Untertaucht - Roman
Transcription
Untertaucht - Roman
1 Charles Héritier-Debons Untertaucht Joy im Kreis 4 Ein Anar Cho Sexo SoZio SubVer SiVo SubKul Tureller BeRicht 2 Dank an: Remo Peter, H.P. Bierwirth, Thomas Voelkin 3 4 Huldrych Zwingli (1484–1531). Ulrich oder Huldrych, aus dem Alt-Angelsächsischen Wulfric (starker Wolf!). Zwingli, der Geschlechtsname, erinnert irgendwie an Zwinger, kurz der starke Wolf erzwingt… Der Name als Programm. 1970–1980: die magischen Jahre nach der sexuellen Revolution und vor der Aidsepidemie Die Welt im Januar 1980 • Jimmy Carter wird neuer Präsident, Iran hält amerikanische Geiseln fest • Chaotischer Gründungsparteitag der Grünen • Andrej Sacharow wird im Moskau festgenommen • Erste diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Ägypten • Pink Floyd, Diana Ross, Barbara Streisand und John Lennon dominieren die Hitparaden • Der Audi Quattro wird vorgestellt • Chomeini auf dem Times Cover • Die Brigate Rosse terrorisieren Italien • CH-Tauwetter: Im Frühling wird die Sommerzeit eingeführt • Zürich: Die Jugendrevolte nimmt die Form einer Bewegung an 5 6 Anfang 2010 Wie jedes Jahr, nach der kollektiven Silvestereuphorie, entrümpelte ich meine Wohnung. Kleider, Bücher, kurz alles, was ich nicht mehr brauche, wird verschenkt, landet gnadenlos in der Kleidersammlung oder auf dem Flohmarkt. Als ich einen grossen Bildband über Leningrad in die Hand nahm, fiel eine kleine, braune Lederagenda zu Boden. 1980 stand darauf in goldenen Lettern. Dazu gab es noch ein Manuskript sowie einen Umschlag mit Polaroidfotos. Ich blätterte kurz darin und alles kam wieder hoch, eine der wildesten Perioden meines Lebens, und das zu einer Zeit, wo in Zürich praktisch alles verboten war! Man stelle sich vor, eine Zeit ohne Partys, ohne Internet, ohne SMS, wie furchtbar! Aber auch eine Zeit im Aufbruch, eine Zeit ohne Aids. Anhand der Notizen, Einträge, Texte, Polaroidfotos, wurde mir erst jetzt bewusst, in was für einer begnadeten Epoche wir damals lebten. 7 8 Januar 1980 Seit bald einer Woche bin ich krankgeschrieben, Grippe. Doch richtig krank war ich nur drei Tage. Dafür aber mit sehr hohem Fieber und Erbrechen den ganzen Tag im Bett, habe kaum geschlafen, nichts gegessen. Am dritten Tag hatte ich drei Kilogramm verloren und fing an mich brutal zu langweilen, depressive Stimmung machte sich breit. Rumhängen ist Gift für mein Gemüt, bei mir muss immer etwas laufen. Ich habe einen Brotjob in der Werbung, spiele in einer Rockband, bastle an meiner selbstständigen Karriere, studiere daneben Fremdsprachen. Da sollte es keinen Platz für Langeweile geben, – eigentlich. Eine Grippe und plötzlich änderte sich alles. Ich muss die ganze Zeit zu Hause hocken, ich kann nur auf die Strasse runterschauen und zusehen, wie die seltenen Passanten durch den Schneematsch waten. Ich verspüre keine Lust bei diesem Wetter auszugehen und wäre es nur um im Café mal eine Zeitung zu lesen. Wenn die Familie weit weg ist und man keinen Partner hat, ist Kranksein gewiss keine lustige Sache. Es sieht anders aus, wenn eine liebe Seele sich rührend um einen kümmert, einen bemitleidet und bekocht. Ist man jedoch allein auf sich gestellt, dann weht ein anderer Wind, vor allem dann, wenn man tagelang 39 Grad Fieber hat, schweissgebadet im Bett liegt, nicht mal Tee kochen oder 9 sich waschen kann. Die Hölle. Nun, das Single-Leben hat auch viele Vorteile, wie wir noch sehen werden. Krankheit ist einer der vielen Nachteile. Vom Schlafzimmer aus geniesse ich die schöne Aussicht in einen Park. Aber auch da sieht es trüb und deprimierend aus. Die nackten Äste der Bäume tragen eine Eisschicht, ein riesiger Schneemann steht in der Mitte der verschneiten Wiese, der vom gestrigen Schneeregen arg misshandelt wurde. Fussspuren von Spaziergängern und Hunden ziehen sich quer durch die tristen, grauen Alleen. Ödnis allenthalben. Zum Glück habe ich am vierten Tag eine zündende Idee. Sobald ich aufstehen kann, gehe ich abends aus, in Bars, Cafés und Striplokale. Und am Tag schreibe ich ein Tagebuch über das Erlebte. Das wollte ich im Grunde schon lange, Ideen gab es genug, ich kam aber nicht dazu. Ich gehe aus in den Kreis 4, von den Zürchern Chreis Cheib genannt, der ist berühmt für seine Bars, Bordelle und illegalen Spielhöllen. Es ist ein Sündenbabel. Es gibt nichts Vergleichbares in einem Umkreis von mindestens zweihundert Kilometern. Ich schlafe also den ganzen Tag, und wenn es dunkel wird, putze ich mich heraus und tauche in die Welt der Sünden, um mich darin richtiggehend zu suhlen. Ich schlüpfe in eine andere Haut, ich ändere mein Aussehen, wechsle mein Geschlecht. Ich tauche unter. Undercover im Chreis Cheib. 10 Samstag ~ Es ist kalt und dunkel im Treppenhaus, die Nego-Bar im Erdgeschoss wird gleich schliessen, ein paar Stammgäste genehmigen sich noch ein letztes Bier. Dumpfer Punksound dringt durch die schwere Holztür. Draussen schneit es, die Luft ist trüb, Autos fahren durch die Strassen und hinterlassen dicke Rauchschwaden, wie Raketen. Ich steige die Treppe hinauf und sehe durchs Fenster die grosse blonde Frau in ihrer SM-Montur, wie immer, bei jedem Wetter, steht sie am Wochenende tapfer da, im Lichtkegel derselben Strassenlaterne, wie eine laszive Statue sieht sie aus, eine Madonna der Lust. Ein schwarzer BMW hält an, die Fensterscheibe senkt sich… gegenüber blinkt, grell-violett, der Neonschriftzug eines Hotels, das als Absteige dient. Es schneit über den Chreis Cheib in dieser kalten Januarnacht. Mitternacht ist längst vorbei. Walti folgt mir keuchend, sein Gebiss gibt komische Geräusche von sich. Walti hat zuviel getrunken, wie immer um diese Zeit, meist Whisky. Der Altkommissar der Polizei wurde letzthin ausrangiert, aber irgendwie steht er immer noch im Dienst. Die Treppe riecht nach kaltem Rauch und Putzmitteln. Unterm Dach ist es noch kälter als draussen. Das grelle Neonlicht des Hotels belebt die graue Farbe der alten Holzwände. Der Lack fällt ab, grau mischt sich mit violett, hübsches Bild, aber ziemlich kaputt, destroyed halt. Das Parkett knarrt und klagt, als 11 Walti endlich oben ankommt. Schnell die Schlüssel, das Zimmer ist sicher schön geheizt. Ich will rein. Walti sucht im Dunkeln, flucht und findet den alten Gusseisenschlüssel erst, nachdem er alle Taschen mehrmals durchsucht hat. Verdammt, los, mach mal, ich ziehe nervös an einer Zigarette, werde ungeduldig: «Los Walti, mach endlich!». Ich möchte eigentlich abhauen. Aber versprochen ist versprochen. Das Szenario ist immer das Gleiche. Das klassische, ewig wiederkehrende Dreieck der Begierde. Amours impossibles. Wir sind nicht drei sondern vier. Walti will mich haben, aber er kann nicht mehr, ich will Jules, seinen Detektiv, aber er steht auf sehr junge Mädchen und will Sandy vögeln, das zugedröhnte Strichmädchen. ~ Ein komischer Deal ist das, aber nun, selbst ich kann etwas Geld brauchen, ab und zu, und Jules will heute unbedingt ficken. Walti will zusehen, das Mädchen braucht Geld um ihr Zimmer unterm Dach zu bezahlen. Ein Reigen der Begierde, der Gelüste und der Gier. Ein wirtschaftlicher Kreislauf im Grunde. Wirtschaftlich ~ schon, aber zynisch. Walti sorgt auf einmal für uns alle. Heiliger Walti, ich verspreche dir, wenn du mal tot bist, werde ich eine Flasche Johnny Walker auf deinem Grab um Mitternacht halbleer trinken und mit dem Rest ein loderndes Totenlicht entzünden. Na Prost Walti, du alter Sack, du Kumpel! Doch jetzt möchte ich aber erstmal dem schönen Jules eins blasen. Alle 12 Meinesgleichen wollen das auch. Ist ja ein Prachtskerl. Jetzt kriege ich ihn endlich dank dieser Pirouette. Walti hat das arrangiert. Er kann nicht mehr und will doch immer noch, tja, also wurde er Voyeur und manchmal auch Soupeur, je nachdem, wer da ist. Das ist nichts Neues, so liefs schon immer. ~ Lüstern, schlabbernd, wichsend womöglich, aber das Bild will ich mir eh nicht ausmalen. Horrorvorstellung! Blackout! Das kleine Zimmer ist angenehm warm, sauber, fast leer. Aus dem Radio ertönt Michael Jacksons süsse Ballade Out of my Life. Eine winzige Lampe erhellt die Ecke hinterm Bett. Ein rosa T-Shirt liegt darauf. Das Licht ist warm, diskret und einladend. Ein alter Goldspiegel glänzt, sanft schimmernd, an der Wand über dem Bett. Das Bett finde ich eher klein und… es ist bereits besetzt. Eine Gestalt liegt da. Sandy, das Strichmädchen, schläft im Suff, zugedröhnt, vollgepumpt, aber irgendwie friedlich, zufrieden. Ein hübsches Punk-Girl. Jetzt verstehe ich Jules besser. Sandy trägt ein T-Shirt auf dem «Fuck» steht. Sie meint wohl fick dich, oder fick die Welt. Aber gefickt wird heute sie, Sandy, nicht die Welt. So einfach gehen Wünsche nicht in Erfüllung. Keine gute Idee Sandy, dein Selbstzerstörungsprojekt zeigt erste Erfolge! No Future! Sie hat kleine Brüste, Spiegeleier sagt Walti. Er lacht. Das Engelsgesicht ist von blonden Locken umrahmt, Piercing in der Nase, der Mund steht offen. Wie alt ist sie 13 eigentlich? Fünfzehn, sechzehn, wer weiss das schon. Ich will es nicht wissen, ist nicht meine Sache. Walti rüttelt und schüttelt das Bett, Sandy murmelt etwas Unverständliches, Walti wird laut, zornig; er schreit, brummelt etwas wie aufstehen, abhauen. Er, Walti, braucht das Zimmer jetzt für seine Lust. Basta. «Also hau ab!» sagt er, brutal, so wie ich ihn gar nicht kenne. «Use i d’ Chelti mit diir!» Traurige Erinnerungen steigen in mir auf, auch ich wurde mal in die Kälte rausgesetzt, jung, einsam, mittellos, wie Sandy, aber von einer herzlosen, rabiaten Schlummermutter. Ich denke, ich könnte ihn in diesem Moment abknallen. Ich habe immer meinen Revolver dabei, in der Tasche, seit mich zwei Junkies ausgeraubt haben. Passiert garantiert nicht ein zweites Mal. Walti ist sonst ein eher sanfter Typ. Er lächelt immer, obwohl er langsam aussieht wie John Wayne mit Krebs. Raucher- und Trinkerfresse halt. Falten überall, rötliche Lederhaut, Schlitzaugen. Das Mädchen steht mühsam auf, bleibt auf dem Bett sitzen, wankt, schüttelt das blonde Haar, reibt sich die Augen, zieht langsam eine Jeans an. Es sieht plötzlich sehr alt aus, bewegt sich langsam wie eine Greisin, wäre da nicht das Engelsgesicht… Schnell Jacke, Schuhe, Schal und Sandy verschwindet aus der Tür. Ich höre wie sie langsam und unsicher die Treppe hinuntertorkelt, wie jemand, der zögert und nicht recht weiss, was er machen soll. Die Haustür gibt die Antwort, ein lauter Knall. Stille. 14 Jules kommt herein, leise, eingeschüchtert. Er ist riesig, ein schöner Mann, so um die dreissig. Blond, Bürstenschnitt, blaue Augen, noch grösser und männlicher, als ich mir ihn vorstellte. Meine Begierde, meine Lust, mein Deal. Sein Gesicht ist rot von der Kälte draussen. Walti verlässt diskret das Zimmer, er sagt Jules noch, dass er unten an der Bar auf ihn warte. Ich allein weiss, dass er im Zimmer nebenan vor dem Einwegspiegel sitzt. Das ist sein Spass, seine Sehnsucht, sein Geheimnis, Lust und Laster in einem. Seine Droge auch, denn Walti kann nicht mehr ohne sein, er kann selber nicht mehr und will doch noch, deshalb schaut er den anderen zu, wie sie es treiben. Eigentlich hat er Glück, denn auch Millionen von Männern zahlen, um zu gucken wie Andere es treiben, am Bildschirm oder im Kino. Die geile Welt der Lustmaschinen. Walti hat es besser, er kann zusehen, wie jemand den er mag, es treibt, er kann mich danach auch wieder sehen. Und er ist mittendrin. Den Kollegen erzählt Walti, dass er es mit mir treibe. Sie glauben ihm, ohne zu glauben. Passt irgendwie nicht zusammen. Ich mache keinen Kommentar, lasse Zweifel aufkommen. Dieses Spielchen spielen wir schon lange. Walti möchte seinen legendären Ruf als Frauenverführer nicht ruinieren. Deshalb. Und ich brauche seine schützende Hand, seine Machtposition hier im Chreis Cheib. Jules steht vor mir, weiss nicht, was machen mit seinen grossen Händen. Walti hat ihm befohlen, mir zur 15 Verfügung zu stehen. Punkt. Jules scheint willenlos zu sein, er hat irgendwie Angst vor Walti, fürchtet sich vor ihm, «zu Befehl»! Er ahnt schon, warum er da ist, kennt mich vom Sehen. Die Luft ist wie elektrisiert. Grosser Bub du! Ich umarme seine Taille, spüre seinen starken Rücken, ein Lederband hält seine Dienstwaffe auf der Brust, ich spiele mit seinem Gürtel, meine Finger machen sich an seinem Reissverschluss zu schaffen. Wie ein kleiner Junge lässt sich Jules ausziehen. Er ist sehr scheu irgendwie. Ich bin seine Mutter, Jules ist fünf Jahre alt. Es fehlt nur ein Märchen und er wird gleich einschlafen. Filmriss! Mein Jules hier ist aber brutal geil. Ich ziehe ihm die Hose bis zum Knie runter, knöpfe sein Hemd auf, sitze seitlich auf dem Bett, so dass Walti uns gut sehen kann. Stolz steht er da jetzt, bewundert seine Männlichkeit, fühlt meine geschickte Hand, meinen heissen Mund. Die kleine Lampe gibt ein schönes, romantisches Licht, perfekt für meine Peep Show. Ich denke, Walti freut sich. Für Jules ist die Sache gelaufen, er steht da, enorm hart und bebend, stöhnt, drückt wie ein Stier, ungeduldig, möchte loslassen. Aber ich möchte den schönen Jules geniessen, seinen schönen Körper sehen, berühren, riechen, küssen, seine kräftigen Beine, seinen straffen Po anpacken, anfassen, lecken und kneten. Jules ist wie in Trance, er schliesst die Augen, verzerrt das Gesicht, stöhnt immer lauter, immer schneller, keucht, bebt, zittert. Plötzlich schreit er so laut, dass ich erschrecke! Er wiehert lauthals, als der weisse Strahl im 16 Rosalicht durchs Zimmer zischt und gegen den Spiegel prallt. Das Bett ist nass jetzt, Jules zuckt zusammen, schwitzt am Rücken, sein Atem stockt. Er öffnet die Augen, Tränen fliessen kurz, er sieht den Spiegel. Ich streichle seine Schenkel, bewahre die Ruhe, beruhige ihn, besänftige ihn, reiche ihn ein Kleenex. Stehe auf und umarme ihn liebevoll und dankbar. Er schaut sich im Spiegel an, kämmt sich, wäscht sich im kleinen Becken mit kaltem Wasser, zieht sich an, zündet eine Zigarette an und verlässt den Raum, ohne mich zu grüssen oder sich zu bedanken. Er hat kein einziges Wort gesprochen. Den Befehl von Walti hat er wie ein Roboter ausgeführt. Perfekt neutral. Nur sein Körper war voll dabei. Ein schüchternes Lächeln umspielt seinen schönen Mund, kurz bevor er die Tür sanft ins Schloss fallen lässt, als wollte er sich für eine Störung entschuldigen. Ich wollte Jules, ich habe den Jules gekriegt. War das denn alles? Ja, es war schön und ist vorbei. Mehr wird’s