„EL CACEROLAZO“ – ARGENTINIENS RÜCKKEHR ZUM PROTEST

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„EL CACEROLAZO“ – ARGENTINIENS RÜCKKEHR ZUM PROTEST
POLITISCHER SONDERBERICHT
Projektland:
Argentinien
Datum:
12.06.2012
„EL CACEROLAZO“ – ARGENTINIENS RÜCKKEHR ZUM PROTEST
EINE BESTANDSAUFNAHME ZUR WIRTSCHAFTSLAGE
Am 31. Mai und 07. Juni war es wieder so weit: Ein Klopfen und Scheppern klirrte
durch die Straßen einiger Wohnviertel der Stadt Buenos Aires, über facebook und
twitter hatten sich tausende Menschen abends zum „Cacerolazo“ getroffen, zum
Protest. „Cacerolazo“ kommt von „cacerola“ (span. Topf) und ist eine in Argentinien
typische Protestform des Mittelstandes. Die Protestierenden begeben sich auf Straßen
und Balkone und schlagen auf leere Töpfe und Pfannen, um sich Gehör zu verschaffen.
Argentiniens Mittelstand möchte der Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner
sagen, dass Grenzen erreicht sind. Ob wegen der Beschränkungen beim Kauf von USD,
der sich verschärfenden Sicherheitslage oder der hohen Inflation: die „ewige Geduld“
der Argentinier mit ihrer politischen Führungsklasse scheint jetzt auf ein Neues an
Grenzen gestoßen zu sein.
Der letzte „Cacerolazo“ fand landesweit im Jahr 2008 statt. Damals stellten sich die
Landwirte gegen die Präsidentin, welche die Exportsteuern drastisch anheben wollte.
Der Konflikt mit dem „Campo“ kratzte am positiven Image Kirchners in der öffentlichen
Meinung, so dass das Regierungslager in 2009 die Mehrheit in der
Abgeordnetenkammer verlor. Damals bildeten der oppositionelle Peronismus mit der
Pro-Partei als auch die Radikalen mit der Bürgerkoalition wichtige Bündnisse, welche
sich in 2011 nicht wiederholen ließen. Doch worum geht es diesmal, wenn die
Menschen zum „Cacerolazo“ aufrufen: Unsicherheit und steigende Kriminalität, hohe
Inflation, Korruption, die Kontrolle des Devisenkaufes, eine mögliche Rezession, der
Streik gegen die Grundsteuererhöhung in der Provinz, das Strafverfahren um das
Zugunglück in Once etc. - so mannigfaltig stellen sich die Beweggründe der
Protestierenden für das Topfschlagen vor der Casa Rosada, dem Regierungspalast, und
der Präsidentenresidenz in Olivos dar. Hier vermischen sich politische mit sozialen
und vor allem wirtschaftlichen Faktoren; das Volk am Rio de la Plata ist verunsichert.
In Argentiniens Supermärkten nimmt langsam aber sicher die Vielfalt der Produkte ab;
in Werkstätten fehlen Ersatzteile, welche auf der Liste des mächtigen Staatssekretärs
für Binnenhandel gestrichen wurden. Das Modell („el modelo“) des regierenden
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Kirchnerismus macht es möglich: Viele Argentinier fragen sich zunehmend, was dieses
Konzept wohl so Magisches an sich hat. Über die Argentinier hinaus, fragt sich das
übrigens der eine oder andere Handelspartner in der Region, in Europa, in der ganzen
Welt. Etwa 40 Nationen legten im Mai Beschwerde bei der WHO
(Welthandelsorganisation) gegen Argentinien ein, da die Handelssekretäre einiger
Länder „die Nase rümpfen“ und Firmen, auch in Argentinien selbst, an den „willkürlich
gesetzten“ Handelshemmnissen Argentiniens der letzten Monate scheitern.
Doch werfen wir den Blick auf die Wirtschafts- und Finanzlage von heute, anstatt zu
versuchen, die politischen Köpfe des Modells, welche nicht mehr für
Pressekonferenzen zur Verfügung stehen, „nachhaltig“ zu interpretieren.
Die Geschichte und schmerzhafte Erfahrung zeigt, dass in Argentinien etwa alle zehn
Jahre eine Wirtschafts- und Finanzkrise wiederkehrt: von einigen Krisen des letzten
Jahrhunderts, beispielsweise der Hyperinflation Ende der 80-er/Anfang der 90-er Jahre
bis zum „Corralito“ und dem Staatsbankrott im Jahr 2002. Corralito (vom spanischen
„corral“ – zu Deutsch Stall) ist die umgangssprachliche Bezeichnung für das in 2001
eingeführte argentinische System zur Beschränkung des Bargeldumlaufs.
