Untertaucht - Roman

Transcription

Untertaucht - Roman
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Charles Héritier-Debons
Untertaucht
Joy im Kreis 4
Ein Anar Cho Sexo SoZio SubVer SiVo SubKul
Tureller BeRicht
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Dank an: Remo Peter, H.P. Bierwirth, Thomas Voelkin
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Huldrych Zwingli (1484–1531). Ulrich oder Huldrych, aus dem
Alt-Angelsächsischen Wulfric (starker Wolf!). Zwingli, der
Geschlechtsname, erinnert irgendwie an Zwinger, kurz der
starke Wolf erzwingt… Der Name als Programm.
1970–1980: die magischen Jahre nach der sexuellen Revolution
und vor der Aidsepidemie
Die Welt im Januar 1980
• Jimmy Carter wird neuer Präsident, Iran hält amerikanische
Geiseln fest
• Chaotischer Gründungsparteitag der Grünen
• Andrej Sacharow wird im Moskau festgenommen
• Erste diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und
Ägypten
• Pink Floyd, Diana Ross, Barbara Streisand und John Lennon
dominieren die Hitparaden
• Der Audi Quattro wird vorgestellt
• Chomeini auf dem Times Cover
• Die Brigate Rosse terrorisieren Italien
• CH-Tauwetter: Im Frühling wird die Sommerzeit eingeführt
• Zürich: Die Jugendrevolte nimmt die Form einer Bewegung
an
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Anfang 2010
Wie jedes Jahr, nach der kollektiven Silvestereuphorie,
entrümpelte ich meine Wohnung. Kleider, Bücher, kurz
alles, was ich nicht mehr brauche, wird verschenkt, landet
gnadenlos in der Kleidersammlung oder auf dem
Flohmarkt. Als ich einen grossen Bildband über
Leningrad in die Hand nahm, fiel eine kleine, braune
Lederagenda zu Boden. 1980 stand darauf in goldenen
Lettern. Dazu gab es noch ein Manuskript sowie einen
Umschlag mit Polaroidfotos. Ich blätterte kurz darin und
alles kam wieder hoch, eine der wildesten Perioden
meines Lebens, und das zu einer Zeit, wo in Zürich
praktisch alles verboten war! Man stelle sich vor, eine
Zeit ohne Partys, ohne Internet, ohne SMS, wie furchtbar!
Aber auch eine Zeit im Aufbruch, eine Zeit ohne Aids.
Anhand der Notizen, Einträge, Texte, Polaroidfotos,
wurde mir erst jetzt bewusst, in was für einer begnadeten
Epoche wir damals lebten.
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Januar 1980
Seit bald einer Woche bin ich krankgeschrieben, Grippe.
Doch richtig krank war ich nur drei Tage. Dafür aber mit
sehr hohem Fieber und Erbrechen den ganzen Tag im
Bett, habe kaum geschlafen, nichts gegessen. Am dritten
Tag hatte ich drei Kilogramm verloren und fing an mich
brutal zu langweilen, depressive Stimmung machte sich
breit. Rumhängen ist Gift für mein Gemüt, bei mir muss
immer etwas laufen. Ich habe einen Brotjob in der
Werbung, spiele in einer Rockband, bastle an meiner
selbstständigen
Karriere,
studiere
daneben
Fremdsprachen. Da sollte es keinen Platz für Langeweile
geben, – eigentlich. Eine Grippe und plötzlich änderte
sich alles. Ich muss die ganze Zeit zu Hause hocken, ich
kann nur auf die Strasse runterschauen und zusehen, wie
die seltenen Passanten durch den Schneematsch waten.
Ich verspüre keine Lust bei diesem Wetter auszugehen
und wäre es nur um im Café mal eine Zeitung zu lesen.
Wenn die Familie weit weg ist und man keinen Partner
hat, ist Kranksein gewiss keine lustige Sache. Es sieht
anders aus, wenn eine liebe Seele sich rührend um einen
kümmert, einen bemitleidet und bekocht. Ist man jedoch
allein auf sich gestellt, dann weht ein anderer Wind, vor
allem dann, wenn man tagelang 39 Grad Fieber hat,
schweissgebadet im Bett liegt, nicht mal Tee kochen oder
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sich waschen kann. Die Hölle. Nun, das Single-Leben hat
auch viele Vorteile, wie wir noch sehen werden.