nie geben, Scheisse! So ein schöner Kerl, was für eine Verschwendung. Ich bin deprimiert, frustriert, einsam, ich rauche eine... versuche meine Gefühle zu verdrängen, das Geschehene zu vergessen. Aber dieser Walti im Nebenzimmer und das Mädchen in der Kälte, das draussen wartet. Ich hasse ihn, seine Intrigen, seine Macht, seine Laster. Er kommt endlich rein, lächelt, seine Augen glänzen seltsam. So stelle ich mir den Divin Marquis vor, vor zweihundert Jahren, als er im Privatgemach seines Gefängnisses junge Dienstmädchen 17 und Buben verführte. Ich denke, ich könnte Walti jetzt abknallen. Meine Schlummermutter aber auch. Eines Tages werde ich es tun, also ich meine, den Auftrag geben, delegieren. Hat er was davon gehabt? Ja, es war toll, wie der Spiegel plötzlich trüb wurde, dann kam es ihm auch. Zum ersten Mal seit langem, sagt er stolz. Danke. Mein Geld bekomme ich prompt und mit Dankbarkeit, wie er mir beteuert. Er gibt sogar mehr als abgemacht. Ein neuer Flakon «Heure Bleue» liegt drin. Walti mag mich, ich mag ihn auch, aber anders. Vielleicht liebt er mich irgendwie, aber er weiss, dass er nicht mehr kann. Das Spielchen soll ihn über seine verlorene Manneskraft hinwegtrösten. Ich spiele gerne mit, ich krieg ja meinen Teil. Nun, man kann nicht immer gewinnen, man riskiert etwas, spielt, verliert, gewinnt, that’s life! Draussen hat es aufgehört zu schneien, Walti ist gegangen, er zieht weiter, andere Bars, Geschäfte, Kontakte. Er pflegt seine Beziehungen zur Halbwelt, vor allem seit er ‹entsorgt› wurde. Ich mache mich schnell zurecht, rauche noch eine Zigarette und steige die Treppe hinunter. Unterwegs begegne ich Sandy, leeres Engelsgesicht, zitternd, zugedröhnt, sie hat sich was geholt und denkt sie kann jetzt schlafen. Sie weiss es nicht, aber schlafen wird sie diese Nacht kaum. Sie ist nur ein Spielball, für Sandy sind die Würfel gefallen. Ich denke ans T-Shirt mit der Aufschrift Fuck. Würde mir besser passen, eigentlich. Aber so was würde ich nie 18 tragen. Die SM-Statue ist verschwunden, die würde so ein T-Shirt auch nie tragen. Sie ist schön, triumphierend irgendwie, dominant und stolz. Solche Frauen mögen die Männer, indomptables. Die Regel für mich ist: Lieber Angst einflössen als Mitleid erwecken. Die Strassen sind leergefegt. Sonntagmorgen, es ist fast vier Uhr, der gefrorene Schnee knistert unter den Füssen, klirrt wie dünnes Glas. Als ich um die Ecke biege, sehe ich noch knapp die hohe Silhouette von Jules im schweren Wollmantel an Sandys Haustür stehen. Er klingelt kurz, schaut nach oben zum roten Fenster und verschwindet im Eingang als der Summton ertönt. Es beginnt wieder zu schneien. Zeit zum Schlafengehen. Die Kälte erquickt mich, ich bin wieder zufrieden mit mir. Eine schwarzweisse Katze läuft an mir vorbei, streift kurz mein Bein mit ihrem Schwanz und verschwindet um die Ecke. Ihr ist die Kälte dieser Welt anscheinend völlig egal. 19 20 Sonntag Tags drauf, Sonntagabend, so gegen neun. Ich habe den ganzen Tag geschlafen, fast bis vier Uhr Nachmittages, es wird schon wieder dunkel. Schön für mich. Denn ich gehe transformiert nur bei Dunkelheit aus, wie die Vampire, sag ich immer. Am Tag finde ich diese Aufmachung lächerlich, irgendwie. Das Café Kroky ist bumsvoll, die Luft ist feucht, dicker Rauch steht im Raum, Lärm, laute Musik, Blondie singt Heart of Glass. Mädchenstimme, starke Frau, finde ich. Der Philosoph ist auch da, an seinem Stammplatz, zwischen Bar und Tisch, unter der Sinalco-Werbung, so dass er alle sehen kann, alle ansprechen kann. Nur nicht neben ihm stehen, laut ist er, vehement, radikal, rechthaberisch. Die bösen Zungen nennen dies verbale Diarrhö. Alle können ihn hören, aber keiner hört zu. Man kennt ihn ja, den Philosoph: Lange, graue Locken, die von einer polierten Glatze herabhängen. Woodstockstrandgut, sage ich dem. Ein Fossil halt. Sie wollten die Welt verändern… Peace & Love, wie süss… Dumm ist er gewiss nicht, doch seine soziale Interaktionsfähigkeit ist nicht von dieser Welt. Er hat einen Knall, dure bi rot, sagen die Stammgäste hier im Kroky. Wenn man nicht dumm ist und immer recht hat, alles besser weiss, dann hat man ein Problem. Und ist einsam. Den Philosophen kümmert das nicht gross, er spricht weiter, heute ist er beim Thema Politik gelandet. 21 Vorher waren die Banker dran, letzte Woche die Asylanten. Seine Gedanken sind wie ein täglich wechselndes Programm, ziemlich kohärent, wenn auch etwas radikal. So der Mann, so sein Programm. Er weiss alles besser, weiss wie man Probleme löst, nur widersprechen darf man ihm nicht, sonst ist der Abend gelaufen im Kroky. Dann ist die Hölle los. Denn der Philosoph wird laut, brachial laut, und unterstreicht jeden Satz fragend mit «nüt wahr?, oder?, isch doch wahr?» Keiner traut sich etwas zu sagen, die meisten schauen weg. Wer will schon eine Konfrontation riskieren. Der Philosoph duldet keine Widerrede, triumphiert jetzt, er imponiert, keiner hat sich getraut, ihm zu widersprechen. Sein Programm hat gesiegt, überzeugt, alle beugen sich. Wehe, wenn ein Neuer, der ihn nicht kennt, ihm Paroli bietet. Dann wird es noch lauter, und schnell wird der Philosoph handgreiflich, wenn ihm die Argumente ausgehen. Aber zum Glück, bevor es eskaliert, kommt die Patronne, Martha, weit über hundert Kilo schwer, enorm gross, solide und furchtlos. Dezidiert packt sie den dünnen Philosophen mit ihren dicken, kräftigen Armen am Nacken und am Pferdeschwanz, zieht ihn durchs Lokal und schmeisst ihn auf die Strasse. Alle Gäste lachen sich tot. Hunde bellen unterm Tisch, denken, sie sind in Gefahr. Na! Der Philosoph, vom brutalen Temperaturwechsel ernüchtert, will protestieren. Martha erhebt den Finger: «Du, du…!», Killerblick, das reicht, der Philosoph senkt den Arm, sackt zusammen und 22 schlendert durch den Schnee bis zum nächsten Lokal. Er muss ja seine Rede unbedingt zu Ende halten. Er muss Menschen überzeugen für eine bessere Welt. Das ist seine Mission. Im Kroky ist wieder Ruhe eingekehrt. Die Hunde dösen wieder unterm Tisch. So gegen zehn erscheint Walti, gefolgt von Jules. Grüssen die Runde, Küsschen hier, Händeschütteln da. Sie sitzen am Tisch hinter mir. Im schrägen Coca-Cola-Spiegel über der Bar sehe ich Jules’ Gesicht. Er sieht mich, schaut aber sofort weg. Ich weiss schon, was er denkt. Er könnte wegschauen, vergessen können wird er unsere Begegnung jedoch nie. Und wenn ich Lust habe, drücke ich einfach auf den Knopf namens Walti und der Lustroboter muss antraben. Schau nur weg! Wir werden uns wieder sehen Jules! Walti hat eine Runde bezahlt, mindestens zehn grosse Biere marschieren durchs Lokal, hinter den hohen Schaumkronen die grosse Martha. Diese Frau, die hat was. Welche Energie, welche Ruhe. Ihr Königreich ist das Kroky. Sie ist die Königinmutter. Die Hebamme, der tröstende Busen, die Polizei, einfach alles. Sie kommt vom Land, war mal verheiratet, Bäuerin, hatte Kinder, der Mann soff sich zu Tode, Armut, Elend. Sie landete in der Stadt, putzte, servierte, prostituierte sich mit Gelegenheitsstrich, um die Familie durchzufüttern. Als die Kinder ausgeflogen waren, übernahm sie ein kleines Restaurant, später landete sie im Kroky. 23 Keiner kann ihr das Wasser reichen in Sachen Menschlichkeit, Gerechtigkeitssinn und Würde. Martha ist eine Heilige. Es gibt viele Marthas im Chreis Cheib. Nicht alle sind so dick wie sie, manche sind klein und mager, aber sie alle haben diese Energie, diese Kraft, diese natürliche Autorität. Männer bleiben für sie immer kleine Jungen. Deshalb gibt es viele Marthas hier. Die Marthas vom Chreis Cheib sind Überlebende aus einer längst versunkenen Welt, der Welt des Matriarchats. Walti lacht laut, sein braunrotes Gesicht ist über und über mit Falten bedeckt, er macht Witze über Schwarze, Schwule, Huren, alle Männer lachen, erzählen andere blöde Witze, prosten sich zu, biegen sich vor Lachen, klopfen einander auf die Schulter, die Knie. Jules lacht kaum, raucht eine Zigarette nach der anderen, seine Hände sind ständig in Bewegung. Ich weiss schon warum, er hat furchtbare Angst, dass ich was ausplaudern könnte. Würde ich aber nie tun, keine Angst Jules! Unser Geheimnis bleibt unser Geheimnis, es geht ja nur uns an! Walti weiss zwar Bescheid aber er wird auch nichts ausplaudern, so sehr fürchtet er sich um seinen Ruf… und die Sache mit Sandy, dem Punk-Girl, die ist ja auch nicht sehr sauber. Minderjährig womöglich. Ein Fuss im Grab, der andere im Knast. Wir drei sind wie Verschworene, Wahrheit und Realität erscheinen nur sporadisch, blitzartig, in unseren Blicken. Für die anderen nicht wahrnehmbar. Nach draussen dringt gar nichts oder nur derjenige Teil der Wahrheit, den wir als erträglich 24 betrachten. Das ‹Imiitsch› wie sie sagen. Gut so. Ich verlasse das Café Kroky gegen elf. Walti trinkt weiter, Jules schweigt. Die Kollegen haben andere Witze erzählt bis sie nicht mehr weiterwussten, Martha bringt weitere Biere. Als ich schon bei der Tür bin, geht sie plötzlich auf. Der Philosoph kommt rein, schweigt, schaut zu Boden als Martha ihm entgegenkommt: «Isch guet, aber bisch jetzt ruhig, gäll», sagt sie in mütterlichem Tonfall. Der Philosoph schweigt und denkt, denkt... unter der Sinalco-Werbung, ich ziehe den Pelzkragen hoch beim Eingang. Als ich die Tür schliesse, sehe ich Jules’ fragenden, ängstlichen Blick. Draussen stehen die Sterne am klaren Himmel, klirrende Kälte schlägt mir entgegen, die Nacht auf der Langstrasse kann beginnen. 25 26 Montag früh So gegen eins lande ich in der Serena-Bar, ein Striplokal mit grosser, langer Theke, wo grosszügige Männer Animiermädchen Champagner spendieren. Die Girls sind alle asiatisch. Blondinen gibt’s nur auf dem Plakat draussen, um diese Zeit ist die Bar eine Art Sammelstelle, das Auffangbecken des Nachtlebens. Die Polizeistunde ist streng in der grauen, langweiligen und reichen Huldrychsstadt. Hier herrscht ora et labora. Seit 1517, um genauer zu sein. Der Buss- und Betttag dauert das ganze Jahr. Tanzverbot, Café-Terrassenverbot, Alkoholverbot, Dachterrassenverbot, Konkubinatsverbot, Fickverbot, Privatradio- und Privatfernsehenverbot, Rockmusikverbot – ist ja keine Kultur – diese Liste ist nicht vollständig. Doch es brodelt ganz schön unter den Teens und Tweens. Die Stadt braucht eine Revolution. Um Mitternacht ist Schluss, auch am Samstagabend, denn Sonntag ist der Tag des Herrn, dies dominica. Zwar betet kaum mehr einer, ~ aber Gesetz ist Gesetz. Die Bars und Dancings müssen um Mitternacht dichtmachen. Punkt. Touristen und Besucher sind schockiert, egal, sie sollen zahlen und schnell nach Hause gehen. Die Ordnungshüter sind streng, der Frauenverein hat die Hosen an, seit mindestens hundert Jahren. Kann man verstehen, denn damals ernährten sich die Industriearbeiter des Chreis Cheibs praktisch nur noch vom Schnaps, fürs Essen war kein Geld mehr da. Der grassierende Alkoholismus musste bekämpft werden. Arbeiter brauchen Schlaf und Geld fürs 27 Essen. Also werden die Beizen früh geschlossen oder sind gar alkoholfrei. Doch die 1968er Studentenrevolte, die Rockmusik und die sexuelle Revolution sind auch an Zürich nicht spurlos vorbeigegangen. Trotz all der strengen Vorschriften, hinterliessen sie ihre sündhaften Spuren in der Huldrychsstadt. «Wehret den Anfängen», mahnte schon mancher Politiker. Man stelle sich vor: Die Serena Bar ist seit ein paar Jahren wieder eine der wenigen, privilegierten Lokale, die länger offen bleiben dürfen. Was musste da geschmiert werden, um die Bewilligung zu bekommen, weiss Gott. Sonst alles ok hier, danke. Es herrscht Ruhe und Ordnung. Seit die Polizeistunde für wenige Lokale verlängert wurde, kommt so nach eins, halb zwei Uhr alles hier rein, was nicht nach Hause gehen will oder kann. Wer einsam oder betrunken ist, Huren, Transvestiten, geflohene Gefangene, andere Barleute, die dichtmachen mussten und noch keine Lust haben, nach Hause zu gehen, aber auch Gesindel aller Art, einfach alles. Es brodelt ganz schön hier drin, ein Hauch von Sankt-Pauli, Singapur oder Schanghai irgendwie. Spielund Lusthölle, halbkriminell aber lebendig, eine Oase der Laster und der Lust. Ich liebe diese Atmosphäre. So muss es in Montmartre um 1920 herum gewesen sein. Lauter Leute, die im Rausch das harte Leben lieber vergessen möchten. 