Doch seit der schweren Finanzkrise 2001/2002 ging es rasch wieder bergauf. Das
Wirtschaftswachstum betrug die letzten neun Jahre im Schnitt 8%, das Land hat
beträchtliche Gewinne gemacht, zu einem großen Teil wegen der sehr günstigen
Weltmarktpreise für Argentiniens landwirtschaftliche Ressourcen, jedoch nicht nur.
Das von Nestor Kirchner 2003 eingeführte erfolgreiche (Wirtschafts-) Modell setzte
seine Gattin Cristina ab 2007 bis heute fort. Doch das Wachstum „a tasas chinas“ (zu
chinesischen Raten) pendelte sich Ende 2011 ein. Seit Beginn des Jahres 2012 stellen
sich die ökonomischen Rahmenbedingungen komplexer dar: Ein wesentlich geringeres
Wirtschaftswachstum, anhaltende Inflation (25%), stärkerer Druck auf den „parallelen
Dollarkurs“ (siehe unten), eine geringer ausfallende Ernte, d.h. eine schlechtere
Handelsbilanz. Hinzu kommen eine geringere Auslandsnachfrage (v.a. von Brasilien),
Importhemmnisse und ein angekratzter Automobilsektor, Grundpfeiler der
argentinischen Industrie, in dem nun Entlassungen geplant sind. Auch die
Tourismusbranche beklagt sich: Die internationalen Gäste werden weniger, vor allem
aus Brasilien besuchten im April rund 8% weniger als im Vorjahr das Nachbarland;
Argentinien ist nun auch für Touristen teuer geworden. Zudem verlassen Devisen in
Milliardenhöhe das Land; ca. 184 Mrd. USD an Kapital sollen außerhalb Argentiniens
gehalten werden. Argentiniens Wirtschaft hat ein Vertrauensproblem. Es fehlen klare
und vernünftige Regeln, die verlässlich sind und auch eingehalten werden.
Finanzprobleme: Die Regierung muss die in den letzten Jahren massiv gestiegenen
Staatsausgaben finanzieren (Subventionen, Sozialpläne, Infrastruktur und
Energieimporte, weniger Steuereinnahmen) ohne Zugang zum internationalen
Finanzmarkt zu haben. Das BIP Argentiniens betrug in 2011 ca. 435 Mrd. USD
(Schätzung IWF). Die Staatsverschuldung betrug im letzten Quartal 2011 175 Mrd.
USD, Ende 2009 waren es noch 147Mrd. USD. 52% der Schulden bestehen in
Verbindlichkeiten bei anderen staatlichen Institutionen. Die Haushaltverschuldung
liegt bei über 40 % des BIP. Auslandsverschuldung: Seit Ende 2001 sind beim Pariser
Club beispielsweise noch 9 Mrd. USD offen; die Rückzahlung wird wahrscheinlich nie
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geschehen, da die Regierung nie die Kontrolle der offiziellen Wirtschaftsdaten durch
den IWF (Internationaler Währungsfonds) zulassen wird. Der Haushalt ist nun nach
langer Zeit wieder im Defizit: in 2011 betrug dieses 7,4 Mrd. USD bzw. 1,7% des BIP.
Hinzu kommt die Verschuldung der Provinzen: 10 der 24 Provinzen haben aktuell
Finanzprobleme, zumeist können sie Schulden bei der Nation nicht zurückzahlen, „die
Katze beißt sich also in den Schwanz!“. Das deutlich abgekühlte Wachstum geht nun
spürbar alle etwas an. Zudem folgt die Aufteilung der Einnahmen einem recht
komplizierten
System
(„Labyrinth
der
Ko-Partizipation“).
Argentiniens
„Finanzausgleich“ zwischen Nation und Provinzen hat sich zu einer „Dezentralisierung
der Ausgaben“ jedoch zu einer „Zentralisierung der Einnahmen“ entwickelt.
