Buchenennung im Freitag 15/2009
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Buchenennung im Freitag 15/2009
Bücher 17 der Freitag | Nr. 15 | 8. April 2009 Die Welt in Handschellen Community Leserrezensionen Ulrich Straeter findet das reale Irland Matrix Warum der deutsche Softwarehersteller SAP in den neunziger Jahren zum Weltkonzern aufstieg anz am Anfang steht die doppelte Buchführung. Italienische Kaufleute begannen Ende des 15. Jahrhunderts, ihre Einkünfte und Ausgaben in eine Ordnung zu bringen. Zum ersten Mal in der Geschichte stellten sie ihre Geschäfte systematisch dar, sortiert nach Soll, Haben und Saldo. Die Geschichte des Kapitalismus ließe sich seitdem als Fortschritt der „Informatisierung“ beschreiben: Produktion und Austausch werden immer schneller, detaillierter und mit immer weniger Arbeitsaufwand erfasst. Ein entscheidender Einschnitt dieser Geschichte im badischen Walldorf in den frühen siebziger Jahren: Die neugegründete Firma SAP begann, ihre Software herzustellen. „Die ersten Produkte … waren nicht viel mehr als die Fortsetzung der doppelten Buchführung mit den neuen Mitteln der Informationstechnologie“, schreiben die Wirtschaftsjournalisten Ludwig Siegele und Joachim Zepelin in ihrem neuen Buch Matrix der Welt. „Sie schufen ein digitales Abbild der grundlegenden Prozesse eines Unternehmens wie Finanzen, Einkauf und Materialwirtschaft. Doch sie legten damit gleichzeitig das Fundament für eine weitreichende Automatisierung und Rationalisierung der Wirtschaft und letztlich auch ihrer Globalisierung.“ G Ein rasanter Aufstieg Vor zehn Jahren erschien eine Firmengeschichte von SAP mit dem Titel Die heimliche Software-Macht, aber immer noch ist kaum jemandem klar, welche Bedeutung das Unternehmen in der Weltwirtschaft hat. Siegele und Zepelin wollen das ändern. „Fast zwei Drittel aller Großunternehmen“ weltweit sind SAP-Kunden. Die frühere Klitsche beschäftigt heute 52.000 Mitarbeiter und unterhält Entwicklungsstandorte in acht verschiedenen Ländern. „Zwischen 1988 und 2006 hat sich der Umsatz des Unternehmens mehr als versechzigfacht.“ Dieser rasante Aufstieg erklärt sich daraus, dass SAP einen wichtigen Fortschritt der Informatisierung möglich machte. Im Unterschied zu älteren Warenwirtschaftssystemen erlaubt das „Enterprise Resource Planning“ (ERP) unter anderem Lagerhaltung, Produktion und Personalwesen in einem System abzubilden. ERP dient demselben Zweck wie die doppelte Buchführung – ansonsten ähneln sie einander wie E-Mail und Brieftaube. In den neunziger Jahren entdeckten Konzernchefs, welche neuen Möglichkeiten ihnen dadurch an die Hand gegeben wurden. Die Vorstände nutzen die Software, „um ihre Unternehmen schlank und fit zu machen“, wie Siegele und Zepelin formulieren. Der Fall des Lebensmittelkonzerns Nestlé im Jahr 2000 ist ein typisches Beispiel. „Zunächst … betätigten sich die Computerfachleute als betriebliche Anthropologen. Sie reisten um die Welt und dokumentierten ausführlich, wie unterschiedliche NestléMitarbeiter in den verschiedenen Absatzmärkten agierten.“ Diese Geschäfts- beziehungsweise Produktionsabläufe wurden standardisiert und durchgesetzt. „Ein Vertreter kann die Bestelldaten für einen neuen Auftrag beispielsweise nicht mehr nur einfach auf einem Notizzettel bei der Buchhaltung einreichen, sondern muss sie persönlich in eine Maske auf seinem Laptop eingeben.