Krankheit ist einer der vielen Nachteile. Vom
Schlafzimmer aus geniesse ich die schöne Aussicht in
einen Park. Aber auch da sieht es trüb und deprimierend
aus. Die nackten Äste der Bäume tragen eine Eisschicht,
ein riesiger Schneemann steht in der Mitte der
verschneiten Wiese, der vom gestrigen Schneeregen arg
misshandelt wurde. Fussspuren von Spaziergängern und
Hunden ziehen sich quer durch die tristen, grauen Alleen.
Ödnis allenthalben.
Zum Glück habe ich am vierten Tag eine zündende Idee.
Sobald ich aufstehen kann, gehe ich abends aus, in Bars,
Cafés und Striplokale. Und am Tag schreibe ich ein
Tagebuch über das Erlebte. Das wollte ich im Grunde
schon lange, Ideen gab es genug, ich kam aber nicht dazu.
Ich gehe aus in den Kreis 4, von den Zürchern Chreis
Cheib genannt, der ist berühmt für seine Bars, Bordelle
und illegalen Spielhöllen. Es ist ein Sündenbabel. Es gibt
nichts Vergleichbares in einem Umkreis von mindestens
zweihundert Kilometern. Ich schlafe also den ganzen Tag,
und wenn es dunkel wird, putze ich mich heraus und
tauche in die Welt der Sünden, um mich darin
richtiggehend zu suhlen. Ich schlüpfe in eine andere Haut,
ich ändere mein Aussehen, wechsle mein Geschlecht. Ich
tauche unter. Undercover im Chreis Cheib.
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Samstag ~
Es ist kalt und dunkel im Treppenhaus, die Nego-Bar im
Erdgeschoss wird gleich schliessen, ein paar Stammgäste
genehmigen sich noch ein letztes Bier. Dumpfer
Punksound dringt durch die schwere Holztür. Draussen
schneit es, die Luft ist trüb, Autos fahren durch die
Strassen und hinterlassen dicke Rauchschwaden, wie
Raketen. Ich steige die Treppe hinauf und sehe durchs
Fenster die grosse blonde Frau in ihrer SM-Montur, wie
immer, bei jedem Wetter, steht sie am Wochenende tapfer
da, im Lichtkegel derselben Strassenlaterne, wie eine
laszive Statue sieht sie aus, eine Madonna der Lust. Ein
schwarzer BMW hält an, die Fensterscheibe senkt sich…
gegenüber blinkt, grell-violett, der Neonschriftzug eines
Hotels, das als Absteige dient. Es schneit über den Chreis
Cheib in dieser kalten Januarnacht. Mitternacht ist längst
vorbei.
Walti folgt mir keuchend, sein Gebiss gibt komische
Geräusche von sich. Walti hat zuviel getrunken, wie
immer um diese Zeit, meist Whisky. Der Altkommissar
der Polizei wurde letzthin ausrangiert, aber irgendwie
steht er immer noch im Dienst. Die Treppe riecht nach
kaltem Rauch und Putzmitteln. Unterm Dach ist es noch
kälter als draussen. Das grelle Neonlicht des Hotels belebt
die graue Farbe der alten Holzwände. Der Lack fällt ab,
grau mischt sich mit violett, hübsches Bild, aber ziemlich
kaputt, destroyed halt. Das Parkett knarrt und klagt, als
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Walti endlich oben ankommt. Schnell die Schlüssel, das
Zimmer ist sicher schön geheizt. Ich will rein. Walti sucht
im Dunkeln,
flucht
und
findet
den
alten
Gusseisenschlüssel erst, nachdem er alle Taschen
mehrmals durchsucht hat.
Verdammt, los, mach mal, ich ziehe nervös an einer
Zigarette, werde ungeduldig: «Los Walti, mach endlich!».
Ich möchte eigentlich abhauen. Aber versprochen ist
versprochen. Das Szenario ist immer das Gleiche. Das
klassische, ewig wiederkehrende Dreieck der Begierde.
Amours impossibles. Wir sind nicht drei sondern vier.