Der „Dollar blue“ – Devisenkrise im Andenland
20 Milliarden USD verließen im Laufe des letzten Jahres das Land, der Kapitalfluss ist
enorm und beschert dem Land eine Devisenkrise. „Alles schon mal gehabt!“, so oft die
Antwort der leidtragenden Geschäftsleute. “El blue (der blaue), el oscuro (der dunkle),
el dos (der zweite Dollar) o la lechuga (der Salat)”, sind nur ein paar Namen, welches
das Tangovolk dem „dólar paralelo“, also dem nicht offiziellen USD am Schwarzmarkt,
gegeben hat. Während der offizielle Kurs den Argentinischen Peso (ARS) überbewertet
(ca. 4,5 Pesos für einen USD), wird das durch Restriktionen seltene Gut, der USD, am
Schwarzmarkt um rund 6 Pesos verkauft. Binnenstaatssekretär Moreno versuchte
zwar, im Gespräch mit den Wechselstuben den Kurs auf 5, 10 Peso für einen USD zu
drücken, die Gesetze des Marktes beugen sich dem jedoch nicht, sodass mit 5,95 und
in Zukunft wohl mehr zu rechnen ist. Die Entwicklung gemäß dem Finanzblatt „ambito
financiero“ zeigt in einer Gegenüberstellung der beiden Werte, dass der bisherige
Höchststand des „dólar blue“ am 23.05.12 6,15 ARS erreichte
(http://www.ambito.com/economia/mercados/dolar.asp).
Der Zentralbank fehlen aufgrund der Kapitalflucht und des nun geringeren Exports
Dollarreserven. Im März 2012 brachte die Regierung eine Satzungsänderung in beiden
Kammern des Kongresses durch: Nun hat die Zentralbank bei der Verwendung von
Devisenreserven zur Bezahlung von Staatsschulden und zur Stützung des Peso mehr
Flexibilität. Die ca. 46 Mrd. USD Währungsreserven (Rückgang von 11% seit 2010)
dürfen nun auch dann angetastet werden, wenn ihr verbleibender Gesamtwert unter
dem der in Umlauf befindlichen Landeswährung (argentinische Pesos) sinkt. Das
bisherige Gesetz der Konvertibilität ist somit ausgehebelt. Zu betonen ist hier, dass
Argentinien somit das einzige bedeutende Land Südamerikas ist, welches im letzten
Jahr seine Währungsreserven nicht erhöhen konnte. Der Kauf von ausländischen
Devisen wurde inzwischen massiv eingeschränkt (bisher durfte man bis max. 40%
seines Nettoeinkommens in ausländische Devisen wechseln, jetzt sind es nur mehr
25%). Das bedeutet: Wenn ein Argentinier für einen geplanten Urlaub USD braucht, ist
ein Antrag an die Steuerbehörde zu stellen: Ausgang ungewiss. Im Mai 2012 verließen
1,3 Mrd. USD das Land, Tendenz steigend.
Das „Züngelchen auf der Waage“ – Inflation
Doch kommen wir zum Hauptproblem in Argentiniens Wirtschafts- und Finanzpolitik:
Die Inflation. Sie peinigt und plagt das Land seit vielen Jahren, und es ist sehr
kompliziert, sie loszuwerden. Aktuell beträgt sie jährlich etwa 25% (gemäß
nationalem Statistikamt nur ca. 9%). Durch sie sind Güter zu teuer für den Export, die
Produktion sinkt, ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit ist die Folge; die Spirale der
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Lohnkostensteigerung erzeugt Kopfschmerzen, Sparen in Pesos ist unsinnig, daher
ergibt sich die noch größere Flucht in den Dollar. Ohne Sparen gibt es keine
Investition: Argentiniens Wachstum ist stark konsumabhängig. An die 60% ist die
Wahrscheinlichkeit hoch, dass Ende 2012 leicht abgewertet wird. Bisher will die
Regierung das verhindern.
Handel:
Deutschland und Argentinien sind wichtige Handelspartner. Die BRD liegt an 4. Stelle
der Herkunftsländer für Importe in Argentinien und an 6. Stelle als Zielland für
Exporte; Deutschland ist drittgrößter Investor aus der EU. Mehr als 200 deutsche
Firmen haben sich hier niedergelassen und beschäftigen mehr als 20.000 Menschen.
Der Außenhandel wuchs rasant die letzten Jahre, sodass 2011 Rekordwerte sowohl für
den Export (plus 24%, Landwirtschaftliche Erzeugnisse, Automobilindustrie) als auch
den Import (plus 31%, halbfertige Güter, Kapitalgüter, v.a. aus Brasilien) zu
verzeichnen waren. Die Handelsbilanz betrug 2011 10,3 Mrd. USD, ein Minus von
11% gegenüber dem Vorjahr. Besonders erschwerend wirkt auf die Bilanz, dass
erstmals in 2011 im Wert von 7,4 Mrd. USD mehr Energie importiert als exportiert
wurde. Um die Handelsbilanz als wesentliche Säule des gegenwärtigen
Wirtschaftssystems positiv zu halten, begann man in 2011 mit Importsubstitutionen
(deutsche Firmen etwa exportieren Wein und Oliven, um Güter des gleichen
nominellen Wertes importieren zu dürfen) und verschärfte die Lage ab Februar 2012
mit Importrestriktionen (nicht-automatische Importlizenzen, eidesstattliche
Importerklärungen, ohne klare Regeln). Aus Brasilien wird um rund 17% weniger, aus
den USA und Kanada sowie Mexiko 10% weniger importiert. Darunter haben vor allem
Klein- und Mittelbetriebe zu leiden, deren Produktion eben auf Zwischenprodukte aus
dem Ausland angewiesen ist. Nimmt man zur Betrachtung der Importhemmnisse (um
Devisen aufzustocken) auch die als geringer ausfallende zu erwartende Ernte in 2012
hinzu (-18% p.a.), ist zu beachten, dass eine geringere Exportleistung unter
Beibehaltung der strikten Importschranken zweifellos ein geringeres
Wirtschaftswachstum bewirken wird.