“ Der Leiter des Nestlé-Projekts verglich die SAP-Software mit „Handschellen“: „Sie zwingt Menschen, das Richtige zu tun.“ Mit der Software werden die betrieblichen Abläufe erfasst und festgehalten. Nicht nur das: Das digitale Abbild der Wertschöpfungskette erleichtert es, sie über Ländergrenzen hinweg zu spannen. Insofern treibt Software wie die von SAP tatsächlich die Globalisierung an, denn sie bringt die Produktion in Hyderabad, Stuttgart und Budapest tendenziell auf denselben Nenner und wird zur „Matrix der Welt“. iese Insel, die links außen am Rand Europas liegt, ist vielen von uns nah. Aber wissen wir, ob es das Böll’sche Irland nun gibt oder nicht? Der Streit wird dauern, solange Irland und die Iren existieren. Irland gab es übrigens bereits vor Heinrich Böll. Langsam erholt es sich von sechshundertjähriger Unterjochung durch das Nachbarland und von noch längerer Knechtschaft durch die katholische Kirche. Und wie immer, wenn ein Pendel in die andere Richtung schwingt, schlägt es fast so weit aus wie vorher. Irland schäumt über – vor Lebenslust, Konsum und Nachholbedarf. Schreibt Hugo Hamilton, der es als der „gescheckte“ Mensch, abstammend von einer deutschen Mutter und einem irischen Vater, wissen muss. D Höllisches Glücksgefühl Das neue große Ding Neuer globaler Kapitalismus, der Untertitel des Buches, bleibt dennoch ein Pleonasmus. Der Weltmarkt gehörte von Anfang an zur kapitalistischen Produktionsweise. Nur verbreitet die sich über die Welt mit einer Gewalt und Geschwindigkeit, von der den Zeitgenossen schwindlig wird. Der Glaube, eben sei eine neue Epoche angebrochen, gehört dazu. Insofern leidet das Buch unter der journalistischen Herangehensweise. Zum historischen Bogen von der Renaissance ins 21. Jahrhundert hätte die große Fabrik, der Taylorismus und die Automatisierung der Büroarbeit gehört. Völlig wolkig ist ihr Ausblick, in dem sie Internetanwendungen und Technologien als cloud computing zusammenfassen. „Elektrogeräte mit eingebauter Funkverbindung, Die Regierung lässt den nationalen Champion nicht im Stich F O T O : L A R S T U N B J O R K /A G E N C E V U / L A I F ■ Matthias Becker Autor des Freitag Weit entfernt vom Blattsalat: Die neue Software macht die Unternehmen fit flexible Nutzeroberflächen, Portale, Web2.0-Dienste und Business-Intelligence – all das verschmilzt immer weiter zu einer neuen Schicht der Informationstechnologie“. Das also soll das neue große Ding werden, eine charakteristische Verkaufsstrategie in der Softwarebranche. Die Dynamik bleibt die alte: „Geschäftsabläufe (lassen sich) digitalisieren, die sich bisher der Informatisierung entzogen haben, zum Beispiel eine Unternehmensübernahme, die Planung einer Werbekampagne oder sogar die Kommunikation zwischen Mitarbeitern.“ Der Chef greift zum data mining. Die Weltwirtschaftskrise trifft auch SAP. Seit Ende des vergangenen Jahres hat die Firma über ein Viertel ihres Börsenwerts verloren und baut Stellen ab. Was immer geschehen mag, die Bundesregierung wird einen ihrer „nationalen Champions“ nicht im Stich lassen. (Im Januar erhielt SAP einen Auftrag der Bundesagentur für Arbeit „im dreistelligen Millionenbereich“.) In diesem einen Fall könnte ein Unternehmen „gestärkt aus der Krise hervorgehen“, denn der Bankrott der Konkurrenten ist möglich. Dann würde die deutsche Firma das Segment Unternehmenssoftware ebenso beherrschen