Türken in Italien

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Türken in Italien
Theater Ulm 2007/08 Materialien
Gioachino Rossini „Il Turco in Italia“
Philipp Gosset: Widrige Bedingungen Seite 1/3
Philipp Gosset
Widrige Bedingungen
Zum Problem der Originalfassung des „Türken in Italien“
Von Rossinis großen Komischen Opera ist Der Türke in Italien die am wenigsten bekannte. Entstanden unter widrigen Bedingungen, hatte sie noch viele Jahre lang zu
leiden unter einem Wust von Editionen und daraus sich ergebender Konfusion der
Kritik. Die Mailänder liebten Die Italienerin in Algier, welche unter der Leitung des
Komponisten im April 1814 im kleinen Teatro Re wieder auf die Bühne gebracht wurde, sie waren jedoch schwer gekränkt, als Rossini und sein Librettist Felice Romani
am 14. August desselben Jahres im Teatro alla Scala etwas anboten, das wenigstens im Titel ein Spiegelbild jenes Werkes zu sein schien. Zeitgenössische Berichte
kündeten von einem Fiasko. "C'est du vin de son cru", mokierte sich der Corriere Milanese, und Stendhal erläuterte: "Man bestand auf der Behauptung, Rossini habe
sich als Plagiator seiner selbst betätigt. So etwas könne man sich vielleicht in kleinen Provinztheatern herausnehmen, aber für La Scala, das erste Opernhaus der
Welt - so betont jeder ehrenwerte Mailänder ein ums andere Mal -, da müsse man
sich schon die Mühe geben, sich etwas Neues einfallen zu lassen."
Die Mailänder waren im Unrecht, denn die Handlung von Ein Türke in Italien steht in
so gut wie keiner Beziehung zur Italienerin in Algier, und die Musik war fast völlig
neu komponiert. Woanders war das Publikum durchaus von der Oper angetan, und
während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde sie oft aufgeführt.
Danach verschwand sie praktisch von der Bühne. Infolge dieses Verschwindens
wendeten sich die Kritiker zunehmend veröffentlichten Partituren zu, und diese sollten wiederum das Geschick der Oper ungünstig beeinflussen. Während nämlich viele Opern bei zeitgenössischen Aufführungen unglückliche Abänderungen erleiden
mussten, hatte es den Anschein, als sollten die Verheerungen, die man in Ein Türke
in Italien eingeschmuggelt hatte, in gedruckter Form verewigt werden.
Die Oper hatte so, wie sie erneut im Theatre-Italien in Paris am 18. Mai 1820 aufgeführt wurde, nur einen Teil der Rossini-Partitur bewahrt. Große musikalische "Brocken" wurden dem Torso hinzugefügt - einige Nummern wurden ganz und gar aus La
Cenerentola, eine Arie aus L'Italiana in Algeri gestohlen, wieder eine andere aus
Rossinis früher Oper Ciro in Babilonia, und eine Arie wurde sogar von Valentino Fioravanti " entlehnt" . Obwohl die Historiker Stendhal darin gefolgt sind, dieses Flickwerk zu beklagen, und obgleich sie es auf die Eifersüchteleien und Intrigen geschoben haben, die Fernando Paer, den Musikdirektor des Theatre-Italien, umgaben, war
die Lage doch wesentlich komplizierter, und Rossini muss sich einen kleinen Teil der
Schuld selbst zuschreiben. Paer hatte Rossini anscheinend gebeten, Il Turco in Italia
auf einen einzigen Akt zu reduzieren. In einem Schreiben an Paer, das in einem
Händlerkatalog aus dem Jahre 1928 zitiert wird, verkündete Rossini, die Kurzfassung sei an einen Signor Andreoti in Paris abgeschickt worden, von wo Paer sie abholen könne. Rossini hat wahrscheinlich sehr wohl eine solche Kürzung vorgenommen, denn eine Version in einem Akt wurde unter seiner Leitung im Privattheater
seines Freundes, des Marchese Sampieri, im Mai 1830 in Bologna aufgeführt. Bedauerlicherweise ist keine Spur davon übrig geblieben. Paer mag zunächst geplant
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haben, die Oper in einem Akt zu präsentieren, jedoch war er nach seinem Entschluss, sie auf ihre ursprünglichen zwei Akte hin zurückzuverwandeln, vielleicht gezwungen, von überallher zusätzliches Material zusammenzutragen.
Hätte diese Geschichte hier aufgehört, so wäre es kaum der Mühe wert gewesen,
sie hier zu erzählen, aber dieses "Flickwerk" wurde sogleich von mehreren Pariser
Musikverlegern - Janet et Cotelle, Carli, Pacini sowie Vve. Launer - veröffentlicht,
und damit war die Verwirrung der Kritiker für die nächsten anderthalb Jahrhunderte
gesichert.
Letzthin hat sich das Geschick von Il Turco in ltalia beträchtlich gebessert. Nach der
legendären Produktion mit Maria Callas unter der Leitung von Gianandrea Cavazzeni im Teatro Eliseo in Rom im Jahre 1950, wiederholt unter donnerndem Applaus in
der Scala 1955, etablierte sich die Oper allmählich wieder im Repertoire, wenn auch
in einer Version, die durch einige unglückliche Kürzungen beeinträchtigt war. Die
Fondazione Rossini in Pesaro hat nun mit der Unterstützung von Casa Ricordi in
Mailand eine von Margaret Bent herausgegebene neue, kritische Edition der Oper
vorgelegt. Mit dieser Edition, die inzwischen in der Gesamtausgabe der Rossini-Opern veröffentlicht wurde, kann Il Turco in ltalia wieder so bekannt werden, wie Rossini es komponierte.