Direktinvestitionen: Die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und Karibik
(spanisch: Comisión Económica para América Latina y el Caribe, CEPAL) verzeichnete
ein absolutes Rekordjahr von ausländischen Direktinvestitionen in Südamerika und
der Karibik: über 153 Mrd. USD flossen in 2011 in die Region, davon zu 43,8% in
Südamerikas größten Markt, Brasilien, gefolgt von Mexiko, Chile, Kolumbien und Peru.
Während im ersten Halbjahr 2011 die Auslandsinvestitionen um etwa 30% in
Argentinien zurückgingen, stiegen sie zeitgleich in Brasilien um 157%
(Businessweek). CEPAL geht für 2012 von einem Rückgang der Direkten
Auslandsinvestitionen um 2% aus, was mit der Eurokrise zusammenhängt. Die
wichtigsten Investoren für Argentinien sind Spanien und die USA, auch Brasilien,
Chile, Kanada, die Niederlande und Deutschland.
Das „Euler Hermes Länderrating“ zu Südamerika sieht Argentinien im April 2012 unter
den “Hochrisikoländern”. Das Rating evaluiert das Risiko eines Zahlungsausfalles für
kurzfristige Geschäfte, gestützt auf die aktuelle politische und Wirtschaftslage. Das
Rating umfasst vier Stufen: niedriges Risiko (momentan z.B.: Chile, Brasilien, Peru,
Kolumbien, Falklandinseln); mittleres; empfindliches (Paraguay, Guyana, Cuarcao) und
hohes Risiko; zur letzteren Gruppe gehören zurzeit Argentinien, Bolivien, Ecuador,
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Venezuela, Surinam. (Situation in Argentinien im April 2012: sehr hohes Risiko für
externe Transfers und Konvertibilität sowie schwaches Business-Umfeld. Beim
Finanzfluss und Wirtschaftszyklus bestehe ein bedeutendes Risiko der Vulnerabilität,
jedoch ein akzeptables zyklisches Risiko, wenn auch von gewisser Unsicherheit
gekennzeichnet.)
Landwirtschaft und Industrie: ein zentraler Bereich für Argentiniens Wirtschaft ist der
hochindustrialisierte Landwirtschaftssektor, der in den letzten Jahren satte Gewinne
gemacht hat. Allerdings handelt es sich dabei um einen sensiblen Bereich: Zur
Eindämmung der Inflation wurden Höchstpreise für Grundnahrungemittel festgelegt;
der Export von Rindfleisch wurde zeitweise verboten, um den inländischen
Fleischpreis zu drücken. Die heutige Folge: Der Rinderbestand hat um etwa 10 Mio.
Kühe abgenommen, und das Fleisch ist teurer denn je; die Weizenproduktion ist um 5
Mio. Tonnen zurückgegangen. Die Preise wurden zwar wieder frei gegeben, doch es
war bereits zu spät: das kleine Uruguay exportiert heute mehr Rindfleisch als das
klassische „Gaucholand“. Stattdessen boomt seit Jahren das Sojageschäft, da die
hohen Weltmarktpreise und der Großabnehmer China Argentinien ein „goldenes“
Geschäft beschert haben. Die stark angehobenen Exportsteuern auf landwirtschaftliche
Rohstoffe (10 bis 35% auf Soja, Fleisch, Getreide und Mais) spülten Millionen USD in
die Staatskasse. Der Preis hierfür ist freilich eine auf Sojaanbau hoch spezialisierte,
jedoch wenig diversifizierte Agroindustrie. Eine zentrale Rolle in Argentiniens
Industrialisierung spielt die Autoindustrie, diese ist ebenfalls stark gewachsen. Die
steigende Nachfrage des Binnenmarktes und des brasilianischen Marktes kurbelten die
Verkaufszahlen an, doch der Boom scheint jetzt sein Ende zu finden; Entlassungen sind
bereits angekündigt. In Argentiniens Industrie insgesamt mangelt es grundsätzlich an
effizienter und wettbewerbsfähiger Erzeugungsleistung. Genau aus diesem Grund soll
der heimische Markt vor Wettbewerb von außen geschützt werden. Produkte, welche
in Argentinien selbst erzeugt werden können, dürfen nicht mehr importiert werden.