wie Microsoft das der Betriebssysteme – und wäre zur Matrix der kapitalistischen Welt geworden. Matrix der Welt: SAP und der neue globale Kapitalismus Ludwig Siegele/Joachim Zepelin, Campus, Frankfurt am Main 2009, 288 S., 24,90 € 0915-sap Attraktiv und prekär Ressourcen Die Philosophen Ludger Heidbrink und Alfred Hirsch liefern Hintergründe zu dem Schlüsselbegriff „Verantwortung“ ■ Heinz-Bernhard Wohlfarth Autor des Freitag enn Gletscher schmelzen, Menschen verfolgt werden oder rote Zahlen in den Bilanzen auftauchen, wird die Frage der Verantwortung gestellt. Ende der siebziger Jahre sprach Hans Jonas sein philosophisches Machtwort vom „Prinzip Verantwortung“. Den Fatalismus, den Industrie und Technik angesichts der ökologischen Zerstörung verbreiteten, beschrieb der Soziologe Ulrich Beck als „organisierte Unverantwortlichkeit“. Verantwortung entwickelte sich auch dort zum Schlüsselbegriff, wo es um den richtigen Umgang mit Verbrechen ging – individuelle oder kollektive, gegenwärtige oder längst vergangene. Mit dem Präfix „Eigen“ überschwemmte der Begriff Verantwortung schließlich die Kanäle der Öffentlichkeit, um eine neue Arbeits- und Sozialpolitik durchzusetzen. Das anhaltende Interesse an diesem Terminus veranlasste den Philosophen Ludger Heidbrink zu einer Kritik der Verant- W wortung (2003). Sein nächstes Buch Handeln in der Ungewissheit untersuchte die Paradoxien der Verantwortung (2007). Parallel dazu gab Heidbrink zusammen mit seinem Kollegen Alfred Hirsch eine insgesamt 1.500 Seiten umfassende Trilogie der Verantwortung heraus. Dieses Unternehmen startete 2006 mit Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Im vorigen Jahr folgte Staat ohne Verantwortung? Jetzt erschien Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Die persönliche Verantwortung, die jedes Subjekt für das Gelingen seines Lebens trägt, kann nicht delegiert werden. In allen Bereichen menschlicher Kooperation eignet sich der Begriff der Verantwortung, das jeweilige Wechselverhältnis von Person und Gemeinschaft zu bestimmen. Zwar gilt als Grundsatz: Eine Person kann, im positiven wie im negativen Sinn, nur für das verantwortlich gemacht werden, wofür sie etwas kann. In modernen Gesellschaften wird Verantwortung jedoch zugleich attraktiv und prekär. Typisch sind hier offene, unübersichtliche Lebenslagen, dynamische Entwick- lungen und die Übermacht anonymer Prozesse. Verantwortung zu übernehmen bedeutet nicht mehr, wie in traditionalen Gesellschaften, ein vorgefertigtes Geflecht von stabilen Erwartungen zu erfüllen. Es bedeutet, jene Situationen zu erschließen, die zunächst jenseits der Verantwortung zu liegen schienen. Die Beiträge verdeutlichen die negativen Rückwirkungen der neoliberalen Reformpolitik auf das Prinzip Verantwortung. Sie untersuchen deren Essentials auf der Ebene des Wirtschaftsbürgers, des Unternehmens und der Volkswirtschaft. So soll sich jeder Wirtschaftsbürger unternehmerische Haltungen zulegen und Lebensrisiken in Eigenverantwortung begegnen. Die Unternehmen sind aufgerufen, sich als kollektive Bürger („Corporate Citizen“) zu begreifen, die soziale Aufgaben übernehmen. Volkswirtschaftlich wird angestrebt, das Sozialversicherungsprinzip aufzugeben und die bestehende Mitbestimmung in der Wirtschaft abzuschaffen. In der Summe steckt hinter dieser Neuverteilung der Verantwortung eine Umdeutung der demokratischen