“ von Harro von Senger. Erschienen im Hanser Verlag 2008, der
Preis beträgt 19.90 Euro.