Dabei kommt es zunehmend zu Engpässen bei der Versorgung mit Vorprodukten.
Sowohl das politische als auch das wirtschaftliche System sind von den sehr
mächtigen Gewerkschaften beeinflusst. Zentraler Herausforderer von Cristina Kirchner
ist hier Hugo Moyano, Chef der CGT (Central General de Trabajo). Wie sehr die
Präsidentin seine Macht wirklich einschränken konnte, ist unklar. Hugo Moyanos
Macht könnte für oppositionelle Kräfte entscheidend sein, sodass sich Bündnisse
bereits anbahnen.
Regionale Integration: In der Region ist eines sicher: Regionale Integration im Conosur
wird es nur geben, wenn Brasilien und Argentinien an einem Strang ziehen. Seinen
außenpolitischen Strategiefindungsprozess hat das Land noch nicht abgeschlossen;
während Brasilien als Regionalmacht voranschreitet und seine Ansprüche, auf gleicher
Augenhöhe wie die USA oder die EU als „global player“ betrachtet zu werden, immer
deutlicher macht. Es fragt sich, ob Argentinien das „Kanada“ von Brasilien sein kann
und möchte (mit Blick auf das strategische, nachbarschaftliche Bündnis zwischen
Kanada und den USA). In regionalem Bündnis könnte sich in der globalisierten Welt
ein starker gemeinsamer Markt schaffen, der Rezessionskrisen besser zu überdauern
vermag.
Bedeutung des Wirtschaftlichen Notstandes: Seit 2002 herrscht „wirtschaftlicher
Notstand“ und daher besonderer Ermessensspielraum der Exekutive. Mittels DNUs
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(„decreto de necesidad y de urgencia“, Dekret aus Notwendigkeit und besonderer
Dringlichkeit) werden „Gesetze erlassen“. Erst im Dezember 2011 wurde der Notstand
für zwei weitere Jahre verlängert (einer der ersten Akte der neuen/alten Regierung).
Der Regierung stehen demnach weiterhin besondere „Notfallinstrumente“ zur
Verfügung: Sie kann den Wechselkurs bestimmen und Preise festlegen bzw.
überwachen. Ob bei durchschnittlich 8% Wachstum in den letzten Jahren die
wirtschaftliche Not gegeben war, dürfte nicht nur Juristen, sondern auch „Herrn
Rodriguez von nebenan“ zweifelhaft erscheinen. Die Zuhilfenahme von DNUs mag
nicht so sehr an bestimmten Regierungen liegen, sondern vielmehr an der politischen
Kultur und dem Funktionieren des politischen Systems Argentiniens. Der Zustand
jedenfalls macht es möglich, „das Modell“ fortzuführen: Das ist im Wesentlichen die
Finanzierung der steigenden Staatsausgaben durch Deviseneinnahmen aus Handelsund Zahlungsbilanzüberschüssen.
Der Ausblick für das Jahr 2012 sieht nicht mehr sehr „rosig“ aus: Nach einem
Wachstum von zuletzt 8,9% in 2011 sind für 2012 max. 3,5% wahrscheinlich; private
Analysten können auch einen Rückgang des Wachstums (Schrumpfen) nicht mehr
ausschließen. Die makroökonomischen Daten zeigen uns, dass Argentinien sehr stark
von der internationalen Konjunktur abhängig ist: Zum einen von den Weltmarktpreisen
landwirtschaftlicher „Commodities“, wie Soja, zum anderen, von der Nachfrage
Brasiliens, vor allem in der Automobilindustrie. Als interner Faktor kommt wohl der
stark gestiegene Konsum hinzu, welcher sich jetzt jedoch einzustellen beginnt.
Nach anfänglichen Anzeichen eines „ajuste“ (Sparmaßnahmen, Streichen von
Subventionen etc.) ist nun (auch auf Druck der öffentlichen Meinung) eher davon
auszugehen, dass eine expansive Haushaltspolitik angewandt werden wird, um der
beginnenden Stagnation entgegenzuwirken.