28 Hier ist der Lärmpegel immer auf das Maximum aufgedreht. Jeder spricht mit jedem, wir sind nicht an der Bahnhofstrasse, nicht bei Sprüngli, sondern im Chreis Cheib. Da herrscht Sex and Drugs and Rock’n Roll – Obrigkeit und Frauenverein hin oder her – oder wenigstens etwas, was danach aussieht. Ein Asian Girl tanzt im Rosalicht, dünn, mager ja, kein Busen. Man ahnt, Queen of Chinatown ist auf dem Plattenteller aufgelegt. Doch die berüchtigte Shanghai Lily ist dieses Girl nicht! Es scheint nicht ganz bei der Sache zu sein, seine Bewegungen sind unmotiviert, die Augen leer. Nach einer Weile zieht es ihren winzigen BH aus, nicht viel mehr ist da, als vorher. Dann kommt der Tanga an die Reihe. Es bewegt sich jetzt ganz nackt zur Musik, keine Spur von Anrüchigkeit, so muss Eva ausgesehen haben, kurz bevor sie in den Apfel biss. Von Sex und Laster keine Spur. Das Girl zieht sich aus, so wie man sich auszieht vor dem Zubettgehen und alleine ist. Dann verschwindet das Mädchen in der winzigen Kabine neben der noch winzigeren Bühne, niemand hat diesmal zugeschaut. Später sehe ich sie wieder an der Bar: «You buy me Cüpli?», fragt es einen jungen Mann, offensichtlich einen vom Land, der hat wenigstens Erbarmen. Ein Piccolo muss her für das arme Mädchen. In Thailand könnte sie damit einen Monat lang ihre Grossfamilie durchfüttern. Na und? Ist ja eine Champagner-Bar hier, wir sind nicht bei Caritas, wer hier reinkommt weiss, worum es geht. Die Männer kommen von weit weg hierher, bis 29 zweihundert Kilometer fahren sie hin und zurück, um einen Hauch von Sankt-Pauli an der Langstrasse zu erleben. Meistens sind es junge Burschen aus dem Mittelland, so von Bern bis Baden, alle wollen was erleben. Dafür kommen sie hierher. Sind etwas ungehobelt und unbedarft. Doch man soll in meiner Gegenwart lieber nicht dumme Witze über sie reissen. Denn ich mag sie am liebsten. Erstens sind sie zurückhaltend und höflich, zudem immer herausgeputzt, picobello, und ~ verfügen ~ über Qualitäten und Merkmale, die schon den Römern vor zweitausend Jahren aufgefallen sind: Sie sind gross, gesund, stark und diszipliniert, die Helvetier. Keine Schwindsuchtbleichgesichter aus übervölkerten Städten, nein, die sind echte Naturburschen. Auch Päpste nahmen sie gerne als Garde, Könige als Söldner, Offiziere als Stallburschen. Und ich nehme sie auch gerne! Ich schätze all ihre Qualitäten, aber vor allem ihre Geheimwaffe, ich fasse mich kurz: size matters. Jawohl! Aus dem gleichen Grund mögen die leichten Damen sie nicht, zu anstrengend, die Burschen vom Mittelland. Hier können die kräftigen Jungen alles tun, was man auf dem Land nicht darf. Und alles ausprobieren. Mich inklusive. Frauen gibt es im Chreis Cheib in allen Farben, Grössen, Formen und Preiskategorien. Blonde Männerfantasien gibt’s hier zwar ebenso wenig wie draussen auf dem Land. Alles ist irgendwie Importgeschäft, discount, second hand. Wir im Chreis Cheib sehen das anders, wir 30 leben ja hier, wir kaufen Gemüse und Fleisch auf dem Markt, gleich neben dem Sexshop. Ja und? Wenn morgens um acht eine fragt, ob wir vögeln wollen, wenn wir da im Nadelstreifenanzug vorbeilaufen, dann heisst es nur: «Nei Süssi, jetzt nööd, muss go schaffe, tschüss!» Bei mir geht es hier in der Serena-Bar um Wärme, aber auch um etwas Gesellschaft, denn draussen ist es kalt, ich will mir nicht die Füsse abfrieren, um einen Typ kennenzulernen, also komm ich auch hierher so oft ich Lust habe, wenn ich mich an einem trüben Sonntag einsam fühle: ~ «What good is you sitting all alone in your room, come to the cabaret», sang Liza. Tolle Typen gibt’s hier auch, nicht nur verschämte Freier, Beamte oder schüchterne Buben vom Land. Oft landen Sportler in der Serena-Bar, nach ihrer Sauftour oder einem Sieg, mit Kumpeln, ohne Frauen, zu dritt, zu viert, Fussballer, Hockeyspieler, Bobfahrer, berühmt, olympisch gekrönt, oder Drittligisten, unbekannt, einfach alles. Die sind gut, sie streiten nicht, schreien nicht, stinken nicht. Die meisten vertragen keinen Alkohol, wegen der immer strikteren Dopingkontrollen, aber geil sind sie alle, immer. Leichte Beute denk ich mir manchmal, was für ein Jagdrevier diese Serena-Bar! Bin auch schon mit so einem bekannten Spieler im Bett gelandet. Genial war das, zwei Polaroids habe ich gemacht, vom Po meine ich, nicht vom Gesicht, denn Autogramme brauche ich keine, keine Fotos als Trophäen und Beweis, dass ich nicht spinne oder angebe. 31 Am Morgen haben wir uns beide gefragt, was wir da eigentlich miteinander getrieben haben. Wir mussten beide lachen. Sind ja Männer, wie andere auch. Aber dafür richtige Testosteronbomben, jung, dynamisch, voller Energie und Tatendrang. Ich konnte nicht einschlafen neben meinem Fussballer, denn der strahlte soviel Körperwärme aus wie ein voll aufgedrehter Heizkörper. Vollblut, hochgezüchtete Kampfmaschine. Am Morgen roch es im Schlafzimmer wie in einer Bärenhöhle. Eine Pheromonwolke hing danach ein paar Tage lang über dem Bett. Aber mehr als ein bisschen Spass will ich ja nicht mit ihnen. Ich gehe aus, will mich unterhalten, ich verlange nichts, fordere nichts. Das beruhigt sie. Vor allem will ich kein Geld von ihnen. Keine Telefonnummer. Manchmal möchte ich den einen oder anderen schon mal wieder sehen, aber ich weiss, das wird kaum möglich sein. Ich habe mir auch schon die Finger verbrannt. Also lass ich das. Man kann das in positive Energie umsetzen. Anstatt mit dem Partner im Dauerstreit zu leben. Und eben, Einsamkeit kann auch Freiheit bedeuten, wenn man mit ihr umzugehen versteht. Nehmen, was man nehmen kann, lernen zu verzichten, loszulassen, um nicht unnötig zu leiden. So lebt es sich besser. No more drama. Die Serena-Bar ist immer bumsvoll und laut, jetzt gibt’s harte Rockmusik, AC/DC fahren zur Hölle, ja das wollen wir alle hier und singen mit, wippen mit dem Fuss, klatschen, schreien. Die Asia Girls kichern verlegen im 32 Rosalicht und wippen mit. Giessen den Champagner in den Blumentopf, sobald der Freier weg schaut. Wie schade, find ich. Würde ich gerne austrinken an ihrer statt. Einige sind schon betrunken, alle gleichen sich irgendwie, sind auswechselbar. Gibt’s da auch Individuen bei denen? Originelle Persönlichkeiten? Schwer vorstellbar. Böse Zungen behaupten, in dieser Bar verkehren um die dreitausend Jahre Gefängnis! Mindestens. Der Spruch hat etwas. Denn vor ein paar Monaten, als ich allein in der Serena-Bar sass, es war schon spät, so um zwei, oder danach, da setzte sich ein toller Kerl neben mich. Er rauchte wie verrückt, Gitanes ohne Filter, die Blauen, mit der Flamencotänzerin drauf, was für eine Giftimmission, ein Gestank, er trank ein Bier nach dem anderen, war aber nicht besoffen. Sicher einer, der sonst Härteres gewöhnt ist, dachte ich. Er sah so aus wie man sich einen Legionär, Söldner oder so was vorstellt. Breite Schultern, aufwändige, raffinierte Tattoos am Arm, frisch gebügeltes Kakihemd mit Schulterpatten, polierte Glatze, gepflegter Riesenschnauzer, blondes Kräuselhaar auf den Unterarmen, so um die vierzig. Schöne Hände mit grossen Venen, dicke Finger, ein mächtiger Kerl. Er sprach sehr gut Französisch, Jo hiess er, Johann. Er stammte aus dem Glarnerland. Wir unterhielten uns lange, er war schon überall gewesen, hatte als Söldner gekämpft, war Drogenschmuggler und in der Guerilla unterwegs. Ob alles wahr war, weiss ich nicht, aber irgendwie fand ich ihn faszinierend. Er erzählte von Angola, Burma, 33 Bolivien, die geographischen Details stimmten, ~ es passte alles zusammen. Und sein Französisch, so klar und präzis. Irgendetwas musste schon daran gewesen sein. Nach einer Weile kamen wir uns näher. Plötzlich fasste er meine Hand mit unglaublicher Kraft, ich dachte er bricht mir gleich das Handgelenk. Aber er führte sie unter die Bar an seine bereits geöffnete Hose und sagte mit tiefer, leiser Stimme: «Sers-toi!» Ich sollte mich bedienen. Ziemlich unerschrocken, dieser Kerl. Gut, aber wer konnte ihm gefährlich werden hier drin? Während die Gäste tranken, sich unterhielten, die Girls Champagner bestellten, tanzten zu Amanda Lear’s The Sphinx, waren wir mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Er lachte herzig dabei. Die Augen zu Schlitzen geschlossen. Johann, Spitzbub du! Netter Kerl für später, dachte ich mir. Eigentlich waren wir gerade mit dem beschäftigt, was die meisten hier auch suchten. Spass. Nur anders. Konkreter. Nun, wir waren uns ziemlich einig, wie es weiter gehen soll, aber der Typ war ziemlich geladen, es ging schnell. Er war, sagen wir, sehr spendabel, es begann wirklich spannend zu werden und schon war Schluss, für den Moment. Der Legionär lachte etwas verlegen, als plötzlich ein Typ von hinten kam und den tätowierten Arm des Mannes packte. Ich drehte mich um, hörte ein metallisches Geräusch. Schnell zog ich seinen Reissverschluss wieder hoch. Handschellen wurden montiert, ein zweiter, grosser Kerl mit bösem, dunklem Blick kam dazu. Stumm und leise packten sie meinen 34 Legionär und schleppten ihn hinaus. Er setzte sich nicht zur Wehr. Kaum jemand hatte gemerkt, was geschehen war. Johann lächelte traurig, und schon war er weg. Polizeilich gesucht oder ausgebrochen? Schade fand ich, denn ich hätte gerne mehr von ihm gehabt. Ich verstand auch nicht, warum ein gesuchter Mann dort verkehrte, wo doch jeder wusste, dass diese Bar eine Sammelstelle für diejenigen ist, die die Zeit totschlagen wollen. Eine Räuberhöhle könnte man fast sagen. Und dass die Polizei das auch wissen musste. Johann trat in die einzige Bar, die um diese Zeit noch geöffnet war. Fataler Fehler. Und siehe da, kaum war mein Spielgefährte entführt worden, kam Walti herein, lächelte alle an, drückte Hände, setzte sich an den Tisch neben dem Eingang. Jules erschien bald darauf und setzte sich zu ihm. Dann kamen auch die zwei düsteren Gestalten in Zivil mit den Handschellen herein und nahmen Platz neben Walti. Zufall? Wochen später erzählte mir Walti, dass der Legionär verdächtigt wurde, einen Mann und dessen Frau umgebracht zu haben, bevor er die Serena-Bar aufgesucht hatte. Von dieser Geschichte haben die asiatischen Go-go-Girls hier sicher nie etwas gehört. Sie sind jetzt müde, einige ziemlich blau, sie lallen herum, spendable Männer sind rar geworden, der Champagner fliesst nicht mehr in Strömen, die Serena-Bar wird bald schliessen. Die verbleibenden Männer sind apathisch, sie scheinen keine grosse Hoffnung mehr zu haben, zuviel Champagner, zu viele leere Versprechungen, für die Séparées ist es jetzt zu 35 spät. Und auch ihre Taschen sind jetzt leer. Bald ist Schluss, bald muss man raus, in die Kälte, etwas schlafen und morgen geht’s wieder los. Arbeit, Lohn, Frau, Kind, oh Gott! Plötzlich geht die Tür auf, alle Männer schauen auf, alle drehen sich um, langsam, einer nach dem anderen, wie Sonnenblumen sich an einem schönen Sommertag nach der Sonne drehen. Ihre Gesichter sind entzückt, verjüngt, wie verwandelt, die Müdigkeit ist verschwunden. Die Erscheinung betritt ihre Bühne, setzt sich lässig an die Bar in der Ecke, wo sie alle gut sehen können, sie zieht ihren Waschbärpelz aus, ~ ein tiefes Décolleté kommt zum Vorschein. ~ Wespentaille, eingeschnürt in ein Lackkorsett mit roter Schnur. Langes blondes Haar, frisches Gesicht, blutrote Fingernägel. Die Männer sind wie betäubt, sitzen da mit offenem Mund, schauen verstohlen auf den schönen, milchweissen Busen. Gierige, verblüffte, verständnislose Blicke. Die Erscheinung bestellt ein Glas Champagner, zündet sich eine Dunhill Menthol an, (und) lächelt zufrieden vor sich hin und lässt Rauchringe aufsteigen. Sie strahlt wie die Jungfrau von Fatima, eine Aura umgibt sie, sie ist unberührbar, unnahbar, nicht von dieser Welt. Ihre Nacht war gut. Ich weiss, sie arbeitet jeweils nur am Wochenende, dafür aber richtig. Umsatz muss her, sie will eine Luxuswohnung kaufen, sagte sie mal der Barmaid vom Nego. Morgen um neun wird sie wieder im Büro sein. Die Verwaltungsratssitzung, die jeden Montag stattfindet, wird sie protokollieren. Sie ist 36 Direktionsassistentin irgendwo da draussen. Sie wird dann dunkelblond sein und etwas kürzere Haare tragen, streng im schwarzem deux-pièces. Schön und adrett. Die SM-Statue mit der grossen Brille vor der Nego-Bar, wird sich bald verwandeln. Das ist ihr Geheimnis, sie mag Abwechslung, die Halbwelt, doch sie lässt sie nicht zu nah an sich herankommen, etwas Distanz kann nicht schaden. Sie mag Geld, aber keine Abhängigkeit, sie möchte keinen alten Sack heiraten müssen, nur um ans Geld zu kommen, wie so viele schöne Frauen es tun. Kompromissbereit ist sie jedoch. Wie recht sie hat. Es ist Montag, so gegen zwei Uhr. Eine neue Woche beginnt. Die Männer würden am liebsten jetzt noch eine Weile hier bleiben, nur nicht nach Hause gehen, kurz schlafen, aufstehen müssen, es ist hart, aber es gibt kein Entkommen. Der Frauenverein hat nach wie vor die Hosen an in der Huldrychstadt. Ich und die blonde SMStatue auch, aber unsere engen Hosen sind aus schwarzem Lack. 37 38 Montag, abends Im Café Kroky ist bald Schluss, heute fand hier wie es scheint der Prominententag statt. ~ Nicht Leute vom Fernsehen oder ein Auftritt von Miss Cervelat – nebenbei eine Beleidigung für die gute alte Wurst, denn diese soll etwas Hirn drin haben! Nein, ich meine all die Chreis Cheib-Grössen, ~ jene die es zu etwas gebracht haben sind da, aber auch die, die es einst zu etwas gebracht hatten und jetzt nichts mehr haben. Es ist wie auf dem Dorf, alle kennen sich. Der schöne Heiri steht auch da, weisser Leinenanzug mitten im Winter, geföhnte Vokuhila-Frisur, dicke Cohiba im Mundwinkel, jede Menge Gold am Handgelenk, süffisantes Lächeln zwischen jedem Zug. Der blaue Dunst steigt über seinen Kopf und bildet einen Heiligenschein. Dabei ist er alles anders als ein Heiliger. Was der so treibt? Er lebt, ist zufrieden, mehr ist da nicht zu sagen. ~ Die einen sind zufrieden, die prahlen, sind umschwärmt, die anderen sind einsam, still, sie saufen, schauen ihren überlaufenden Aschenbecher stundenlang an, es ist wie im Fernsehen. Für sie ist ihre Existenz wie eine Art Kristallkugel, so scheint es mir. So vertieft, so reglos gucken sie in das viereckige, schwere Glasstück hinein. Ihr damaliges Leben scheint darin verschwunden zu sein. Deshalb gucken sie da hinein, den ganzen Abend lang. Auch ältere Zuhälter sind da, nicht unbedingt gute Freunde, aber sie grüssen sich, bleiben auf Distanz. 