Walti will mich haben, aber er kann nicht mehr, ich will
Jules, seinen Detektiv, aber er steht auf sehr junge
Mädchen und will Sandy vögeln, das zugedröhnte
Strichmädchen. ~ Ein komischer Deal ist das, aber nun,
selbst ich kann etwas Geld brauchen, ab und zu, und Jules
will heute unbedingt ficken. Walti will zusehen, das
Mädchen braucht Geld um ihr Zimmer unterm Dach zu
bezahlen. Ein Reigen der Begierde, der Gelüste und der
Gier. Ein wirtschaftlicher Kreislauf im Grunde.
Wirtschaftlich ~ schon, aber zynisch. Walti sorgt auf
einmal für uns alle. Heiliger Walti, ich verspreche dir,
wenn du mal tot bist, werde ich eine Flasche Johnny
Walker auf deinem Grab um Mitternacht halbleer trinken
und mit dem Rest ein loderndes Totenlicht entzünden. Na
Prost Walti, du alter Sack, du Kumpel! Doch jetzt möchte
ich aber erstmal dem schönen Jules eins blasen. Alle
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Meinesgleichen wollen das auch. Ist ja ein Prachtskerl.
Jetzt kriege ich ihn endlich dank dieser Pirouette. Walti
hat das arrangiert. Er kann nicht mehr und will doch
immer noch, tja, also wurde er Voyeur und manchmal
auch Soupeur, je nachdem, wer da ist. Das ist nichts
Neues, so liefs schon immer. ~ Lüstern, schlabbernd,
wichsend womöglich, aber das Bild will ich mir eh nicht
ausmalen. Horrorvorstellung! Blackout!
Das kleine Zimmer ist angenehm warm, sauber, fast leer.
Aus dem Radio ertönt Michael Jacksons süsse Ballade
Out of my Life. Eine winzige Lampe erhellt die Ecke
hinterm Bett. Ein rosa T-Shirt liegt darauf. Das Licht ist
warm, diskret und einladend. Ein alter Goldspiegel glänzt,
sanft schimmernd, an der Wand über dem Bett. Das Bett
finde ich eher klein und… es ist bereits besetzt. Eine
Gestalt liegt da. Sandy, das Strichmädchen, schläft im
Suff, zugedröhnt, vollgepumpt, aber irgendwie friedlich,
zufrieden. Ein hübsches Punk-Girl. Jetzt verstehe ich
Jules besser. Sandy trägt ein T-Shirt auf dem «Fuck»
steht. Sie meint wohl fick dich, oder fick die Welt. Aber
gefickt wird heute sie, Sandy, nicht die Welt. So einfach
gehen Wünsche nicht in Erfüllung. Keine gute Idee
Sandy, dein Selbstzerstörungsprojekt zeigt erste Erfolge!
No Future!
Sie hat kleine Brüste, Spiegeleier sagt Walti. Er lacht. Das
Engelsgesicht ist von blonden Locken umrahmt, Piercing
in der Nase, der Mund steht offen. Wie alt ist sie
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eigentlich? Fünfzehn, sechzehn, wer weiss das schon. Ich
will es nicht wissen, ist nicht meine Sache. Walti rüttelt
und schüttelt das Bett, Sandy murmelt etwas
Unverständliches, Walti wird laut, zornig; er schreit,
brummelt etwas wie aufstehen, abhauen. Er, Walti,
braucht das Zimmer jetzt für seine Lust. Basta. «Also hau
ab!» sagt er, brutal, so wie ich ihn gar nicht kenne. «Use i
d’ Chelti mit diir!» Traurige Erinnerungen steigen in mir
auf, auch ich wurde mal in die Kälte rausgesetzt, jung,
einsam, mittellos, wie Sandy, aber von einer herzlosen,
rabiaten Schlummermutter. Ich denke, ich könnte ihn in
diesem Moment abknallen. Ich habe immer meinen
Revolver dabei, in der Tasche, seit mich zwei Junkies
ausgeraubt haben. Passiert garantiert nicht ein zweites
Mal. Walti ist sonst ein eher sanfter Typ. Er lächelt
immer, obwohl er langsam aussieht wie John Wayne mit
Krebs. Raucher- und Trinkerfresse halt. Falten überall,
rötliche Lederhaut, Schlitzaugen. Das Mädchen steht
mühsam auf, bleibt auf dem Bett sitzen, wankt, schüttelt
das blonde Haar, reibt sich die Augen, zieht langsam eine
Jeans an. Es sieht plötzlich sehr alt aus, bewegt sich
langsam wie eine Greisin, wäre da nicht das
Engelsgesicht… Schnell Jacke, Schuhe, Schal und Sandy
verschwindet aus der Tür. Ich höre wie sie langsam und
unsicher die Treppe hinuntertorkelt, wie jemand, der
zögert und nicht recht weiss, was er machen soll. Die
Haustür gibt die Antwort, ein lauter Knall. Stille.