Ob Argentinien alles im Alleingang schaffen kann, ist fraglich. Die Rechtssicherheit ist
jedenfalls nicht am europäischen Standard zu messen. Das Länderrisiko für
Argentinien liegt z.B. laut „EMBI+“-Index von JP Morgan bei 1.177 Punkten, während
der Durchschnitt für Lateinamerika 562 Punkte und für Brasilien 244 Punkte beträgt
(05.06.2012). Investitionen in Argentinien können langfristig hoch rentabel sein, sind
allerdings in jedem Fall mit einem relativ hohen Risiko behaftet, und das schreckt
Investoren ab, und zwar auch argentinische.
*********
Exkurs: Der Fall YPF –Verstaatlichung in der Energiekrise
Wer heute auf die Webseite des Unternehmens YPF blickt, sieht stolze Sprüche wie:
„recuperar el liderazgo!”, „die Führerschaft wiedererlangen“, “YPF con bandera
Argentina!”, „YPF unter argentinischer Flagge!“. Das ist bestimmt Balsam für die
argentinische Seele, doch was ist tatsächlich passiert?
Im April 2012 wurden 51% der größten Erdölfirma des Landes YPF (Yacimientos
Petroliferos Fiscales, zu Deutsch: Staatliche Erdölvorkommen) verstaatlicht; das traf
den spanischen Haupteigentümer, die Firma Repsol, besonders schwer. Es war in einer
„Nacht und Nebel“-Aktion, obwohl sich die Verstaatlichung bereits Wochen lang
abgezeichnet hatte, ohne öffentliche Diskussion. Im Abgeordnetenhaus waren 208 von
257 Stimmen dafür, nur 31 dagegen [PRO-Partei und Demokratische Partei Mendoza,
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18 der 21 Stimmen der Föderalen Peronisten und 2 der UCR]. Die Opposition schlug
auch Gegenmodelle vor, u.a. dass es ein System mit klaren Spielregeln für Investoren
geben solle, welches wenigstens für 10 Jahre Steuern, Preise und feste Regeln für
Import sowie Export und Zuschläge für die Provinzen festlegen sollte. Alle
Gegenargumente wurden abgeschmettert und die Direktoren per Dekret vor der
Annahme des Enteignungsgesetzes aus dem YPF-Firmenturm „geschmissen“. Erst in
den 90-er Jahren wurde YPF privatisiert und an Repsol verkauft; und erst vor ein paar
Jahren wurden 25% an einen der Kirchner-Regierung nahestehenden Unternehmer
verkauft, welcher angeblich hierfür nie einen Cent bezahlen musste. In anderen
Ländern wären diese sehr zweifelhaften Umstände näher erörtert worden; hier wählen
208 Abgeordnete (80%) für die „Kehrtwende“ einer Privatisierung, welche von
denselben politischen Führungsfiguren abgezeichnet war, die heute die
Verstaatlichung unterstützten. Zudem wirbelt das Volk begeistert mit der Fahne als
patriotische Geste des nationalen Stolzes: Ja, YPF gehört jetzt endlich wieder den
Argentiniern, aus den „Klauen der Kolonialisten entrissen“. Doch auch die spanische
Firma Repsol hat die Jahre über mit ihrem Anteil von 57% verhandelt und gute
Geschäfte gemacht.
Für das Regierungslager stütze sich die Enteignung der Repsol-Anteile (51%) vor allem
auf zwei entscheidende Argumente: Zum einen sei die Selbstversorgung mit Erdöl und
Erdgas von nationalem Interesse (was verständlich ist); zum anderen habe YPF/Repsol
nicht mehr in die weitere Erschließung von Gas und Öl in Argentinien investiert, und
besonders in dieser Frage steht das Land aufgrund der nun notwendigen hohen
Energieimporte stark unter Druck. Zudem ist die Regierung nicht bereit, eine
Entschädigung zu zahlen.
Die Wetterer gegen eine Enteignung brachten Rechtswidrigkeit vor: Es sei
diskriminierend, nur 51% zu verstaatlichen; und gemäß dem mit Spanien
abgeschlossenen Investitionsschutzabkommen, vor allem gem. der Nationalen
Verfassung (Art 17), sei vorab eine Entschädigung fällig. Scharfe internationale
Reaktionen, vor allem seitens der Spanier, blieben nicht aus. Der Grund, weshalb YPF
die letzten Jahre hohe Dividenden ausschüttete anstatt Produktionsstätten
auszuweiten, sei auf eine Abmachung zwischen Repsol, dem argentinischen Staat und
der Kirchner-nahen Unternehmerfamilie Eskenazi zurückzuführen, um so den Kauf der
25% durch die Petersen-Gruppe (Kredite an Eskenazi) überhaupt finanzieren zu
können. Der Vertreter des Staates (staatlicher Anteil 0,02%) im Vorstand akzeptierte
die hohe Ausschüttung ebenfalls. Eine andere These geht von den hohen
Gewinnausschüttungen auch deswegen aus, weil Repsol YPF damals hoch verschuldet
übernommen habe. Nun kann man natürlich berechtigt fragen, warum damals 25%,
die anscheinend gratis zu haben waren, nicht dem Staat sondern an einen
regierungsnahen Unternehmer „verschenkt“ werden mussten. Auch heute, in 2012,
bleiben die 25% in nämlichem privaten Firmeneigentum. Was zudem gegen die
Investition sprach ist die staatliche Preispolitik: Energiepreise wurden durch
staatliche Subventionen künstlich niedrig gehalten, niedrige Abnahmepreise gaben
wenig Anreiz für privatwirtschaftliche Investition.