39 Respekt. Damen gibt’s heute keine hier. Um diese Zeit schafft alles an. Nur Martha, die keine Dame ist, die gehört zum Inventar. Sie ist so schwer wie ein Bauernschrank. Manchmal gibt es auch Streitigkeiten unter den Männern hier im Quartier. Oft geht es um die Stehplätze der Frauen, um irgendwelche Abmachungen, die nicht eingehalten wurden, um Abrechnungen zwischen Zuhältern oder Wirten. Aber manchmal auch um Drogen. Alles geschieht irgendwie im Dunkeln, die Polizei läuft gegen eine Wand des Schweigens, denn wer redet schon offen mit der Polizei, dem Erzfeind? Es kann auch passieren, dass man eine Leiche im Hinterhof findet, keiner weiss was geschehen ist, keiner scheint den Toten richtig gekannt zu haben. Hatte er ein Doppelleben? So ist es in der Halbwelt, alles geschieht im Dunkeln, verborgen, geheim, Underground. Es gibt so eine Ecke, ~ Bermuda-Dreieck genannt, ~ was ja alles sagt. Da verschwinden nicht gerade Flugzeugträger der US-Marine, aber gewaltige Geldsummen, ganze Häuserreihen, alles ist irgendwie involviert, aber keiner macht sich die Hände schmutzig. Ein sauberes Geschäft eigentlich, viele besitzen gar nichts, das Auto, die Wohnung, Häuser, alles gehört jemand anderem, man lebt einfach so vor sich hin, mehr nicht. Wahre Lebenskünstler. Ich mag die Idee, nichts zu besitzen und trotzdem ein schönes Leben in einer Luxuswohnung zu führen, mit viel 40 Bargeld in der Tasche. Und Weibern, so viele man will, falls man Frauen mag. Oder eben Männer, wie in meinem Fall. Viele träumen davon. Persönlich möchte ich nicht so reich sein, so dass Geld die einzige Sorge ist, wie beim Börsianer, der nicht schlafen kann wegen der Positionen, auf die er am Tag zuvor gewettet hat. Die Gleichung ist stadtbekannt: Riskant + Valium, Gewinn + Champagner, Verlust + Temesta. Ein Leben zwischen Euphorie, Angst und Apathie hin und her pendelnd. Das ist ~ kein Luxus, sondern nur noch Stress und Chaos. Wo bleibt da die Souveränität, die Ruhe, die der Besitz von Geld normalerweise mit sich bringen sollte? So wird man nicht alt. Herzbaracke, vor vierzig ist programmiert. Aber genügend Geld zu haben, nur so viel, dass man keine Sorgen mehr hat, ist beruhigend. Für mich ist Luxus nicht Besitz, sondern Zeit und Musse zu haben, so dass man genau das machen kann, wozu man Lust hat: Musik hören, natürlich mit einer sehr guten Anlage, oder ein Gourmet-Restaurant besuchen, und dazu einen exzellenten Saint-Estèphe bestellen, Karten für ein Konzert von Queen im Hallenstadion auch für Freunde zu ergattern oder eine Verdi-Oper von der Opernloge aus geniessen. Oder auch einfach nichts tun, im warmen Wasser ~ still sitzen und dabei eine schöne Landschaft bewundern, über den muskulösen Körper eines Fussballers streicheln, wenn er schläft, und vor Rührung vor dieser Schönheit zu vergehen… Es muss nicht immer Geld kosten, denn Luxus kann auch gratis sein. Luxus ist 41 ~ individuell, was für den einen Luxus ist, ist für den anderen überflüssig. Luxus ist nicht immer mit Geld verbunden, glücklich ist, wer Luxus im Kopf hat. Während ich so vor mich hin sinniere und die Leute beobachte, schmeisst Martha wieder einen Querulanten raus, das geht so schnell, dass kaum einer was merkt, da hat sie Übung. Eins, zwei, drei, ein Tumult, die Tür knallt zu, und Ruhe kehrt wieder ein. Wo war ich geblieben, ja eben: Im Chreis Cheib hat sicher mancher sich diesen Traum vom Luxus erfüllt, bis zum Geht-nicht-Mehr ausgelebt und im Rausch von Las Vegas on the Limmat gebadet. Meistens verpufft der Traum dann an geldgierigen Ehefrauen, am Fiskus, oder im Suff, denn wehe, wenn man die Orientierung verliert, den gesunden Menschenverstand, die Bauernschläue, die nötig war, um oben anzukommen, dann… aber das kennt jeder Fussballer, wohin Selbstüberschätzung führt. «Von nun an ging’s bergab», sang die Knef, und sie wusste, was das bedeutet. Nach oben geht’s manchmal schnell, nach unten noch schneller. Es gibt so einige Gestalten hier, die sich abends für abends in Bars zu Tode saufen, die vor nicht zu langer Zeit steinreich waren, und dann plötzlich mit game over konfrontiert wurden. Gefallene Engel, die gab es ja auch früher, der liebe Gott hat sie aus dem Paradies verjagt. Im Chreis Cheib ist das Leben eine Lotterie, ~ old money gibt’s hier kaum, nur new money oder no money. Das macht das Ganze 42 spannend, interessant, lebendig. Hier bietet das Leben jedem eine Chance. Alles ist ständig in Bewegung. Früher sind die armen Bauernsöhne aus dem Emmental oder Glarnerland nach Amerika ausgewandert, sind dort anonym geblieben und arm gestorben oder kamen steinreich zurück. Heute kommen diese Abenteurer in den Chreis Cheib, arbeiten sich hoch und, ganz oben angelangt, bricht ihr Kartenhaus zusammen und sie kehren aufs Land zurück. Züchten Pferde oder Hühner anstatt Damen bei Laune zu halten. Auch nicht schlecht. Trotzdem ist Gewalt relativ selten hier, verglichen mit Chicago oder L.A. ist das Umfeld des Sexgewerbes von Zürich ein Kindergarten. Die Leute sind zivilisiert, respektieren sich irgendwie. Meiden Konflikte, diskutieren, sprechen sich aus und bleiben ruhig. Die strenge Erziehung macht das. Die Mütter haben den Söhnen Respekt und Anstand eingebläut, die Väter sie dabei mit der Rute oder dem Rohrstock kräftig unterstützt. Das wirkt lange nach. Das kenne ich von meinem Französischlehrer, der meine verwitwete Mutter tatkräftig unterstützte. In einem Dorf kennt jeder jeden. Wenn einer neu ankommt, misstraut man ihm erstmal. Er muss sich behaupten können. Erst dann zählt der Zugewanderte wie ich zu den Etablierten, Alteingesessenen. Zum Kuchen wie es so schön in der Limmatstadt heisst. Das alles geht mir durch den Kopf, weil so einer mir jetzt gegenüber sitzt. Hier im Café Kroky, kurz vor 43 Mitternacht. Ein ehemaliger Sex-Tycoon, der Jösy. Er war sehr beliebt, damals, warf das Geld aus dem Fenster, hatte Stutz wie Heu, fuhr geile Sportwagen, wechselte Freundinnen, Ehefrauen, auch Anwälte, wie schmutzige Hemden. Champagner in der Badewanne, Pin-ups um sich herum. Ein Art Hugh Hefner vom Chreis Cheib. Er zahlte eine Runde nach der anderen, alle waren eingeladen und durften an seinem Glück teilhaben. Das dauerte immerhin ein paar Jahre. Die fetten Jahre des Sexkönigs Jösy… aber der Huldrych mahnte oft, und auch nicht zufällig, dass nach den fetten Jahren die mageren folgen. Ein Naturgesetz ist das. Nur äusserste Vorsicht und Sparsamkeit können uns davor bewahren, zu verarmen, gar zu verelenden. Das wissen die Altreichen vom Züriberg besser, und sie halten sich streng an die Regeln. Machen weniger Kinder, heiraten unter sich, verachten Gefühle, schauen lieber aufs Portemonnaie. Anhäufen, hamstern über Generationen. Nicht so Jösy, grosszügig, unvorsichtig wie er war, eine Grille in Huldrychs Ameisenhaufen. Da kommt mir Lafontaine in den Sinn, wie recht der hatte, es geht etwa so: «Grillchen, das den Sommer lang – Zirpt und sang – Litt, da nun der Winter droht’ – Harte Zeit und bittre Not… » Und so sitzt er jetzt da, der Jösy, gestürzter König, müde, rauchend, saufend, ein Knochengerüst ist er geworden, zittert manchmal ganz schön am ganzen Körper. Delirium… flüstert man. Ein Sozialfall ist er geworden, und krank ist er auch noch. 44 Alle kennen ihn, und sind traurig ihn so zu sehen. «Weisch no Jösy…». Mehr als das gibt’s nicht als Trost, alles verpufft, alles ausgegeben, verloren, gespendet, beschlagnahmt. Nun, Schmetterlinge sind auch nicht lange schön, das süsse Leben dauert bei ihnen auch nicht ewig, ein paar Tage, Wochen vielleicht, einen Sommer lang höchstens, aber dann ist Schluss. Die Flügel fallen ab, der schöne Falter stirbt, der Sommer geht vorüber und bald kommt der Winter. Für den lieben, armen Jösy, die Grille, ist der Winter schon da. 45 46 Dienstag Am Dienstag ist Fussballtraining, deshalb ist die NegoBar nach zehn Uhr bumsvoll, und später wird die SerenaBar auch voll sein, Völkerwanderung der Dienerstrasse entlang, vorbei an rosa beleuchteten Fenstern. Aber nicht nur die müden Fussballer wandern von Lokal zu Lokal, ihr Gefolge auch, Fans, Freunde, Zufallsbekanntschaften, Jasskollegen, alle ziehen mit und fragen «Chumm, gömmer no eis go ziehe»… nachdem alle in die Kälte raus müssen. Ja und da gehe ich manchmal auch mit, denn am Dienstag ist was los in der Serena-Bar nach Mitternacht. Eine Art Spitzentreffen der Nachtgestalten aller Art und Couleur, denn alle wissen was hier abläuft, all diese jungen Männer, schön trainiert, geduscht, etwas erheitert vom Bier, Wein oder Whisky, das zieht an! Unter den Amateuren aller Alterskategorien und Geschlechter mischen sich auch zwielichtige Gestalten, Transvestiten, Schwule und ausrangierte Damen des horizontalen Gewerbes unbestimmten Alters, verirrte Liebespaare. Alle stehen stramm an der Bar, um schon vor Mitternacht die besten Plätze zu belegen. Wenn wir vom Nego kommen, sind da nur noch Stehplätze oder Tische hinten frei. Zuvorderst sind immer die gleichen an der Bar, aufgetakelte ‹Herrendamen› im Paillettenkleid mit turmhohen Perücken, Tiffany-Glitzerzeug, RhinestoneCowgirls überall, erinnert mich irgendwie an 47 Weihnachten, und das mitten in Januar! Also wenn schon so ausgehen, dann nur in schwarz-weiss, dezent, eng anliegend und schick. Wer will schon beim Ausgehen wie eine Hausfrau beim Staubsaugen aussehen? Oder wie ein Weihnachtsbaum? Und welcher Fussballer möchte mit einer ‹Hausfrau im Ausgang› nach Hause gehen? Wobei… da bin ich mir nicht so sicher. Gelegenheit macht Diebe, könnte ja doch vorkommen. Wenn diese sogenannten ‹Damen› schön dasitzen, könnte man es noch irgendwie durchgehen lassen, aber wehe, wenn sie aufstehen müssen, um auf die Toilette zu gehen. Trotz flacher Absätze werden die billigen Stofflampenschirme an der Decke der Serena-Bar arg strapaziert. Gut zwei Meter über dem Boden. Denn so gross sind die im Stehen. Da muss ein Mann schon ziemlich stark sein beim Tango. Aber wer führt denn da überhaupt? Das ist die Frage. Wer macht was im Duo? Aber eben, wenn es keinen Abnehmer gäbe, würden die auch nicht jeden Dienstag soviel Aufwand betreiben und zuvorderst an der Bar stehen. Es muss doch gehen, irgendwie. Es muss sich lohnen. Wer mit wem? Das werden wir später sehen, es ist noch früh. Auf der anderen Seite der Bar, gegen die Wand, sind noch drei andere Herrendamen, Spanierinnen, Olé! Auch die haben Weihnachten verpasst scheint mir, nur viel dramatischer, Rot und Schwarz und Gold! Inspiriert von den Barockkirchen ~ der Estremadura mit ihren Disco48 Madonnen, wo sie einst als Ministranten dienten. Da trugen sie schon farbige Kleider, Röcke eben, das prägt. Wenn schon Gold, dann richtig dachten die Bischöfe damals, vor bald dreihundert Jahren, so wie die Spanierinnen heute in der Serena-Bar. Sieht gut aus, erinnert von weit an Fastnacht – kommt übrigens bald – sicher eindrucksvoll auf der Theaterbühne, aber hier… na ja, und dann mit dem Lamé-Kleid im Schneematsch waten, eine tolle Leistung denke ich mir. Alle Achtung, Ladies. Aber die Spanierinnen sind hier beliebt, sie sorgen für Stimmung, haben Temperament, Stolz. Flirten auf Distanz, prosten zu, die künstlichen Wimpern zucken. Spielen ab und zu Castagñetas. Wenn sie auf der Strasse laufen, könnte man meinen, Melchior, Kaspar und Balthasar zu sehen, auf dem Weg nach Bethlehem. Sind aber auch schon vorbei, die Dreikönige, das war vor zwei Wochen oder so. Nein, im Ernst, so viel Aufwand, wo man ja weiss, dass die Männer hier nur an Verpackungen interessiert sind, die man schnell aufmachen kann. Sie wollen immer wissen, was drin steckt. Wie mit dem Weihnachtsgeschenk damals, wie lang ging es bis das kleine Auto in Einzelteile am Boden zerstreut lag? Drei Minuten höchstens. Sie wollen gleich zur Sache kommen, wenn schon, denn schon! Wissen, wie es funktioniert. Aber eben, Anstand muss sein. Vorher. Eine der grossen Damen flirtet mit einem kleinen, dicken Mann. Er hat etwas spendiert, sie prostet zu, der Mann grabscht an 49 ihrem Körper herum und scheint etwas gefunden zu haben. Er lacht nun zufrieden. Schatzinsel. Ich sagte ja schon, Dienstag ist der Tag, an dem Wunder geschehen. Nicht nur für mich, sondern auch für die andern. Einmal hat diese Glück, einmal jene der Spanierinnen, ab und zu ich. Muss ja nicht jedes Mal einen Volltreffer landen, denn ich schätze auch die Kumpel hier, die Atmosphäre, ein bisschen beschwipst zu sein und den Winter draussen einfach zu vergessen. Aber ich Sachen Kleidervorschrift würde ich keinen Kompromiss machen. Schwarz. Immer. Ob Stoff, Leder, Lack oder Wolle. Vielleicht etwas weiss dazwischen, sieht frisch aus und irgendwie sauber. Die Haut ist ja weiss genug. Schwarz bringt sie zur Geltung. Und Lippen und Nägel sind ja schon knallrot normalerweise, das reicht als Balzsignal. Die Accessoires müssen auch stimmen, denn was nützt viel Gold und Lamé, wenn die Uhr aus Plastik ist, der Diamant aus Glas und das Parfüm nach Putzmittel riecht? Kläglich. Würde ich nie tragen, lieber gar nichts. Und draussen erst recht. In Schwarz fällt man nicht auf, wird kaum gesehen, wenn man nicht will, wird auch nicht angepöbelt. Schwarz strahlt eine gewisse Würde aus, Selbstrespekt, Zurückhaltung, das imponiert. Man kann Tram fahren, ohne einen Aufruhr zu verursachen. Ich sage immer: Schwarz ist der Vampir, schwarz ist die Katze, die Hexe auch und erst recht die Nacht. Und manchmal ist meine Seele auch ein bisschen 50 schwarz, nach all den Sünden in der Huldrychsstadt. Also schwarz für immer. Black for ever. So, genug jetzt mit den Kleidervorschriften, wir sind ja nicht in einer Modeshow, es ist Dienstagnacht oder ist es schon Mittwochmorgen ~ in der Serena-Bar? Die Fussballer singen jetzt im Chor, sie hatten am Sonntag gewonnen, Testmatch, aber gewonnen ist gewonnen. Und das muss gefeiert werden, zum dritten Mal diese Woche. Den einen kenne ich vom Nego, ein grosser Blonder, breitschultrig, so um die dreissig. Eher Rugbyman als Fussballer, sicher ein Verteidiger. Er schaut mich an, kaut nervös an seinem Zahnstocher, seit einer halben Stunde, der muss ja halb verdaut sein. Er traut sich nicht, möchte mich nicht direkt sprechen vor seinen Kollegen, aber seine Augen sprechen für sich. Sehnsucht, Geilheit, Scham. Gute Mischung, vielleicht ist er etwas schüchtern. Aber ich will nicht aufdringlich sein und ihn in Verlegenheit bringen. Die Spinne muss Geduld haben, ich ziehe also meine Fäden und warte. Ich dreh mich erstmal um und rede mit meinem Tischnachbarn, einem Autohändler. ~ Das ist eine Spezies für sich, draufgängerisch sind die, früher wären sie Rossund Viehhändler gewesen, gleiche Branche – andere Zeiten. Er will mich nach Bülach mitnehmen: «Wie bitte? Wo isch dänn das, Bülach? Was? im Unterland? Wo? Hui nei!» Warum kommen die denn überhaupt hierher, die Händler der Mobilität aus dem Unterland? Warum 51 scharren sie nicht dort? Wäre ja praktischer oder? Eben, Sündenmeile gibt’s dort nicht, sie müssen die Atmosphäre vom Chreis Cheib erleben, erst dann kommen sie in Stimmung. Und vor allem, hier kennt sie keiner, denken sie. Niemand plaudert aus, so weit weg von zu Hause. Hier können sie sich furchtbar sündhaft geben. Nur mit der Serviertochter vom Leuen in Bachenbülach dort unten zu flirten, das reicht ihnen nicht. Der Autohändler ist vorerst nett, höflich, spendabel. Aber er hat was im Kopf, hartnäckig ist er. Ich darf noch einen Champagner trinken. Komm doch mit, sagt er immer wieder. Aber ich wohne gleich um die Ecke, was soll ich da riskieren? Mit einem Viehhändler mitten in einer Schneewüste stecken zu bleiben? An einem Mittwochmorgen, im Stall da unten? In der Garage? Und das im Winter? Kommt nicht in Frage. Lieber gehe ich nach Hause, jetzt. Schade um den Fussballer mit dem Zahnstocher, aber so nicht. Er insistiert, will mich mit Geld überreden, ich lehne zuerst höflich ab, dann werde ich langsam sauer… die, die man nicht will, wollen… die die man will, wollen nicht… Ich muss mich jetzt entscheiden. Hier bleiben und belästigt zu werden, von einem Autohändler, der langsam blau ist und immer aufdringlicher wird, nicht mehr kann, vor allem nicht mehr Auto fahren, soll ich dem Fussballer ein Zeichen geben – wie sagt man so was wie ‹ein andermal› in der Zeichensprache? Ein Zeichen geben, einen längeren Faden spinnen und dann brav nach Hause gehen. 