Die Inszenierung der Realität
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Die Inszenierung der Realität
Die Inszenierung der Realität Seit ihrem ersten Dokumentarfilm „Metall en Melancholie“ entwickelte die holländische Filmemacherin Heddy Honigmann ihren ganz eigenen Blick auf die Komplexität unseres Universums. Anlässlich eines zweitägigen Seminars von FOCAL in Zürich gab sie einen Einblick in ihren Umgang mit der Darstellung der Realität. Von Nicolas Lavanchy „Nicht die technische Perfektion zählt, sondern die emotionale Perfektion.“ In einer Zeit in der im Fernsehen eine Hochglanzperfektion angestrebt wird und hochauflösende Kameras und Filmmaterialien diese auch liefern, wird die Aussage von Heddy Honigmann zur Rebellion gegen den gängigen Trend schlechthin. Sitzt man allerdings gemütlich im Kinosessel, lässt es dunkel werden und taucht ein in die Welt der Heddy Honigmann ist man vom ersten Bild an verzaubert. Im 1995 entstandenen Spielfilm „Tot ziens“ (Auf Wiedersehen) nimmt sie uns mit auf die Eisbahn. Zusammen mit Laura (Johanna ter Steege) frönen wir dem Nationalsport der Holländer und drehen unsere Runden. Auch der glücklich verheiratete Jan (Guy van Sande) gleitet in schwungvollen Bewegungen über das Eis. Erst überholt Laura Jan, dann sind sie beide gleichauf und mit jedem Schritt gleichen sie ihre Bewegungen gegenseitig an um zusammen die Runden zu drehen. Durch einen Sturz kommt es zum ersten Augenkontakt. Liebe auf den ersten Blick entbrennt. Es sind kleine Bewegungen, ein Augenaufschlag, die Art wie die beiden wieder aufstehen, die alles verraten. Auf dem Rückweg wiederholt sich das Spiel von neuem auf den Fahrrädern. Das anfänglich neckische Spiel um die Aufmerksamkeit des anderen endet auf dem Teppich in Lauras Wohnung in einer animalischen Liebesszene voller Schweiss, Kraft, Gier und Lust. Es sind Szenen, erfüllt von einem wundervollen Spiel der Emotionen, in die uns Honigmann in langen ungeschnittenen Aufnahmen während fast einer Viertelstunde mitnimmt. Sie verzichtet dabei auf jeglichen Dialog, lässt ihre Zuschauer teilhaben an der Magie der Liebe. Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Jan will sich nicht von seiner Frau Ann (Els Dottermans) trennen, kann aber auch von Lauras Magie nicht lassen. So kommt es, dass sich Jan und Laura ihren Gefühlen für den anderen hingeben, sich trennen um drei Monate später wieder von vorne zu beginnen. Es ist ein Kampf zwischen dem Verstand und dem Herzen bei dem es bei beiden keinen Sieger und Verlierer gibt. Sie verlieren und siegen beide. Gerade diese brillante Anfangssequenz von „Tot ziens“ illustriert die wesentlichen Aspekte der Filme von Heddy Honigmann. Es spielt dabei keine so grosse Rolle, ob es sich nun um fiktionale oder dokumentarische Filme handelt. Es ist die Reduktion auf einen kleinen Ausschnitt unseres Universum, die ihrer Arbeit zugrunde liegt. Im Falle von „Tot ziens“ ist es die Reduktion auf die ‚Amour fou’ der beiden Menschen. In ihrem Film „O Amor Natural“ reduziert Honigmann die Geschichte auf die erotischen Gedichte des brasilianischen Autors Carlos Drummond de Andrade und die Sexualität alter Menschen. Die Hauptrolle in dem 1997 in Rio de Janeiro entstandenen Film spielt eine Ausgabe der erst nach dem Tod von Drummond publizierten Gedichte. Drummond selber hatte Angst, dass seine Gedichte über die Sexualität als Pornographie angesehen würden. Zusammen mit dem Buch nimmt uns Honigmann mit zu den unterschiedlichsten Personen Rios, etwa Drummonds Hutmacher, einer Olympiaschwimmerin oder zu Neuma, einer angesehenen Frau in den Favelas, den Elendsquartieren Rios, der eine Sambaschule gehört. Honigmann bittet diese Menschen eines der Gedichte vorzulesen. Dabei rufen die Texte bei vielen der alten Menschen Erinnerungen an die eigene Sexualität hervor. Es ist weniger die Offenheit dieser