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Jules kommt herein, leise, eingeschüchtert. Er ist riesig,
ein schöner Mann, so um die dreissig. Blond,
Bürstenschnitt, blaue Augen, noch grösser und
männlicher, als ich mir ihn vorstellte. Meine Begierde,
meine Lust, mein Deal. Sein Gesicht ist rot von der Kälte
draussen. Walti verlässt diskret das Zimmer, er sagt Jules
noch, dass er unten an der Bar auf ihn warte. Ich allein
weiss, dass er im Zimmer nebenan vor dem
Einwegspiegel sitzt. Das ist sein Spass, seine Sehnsucht,
sein Geheimnis, Lust und Laster in einem. Seine Droge
auch, denn Walti kann nicht mehr ohne sein, er kann
selber nicht mehr und will doch noch, deshalb schaut er
den anderen zu, wie sie es treiben. Eigentlich hat er
Glück, denn auch Millionen von Männern zahlen, um zu
gucken wie Andere es treiben, am Bildschirm oder im
Kino. Die geile Welt der Lustmaschinen. Walti hat es
besser, er kann zusehen, wie jemand den er mag, es treibt,
er kann mich danach auch wieder sehen. Und er ist
mittendrin. Den Kollegen erzählt Walti, dass er es mit mir
treibe. Sie glauben ihm, ohne zu glauben. Passt irgendwie
nicht zusammen. Ich mache keinen Kommentar, lasse
Zweifel aufkommen. Dieses Spielchen spielen wir schon
lange. Walti möchte seinen legendären Ruf als
Frauenverführer nicht ruinieren. Deshalb. Und ich
brauche seine schützende Hand, seine Machtposition hier
im Chreis Cheib.
Jules steht vor mir, weiss nicht, was machen mit seinen
grossen Händen. Walti hat ihm befohlen, mir zur
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Verfügung zu stehen. Punkt. Jules scheint willenlos zu
sein, er hat irgendwie Angst vor Walti, fürchtet sich vor
ihm, «zu Befehl»! Er ahnt schon, warum er da ist, kennt
mich vom Sehen. Die Luft ist wie elektrisiert. Grosser
Bub du! Ich umarme seine Taille, spüre seinen starken
Rücken, ein Lederband hält seine Dienstwaffe auf der
Brust, ich spiele mit seinem Gürtel, meine Finger machen
sich an seinem Reissverschluss zu schaffen. Wie ein
kleiner Junge lässt sich Jules ausziehen. Er ist sehr scheu
irgendwie. Ich bin seine Mutter, Jules ist fünf Jahre alt. Es
fehlt nur ein Märchen und er wird gleich einschlafen.