52 So lass ich den Viehhändler einfach stehen. Der Zahnstocher bewegt sich immer schneller. Es tut mir leid für ihn, weil er ein Netter ist, im Grunde. Gutes Herz. Und auch für den Fussballer, weil er nicht allein ist und sich nicht entscheiden kann. Schüchterner Bub. Genug. Ich ziehe den Mantel an und verlasse die Bar, es ist schon spät, morgen ist ein Arbeitstag. Ich laufe der Kanonengasse entlang, grüsse noch Leute, die aus der Piraten-Bar rauskommen, schwatze ein bisschen mit ihnen, es wird kalt, schnell, die Lagerstrasse runter… als ich in der Nähe meiner Wohnung ankomme, da hält plötzlich ein grosser, schwarzer BMW drohend vor mir auf dem Trottoir… Upps, Streit? Rache? Habe ich was angestellt in letzter Zeit? Und hier ist auch noch Fahrverbot, Parkverbot, Einbahnstrasse, alles verboten. Tut mir leid, der Laden ist geschlossen, denk ich, was will denn der imponieren, mit seinem BMW? Ich laufe schnell links vorbei am Fahrzeug, und was sehe ich? Den nervösen Zahnstocher, mit meinem Fussballer dran, beugt sich vor, gibt ein freundliches, schüchternes Zeichen. Eben, ich sagte ja schon, Dienstag, da geschehen Wunder in der Serena-Bar. 53 54 Mittwoch Ich habe eine Einladung bekommen, einen winzigen Zettel mit einem umkreisten ‹A› drauf, Handschrift, gekritzelt, schwarz auf rotem Papier, und eine fast nicht lesbare Adresse. «Muesch unbedingt cho!», sagte mir gestern Abend der aufgedrehte Punk, der mir das Zettelchen in die Hand drückte. Ein Keller in einem Abbruchhaus. Kurz vor elf, ich steige die schmutzige Treppe hinunter, Punks überall, Irokesenfrisuren, schwarze Kleider, Piercings, aufgekratzte, rotzige, Bier saufende Jungs und Mädchen, so ab vierzehn aufwärts, schätze ich. Dumpfe Basstöne dringen durch die dicke Betontür, der Türsteher, ein Hüne mit roter Igelfrisur und Sicherheitsnadel in der Nase, sieht meine briefmarkengrosse Einladung und zieht am Hebel, die schwere Tür bewegt sich langsam. Eine Schallwelle wie ein Donnerschlag empfängt mich, dicker Rauch, Schweissgeruch, no perfume scheint das Motto hier zu sein, stickige Luft steigt in meine Nase. Das junge Publikum kreischt und hüpft auf und ab, singt mit, Bier in einer Hand, Zigarette in der anderen. Es ist sehr laut, chaotisch, brutal schlechte Musik, finde ich, noch schlechter als die Velvet Underground, aber geiler, hämmernder Rhythmus. Totale Amateure am Werk, die Stimmung ist jedoch wie elektrisiert, genial, da passiert was, der Funke springt über, ich hüpfe eine Weile mit. Die Punkettes schreien hysterisch, die jungen Männer grölen. Die Lärmorgie dauert etwa eine halbe Stunde, alle 55 sind ziemlich betäubt, vom Lärm, vom Bier, vom Kopfschütteln, einige auch von Drogen. Während einer kurzen Pause, kurz bevor es wieder losgehen soll, hört man Schreie von der Tür draussen, plötzlich geht der Strom aus. Taschenlampen suchen sich einen Weg durch den dunklen, rauchigen Raum. Die Punks sind wütend. Vier Polizisten stehen an der Tür, ziemlich verdutzt. Der Keller wird evakuiert, alles muss raus, kaum hat die Party angefangen, schon ist sie fertig. Papiere werden kontrolliert, Namen aufgeschrieben. Die Jungs und Mädchen schreien, pöbeln die Polizisten an, beleidigen sie und schimpfen. Eskalation droht, die Jungs halten schon Steine und Bierflaschen parat. Es herrscht Chaos im Keller. Draussen auf der Strasse ist die Hölle los, die aufgebrachten, frustrierten Jugendlichen gehen auf die Polizisten los, kurz hinterher hört man Sirenen, eine Horde Polizisten in Kampfmontur stürzt aus einem Kastenwagen, wird mit Bierflaschen und Steinen empfangen, die Strassenschlacht wütet kurz. Tränengaspetarden tanzen am Boden, ich ergreife die Flucht, beim Helvetiaplatz versammeln sich die Punks zusammen mit anderen jungen Leuten und bauen eine Art Strassenblockade aus Abfallcontainern. Sieht aus wie im Krieg hier, No Future, früher war Peace & Love, die Zeiten ändern sich. Ich ergreife die Flucht, renne die Kanonengasse entlang, höre Sirenen, die Luft ist vom Tränengas verpestet. Ich biege in die Zwinglistrasse 56 (Jesses bei Huldrych!) und flüchte mich in die OchsenBar. Uff, gerettet! Hier scheint niemand bemerkt zu haben, was da draussen vor sich geht. Der schöne Heiri ist da und zieht wie gewohnt an seiner Cohiba, präsentiert sein süffisantes Lächeln unterm seinem blonden Robbenschnauz, die Vokuhila-Frisur wie immer schön geföhnt. Sein silberner Corvette Stingray steht vor der Tür. Er hat gut lachen, ich sah gerade vorhin seine Damen die Zwinglistrasse entlang spazieren und frieren (armer Huldrych, was ist aus deiner Strasse geworden?). Vielleicht wird heute Heiris Business etwas beeinträchtigt. Freier mögen keine Polizei. Die schöne Barmaid serviert heute, alle Männer sind ihretwegen gekommen, eine Augenweide ist sie und nicht zickig, immer aufgestellt, hat immer einen lustigen Spruch parat. Man munkelt, es gäbe Fotos von ihr… ja genau, solche. Ihr ist das anscheinend egal, sie hat gar keinen Grund sich zu schämen, bei der Figur. Die Männer trinken und glotzen Richtung Décolleté, sinnierend, fantasierend, aber eben, sie ist vergeben. Hier trifft sich alles, was Rang und Namen in der Stadt hat, nicht nur Sportler, Künstler, Musiker, sondern auch Politiker, Wirtschaftsbosse, Journalisten, Moderatoren, einfach alles. Natürlich gefolgt von einer Schar hübscher Mädchen, die auf alte, reiche Säcke stehen. Aber die hübschen Girls ziehen auch die jungen, eleganten, geilen Burschen an, und die wiederum ziehen mich an. Deshalb 57 bin ich hier. So schliesst sich der Kreis und jeder hat etwas davon. Wenn ein Sexkönig reinkommt, kann es gut sein, dass man den Rest des Abends bei Champagnerlaune verbringt. Spendabel zeigt man sich hier, wenn man es zu etwas gebracht hat. Ich erzähle vom Punkkonzert und von den drohenden Krawallen. Alle staunen, anscheinend hat sich die Revolution in Luft aufgelöst, es waren schliesslich auch mehr Polizisten da als Revoluzzer. Und die wollten ja nur Musik hören, mehr nicht. Aber in Huldrychs Welt hat es keinen Platz für laute Punkmusik, ist ja Lärm – keine Kultur. Nun, der sogenannte Lärm hat ganz schön viel Energie drin und die könnte auch mal explodieren. Das gab es schon mal vor rund zehn Jahren, oder? Die Bosse hier im Ochsen sind sehr tolerant, die Jungen sollen ihren Spass haben, wie sie ihn ja auch hatten, damals beim Rock’n Roll: «Weisch no!». Diese tolerante Haltung ist anscheinend nicht bis zu den Politikern vorgedrungen. Die zeigen sich zurückhaltend, um nicht zu sagen feindselig gegenüber jungen Leuten und ihren Wünschen. Mich nervt die Polizeistunde zum Beispiel extrem, vor allem im Winter, und der ist hier sehr lang, dauert manchmal bis in den Mai, gar Juni! Oder auch das Radio, ewig diese Ländler, diese Schnulzen, Brot und Käse-Musik, nichts gegen schöne, klassische Musik, aber etwas Abwechslung täte gut: «Hey, hallo drüben, wir zählen das Jahr 1980, Rock, Punk, New Wave, noch nie was davon gehört in Beromünster?» Da sitzen wohl 58 immer noch die gleichen Leute, die bei der Gründung 1930 dabei waren! Im Ochsen diskutiert man jetzt heftig über Jugendkultur. Ich spiele selbst in einer Band, wir kriegen keine Konzertbewilligung. Meine B&O-Anlage peilt illegale Radios an, schlechter Empfang, gute Musik, aufgestellte Leute am Mikrophon. Radio 24, das aus Italien sendet, ist der Renner. Ab und zu funkt ein anderer Störsender mit Anarchie-Propaganda dazwischen, mitten in die Nachrichtenbulletins aus Beromünster. Dort ist der Ton wie aus der DDR, monoton, bitterernst, sie hocken noch im Réduit, könnte man denken. Monopol ist ein Zauberwort, ein Machtwort. Huldrych wollte auch ein Monopol auf seine® Art, damals! Man weiss wie es ausging. 59 60 Donnerstag Meine beste Freundin ruft an, heute Nacht gibt es wieder mal eine Privatparty, ich bin auf der Gästeliste. Ich sollte aber unbedingt neue Klamotten kaufen, Arbeitskleidung sozusagen. Eintauchen in die dunkle Welt der Phantasmen und Laster der Huldrychsstadt. Der kleine, diskrete Laden im Niederdorf ist ganz in schwarz gehalten, an den Ständern bizarre Kleidungsstücke aus Leder, Lack und Latex, aber auch Ketten, Handschellen und Peitschen aller Art. In diesem Reich der Sinne herrscht Ida, die berühmtberüchtigte Königin der SM-Mode. Aus London, Paris und New York holt sie immer wieder die neuesten Sachen, spürt Trends auf und beglückt damit biedere Zürcher Banker, Anwälte und Ärzte, die sadomasochistischen oder sonst abartigen Sexpraktiken frönen. In dieser Alibaba-Höhle der Lust findet jeder Fetischist, was sein Herz begehrt. Ich kaufe mir eine knallenge Lackhose mit seitlichen Schlitzen und Reissverschlüssen an strategischen Stellen, dazu ein mit Metallketten eng geschnürtes Oberteil. Ich frage mich, wie man das repariert, wohl beim Mechaniker. Viel muss man nicht anhaben bei diesen Partys, denn es ist extrem heiss und schwül in den Logen, Verliessen, Kabinetten und Ruheräumen. Trotz strengem Regime wissen sich Huldrychs Jünger zu helfen, wenn es um die Befriedigung ihrer geheimsten Gelüste geht. Kein Weg ist ihnen zu weit, kein Hindernis 61 zu schwer, kein Aufwand zu viel, keine Montur zu teuer. Sie gönnen sich was, investieren Unsummen und organisieren alles, was es so braucht, um an ihr Ziel zu gelangen, koste es, was es wolle. So lande ich in der Industriezone, in einem grossen Fabrikgebäude mit riesigem Parkplatz. Es ist bald Mitternacht und die eiskalten Umkleideräume sind voll mit Männern und Frauen, die ihre Alltagskleider gegen aufregende Klamotten tauschen. Man guckt sich gegenseitig an, mustert sich, munkelt zwischendurch: «Du lueg emal, wer au da isch…», schnürt hohe Stiefel und Korsetts so eng, bis der Atem stockt. Zum Glück gibt ein Industrieventilator etwas Wärme ab, denn ich bekomme gleich eine Gänsehaut beim Umziehen. Im dunklen Flur zeigen kleine Kerzen am Boden den Weg zur Party, zum Nirvana. Leise, geheimnisvolle Musik ertönt, Stimmengeflüster, metallische Geräusche von Ketten und Stiftabsätzen, schwere orientalische Düfte. Die Gäste unterhalten sich leise und geben sich kultiviert, trinken Champagner. Sie setzen sich an die lange Bar, auf schwarze Lacksofas. Die Kerzenbeleuchtung spendet ein sanftes, warmes Licht, umhüllt alles wie ein Schleier, Lack, Leder, Latex glänzen geheimnisvoll. Körper, Formen, Glieder sind kunstvoll verpackt, wie Geschenke im Weihnachtsschaufenster. Das Défilé kann beginnen, einer nach dem anderen spazieren die Ankommenden an der Bar vorbei, sehr langsam, würdevoll, bevor sie in den verschiedenen Räumen verschwinden. Ein etwas älterer 62 Mann stöckelt an mir vorbei auf extrem hohen Absätzen, stolpernd, leidend, gestützt von zwei Schönheiten, einer schwarzen Dame in weissem Latex, einer Blondine in schwarzem Latex, Trio infernal. Ein anderer Mann, jung und wohl proportioniert, tritt herein, zusammen mit seiner Krankenschwester im weissen Kleid, mit Haube und rotem Kreuz drauf, alles in weissem Latex. Doktorspiele in Aussicht? Ein Mann und eine Frau teilen sich einen hohen, massgeschneiderten Stiefel, so sind sie für immer vereint, beim Gehen, Tanzen, Sitzen und Lieben. Eine wunderschöne Frau tritt ein, an ihrer Leine ein Mann mit Maske, der ihr folgt wie ein Hund. Die Prozession geht weiter, es ist wie ein Ritual, sich zeigen, mild lächeln, bewundert werden, oder aber auch schockieren, erstaunen, verführen, alles ist möglich, sie scheinen keine Grenzen zu kennen. Ein Gefühl von Freiheit und Toleranz, Lust, Wollust, Phantasmen, Fantasie werden so hautnah erlebbar, die Grenzen zwischen Norm und Abnorm verwischen sich. Am Schluss sind nur Menschen da, die sich einen Traum erfüllen wollen. Auch Gewalt ist streng ritualisiert, ich bewundere die Vorstellung mit dem Sklaven und seiner Domina, ein Drama mit Ouvertüre, erstem, zweitem, drittem Akt und Finale. Die Steigerung der Lust, der zugefügte Schmerz werden von der Herrin derart fein dosiert, dass keiner der Zuschauer sich entsetzt abwenden muss. Alles geschieht auf natürliche Weise, dein Wunsch ist mir Befehl, deine Befehle sind meine 63 Lust… Schmerz, Rausch und Extase, Harmonie und Faszination. Der Champagner fliesst grosszügig an der Bar, Stimmung kommt langsam auf. Ich beschliesse einen Rundgang zu machen, will die diversen Räume ~ besichtigen. Eine Entdeckungsreise durch die geheimen Wünsche und Phantasmen, Bilder die an die phantastischen Landschaften von Hieronymus Bosch erinnern, Himmel und Hölle zugleich. An der Bar lerne ich einen schönen, grossen Mann kennen, Viktor heisst er, Boxen ist seine Leidenschaft, so sieht er aus. Sehr kräftig und muskulös, kantiges Gesicht, markante Nase, die pechschwarzen Gomina-Haare nach hinten gekämmt. Ein amerikanischer Boxer um 1940 muss so ausgesehen haben. Toller Typ. Er nahm mich an die Hand und wir betraten Räume, die für Paare reserviert sind. Singles haben dort keinen Zugang, um ‹Männerüberschuss› zu verhindern. Die SM-Welt ist anscheinend eine sehr verbreitete Männerfantasie. Frauen hingegen sind in dieser Welt untervertreten. Man trifft zwar echte Herrinnen und Dominas, die offensichtlich Spass dabei finden, Männer zu unterwerfen, zu demütigen und zu erniedrigen. Aber irgendwie sind in meinen Augen die meisten Damen nicht sehr motiviert, ich denke das Geld spielt da auch eine Rolle. Männer in leitenden Positionen – so meine Erfahrung – zahlen, um gedemütigt zu werden. Frauen werden im Alltag oft gedemütigt, nicht freiwillig allerdings. Es gibt aber starke, selbstbewusste 64 Frauen, die sich in der Rolle der Allmächtigen sehr wohl fühlen. Um die geht es hier und heute. Viktor führt mich wie eine Trophäe durch die Räume, ich bin seine Errungenschaft. Ich weiss aber, dass er mich im Grunde nur mitnimmt, weil er dadurch Zutritt zu ihm sonst verschlossenen Räumen erhält. Mir ist das egal, Viktor oder ein anderer, spielt für mich keine Rolle. Gut aussehen muss er. Ich bin flexibel und kann mit Paaren, Frauen und Männern gleichermassen Spass haben. Ich habe also die Wahl. Viktor ist da etwas eingeschränkter. Aber er ist ein netter Kerl, lächelt die ganze Zeit, ist fasziniert, unheimlich erlebnisgeil. Wir betreten einen Raum, der wie eine kleine Kirche ausgestattet ist, mit Bänken, Altar, Beichtstuhl auf der Seite. Was für ein Gottesdienst findet hier denn statt? Viktor schaut mich fragend an. Eine Art Thron aus Metall steht auf einem Podest, eine schöne Herrin sitzt drauf, ihre Hände sind festgebunden. Sie trägt ein enges Lederkorsett, die dünne Taille fest geschnürt, hohe Stiefel, die Beine ~ gespreizt, die Scham rasiert, von unten schwach beleuchtet, der Busen ist nackt, üppig und weiss. Im fahlen Licht erscheint aber nicht eine Vulva, sondern ein Penis. Die Männer stehen Schlange, nähern sich, knien vor der Herrin, küssen ihre Scham, ihren Busen, verbeugen sich und setzen sich auf die Bänke, die Zeremonie dauert eine Weile. Der Kult gilt dem Hermaphroditen. Viktor ist fasziniert, er starrt wie versteinert in den offenen Schoss. 