Menschen, die dem Film seinen Charme geben. Vielmehr ist es ihre Veränderung, hervorgerufen durch die Gedichte und die Erinnerungen. Etwa diese tief aus dem Herzen kommende, leise Freude einer alten Frau am Strand, die eines der Gedichte ihrer Freundin vorliest. Und wie sie dann, Seite an Seite im Strandsessel sitzend, von ihrem früheren Liebhaber und dem leidenschaftlichen Sex auf einem Felsblock zu erzählen beginnt. Der Freiraum, der durch die Reduktion entsteht, lässt die Emotionen nur so sprudeln. Diese Reduktion wendet Heddy Honigmann nicht nur beim Thema ihrer Filme an. Sie reduziert ihre Drehbücher und Konzepte mit der gleichen Konsequenz auf das absolut Notwendige. „Wenn ich ein Drehbuch schreibe, zeichne ich nur den Umriss des Kerns meines Themas auf und überlasse den Rest der Natur“ erklärt sie ihre Vorgehensweise. Sie schafft Haltepunkte, zwischen denen sich ihre Schauspieler und Protagonisten frei bewegen können. Haltepunkte, die eine Sicherheit geben die es erst erlaubt, dass diese Emotionalität zustande kommen kann. Arbeitet Honigmann im dokumentarischen Bereich kann es schon vorkommen, dass sie eine Szene inszeniert um diese essentiellen Punkte und die daraus resultierenden Handlungen drehen zu können. Denn es sind nicht nur Haltepunkte für die Personen vor der Kamera sondern gleichzeitig auch Orientierungspunkte für den Zuschauer. So behält Honigmann während den ganzen Arbeiten an einem Film auch immer die Sicht des Zuschauers vor dem inneren Auge. Sie wählt ihre Protagonisten so aus, dass sich zum Beispiel im Falle von „O Amor Natural“ (Die natürliche Liebe) der Zuschauer ein eigenes Bild des Dichters Drummond machen kann. Um dieses innere Bild eines jeden Zuschauers nicht zu zerstören, zeigt Honigmann jedoch ganz bewusst nie ein Bild von Drummond selbst Im Dokumentarfilm stellt sich oft die Frage, wie stark der Filmemacher in das Geschehen eingreifen soll. Die Bewegung des Direct Cinema, die hauptsächlich in Nordamerika viele Anhänger hatte, versuchte die Einflüsse des Filmemachers auf ein Minimum zu reduzieren, um eine möglichst natürliche Realität abzubilden. Heddy Honigmann kontert, dass eine erste Inszenierung auch bei einem Dokumentarfilm schon damit beginnt, was der Filmemacher als Realität definiert. Als sie an dem Film „Het ondergrondse orkest“ (Das Untergrundorchester) arbeitete, plante sie ein Interview mit einem Ehepaar. Als das Team bei den beiden Leuten zu Hause ankam, standen diese bereits in der Türe, beide gut angezogen. Noch während die Crew das Material aufstellte, setzten sie sich Seite an Seite an einen Tisch. „Ich fragte sie, was sie machen würden“, erzählt Honigmann. „Sie antworteten, ich würde mit ihnen doch ein Interview drehen. Die beiden hatten am Fernseher gesehen, wie dort die Interviews gemacht wurden. Das wollte ich natürlich überhaupt nicht. Vielmehr sollten sie sich wie jeden anderen Tag auch verhalten, miteinander reden, in die Küche gehen, einander ins Wort fallen oder etwa für die Crew Kaffee machen. Ich musste über eine Stunde mit ihnen trainieren, wie sie sich im normalen Leben verhalten.“ Honigmann streitet nicht ab, dass ihre Anwesenheit die Menschen vor der Kamera verändert. Es ist gerade diese Ehrlichkeit von ihr, die ihren Filmen eine so enorme Kraft und Glaubwürdigkeit gibt. Und so macht es auch Sinn dass sie, anders als viele andere Filmemacher, ihre Anwesenheit in den Filmen nicht verleugnet. So erstaunt es nicht, dass sie in ihren Filmen auch nachfragt, wenn sie etwas nicht verstanden hat. „Ich schäme mich nicht zuzugeben, das ich etwas nicht verstanden habe“, erklärt Honigmann. Es ist erst diese natürlich Umgebung und die Offenheit von ihr selbst, die es Honigmann überhaupt ermöglicht, mit den Protagonisten über die intimsten Momente in ihrem Leben zu sprechen. „Für mich sind meine Personen im Film meine Stars und so behandle ich sie auch. Während der Dreharbeiten werde ich zu einer guten Freundin meiner Protagonisten. Ich mache alles, damit sie sich wohl und respektiert fühlen.