Bei der Frage der Verstaatlichung und Verabschiedung des nämlichen Gesetzes in den
beiden Kammern des Kongresses ging es im Wesentlichen nicht um die Frage, wer
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Energieressourcen bewirtschaften soll, sondern um die Frage, wie Argentinien die
Selbstversorgung wieder erlangen kann.
In Folge einige illustrative Daten zu den Rahmenbedingungen dieser Frage:
48 von 100 Punkten erreicht Argentinien im Ranking zur freien Marktwirtschaft der
Heritage Stiftung, 2001 waren es noch 68. Heute steht Argentinien diesbezüglich auf
gleicher Stufe wie Ecuador, Burundi, Angola oder die Ukraine. Transparency
International bemisst in Argentinien den Grad an Korruption mit 3 von 10 Punkten (in
2001 waren es 3,5), gleichauf mit Bolivien, Tansania, Ägypten, Iran oder Syrien. Für
Chile und Uruguay bemisst der Index 7 Punkte. Im „Doing Business“-Index der
Weltbank rangiert Argentinien auf Platz 113 von 183 evaluierten Ländern; gleich wie
Ägypten, der Kosovo, Nicaragua oder Bangladesh. Im regionalen Vergleich bedeutet
dies, dass es in Chile, Peru oder Kolumbien dreimal einfacher ist, Geschäfte zu
schließen. Gemäß dem Frontier Centre for Public Policy respektiert das Land mit 4 von
10 Punkten physisches als auch intellektuelles Privateigentum, wie Syrien, Sambia,
Kenia, Iran und Nepal (somit deutlich unter allen entwickelten Ländern
Lateinamerikas). Das Risiko wird aktuell mit 1000 Punkten bewertet, schlechter als
Ecuador, Venezuela und Spanien (Durchschnitt in der Region sind 170 Punkte). Im Mai
2001, vor der letzten großen Krise, wurde das Risiko in Argentinien ebenfalls mit
1000 Punkten bewertet. Wer soll bei diesen Indikatoren und vor allem nach der
Enteignung von YPF in Argentinien vertrauen? Es ist wohl ganz im Gegenteil: Bestimmt
auf ein Lobbying Spaniens hin jedoch auch durch angestauten Ärger und
Geduldsverlust hat die EU, gemeinsam mit zahlreichen anderen Ländern, nun
Beschwerde
gegen
Argentiniens
Handelspolitik
bei
der
WHO
(Welthandelsorganisation) eingelegt.
Vor acht Jahren exportierte Argentinien 4 Mrd. USD Energie, heute wird das Land für
etwa 12 Mrd. USD Gas importieren müssen. Fehlende Investitionen, schwindende
Reserven und eine anscheinend falsche Preispolitik sind seit Jahren bekannt. Zu
beachten ist dabei, dass gemäß Verfassung die Provinzen Eigentümer ihrer Ressourcen
sind; sie entscheiden, mit welchen Firmen Konzessionsverträge zur Förderung von Öl
und Gas geschlossen werden. Gemäß dem jüngsten Enteignungsgesetz gehören 49%
des verstaatlichten YPF-Anteils den 10 Provinzen mit Erdöl- und Erdgasvorkommen.
Bisher wurde ihnen die Besetzung von 5 der 17 Mitglieder im neuen Direktorium von
YPF zugesagt.
Argentinien ist heute zu 84% abhängig von Erdöl und Erdgas; die Weltquote beträgt
ca. 57%, Brasilien liegt bei 55% und hat ein großes Programm gestartet, um tausende
Fachkräfte, an denen es mangelt, für viel Geld nach Brasilien zu holen. Was für die
Selbstversorgung und eine ausgeglichene Handelsbilanz hier fehlt, ist zudem eine
Harmonisierung der Energieeffizienz im Mercosur (Gemeinsamer Markt des Südens).