65 Ich führe seine Hand an meine enge Lackhose. Er lächelt etwas verlegen und folgt mir zum Beichtstuhl. Er besteht aus drei Abteilen. Links und rechts für die Beichtenden, in der Mitte kniet der Pfarrer. Zwei Öffnungen auf Augenhöhe sind mit kleinen, vergitterten Fenstern versehen. Viktor und ich nehmen Platz im mittleren Abteil. Ich verriegle die Tür und beginne Viktors Brust und Nippel sanft zu streicheln, meine Hand erkundet seinen kräftigen Körper. Viktor ist wie elektrisiert, er zittert am ganzen Körper, ist extrem angespannt, wie eine Feder die gleich losgehen wird. Im linken Abteil nehmen zwei neugierige Männer Platz, im rechten ein älterer Herr mit glänzenden Augen. Ich lecke Viktors Nippel, meine Zunge fährt nach unten, Viktor schliesst die Augen. Die Männer links wichsen und schieben mir ihre Schwänze durch das offene Fensterchen. Rechts bleibt das Fensterchen geschlossen, der ältere Herr sabbert, grinst dahinter, die Zunge ausgestreckt. Ich stehe auf und zeige den Männern Viktors harten Schwanz, sie stürzen sich drauf, lecken, blasen, wechseln sich ab, während ich Viktor küsse und seinen festen Hintern hart anpacke. Viktor ist wahnsinnig vor Geilheit, stöhnt wie eine Dampflokomotive. Der Alte hält es nicht mehr aus, schreit seine Lust raus, verdreht die Augen, fleht, man solle das Fenster öffnen, rüttelt daran. Viktor bebt nun am ganzen Körper, plötzlich packt er mich unsanft, dreht sich um und fickt mich, während die Männer sich um meinem Schwanz kümmern. Der Alte wichst und zittert hinterm 66 Gitter. Alles bebt und stöhnt im Beichtstuhl, das Häuschen ist nicht sehr solid gebaut, droht zusammenzustürzen. Oh Huldrych! Die Holztüren knarren, die Steinmauer ist feucht und kalt. Plötzlich stösst Viktor einen lauten Schrei aus und erdrückt mich fast, als er zuckend in mir kommt. Die Männer bespritzen mich mit ihren Ruten (eine Feuerwehrübung?), als auch ich den Höhepunkt erreiche. Viktor ist schweissgebadet und klebrig, die Männer zucken, der Alte schrumpft zusammen und seufzt hinterm Gitter. Die Orgie ist beendet, Viktor öffnet die Tür, ein Dutzend Zuschauer sind noch da, Applaus gibt’s aber keinen. Wir schubsen uns durch die Menge und verlassen die Kirche. Viktor lächelt, triumphiert, bedankt sich: «Ich häätt nie däänkt…», sucht eine Erklärung für sein Benehmen – oder war das eine Bekehrung? – findet aber keine. Erstmal auf die Toiletten, erfrischen, waschen, Schminke nachbesseren. Wir treffen uns wieder an der Bar, Viktors Dankbarkeit berührt mich, er strahlt, seine dunklen Augen sind wie besänftigt. Er schmunzelt die ganze Zeit, kann es gar nicht fassen. Wir trinken noch was und beschliessen, eine letzte Runde durch die verschwitzten Räume zu machen. Die Musik ist lauter geworden, die Stimmen auch, aus allen Räumen ertönt eine Mischung aus Stöhnen, Schreien, Seufzen, man hört Klatschen, Lustschreie, Männerstimmen ausser Atem, die Luft ist schwer, Schweissgeruch überall, penetrant, unangenehm ätzend. 67 Viktor hat genug, er will gehen. Es ist sehr spät. Er zieht sich um, ich ziehe nur meinen Pelzmantel über die besudelten Party-Kleider. Draussen ist es bitterkalt, die Sterne leuchten am Himmel, traumhaft schön, die Luft ist durchsichtig, beissend, stimulierend zugleich. Wir nehmen ein Taxi, zuerst zu mir. Als ich am Eingang bin, sehe ich Viktors freundliches Handzeichen, bevor er in die eisige Nacht verschwindet. 68 Freitag Freitag ist der grosse Ausgangstag in der Huldrychsstadt. Nach einer langen, arbeitsamen Woche sehnen sich die Leute nach Unterhaltung, Spass, Abwechslung. Und natürlich strömen alle in den Chreis Cheib. Da sieht man ganze Horden von jungen Männern aus dem Mittelland auf Parkplatzsuche, die Massagesalons haben Hochkonjunktur – die Arbeiter hier sagen Zupfstube, was der Realität besser entspricht, finde ich. Aber hier darf man das Wort Sex nicht einmal aussprechen, auch nicht schreiben, wehe denn ausüben. Die Hölle droht schon. Massage tönt eben harmlos. Was da massiert wird spielt keine Rolle, Hauptsache es klingt anständig und bieder, besser noch, hygienisch. Ein Zauberwort hier, wird viel gebraucht, nicht nur beim Zahnarzt. Die französische Armee war da schon praktischer und nannte bis 1946 ihre Zupfstuben BMC (Bordel Militaire de Campagne). Da wusste man sofort, worum es geht, oder? Es kam auch vor, dass dort – wie übrigens hier und heute abend – zu wenig Damen (Pardon Personal) vorhanden war, dann hängte der zuständige Offizier ein kleines Plakat vor die Tür, auf dem diese Mahnung stand: «Infolge Personalmangels werden die Herrschaften gebeten, sich von Hand vorzubereiten». Heute Freitag herrscht reger Betrieb, die Trottoirdamen legen eine Schicht nach der anderen ein und kommen trotzdem nicht mehr nach. Bald muss ich da eingreifen, 69 ich bin ja hilfsbereit diesbezüglich, vor allem wenn es sich um junge Männer aus der BE-SO-AG-Zone handelt, hhhm… da läuft mir schon das Wasser im Mund zusammen. Sooo viele schöne, geile Kerle hat es dort, man kann sich kaum vorstellen, was die Huldrychsstadt da für ein Reservoir an kräftigen Kerlen hat. Übrigens sind die auch als Arbeitskräfte gesucht, und nicht nur für Sex. Und alle suchen sich am Freitagabend einen Parkplatz hier im Umkreis der Langstrasse, und die sind rar. Wild parkieren ist fast eine Todesstrafe wert, die Politessen (die sind nicht immer so höflich, wie die lächerliche Verbalhornung es vermuten lässt) zeigen sich unerbittlich. Polizeidamen müssen irgendwie einen Übernamen haben, in Paris hiessen sie zuerst Aubergines(!), nicht wegen der Figur, nein, sondern der Uniformfarbe wegen, später wechselten sie auf hellblau, prompt wurden sie Pervenches (Vergissmeinnicht) genannt. Manche Sauftour kann teuer zu stehen kommen, wenn die Kerle falsch parkiert haben. Und als mancher von ihnen die Busse sah, war der gleich wieder nüchtern. Nun, Parkplatzprobleme hin oder her, alle strömen in Richtung Langstrasse, dort, wo die heile Welt aufhört und die Hölle beginnt, vermeintlich. Gut, verglichen mit einer Sauftour in, sagen wir, Oberbuchsiten around midnight, ist das Langstrassenquartier schon etwas attraktiver. Das Kino Rotwand gibt gleich die Farbe an mit dem ‹O›, der gar keinen Zweifel lässt, was da für ein Programm läuft. Und 70 es läuft wie verrückt, würde eigentlich rund um die Uhr laufen, wäre da nicht die Obrigkeit, für die derart luziferische Darbietungen ein Dorn im Auge sind. Also los, ab ins Kino, die Kasse klingelt, man hört manchmal komische Geräusche, lautes Stöhnen dringt bis draussen auf das Trottoir – man kann sich bildlich vorstellen, wie es drinnen zu und hergeht. Das tun die Minderjährigen hier, gucken sich die Bilder in der Vitrine an, voller Sehnsucht, können kaum warten bis sie achtzehn sind, aber da gibt’s kein Pardon, bis dann gilt für sie Handbetrieb und basta. Auch die Damen lehnen sie kategorisch ab, ein ganzer Lehrlingslohn würde auch nicht helfen. Die Langstrasse ist ~ ein Ort der Sehnsucht, war schon immer einer, früher hatten die Italiener das Quartier ~ beschlagnahmt und nannten ihre Beizen Capri, Venezia oder Lido. Orte der Sehnsucht eben, ein bisschen Italianità und Lebensfreude mitten in der strengen Huldrychsstadt, dort wo die Leute so früh ins Bett gehen und wieder so früh aufstehen, und wo man so viel arbeiten muss. Und wo man keine Siesta in der Nachmittagshitze kennt, keine Terrasse, wo man an einem lauwarmen Abend draussen sitzen und plaudern kann. Aussenbestuhlung ? Mamma mia, streng verboten! Gegen zehn Uhr lande ich im Bermuda-Dreieck, der berühmt-berüchtigten Ecke, dem Sündenpfuhl par excellence. Trotz des Winters herrscht hier immer 71 Hochbetrieb, die grellen Neons leuchten wie in Las Vegas, vielversprechend ist das Angebot, Hotels, Sexshops, Massagesalons, Erotikmarkt, rosa beleuchtete Fenster, ~ Vitrinen mit leicht durchsichtigen Vorhängen… alles buhlt laut und farbig um Kunden, aber auch Restaurants, Beizen und Wurstbuden gibt’s. ~ Es hat hier für jeden etwas, egal wie gross der Hunger ist, den man gerade stillen möchte. In der Nähe hat Mae ihren Salon. Mae ist eine schwarze Gazelle, Black Beauty aus Kenia oder Äthiopien oder so. Ihr English ist sehr beschränkt, sie kennt aber die Zahlen bis hundert, dazu alle Sexstellungen auswendig, aber sonst ist eine Konversation mit ihr eigentlich auf Gestik beschränkt. Mae ist geschäftstüchtig, arbeitet hart und spart für ein Haus draussen auf dem Land (Horrorvorstellung für mich!). Ich sehe sie schon vor mir, die Black & White-Idylle: Die schwarze Gazelle kauft sich irgendwo in Glattbrugg oder Dübendorf ein Hüsli, mit Zaun, Geranien überall, Gartenzwergen und Schweizer Fahne. Na Prost! Das bittere Erwachen wird nicht lange auf sich warten lassen. Sie sollte sich auf ein langes, stummes und bewaffnetes Zusammenleben vorbereiten (etwa so, wie Sartre die Ehe sah). Das hält meine Gazelle niemals aus. Man stelle sich Frau Sonderegger vor, mit einer schwarzen Nachbarin, «So öppis gits bi üs nöd!» Und die Nachbarn werden den Duft ihres Affenfleisch-Eintopfes auch nicht schätzen. 72 Aber Mae ist eine nette Person, grosszügig spendet sie Drinks, verschenkt ihre alten Pelze wie andere Socken, bietet jedem was zu essen, kocht und isst im Salon, auf dem Bett. Ein Hauch Afrika. ~ Aber schön ist sie, ein Profil wie Nofretete, oder Grace Jones. Turmhohe Frisur mit farbigen Tüchern, lange Créole-Ohrringe. Exotik pur. Die Kerle aus dem Emmental bleiben gleich stehen. So ein unvorstellbarer langer Hals, solche unendlich langen Beine, so dünn, so wohlgeformt, und das alles schwarz, fast blau, so was gibt’s in Trubschachen garantiert nicht. Schöne Menschen gibt’s überall, klar, aber so eine haben sie noch nie in natura gesehen, höchstens im Pornoheftli, das sie verschämt am Kiosk in Bern gekauft haben und nach Gebrauch unter der Matratze verstecken. Eine Gazelle eben. So nannten die Araber schöne Frauen schon immer. Wenn Mae müde ist und trotzdem Kundschaft da ist, darf ich auch ab und zu aushelfen. Ich wähle aber aus, mit wem ich da im Hinterzimmer verschwinde. Dreier sind eher selten hier, Mae mag das nicht, bei ihr muss es schnell gehen, Business eben. Fast alle Männer wünschen sich mal einen Dreier, wären bereit, viel mehr dafür auszugeben. Auch Doppeldecker sind gefragt, hatte ich auch schon, aber nicht mit Mae. Sie mag keine komplizierte Gymnastik, das ist ihr zu anstrengend, und erst recht mit den grossen, schweren, gut gebauten Kerlen aus dem Mittelland. Reine Zeitverschwendung, findet sie, im Gegensatz zu mir. Zeitdruck kenne ich nicht, ich muss auch nicht ein Hüsli auf dem Land haben. Es kam schon 73 vor, dass sie mehrmals nervös an die Tür klopfte, wenn ich mit einem wunderbaren Schwinger aus dem Toggenburg beschäftigt war und die Hände nicht von ihm lassen konnte, bis er total erschöpft war. Mae ist nicht sentimental, ~ wirklich gar nicht, auch ist sie nicht sexgeil oder ~ nymphomanisch veranlagt. Während ein Mann auf ihr liegt und keucht, schliesst sie die Augen und zählt ihre Moneten nach. Eine Spalte für die Einnahmen, eine für die Ausgaben. Wie viel braucht es noch bis zum Traumhaus? Da kann keine Geilheit aufkommen. Männern scheint diese Haltung mehr oder weniger egal zu sein, sie zahlen, hocken drauf, vergnügen sich und gehen: «Mit so einere wie die da» im Dorf aufzukreuzen wäre ja sowieso undenkbar. Was würde der Pfarrer sagen, oder die Nachbarn? Und erst die Kollegen. So einfach ist das. Schade, dass es so schnell gehen muss, finde ich, vor allem bei extrem gut gebauten Kerlen, Prachtexemplaren, echten Zuchtbullen mit grossem Gehänge, Landschönheiten, riesig, schwer, meistens blond, blaue Augen, makellose Haut, vor Gesundheit geradezu strotzend, aber eben, ich habe den Chreis Cheib nicht erfunden, die Welt auch nicht und erst recht nicht das älteste Gewerbe, seit Eva in den Apfel biss. Ich kann keinen Einfluss auf das Verhalten unbekannter Männer haben. Und auch nicht auf Mae. Vieles könnte man besser machen, ein bisschen mehr Menschlichkeit in diese Kurzbeziehungen einbringen. Ich bin aber nur Zuschauer, ab und zu Profiteur, deshalb erspare ich ihnen meine 74 Kommentare und gebe mich zufrieden mit dem, was ich kriegen kann. Und das ist nicht wenig. Das Reservoir um Zürich ist schier unerschöpflich. Bei Mae scheint das Geld einfach so reinzutropfen, Goldregen sagt sie: «It’s raining gold in this town!». Ihr Laden läuft wie verrückt. Man müsste fast eine Drehtür einbauen. Müsste sie nicht ab und zu schlafen, würde es sich noch besser rentieren. Die Mieten hier sind horrend, jeder verdient mit. Ich dachte auch schon darüber nach, am Wochenende hier eine Schicht einzulegen, um sie zu entlasten, und so noch mehr Spass am Wochenende haben, vor allem im Winter. Aber die Vorstellung, plötzlich meinem Finanzchef, klein, rund und kahl, oder dem Pfarrer, jung, gross und schön, in dieser Aufmachung gegenüber zu stehen, wäre mir doch zu peinlich. Ist mir auch schon passiert, dass in einer Bar plötzlich der nette, brave Familienvater, Buchalter im Büro nebenan, mir gegenüber steht und heftig mit einem Exotic Girl flirtet, da habe ich mich einfach diskret aus dem Staub gemacht. Nicht, dass es mir peinlich gewesen wäre, eher umgekehrt, aber ich hätte seinen fragenden Blick im Büro nicht mehr ertragen können, seine Bedenken kann ich mir auch gut vorstellen… wird er ausplaudern, oder nicht, wer weiss es schon… Genieren muss ich mich deswegen noch lange nicht, denn ich werde dafür bezahlt, Ideen zu bringen und zu verwirklichen. Also für meine Kreativität. Wenn diese Nummer hier, das Schauspielern, Improvisieren, Sich75 selbst-darstellen und Verstellen, Rollentauschen und so weiter, nicht kreativ ist, was denn sonst! Umgekehrt gibt es in der Oper Männerrollen, die von Frauen besetzt werden, die sogenannten Hosenrollen, die gelten als höchst schwierig, nicht nur der Stimme wegen. Nun, ich will kein Theater und auch kein Operndrama, besser verschwinden und Schwamm drüber. Ich werde auch niemanden erzählen, was ich da alles gesehen und gehört habe. Die Welt ist schon verlogen, aber da kann man nichts machen. Erlebnisse behalte ich für mich. Intrigen gibt es schon genug im Büro. Aber man sieht, selbst im Undercover ist der Mensch nicht unsichtbar und es gibt viele Leute, die ein ausgesprochenes Talent für Physiognomie besitzen, da nützt die Verkleidung überhaupt nichts. Barleute zum Beispiel, oder Taxifahrer, oder alte Prostituierte, die besitzen so was wie einen Radarblick. Sie haben so viele Menschen kennengelernt, gesehen, gehört und gemustert, dass sie durch einen hindurchsehen, dank einer Art sechsten Sinns. Diese Menschen sehen hinter die menschliche Fassade, durchschauen einen schnell, ein Blick genügt, ein Lächeln, eine Bewegung und schon läuft bei ihnen die innere Kartei, vergleicht, errechnet, evaluiert und findet blitzschnell, was sie sucht. So eine Art Déjà-vu-Effekt. Bekannt, unbekannt, die Grenze ist schmal und durchlässig. 