“ Anders wäre ein Film wie „Crazy“ auch nicht realisierbar. In „Crazy“ kombiniert Heddy Honigmann das Thema Musik mit dem schrecklichsten was es gibt, Krieg. Sie wollte wissen, was Soldaten fühlen, wenn sie die Musik hören, die sie während ihrem Einsatz in einem Kriegsgebiet hörten. Ursprünglich wollte sie Männer und Frauen aus verschiedenen Ländern in ihrem Film porträtieren. Aus finanziellen Gründen musste sie sich jedoch auf holländische Veteranen beschränken, die in den diversen Missionen der Vereinten Nationen gedient hatten. Der Film beginnt mit dem Einsatz im Kriegsgebiet von Kambodscha. Zu ‚Nessun Dorma’, der berühmten Arie von Puccini, schwebt ein UNHelikopter durch die Wolken. Es ist eines dieser Stücke, die auch nach 80 Jahren die Menschen noch berührt, Erinnerungen in ihnen hervorruft, etwa an den Opernbesuch mit einem guten Freund. In „Crazy“ erinnert es den Veteranen an die Schlachtfelder in den Sümpfen Kambodschas. Wieder hat Honigmann zwei Dinge zusammengefügt, die wenig miteinander gemeinsam haben. „Dadurch habe ich die Möglichkeit, mich auf die Verknüpfungen dieser beiden Dinge zu konzentrieren und ein Verständnis für die Komplexität des Zusammenspiels zu schaffen“, erklärt sie weiter. Schon allein diese zwei Dinge, Musik und Erinnerungen an den Krieg, reichen aus, um nicht nur die Schlüsselrolle von Musik in der Verarbeitung von Gefühlen aufzuzeigen. Mit jedem neuen Konflikt, etwa im Libanon, in Somalia oder später in Bosnien, zeigt sich auch, wie schlecht die UN-Soldaten teilweise ausgerüstet sind, wie schlecht die Aktionen geplant sind und noch viel mehr zu welchen Taten Menschen im Krieg fähig werden. Wenn nichts mehr zu verlieren ist, bietet eine Mutter ihr Kind sogar zur Vergewaltigung an. Heddy Honigmann gewährt ihrem Publikum bei diesem Film keine Sekunde lang eine Pause. „Der Film soll dich umbringen, dich überrollen.“ Und das gelingt schmerzhaft gut. Sogar an den Stellen, wo die Soldaten den Liedern zuhören, kann man sich nicht entspannen. Denn hier zeigt sich die enorme Fähigkeit der Musik, Emotionen auszulösen. Und das auf vielen Ebenen. Auf einer ersten Ebene ist es die Verknüpfung der Stücke mit den Erlebnissen und Emotionen der Soldaten während dem Krieg. Auf einer zweiten Ebene nimmt dasselbe Stück eine Schlüsselrolle ein, um die Emotionen der Soldaten vor der Kamera hervorzurufen. Und nicht minder effektiv löst die Musik auch beim Zuschauer eine emotionale Reaktion aus. Zu ‚Knocking on Heavens Door’ von Gun’s n Roses erfahren wir etwa von einer Strasse im Kosovo, die oft unter starkem Beschuss der diversen Kriegsparteien stand. Hier müssen die holländischen UN-Soldaten durch, es gibt keinen Umweg. Mit ‚Knocking on Heavens Door’ machen sie sich Mut, können ihre Angst unterdrücken. Zu diesem Stück lässt uns Heddy Honigmann die Strasse entlang fahren und verstärkt das ganze noch, indem sie uns wissen lässt, dass einer der Männer während einer dieser Fahrten umgekommen war. Die Angst und Gefahr wird fast körperlich spürbar. Und gleichzeitig nimmt die Musik den Zuschauer in ihren Bann, regt ihn an, ruft vielleicht eine schöne Erinnerung an ein Openair-Konzert der Band hervor. An solchen Stellen treffen zwei Emotionen mit solcher Wucht aufeinander, dass es dem Zuschauer den Körper zu zerreissen scheint. Ihr Ziel, die Form zu finden, mit welcher die Emotionen das Publikum am besten erreichen, hat sie mit „Crazy“ mehr als erreicht. Vergleicht man die drei Filme „Tot ziens“, „O Amor Natural“ und Crazy“ zeigt sich auf eindrückliche Weise, mit welcher Konsequenz Heddy Honigmann ihren Umgang mit der Reduktion auf das Wesentliche und der Darstellung der Realität in allen drei Filmen sowohl im fiktionalen als auch im dokumentarischen Film umsetzt. Sie zeigt mit ihrer Arbeit, dass weniger das Format wichtig ist, sondern wie man mit der Realität umgeht und ein Film nur dann glaubwürdig ist, wenn man die Wahrheit erzählt. Gefragt, was ein guter Dokumentarfilm sei, antwortet Heddy Honigmann: „Jeder gute Dokumentarfilm ist ein Spielfilm über die Personen, die im Film vorkommen.