Filmriss! Mein Jules hier ist aber brutal geil. Ich ziehe
ihm die Hose bis zum Knie runter, knöpfe sein Hemd auf,
sitze seitlich auf dem Bett, so dass Walti uns gut sehen
kann. Stolz steht er da jetzt, bewundert seine
Männlichkeit, fühlt meine geschickte Hand, meinen
heissen Mund. Die kleine Lampe gibt ein schönes,
romantisches Licht, perfekt für meine Peep Show. Ich
denke, Walti freut sich. Für Jules ist die Sache gelaufen,
er steht da, enorm hart und bebend, stöhnt, drückt wie ein
Stier, ungeduldig, möchte loslassen. Aber ich möchte den
schönen Jules geniessen, seinen schönen Körper sehen,
berühren, riechen, küssen, seine kräftigen Beine, seinen
straffen Po anpacken, anfassen, lecken und kneten. Jules
ist wie in Trance, er schliesst die Augen, verzerrt das
Gesicht, stöhnt immer lauter, immer schneller, keucht,
bebt, zittert. Plötzlich schreit er so laut, dass ich
erschrecke! Er wiehert lauthals, als der weisse Strahl im
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Rosalicht durchs Zimmer zischt und gegen den Spiegel
prallt. Das Bett ist nass jetzt, Jules zuckt zusammen,
schwitzt am Rücken, sein Atem stockt. Er öffnet die
Augen, Tränen fliessen kurz, er sieht den Spiegel. Ich
streichle seine Schenkel, bewahre die Ruhe, beruhige ihn,
besänftige ihn, reiche ihn ein Kleenex. Stehe auf und
umarme ihn liebevoll und dankbar. Er schaut sich im
Spiegel an, kämmt sich, wäscht sich im kleinen Becken
mit kaltem Wasser, zieht sich an, zündet eine Zigarette an
und verlässt den Raum, ohne mich zu grüssen oder sich
zu bedanken. Er hat kein einziges Wort gesprochen. Den
Befehl von Walti hat er wie ein Roboter ausgeführt.
Perfekt neutral. Nur sein Körper war voll dabei. Ein
schüchternes Lächeln umspielt seinen schönen Mund,
kurz bevor er die Tür sanft ins Schloss fallen lässt, als
wollte er sich für eine Störung entschuldigen.
Ich wollte Jules, ich habe den Jules gekriegt. War das
denn alles? Ja, es war schön und ist vorbei. Mehr wird’s
nie geben, Scheisse! So ein schöner Kerl, was für eine
Verschwendung. Ich bin deprimiert, frustriert, einsam, ich
rauche eine... versuche meine Gefühle zu verdrängen, das
Geschehene zu vergessen. Aber dieser Walti im
Nebenzimmer und das Mädchen in der Kälte, das
draussen wartet. Ich hasse ihn, seine Intrigen, seine
Macht, seine Laster. Er kommt endlich rein, lächelt, seine
Augen glänzen seltsam. So stelle ich mir den Divin
Marquis vor, vor zweihundert Jahren, als er im
Privatgemach seines Gefängnisses junge Dienstmädchen
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und Buben verführte. Ich denke, ich könnte Walti jetzt
abknallen. Meine Schlummermutter aber auch. Eines
Tages werde ich es tun, also ich meine, den Auftrag
geben, delegieren. Hat er was davon gehabt? Ja, es war
toll, wie der Spiegel plötzlich trüb wurde, dann kam es
ihm auch. Zum ersten Mal seit langem, sagt er stolz.
Danke. Mein Geld bekomme ich prompt und mit
Dankbarkeit, wie er mir beteuert. Er gibt sogar mehr als
abgemacht. Ein neuer Flakon «Heure Bleue» liegt drin.
Walti mag mich, ich mag ihn auch, aber anders. Vielleicht
liebt er mich irgendwie, aber er weiss, dass er nicht mehr
kann. Das Spielchen soll ihn über seine verlorene
Manneskraft hinwegtrösten. Ich spiele gerne mit, ich
krieg ja meinen Teil. Nun, man kann nicht immer
gewinnen, man riskiert etwas, spielt, verliert, gewinnt,
that’s life!