Gewaltenteilung. Das Problem bei der ganzen Sache ist nur: Die Zuschreibung von Verantwortung setzt gerechte und demokratische Zurechnungsregeln voraus. Um Verantwortung übernehmen zu können, benötigt der einzelne außerdem bestimmte Fähigkeiten, materielle Ressourcen und äußere Handlungsmöglichkeiten. Die persönliche Verantwortung muss daher jeweils durch die kollektive Verantwortung gesichert sein – und umgekehrt. So gesehen kann man diese Bestandsaufnahme auch als eine Warnung vor dem Versuch der neoliberalen Orthodoxie lesen, diesen lebensnotwendigen Zusammenhang mit der Neuverteilung der Aufgaben zwischen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft aufzulösen. Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie Ludger Heidbrink/ Alfred Hirsch (Hrsg.), Frankfurt/New York, Campus-Verlag, 2008, 544 S., 39,90 € 0915-markt 20 Jahre nach Heinrich Bölls Tod heißt es bei Hamilton: Dieses Irland gibt es. Sollte man dorthin reisen und es nicht finden, dann hat man nicht gut genug hingeschaut. Die Iren werden dafür sorgen, dass es nicht stirbt, obwohl sie jetzt Auto fahren, Fernsehen und regendichte Häuser haben, Präservative benutzen und Millionäre produzieren. Es gibt eben ein vielfältiges Irland, trotz allem, das reale und das, welches jeder und jede von uns sich im Herzen erschaffen muss, das uns ab und an das Dylan Thomas’sche „höllische Glücksgefühl“ erleben lässt. Deshalb haben Heinrich Böll, Jürgen Lodemann, Harry Rowohlt oder Ralf Sotscheck, Franjo Terhart, Elsemarie Maletzke oder wir und viele andere dieses Land erfunden. Vielleicht wirken die keltischen Sagen in uns nach, die Lieder der Sänger, die sich seit Jahrhunderten jährlich bei den großen Eisteddfods in Wales treffen, denn wir sind alle Kelten, obwohl die Römer Vercingetorix und seine tapferen Leute besiegt haben. Unrealistische Sehnsucht Hamilton hat nicht nur genau hingeschaut, er ist dort aufgewachsen, er kennt sein Land, und er kennt uns, die Deutschen mit ihrer unrealistischen Irlandsehnsucht. Dabei haben die Iren heute nichts anderes im Sinn, als es uns nachzumachen, haben ihre Deutschlandsehnsucht entdeckt. Kreuzverknobelt, sozusagen gescheckt ist das. Doch der Autor vermittelt uns: Die Iren werden das Pendel in Gang halten und es – wenn sie wieder zu sich kommen – nicht mehr so weit ausschlagen lassen. Der Wirtschaftsboom hat seinen Zenit längst überschritten. Vielleicht werden die Menschen dort sich bei diesem unmenschlichen Globalisierungswettkampf eines Tages wieder auf ihre Fähigkeiten zur Subsistenzwirtschaft besinnen. Irgendwer muss doch vernünftig bleiben! Hamilton tröstet uns (wie sonst Flann O’Brien): Dass bei einer Lesung eine Frau den Autor auf einen kleinen Satzfehler auf Seite 58 seines Buches aufmerksam macht, kann nur in Deutschland passieren. Die irische Musik wird weiter bestehen, und die irischen Saufklischees sind längst nicht tot, sind Realität. Allerdings hat Seamus es besser als damals. Und wenn an sonnigen Tagen in Dublin oder Galway die Raucher vor den Kneipentüren stehen, mischen sie sich mit dem flanierenden Volk, und die ganze Stadt wirkt wie ein buntes Fest. It could be worse! Danke, Hugo Hamilton, für dieses realistische, wohltuende und spannende Buch über unser aller Irland. Die redselige Insel. Irisches Tagebuch Hugo Hamilton, Sammlung Luchterhand, München, 2007, 160 S., 8 € ≫ freitag.de/leserkritik