“ Heddy Honigmann Die 1951 in Lima, Peru geborene Heddy Honigmann interessierte sich schon früh fürs Kino. Da es in Peru keine Filmschule gab zog sie über Israel, Spanien und Frankreich nach Rom und besuchte dort die renommierte Filmschule Centro Sperimentale di Cinematografia. Die Liebe führte sie 1978 nach Amsterdam, wo sie noch heute wohnt. Für ihre Filme hat Heddy Honigmann viele Auszeichnungen und Preise erhalten. Ihre Filme wurden in etlichen Museen gezeigt, etwa dem Museum of Modern Art in New York. Seit 1979 arbeitet sie als Drehbuchautorin, Regisseurin und als äusserst erfolgreiche Produzentin. Ihre wichtigsten Filme sind Metall en melancholie (1993), Tot ziens (1995), O Amor Natural (1997), Het ondergondse orkest (1998), Crazy (2000), Good Husband, Dear Son (2001), Dame la mano (2004) und die Dokumentarfilmserie Food for love (2004). Bild: Nicolas Lavanchy Tot ziens Tot ziens (Auf Wiedersehen) erzählt die Geschichte einer ‚Amour fou’ zwischen Laura (Johanna ter Steege ) und Jan (Guy van Sande). Die beiden begegnen sich beim Eislaufen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch Jan ist glücklich mit seiner Frau Ann (Els Dottermans) verheiratet und will diese auch nicht für Laura verlassen. So beginnt eine sich im Kreise drehende Beziehung von sich sehen, sich treiben lassen, miteinander schlafen um sich dann wieder zu trennen. Und nach 3 Monaten beginnt alles von vorne. Tot ziens ist ein Film mit wenig Dialog, dafür umso mehr ein ‚Pas de deux’ der Emotionen. Ein ‚Pas de deux’, welchen Honigmann und vor allem Johanna ter Steege auf wundervolle Art und Weise auf die Leinwand zaubern. Spielfilm 115 min / Farbe / 35mm / 1995 Produziert von Ariel Film in Koproduktion mit NOS Television Auszeichnungen: Offizielle Selektion Locarno, 1995 Offizielle Selektion Semaine Internationale du Cinéma, Paris Bronzener Leopard (‚Beste Schauspielerin’, Johanna ter Steege) F.I.C.C. Award Locarno, 1995 Holländischer Filmkritiker Preis, Holländisches Filmfestival Utrecht, 1995 O Amor Natural O Amor Natural (Die natürliche Liebe) ist ein poetischer Film über die Liebe und die Sexualität alter Menschen. Inspiriert durch die Gedichte des brasilianischen Lyrikers Carlos Drummond de Andrade erzählen alte Menschen aus Rio de Janeiro von ihren Erinnerungen an ihr eigenes Liebesleben, von ihren Liebhabern aber auch vom Altwerden und den unerfüllten Sexualgelüsten. Dokumentarfilm 76 min / Farbe / 35mm / 1996 Produziert von Pieter van Huystee Film & TV in Koproduktion mit VPRO Auszeichnungen: Jury Preis Montreal 1997 ‘Certificate of Merit’, Bereich Kunst, Golden Gate Awards San Francisco, 1997 Spezialpreis Prix Italia, 1997 Crazy Crazy zeig, welche Erinnerungen ein Musikstücke hervorrufen kann. Ehemalige holländische UN-Soldaten erzählen, welche Erinnerungen die Stücke hervorrufen, welche Gräueltaten sie erlebt haben, welche Ohnmacht sie spürten, kaum etwas für die unschuldigen Mensch vor Ort machen zu können. Crazy ist ein Blick in den Horror von Kriegen und die Auswirkungen auf die Soldaten, ein Film über Verlust, Angst, Grausamkeiten, aber auch über Liebe und Gemeinschaft. Dokumentarfilm 97 min / Farbe / 35mm / 1999 Produziert von Pieter van Huystee Film & TV in Koproduktion mit VPRO Auszeichnungen: Publikumspreis, IDFA, 1999 Bester langer Dokumentarfilm, Holländisches Filmfestival Utrecht, 2000 Bester historischer Dokumentarfilm, Film Festival Valladolid, 2000 CDS Filmmaker Award, Double Take Filmfestival, USA, 2001