76 Dass ich seit einiger Zeit mit Mae und anderen Damen befreundet bin, liegt einerseits daran, dass ich sie um ihre vielen geilen Männer beneide, dies obwohl ich weiss, dass sie nichts daraus machen. Die schönen Männer interessieren sie überhaupt nicht. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich sie als Mensch verstehe. Sprachlich sind sie gewiss nicht sehr begabt, aber es kommt viel rüber. Ihre Welt ist durchschaubar, einfach gestrickt, pendelt zwischen Glanz und Misere hin und her, from the Ritz to the Pits sozusagen. Der alte Traum vom grossen Geld, schnellen Geld, die meisten von ihnen haben das Gefühl, dass die momentanen Erfolge weitergehen werden, Euphorie macht blind, das weiss jeder. Denn die Konkurrenz ist immer da, während sie Tag für Tag, Jahr für Jahr älter werden, wird die Konkurrenz immer jünger, hübscher, exotischer und zahlreicher. Oft geraten sie ausser Kontrolle. Mae zum Beispiel trinkt manchmal über den Durst und hat sich dann nicht mehr im Griff. Sie taucht in einer Bar auf, poltert herum, schreit Männer an, beschimpft Unbekannte, wirft Gegenstände um sich, danach heult sie. Die Gäste lachen, wenige zeigen etwas Mitgefühl, die Barleute versuchen sie zu beruhigen, sie solle nach Hause gehen, aber sie will weiter trinken und ihren Kummer im Suff vergessen. Man kann ihr auch nicht helfen. Woher diese Krisen kommen, weiss ich auch nicht, aber vermutlich hat sie Schlimmeres durchgemacht, denn diese Wut kommt nicht von ihrer Arbeit hier. Die Männer, die 77 sie hier bedient sind alle nett und respektieren sie, sie sind distanziert zwar, kalt, aber immer korrekt. Arme Mae denk ich manchmal, wenn sie so weitermacht wird sie ihr Hüsli wohl nie kaufen können. Es wird ihr Traum bleiben, ein Traum vom Familienglück, mit Ehemann und Kindern, einfach und bieder. Aber eben, jeder weiss, aus welchem Stoff diese Art von Träumen sind. 78 Samstag So gegen zwölf ist die Hölle los im Chreis Cheib. Denn selbst am Samstagabend machen die meisten Buden dicht um diese Zeit in der Huldrychsstadt. Alles strömt auf die Strasse, will noch was erleben, irrt durch die eisigen Gassen, steht in der beissenden Kälte herum, sucht vergeblich noch eine offene Beiz, um ein letztes Glas zu trinken. Aber die Bars mit Verlängerung sind rar und teuer. Die wenigen, die länger offen haben dürfen, betreiben eine skandalöse Preispolitik. Da kann es gut vorkommen, dass man für ein Mineralwasser zwanzig Franken bezahlen muss. Ein Büezer müsste dafür eine Stunde lang hart arbeiten. Da wird brutal abgezockt, eine direkte Konsequenz der restriktiven Gesetze im Gastgewerbe. Astronomische Preise und Gewinne kann man hier ~ mit einem Nachtclub erzielen, ich habe mal ausgerechnet, was drei Deziliter Quellwasser im Einstand kosten, im Verhältnis zum Endpreis, Faktor Tausend garantiert, astronomischer Mehrwert eben, es wird einem schlecht. Aber eben, Träume haben keinen Preis. Restriktiv bedeutet rar, und rar teuer, künstlich verteuert zwar, aber fast nicht bezahlbar für Normalsterbliche. Das wollte die Obrigkeit hier schon immer. Als vor zweihundert Jahren die Franzosen in Zürich einmarschierten, war die Hölle los. Die waren entsetzt, hier gab es kein Theater, kein Musical, kein Bordell, keine Cafés dansants, keine Strassenbeleuchtung, Couvre79 feu um acht Uhr, ora et labora, Punkt Schluss. Sie fackelten nicht lange, Obrigkeit hin oder her. Schnell wurden erst ein Theatersaal, dann eine Konzerthalle und eine Art Musical aus dem Boden gestampft. Die hübschen Damen, die bis dahin das älteste Gewerbe der Welt im Dunklen und unter ständiger Angst vor dem Gefängnis betrieben, liefen plötzlich mit farbigen Kleidern und gefärbten Haaren herum, ausgestattet wie Prinzessinnen. Was musste das für ein Anblick unter den Laternen der neuen Strassenbeleuchtung gewesen sein! Cafés, Restaurants und Bistros wuchsen wie Pilze nach einem Sommerregen, blieben weit nach Mitternacht offen. Das junge Volk vergnügte sich mit der Soldatesque wie nie zuvor, die Obrigkeit zeigte sich entsetzt, die Bigotten flehten, der Himmel möge dieses Ungeziefer vernichten, aber es passierte nichts. Bis Napoleon Bonaparte weiter zog und mit ihm die Grande Armée – es gab ja noch viel zu tun – und so fiel die Euphorie wie ein verschmähtes Soufflé in sich zusammen. Ruhe und Ordnung kehrten wieder ein, die Kirchen waren wieder voll. Die sündige Zeit war überwunden. Aber die Strassenbeleuchtung und die Hausnummerierung blieben, auch das Theater und der Konzertsaal wurden weitergeführt. Das Volk hatte die Spassgesellschaft und die Kultur entdeckt. Und fortan wurde es für die Obrigkeit immer schwieriger, ihre strengen Regeln durchzusetzen. Sie wurden immer wieder durch List und Tricks umgegangen, der Drang nach Vergnügungen aller Art blieb bis heute erhalten. 80 Das heutige Couvre-feu an der Langstrasse ist ein Segen für mich, so gegen Mitternacht mach ich mich auf den Weg. Da fällt mir das alte Lied von Régine ein: «J’suis qu’une souris, gueule de nuit et je vais je viens je passe, passe…» (in etwa: bin ein Mäuschen nur, ein Nachtgewächs, ziehe um die Häuser, husch! fort bin ich). Heute gibt’s in der Paulus-Bar eine Arrivage von jungen Girls aus praktisch allen Herrenländern, Fresh meat for the market. Die Aufregung ist gross, die Nachricht macht die Runde. Deshalb gibt es eine Warteschlange an der Tür, so um Mitternacht. Männer wollen unbedingt sehen, wie die Neuen aussehen. Die Mädchen werden nacheinander auf dem Podium präsentiert, tanzen ein bisschen, ziehen sich mehr oder weniger motiviert oder kunstvoll aus und verschwinden. Die Männer werfen gierige Blicke auf sie, treffen ihre Wahl, zuerst im Kopf, irgendwann werden sie der Auserwählten ein Piccolo offerieren, in der Hoffnung endlich mal zum Zug zu kommen. Aber meistens kommt es nicht dazu, entweder ist das Girl am Ende zu müde oder zu betrunken, um irgendwas anfangen zu können, oder er ist stier und dazu noch blau(!). Die Kombination ist nicht gerade ideal. Und so träumt man weiter: «Die Nächste bitte!» An der grossen Bar sind nur ‹patentierte Girls› zugelassen, aus Angst vor der Konkurrenz, die sich da draussen den Arsch abfriert und sich die Füsse platt läuft. Erfrierungsgefahr. Die Damen kommen auch gerne mal rein, um sich zu wärmen, was zu trinken… schauen sich 81 ein bisschen um… Schwupps! Sie schnappen sich einen geilen Gaffer. Schon ein Freier weniger für die Girls an der grossen Bar, ein Big Spender weniger für die PaulusBar. Das geht aber Sonja, der Chefin, zu weit. Wehe sie entdeckt die Machenschaften der ‹Auswärtigen›: «Raus mit euch, aber schnell!», da ist Sonja nicht gerade zimperlich. In der Ecke neben dem Eingang gibt es zum Glück eine kleine, diskrete Bar für diejenigen, die nicht so betucht sind oder kein Interesse am Markt haben. Dort ist mein Stuhl quasi reserviert, stillschweigend sozusagen, jeden Samstag ab Mitternacht. Aber nur während der Wintersaison. Wir alle sind Habitués hier, kennen die Mony, die dicke Barmaid, kennen uns auch untereinander, es ist immer lustig hier. Drüben wird getanzt, animiert, gehofft, gelogen, gegafft, dort wird gekauft, verkauft, es geht zu wie auf dem Gemüsemarkt. Hier hingegen wird gelacht, diskutiert, geraucht, aber auch geflirtet und gebaggert, und zwar tariffrei! Nur die Sympathie zählt, mir ist das recht. So sind wir ein bisschen wie eine Familie, sind unter uns. Der schöne Heiri ist oft da um diese Zeit, er muss aber immer wieder nach draussen gehen, um sein Revier zu kontrollieren, kommt manchmal erbost wieder rein, oder auch mal zufrieden, seine Cohiba im Mundwinkel, paffend, verschmitzt und immer elegant, ganz in weiss und klar, mit Föhnfrisur. Im Schnee ist er fast unsichtbar, so kann er unbemerkt sein Reich besser überwachen. 82 Gegen eins platzen Walti und Jules herein, setzen sich erst mal an die grosse Bar. Eine Traube exotischer Girls stürzt sich auf Walti, der Champagner fliesst, alle trinken, prosten sich zu. Jules’ grosse Hand fasst ein Thai-Girl am Po, seine Pranke knetet den schmalen Hintern wie zwei frische Semmeln. Heute scheint er gut gelaunt zu sein. Nach einer Weile steht Walti auf und kommt auf mich zu mit einem Glas Champagner: «Na Prost! du geili Sau – gliichfalls Walti, vieux cochon». Jules schaut amüsiert zu, weiss nicht so recht, ob er zu uns kommen soll oder nicht. Walti gibt ihn endlich ein Zeichen, Jules umarmt das Tiny Girl(,) und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Er nimmt die Flasche aus dem Kühler, nimmt ein Glas und kommt zu uns. Jules grüsst mich diesmal herzlich, Küsschen, Küsschen. Was ist los mit Jules, ist er betrunken? Kaum… er ist einfach glücklich, ich merke dass er mächtig geil ist, wie immer. Das Thai-Girl hat er schon gehabt, ist ja nicht schwierig mit Walti als Mäzen im Rücken. Walti erzählt verrückte Geschichten. Es scheint etwas zu laufen im Moment im Chreis Cheib, die Polizei ist vollauf beschäftigt. Die Unterwelt ist immer einen Schritt voraus, die Polente hinkt hinterher. Mal gibt’s Krach bei den Hell’s Angels, mal zwischen den Zuhältern oder Drogenhändlern, es gibt auch Streit in den illegalen Bars, die sich in letzter Zeit wie Ratten in Kellern vermehren. Jules diskutiert mit Walti und drückt seinen Oberschenkel gegen mein Bein. Da ist was los. Ich bin schon am hirnen, 83 was ich mit dem Ding heute Nacht alles ausprobieren möchte. Walti hat schon gemerkt was zwischen uns abläuft. Ist ihm auch recht, denn er weiss, dass er seine Ration bekommt, wenn er will. Kaum zu glauben, was die beiden Männer für Sachen erleben in der braven Huldrychsstadt. Miami ist nicht mehr sehr weit. Leichen gibt’s da, Mord und Totschlag, Menschenhandel, Drogenhandel, das Quartier ist ein Umschlagplatz für gestohlene Autos geworden, Spielhöllen werden jede Woche geschlossen, neue eröffnet, so ergeht es auch den illegalen Bars und Tanzpartys: Eröffnungen, Razzia, Schliessung, Neueröffnung, ein Katz-und-Mausspiel ohne Ende. Walti und Jules sind auf dem Laufenden, Jules kennt die Akten, Walti die implizierten Leute persönlich. Das Duo ist eine Art James Bond mit zwei Gesichtern, Dr. Jekyll & Mister Hyde. Aber Jules sieht viel besser aus als der richtige James Bond, finde ich, der ist nicht so gross, hat nicht so schöne Augen und garantiert nicht so einen Hammer in der Hose. Ich würde auf keinen Fall tauschen, berühmt hin oder her. Und heute sowieso nicht, denn mein Bond hat seine Geheimwaffe bereits entsichert. Walti lacht als er die gruseligsten Mordsgeschichten erzählt, die letzthin passiert sind. Jules merkt, dass es mir langsam(er) schlecht wird, umarmt mich und drückt seinen Schenkel noch fester gegen mein Bein, Zeichen seiner Anteilnahme und Mitgefühl. 84 So gegen zwei, nach der zweiten Flasche Champagner, will Walti unbedingt in die ‹Hölle› gehen, eine illegale Bar, die kürzlich aufgegangen ist. Der Geheimtipp im Moment. So lande ich, Blonder Engel, flankiert von Erzengel Jules und dem machiavellischen Teufel Walti in der Unterwelt der Huldrychsstadt. Im Auge des Zyklons, im Kernreaktor der Subversion. Ich bin nicht zum ersten Mal hier, aber das wissen die beiden nicht. Ich war schon ein paar Mal alleine unten gewesen, wegen eines schönen, gefallenen Engels, genauer eines Hell’s Angels mit irrsinnig langem, blondem Haar. Von hinten sieht er aus wie die Farah Fawcett, von vorne wie Sylvester Stallone, aber viel besser, ein Prachtkerl. Nun bin ich mit meinen beiden Aussersihl-James-Bond zusammen, auch nicht schlecht für meinen Ruf und meine Sicherheit, wie ich kürzlich feststellen konnte. Die Halbweltdamen, die mir anfänglich feindliche Blicke zuwarfen, als sie mir auf dem Trottoir begegneten, grüssen mich heute mehr als freundlich (so im Stil: also wenn die da mit den beiden unterm Dach ist, da müssen wir wohl im guten Einvernehmen mit ihr sein). Vorher tönte es so: «Du loos, I gseh dich zum letzte Mal daa, kapiert?» Und jetzt so: «Hoi wie häsches, alles ok by dir, schöne Abiig no, gäll!». Ich muss ~ ehrlicherweise zugeben, dass dieselben Damen meine Browning auch mal von ganz Nahe gesehen haben, genauer gesagt, zwischen den Augen. Aber eben, man merkt sofort den Unterschied zwischen vorher und nachher. 85 So und jetzt zurück zur Hölle. Wenn man mir damals in meiner Dorfkirche erzählt hätte, dass die Hölle so geil aussieht, hätte ich garantiert keine Minute mehr auf dem Beichtstuhl verloren und all die vermeintlichen bösen Sünden runtergespült, nur um den armen Vikar zu schockieren. Die Hölle hier ist ein Paradies für mich, die schönsten Girls sind da, die geilsten Männer auch, alles was Rang und Namen hat kommt hier vor um Duft der grossen, weiten… Unterwelt. Bankbosse zum Beispiel, berühmte Künstler auch, und vor allem die ganze Füdliprominenz. Alles trifft sich hier, nicht im Himmel sondern in der Hölle. Das hat keinen Preis, deshalb kostet die Flasche Champagner hier so viel wie im Moulin Rouge, aber was soll’s? Die Stimmung ist fantastisch, die Musik sehr laut, West Coast Rock, Eagles, Rod Stewart oder ähnliches. Die Klimaanlage fehlt, es riecht nach Motoröl, Tabak, Schweiss, Shampoo und Haarlack. Die Farah-Fawcett-Frisur ist auch da, Indianerstirnband, breitbeinig, mit Ledergilet und nackten, tätowierten Armen, und das mitten im Winter, brrrr! Er denkt wohl er sei in Arizona, auf der Route 66. Er trinkt Bier, scheint zufrieden mit sich und der Welt zu sein. Ein kaum bemerkbares Augenzeichen gibt er mir, sein Budweiser nippend, seinen Zahnstocher kauend. Warum sollte er sich bemühen, er weiss ja das er unwiderstehlich ist, für mich zumindest. Was für eine Erscheinung, direkt aus dem Gigolo-Katalog von Beverly Hills würde man denken, Breeder, sagen die Amis, so was wie Zuchtbulle. 