Die Kompositionsgeschichte von Il Turco in ltalia ist eigentlich recht einfach, und
Rossini fügte der Partitur nach der Eröffnungssaison wenig hinzu. Er stellte jedoch
für Fiorilla eine Alternativ-Cavatine her ("Presto amiche" - "Schnell, Freundinnen"),
wahrscheinlich im Herbst des Jahres 1815, als er persönlich eine Neuaufführung im
Teatro Valle in Rom überwachte. Es existiert keine Original-Aufzeichnung dieser Cavatine, aber die Komposition ist eindeutig von Rossini, denn er benutzte sie leicht
abgeändert erneut in La gazetta, einer Komischen Oper, die in Neapel, am 26. September 1816, uraufgeführt wurde.
Mehrere Kompositionen in Il Turco in ltalia stammen tatsächlich nicht von Rossini. In
dem eigenhändigen Partitur-Manuskript, das im Archiv der Casa Ricordi gefunden
wurde, sind einige Teile nicht in der Handschrift des Komponisten verfasst, nämlich
alle Secco-Rezitative, die Cavatine des Don Geronio im I. Akt ("Vado in traccia d'una
zingara"; "Eine Zigeunerin will ich suchen"), die Arie des Albazar im H. Akt ("Ah! sarebbe troppo dolce"; "Unglückliche Zaida mein") und das gesamte Finale im H. Akt
("Son la vite sul campo appassita", "Ich bin das Laub, das ohne Halt") bis zum Ende
der Oper. Der Mann, der diese Teile niederschrieb, komponierte auch die Rezitative
für eine andere Rossini-Oper, La gazza ladra (Die diebische Elster; 1817), die in der
Scala uraufgeführt wurde. Viele Einzelheiten der Struktur, Orchestrierung, Dynamik
sowie musikalischer Feinheiten in allen drei musikalischen Nummern machen es
sehr unwahrscheinlich, dass sie von Rossini selbst stammen. Auch gibt es in diesen
Manuskripten Abänderungen, die eindeutig das Produkt von Kompositionsentscheidungen und nicht etwa Kopierfehler sind. Kurzum: es ist sehr wahrscheinlich, dass
diese drei Nummern gen au wie alle Secco-Rezitative von Il Turco in ltalia von dem
Mann geschrieben wurden, der die innerhalb Rossinis Originalhandschriften vorgefundenen Manuskripte herstellte. Wir kennen zwar seine Identität nicht wirklich; ein
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möglicher Kandidat aber ist Vincenzo Lavigna, 'maestro al cembalo' an der Scala
während dieser Zeit und später Verdis Kompositionslehrer.
Dies war nicht das einzige Mal, dass Rossini sich bei der Vorbereitung einer Oper
der Hilfe eines Freundes bediente. La Cenerentola, Mose in Egitto, La donna dellago
und Matilde di Shabran sind weitere Beispiele. Bei Il Turco in ltalia jedoch schrieb er
später keine Neufassungen der Auftritte, die von einem anderen Komponisten vorbereitet waren; und es ist auch nicht möglich, die Oper ohne sie aufzuführen. Don Geronios Cavatine und besonders das Finale im H. Akt sind unentbehrlich. Ob sie nun
von Rossini sind oder nicht - sie müssen wohl weiterhin integraler Bestandteil von Il
Turco in ltalia bleiben.
Felice Romanis Libretto hat immer wieder sehr unterschiedliche Rezensionen hervorgerufen - günstige wegen der Erfindung eines Poeten nach der Art Pirandellos,
der versucht, die Handlung unter Kontrolle zu bringen und eine Opera buffa aus den
Missgeschicken der anderen Charaktere zu "erschaffen"; ungünstige wegen der augenscheinlichen Immoralität der Fiorilla, welche diese in ihrer Launenhaftigkeit vom
Ehemann über den Liebhaber zum Türken geraten lässt. Romani sollte aber weder
alles Lob noch allen Tadel einstecken müssen. Sein Libretto ist zu einem guten Teil
aus einer früheren Vorlage von Caterino Mazzola übernommen, also von einem berühmten Librettisten des späten achtzehnten Jahrhunderts, der auch Metastasios
Clemenza di Tito für Mozart überarbeitete. Mazzolas Turco in ltalia wurde in der Vertonung von Franz Sexdelmann während der Karnevalssaison 1788 am Hoftheater zu
Dresden uraufgeführt. Obgleich vieles an der Version Romanis neu ist, sind doch einige Verse wortwörtlich von Mazzola übernommen worden; auch der Poet existiert
bereits bei diesem, wie auch die Grundanlage des Librettos und der Nebenhandlung,
die sich um Zaida und Albazar dreht. Mazzolas Libretto oder eine Variante davon
wurde auch von Franz Xaver Süssmayr im Jahre 1794 in Prag vertont. Es handelt
sich bei diesem Süssmayr natürlich um den Schüler Mozarts, und nach dessen Tod
war jener für die Vervollständigung des Requiems verantwortlich. Wahrscheinlich
komponierte er auch die Secco-Rezitative für La clemenza di Tito, und dies zeigt,
dass Rossinis Gewohnheit, derartige Passagen gegen Bezahlung zu "verpachten",
in jenen Tagen eine weit verbreitete Praxis war.
Quelle: Beiheft zur CBS compact disc M2K 37859