Ob die Verstaatlichung nun rechtmäßig oder rechtswidrig war, in Summe geht es hier
um eine für die Zukunft Argentiniens ganz entscheidende Problematik: Mit dem
raschen Wachstum ist der Energiekonsum drastisch gestiegen, die Energieproduktion
jedoch gefallen, und die Reserven sind geringer. Argentinien verlor die strategische
Selbstversorgung. Die vor kurzem entdeckten nichtkonventionellen Schiefergas und
Ölvorkommen in der Provinz Neuquen und am Meeresgrund vor den Falklandinseln (!)
können nur unter hohen Kosten gefördert werden. So werden Investitionen von
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jährlich ca. 15 Mrd. USD gebraucht werden. Ausländische und wohl auch argentinische
Investoren dürften fürs erste vom groben Staatsinterventionismus „verschreckt“
worden sein. Ob der neue Chef an der Spitze des Staatsunternehmens, Miguel
Galuccio, der erst vor kurzem den neuen YPF-Unternehmensplan vorstellte, die für
eine echte und nachhaltige Energiepolitik notwendigen strategischen Schritte gehen
wird, ist abzuwarten.
Der Umgang und Lösungsansatz im Fall YPF ist beispielhaft dafür, wie in Argentinien
Politik gemacht wird und in welche Richtung die aktuelle Politik Argentiniens geht.
Cristina Fernandez de Kirchner scheint hinsichtlich der Wirtschaftspolitik des Landes,
um das strukturell (so scheint es) angeschlagene „K-Wirtschaftsmodell“ zu retten,
sämtliche Karten auf den jungen und hochintelligenten Vizewirtschaftsminister und
„Autor“ der YPF-Enteignung, Axel Kiciloff, zu legen. Es gibt viele Spekulationen über
dessen politische Zukunft und seine Verbindung zur inzwischen einflussreichsten
politischen Jugendorganisation „La Campora“, doch „Tagesgeschehen und kurzfristige
Einschätzungen“ sind im Andenland mit Abstand zu genießen. Es bleibt zu hoffen, dass
der „Gewinn der Aktion YPF“ aufgeht, und nicht nur für einige wenige, sondern für das
gesamte Volk; denn „jetzt gehört YPF endlich wieder dem Volk, sowie CFK“ (Cristina
Fernandez de Kirchner), so sagen es zumindest die Plakate, die in Windeseile gleich
nach dem Triumph über Repsol und die Spanier in den Straßen präsent waren.
*********
Inzwischen weht ein kühlerer Wind am Rio de la Plata, und das ist nicht nur auf den
beginnenden Winter zurückzuführen. 2012 wird es in Argentinien voraussichtlich zu
einer Verschärfung von autoritärem, zentralistischen Regierungsstil, Populismus,
Personenkult, schwachen Institutionen, schwachen Parteien, Einschränkung der
Pressefreiheit und zur Aushöhlung der Demokratie insgesamt kommen. Der
Wirtschaftsboom ist zu Ende, die Kassen sind leer: dennoch und gerade wegen seiner
Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sagt sich der Argentinier: Unser Land ist zu reich,
um unterzugehen!
Ob das Scheppern der Töpfe diese These zu untermalen vermag, ist unklar. Der
Cacerolazo ist nun jeden Donnerstagabend in der Stadt am Rio de la Plata angesagt. Es
bleibt zu hoffen, dass das Scheppern auch diejenigen gesellschaftspolitischen
Entscheidungsträger erreicht, die das Schicksal des Landes in der Hand haben.
Dr. Mariella Franz
Die Autorin ist Auslandsmitarbeiterin der Hanns-Seidel-Stiftung in Buenos Aires,
Argentinien
Quellenangabe: AWO-Wirtschaftsreport Argentinien 2011, Ecolatina/AHK April 2012, Banco Ciudad de Buenos Aires,
INDEC, IWF, Weltbank, Businessweek, Euler Hermes, Ambito Financiero, Öffentl. Diskussion im Kongress (2.5.) .u.a.
(Angaben im Text).
IMPRESSUM
Erstellt: 12.06.2012
Herausgeber: Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Copyright 2011
Lazarettstr. 33, 80636 München
Vorsitzender: Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, Staatsminister a.D.,
Senator E.h.
Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter Witterauf
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Verantwortlich: Christian J. Hegemer,
Leiter des Instituts für Internationale Zusammenarbeit
Tel. +49 (0)89 1258-0 | Fax -359
E-Mail: [email protected], www.hss.de
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Sonderbericht_Argentinien_09.06.2012
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