86 Der Olie ist wirklich ein Prachtexemplar seines Genres. Arbeiten tut er nicht, er fährt herum auf seiner Harley, trifft sich mit anderen Kumpels, schläft mit den geilsten Chicks – oder lässt sich von mir diskret in der Besenkammer bedienen – stärkt seine Muskeln und föhnt seine Frisur. Ab und zu spielt er den Türsteher an Konzerten oder Veranstaltungen aller Art. Das reicht ihm als Lebensinhalt, für den Moment allenfalls, was will man da mehr. Recht hat er, denn Haare fallen aus, Bäuche werden dicker, Hüften müssen operiert werden, und fertig ist die Parade. Deshalb soll man den Tag geniessen, wie er kommt – carpe diem – und sich nicht den Kopf zerbrechen, was morgen sein könnte. Genau das tu ich jetzt mit Jules und Walti, eher mit Jules natürlich. Der spricht jetzt plötzlich viel, er ist ein netter, aufgestellter Kerl, hätte ich nie gedacht nach unserer letzten Begegnung, die mir einen bitteren Geschmack hinterliess. Jules ist nicht dumm, er ist nur vorsichtig wie sich herausstellt, er möchte seine Karriere mit Hilfe von Walti etwas beschleunigen. Daher seine reservierte Art in der Öffentlichkeit. Zuerst dachte ich, er sei so was wie ein Roboter, Waltis Hampelmann sozusagen. Ist er gar nicht, Walti ist beeindruckt von ihm, überzeugt von seinem Talent. Er ist wie ein Vater für ihn – etwas pervers vielleicht, aber doch väterlich auf seine Art. Die beiden sind auch Tag und Nacht zusammen. Jules war jung verheiratet, hat ein Kind, hat sich aber scheiden lassen, ist nur für seinen Job da. Tag und Nacht. Er weiss, was er 87 will, und das ist nicht wenig. Mit Walti im Rücken kann nichts schiefgehen. Farah läuft an mir vorbei mit einer Kiste Bier, blinzelt diskret mit den Augen und macht eine kaum bemerkbare Kopfbewegung. Kurz drauf entschuldige ich mich bei Walti, der mit Jules diskutiert, ich muss mal… Die Tür der Abstellkammer ist gleich neben dem Eingang zur Damentoilette. Sie ist nicht ganz zu. Ich verschwinde diskret im Kellerabteil, Farah legt die schwere Bierkiste auf ein Gestell und lässt gleich seine Hose runter. Ich knie nieder, öffne sein Gilet und spiele mit seinen kräftigen Titten, während meine flinke Zunge und mein Mund sich an seinem harten Glied vergnügen. Ich stehe auf und lecke seine makellose Brust, seinen Bauch, streichle seine lange, blonde Mähne, die nach Heu riecht (L’Oréal?), hhhm ich schliesse die Augen und male mir aus, wie schön Olie auf dem Heuhaufen aussehen würde… seine muskulösen Beine in die Luft gestreckt. Hä, ja ich träume, heute muss es schnell gehen, wir wollen nicht zu sehr auffallen. Hier kann ich nicht die ganze Nummer mit Olie durchziehen, aber nächste Woche kommt er vorbei, versprochen. Ich lasse Olie mit flatternden Knien bei seiner Bierkiste stehen und verschwinde diskret auf der Damentoilette. Als ich frisch und munter wieder zu Walti und Jules zurückkehre, lächelt Walti etwas zynisch (Zweifel, Vorwurf, Neid?), irgendwas hat sich in seinem Gesicht 88 verändert. Jules ist gleich wie vorher, seine Hand umfasst jetzt meine Taille, sein Bein drückt noch fester gegen meinen Rücken, ich spüre seine Kraft direkt an mir. «Schön gsii, hätt dir de Olie ä Linie gäh, häsch ihm eis blaaset?», fragt plötzlich Walti laut lachend… Meine verdutzte Mine beeindruckt ihn nicht: «Ich weiss scho, dass du de Olie kännscht, isch es geil gsii?». Da komm ich nicht einfach so weg, ich wusste ja das Waltis Ohren lang sind… ja sag ich, oh ja, Olie ist ein toller Kerl, wir haben schon öfters was gehabt miteinander, aber jeder hier weiss, dass ich keine Cokenase bin, wenn schon eher ein Dieselmotor – Nuttendiesel sagt man hier für Champagner. Jules klopft mir auf den Rücken, irgendwie ist er geschmeichelt, weiss nicht genau, warum. Der Olie ist eben ein geiler Typ, Jules sieht ja seine Chicks und würde sicher nicht nein sagen. Plötzlich flüstert er mir ins Ohr: «Jetzt bin iich aber draa, gäll!». Aber noch so gerne Jules, nur nicht hier in der Hölle, sondern bei mir im Bett, im Himmel. So landen wir gegen vier Uhr morgens, Walti, Jules und ich, in meiner Wohnung. Walti sitzt auf dem Sofa, schläft bald ein, schnarchend, sein Kinn stützt sich auf den Bauch. Ich stelle meinen Paravent vor ihn hin, lösche das Licht im Wohnzimmer und lasse die Schlafzimmertür offen, Jules legt sich nackt aufs Bett, ist schon total erregt. Sanftes Licht fällt von den dunkelroten Wänden, hinter uns ein grosser Goldspiegel, Jules’ Körper ist wunderschön, noch nie hatte ich ihn so gesehen. Ich bin 89 gerührt, er voller Erwartung, voller Kraft und Energie. Wir lieben uns zum ersten Mal in einem richtigen Bett, in einer schönen, geborgenen Umgebung, Jules ist ein fantastischer Liebhaber, Walti hat plötzlich aufgehört zu schnarchen. Die Nacht wird lang. 90 Sonntag Walti und Jules sind verschwunden, als ich so gegen Mittag erwache. Nur die Parisienne-Zigarettenstummel zeugen davon, dass ich nicht geträumt habe. Jules war wirklich da. Draussen im Park schneit es, ich werde wohl den ganzen Tag im Bett verbringen und mich ausruhen. Morgen geht’s wieder los. Lebewohl Abenteuerleben, Partys und Ausschweifungen und Expedition in die Unterwelt. Der harte Alltag hat mich wieder. Heute also Ruhetag. Sonntag war immer heilig in der Huldrychsstadt. Beizen, Gaststätten und Restaurants machen dicht. Und das ausgerechnet an dem Tag, wo die Leute Zeit hätten ausgiebig zu essen und zu feiern, wie in Frankreich oder Italien, aber auch im Welschland, wo man den ganzen Tag am Tisch sitzt, isst, trinkt, plaudert, lacht und sich des Lebens erfreut. Nicht so hier. Ruhetag stand mal vor unseren verdutzen Augen an der Tür des Ausflugsrestaurants, das wir nach dreistündiger Wanderung erreichten, durstig, hungrig, erschöpft: «Ruhe! Geht euren Weg, es ist Sonntag, der Tag des Herrn!». Nun, aus meinem Ruhetag wird halt ein Bildungs-und-Schreibtag. Meine russischen Bücher sind auf dem Bett verstreut, ich lege Boris Godunow auf, eine vierstündige, schwermütige Oper. Die tragische Geschichte Russlands, der verrückte Zar, Kindsmörder und Despot, die bösen Hofintrigen. Die riesigen Chöre, die schrägen Töne, die Melancholie der russischen Seele 91 passen gut zu diesem verschneiten Sonntag. Das Dekor ist bereit, Russland liegt da draussen, im Park, wir schreiben das Jahr 1598. Das Volk hungert, die Kinder betteln. Vor nicht einmal drei Wochen war ich in der CCCP, der Sowjetunion. Der Newski Prospekt lag im Schnee, menschenleer, grösser und schöner als die ChampsElysées, flankiert von schrillen, pastellfarbigen Palästen und bizarren Zwiebelkirchtürmen. Die Zarenstadt wirkte im Dämmerlicht, unter einer dicken Schneedecke, wie eingeschlafen. Alles stand still, kein Auto, kein Restaurant. Man hatte das Gefühl, alles sei noch wie damals, 1941, während der deutschen Belagerung, man merkt: Russland leidet immer noch. Morgen fahren wir mit dem Nachtzug nach Moskau, zum Bolschoi Theater. Ich hatte Boris Godunow bereits in der Wiener Staatsoper gesehen. Wir vor dem Stephansdom, fantastische, irreale Architektur, wie mit Puderzucker übergossen. Der eisige Wind fegt um die Kathedrale, wir beeilen uns Richtung Oper, in dicke Mäntel eingehüllt. Das riesige Foyer, die festlichen Gäste. Dann steigt leise die traurige Ouvertüre auf, wie eine Klage, die Klage des russischen Volkes im Tal der Tränen… Zum Glück ist das Leben hier nicht so problematisch und triste wie in Russland. Heute ist es zwar trüb und kalt draussen, Schwermut kommt auf. Trotz allem herrscht ~ eine gewisse Freiheit, wir leben im Überfluss, können uns frei bewegen und denken. Das darf man nicht vergessen, es gibt andere Menschen, denen es viel schlechter geht. 92 Deshalb wird morgen wieder in die Hände gespuckt und ab zur Arbeit. Die Motivation hält sich zwar in Grenzen. Nach einer so aufregenden Woche – die eigentlich als Ruhezeit vorgesehen war – fällt es mir nicht leicht den alten Rhythmus wieder zu finden. Aber da kann man nichts machen, ich muss mich damit abfinden. Doch im Moment gilt, zurück nach Russland, eintauchen in die Geschichte, umhüllt von der schwermutigen Musik. Draussen schneit es, es gibt kaum Tageslicht, alles ist grau, ruhig, still, warm. Zeit zum Nachdenken. Meine Schreibmaschine klappert, schnell muss das Erlebte auf dem Papier fixiert werden, bevor es aus meinem Gedächtnis entschwindet. Denn nichts ist so launenhaft und trügerisch wie unser Gedächtnis. Jeder kennt diese Erfahrung, man bespricht mit einem Freund ein längst vergessenes Erlebnis und stellt fest, dass beide Versionen völlig auseinander klaffen. Erst wenn man mühsam die Bruchstücke zusammenfügt, wird das Erlebte wieder korrekt wiederhergestellt. Unser Gedächtnis arbeitet selektiv, wählt aus, verdrängt, hebt hervor, was es gerade für interessant, wichtig oder unerwünscht hält, und das ändert sich ständig. Im Unterbewusstsein. Also traue deinem Gedächtnis nie! Die weissen Blätter füllen sich, mein Tagebuch ist bald zu Ende, der Tag geht, die Nacht bricht herein. Es war ein Tag voller Geschichten, meiner kleinen Geschichte und der grossen Geschichte, der Weltgeschichte. Die Oper hat mich den ganzen Nachmittag begleitet, inspiriert, meine Lektüren vertieft, 93 ein virtuelles Dekor für meine Schreibarbeit gegeben. Boris Godunow wäre im Sommer absolut unerträglich, zu dissonant, schräg und pessimistisch. Aber an einem kalten, verschneiten Wintersonntag dagegen, gibt es nichts Schöneres als die melancholische Klage des russischen Volkes zu hören und sein Leid zu teilen. Ich sammle die Blätter, hefte sie zusammen und lege sie erstmal im grossen Bildband über Leningrad ab. Irgendwann werde ich meine Abenteuer wieder zur Hand nehmen und vielleicht, wer weiss, mit etwas Distanz neu redigieren, falls die Geschichten mir dann überhaupt noch gefallen. 94 Epilog Nachdem ich die kleine, braune Agenda und das Manuskript wieder geschlossen hatte, sinnierte ich lange über Nostalgie, Vergangenheit, Zeit und Erinnerungen nach. Sollte ich meine Tagebücher, Fotos und Texte als wertvolle Erinnerungsstütze behalten, oder alles vernichten? In süssen Erinnerungen schwelgen, über traurige Erlebnisse nachdenken oder doch lieber Tabula rasa mit meiner Vergangenheit machen? Etwas verbittert stellte ich fest, dass all diese aufregenden Momente, diese schönen Menschen, diese einmaligen Augenblicke heute sehr weit weg von mir sind. Übrig bleibt allein der diffuse Schmerz, die Gewissheit, dass die unwiderstehlichen Verführer von damals heute mit Bauch und Glatze herumlaufen. Vielleicht ergeht es ihnen auch nicht anders als mir. Vielleicht sind sie auch ab und zu traurig, deprimiert, denken über ihre Vergänglichkeit nach. Erinnern sich an schöne Erlebnisse. Sie trauern vielleicht ihrer verlorenen Jugend nach, trösten sich an ihren Kindern, ihren ähnlich aussehenden Söhnen. Vielleicht bin ich auch einem von ihnen begegnet, vor ein paar Tagen, als ich plötzlich diesen unerklärlichen Déjà-vuEffekt spürte, der mich in eine melancholische, ja unerklärliche, depressive Stimmung versetzte. All die schönen Bilder erinnern an längst vergangene Eroberungen, die übrigen lassen traurige Erinnerungen wieder hoch kommen. Orte und Fotos können sich auch für lange einprägen. Jedes Mal wenn ich am Haus meiner 95 ehemaligen Schlummermutter vorbeifahre oder vor der alten Eichenholztür stehe, wird es mir schlecht, so tief sitzt meine damalige Hoffnungslosigkeit noch in mir drin, so tief der Hass. Ob ich die Tür als Erinnerungsstütze benutze oder all die Fotos, es kommt nicht darauf an. Nach so vielen Jahren, ob nun schöne und hässliche Erinnerungen, leiden tut man gleichermassen. Vergangenheit ist Gift für die Seele, denk ich, nur die Gegenwart zählt. Nostalgie ist eine Krankheit, ein Leiden, das man sich selbst freiwillig zufügt, eine Wunde in der man lieber nicht stochert. Also entschloss ich mich zu einem Waldspaziergang am Uetliberg. Ich nahm meine mp3-Musik mit, so wird mich Boris Godunow durch die Schneelandschaft begleiten. Der Himmel war grau verhangen an diesem Spätsonntagnachmittag. Im Wald lag tiefer Schnee. Kurz vor der Dämmerung kam ich an einer Lichtung vorbei, von wo aus man die Stadt überblicken konnte. Ein Lichtermeer begann zu funkeln, eine Stadt voller Bars, Clubs, Lounges, schöner Menschen, die sich dort bald treffen und lieben würden. Eine Stadt voller vernetzter Männer und Frauen, die nun nicht mehr nur in Bars, sondern sich auch im Internet treffen und chatten. Ich zog die kleine Agenda und das Manuskript aus der Tasche, zündete eine Seite nach der anderen an. Ein kleines Feuer loderte kurz im kalten, dunklen Wald, ich warf die Polaroidfotos dazu und sah wie meine 96 Vergangenheit langsam im Feuer aufging. Mit jedem Blatt, jedem Foto fühlte ich mich leichter, ruhiger. Morgen werde ich einen runden Geburtstag feiern. Von diesem Ritual werden meine Freunde nie etwas erfahren. Wir werden feiern und lachen und trinken, als wäre nichts geschehen. Diese Vorstellung beruhigte mich, tröstete mich über den Verlust hinweg. Stille kehrte wieder ein in der Waldlichtung. Und Ruhe auch zu mir zurück. Die Stadt glühte auf wie ein Feuerwerk, wie eine Einladung, in sie einzutauchen, zu versinken. Ich verliess den eisigen Wald und kehrte meiner Vergangenheit den Rücken. Übrig blieb nur noch etwas Rauch und Asche im nassen Schnee. 97 98 «Wo sind Sie alle geblieben? Wo sind die Frauen und Männer, die damals kurz in meinem Leben auftraten? Sind sie noch am Leben, oder schon tot, sind sie krank, alt, verbittert, sind sie gesund und glücklich, sind sie eingesperrt, ausgewandert, verheiratet, haben sie ihr Leben komplett verändert, sich neu orientiert, haben sie mich längst vergessen, oder denken sie ab und zu immer noch an mich?» 99 Charles Héritier-Debons Der Autor ist Romand und lebt in Zürich als Übersetzer und Künstler. Er hat diesen Kurzroman als Erinnerung an seine turbulente Zeit in der Zwinglistadt verfasst und präsentiert somit seinen Erstling auf Deutsch. Der Roman basiert auf einem bereits vorhandenen Drehbuch und weist starke biographische Züge auf. Die Geschichte Während er sich zu hause von einer Grippe langsam erholt, sieht sich der Protagonist gezwungen, etwas gegen eine sich einschleichende Depression zu tun. Er beschliesst, nachts transformiert als Frau, anonym und unerkannt, die Sümpfe der sonst so prüden Huldrychsstadt zu entdecken. Das Erlebte dient als Vorlage für ein Tagebuch, das er dreissig Jahre zufällig später wiederentdeckt. 100