Draussen hat es aufgehört zu schneien, Walti ist
gegangen, er zieht weiter, andere Bars, Geschäfte,
Kontakte. Er pflegt seine Beziehungen zur Halbwelt, vor
allem seit er ‹entsorgt› wurde. Ich mache mich schnell
zurecht, rauche noch eine Zigarette und steige die Treppe
hinunter. Unterwegs begegne ich Sandy, leeres
Engelsgesicht, zitternd, zugedröhnt, sie hat sich was
geholt und denkt sie kann jetzt schlafen. Sie weiss es
nicht, aber schlafen wird sie diese Nacht kaum. Sie ist nur
ein Spielball, für Sandy sind die Würfel gefallen. Ich
denke ans T-Shirt mit der Aufschrift Fuck. Würde mir
besser passen, eigentlich. Aber so was würde ich nie
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tragen. Die SM-Statue ist verschwunden, die würde so ein
T-Shirt auch nie tragen. Sie ist schön, triumphierend
irgendwie, dominant und stolz. Solche Frauen mögen die
Männer, indomptables. Die Regel für mich ist: Lieber
Angst einflössen als Mitleid erwecken. Die Strassen sind
leergefegt. Sonntagmorgen, es ist fast vier Uhr, der
gefrorene Schnee knistert unter den Füssen, klirrt wie
dünnes Glas. Als ich um die Ecke biege, sehe ich noch
knapp die hohe Silhouette von Jules im schweren
Wollmantel an Sandys Haustür stehen. Er klingelt kurz,
schaut nach oben zum roten Fenster und verschwindet im
Eingang als der Summton ertönt. Es beginnt wieder zu
schneien. Zeit zum Schlafengehen. Die Kälte erquickt
mich, ich bin wieder zufrieden mit mir. Eine
schwarzweisse Katze läuft an mir vorbei, streift kurz mein
Bein mit ihrem Schwanz und verschwindet um die Ecke.
Ihr ist die Kälte dieser Welt anscheinend völlig egal.
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Sonntag
Tags drauf, Sonntagabend, so gegen neun. Ich habe den
ganzen Tag geschlafen, fast bis vier Uhr Nachmittages, es
wird schon wieder dunkel. Schön für mich. Denn ich gehe
transformiert nur bei Dunkelheit aus, wie die Vampire,
sag ich immer. Am Tag finde ich diese Aufmachung
lächerlich, irgendwie. Das Café Kroky ist bumsvoll, die
Luft ist feucht, dicker Rauch steht im Raum, Lärm, laute
Musik, Blondie singt Heart of Glass. Mädchenstimme,
starke Frau, finde ich. Der Philosoph ist auch da, an
seinem Stammplatz, zwischen Bar und Tisch, unter der
Sinalco-Werbung, so dass er alle sehen kann, alle
ansprechen kann. Nur nicht neben ihm stehen, laut ist er,
vehement, radikal, rechthaberisch. Die bösen Zungen
nennen dies verbale Diarrhö. Alle können ihn hören, aber
keiner hört zu. Man kennt ihn ja, den Philosoph: Lange,
graue Locken, die von einer polierten Glatze
herabhängen. Woodstockstrandgut, sage ich dem. Ein
Fossil halt. Sie wollten die Welt verändern… Peace &
Love, wie süss…
Dumm ist er gewiss nicht, doch seine soziale
Interaktionsfähigkeit ist nicht von dieser Welt. Er hat
einen Knall, dure bi rot, sagen die Stammgäste hier im
Kroky. Wenn man nicht dumm ist und immer recht hat,
alles besser weiss, dann hat man ein Problem. Und ist
einsam. Den Philosophen kümmert das nicht gross, er
spricht weiter, heute ist er beim Thema Politik gelandet.
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Vorher waren die Banker dran, letzte Woche die
Asylanten. Seine Gedanken sind wie ein täglich
wechselndes Programm, ziemlich kohärent, wenn auch
etwas radikal. So der Mann, so sein Programm. Er weiss
alles besser, weiss wie man Probleme löst, nur
widersprechen darf man ihm nicht, sonst ist der Abend
gelaufen im Kroky. Dann ist die Hölle los. Denn der
Philosoph wird laut, brachial laut, und unterstreicht jeden
Satz fragend mit «nüt wahr?, oder?, isch doch wahr?»
Keiner traut sich etwas zu sagen, die meisten schauen
weg. Wer will schon eine Konfrontation riskieren. Der
Philosoph duldet keine Widerrede, triumphiert jetzt, er
imponiert, keiner hat sich getraut, ihm zu widersprechen.
Sein Programm hat gesiegt, überzeugt, alle beugen sich.
Wehe, wenn ein Neuer, der ihn nicht kennt, ihm Paroli
bietet. Dann wird es noch lauter, und schnell wird der
Philosoph handgreiflich, wenn ihm die Argumente
ausgehen. Aber zum Glück, bevor es eskaliert, kommt die
Patronne, Martha, weit über hundert Kilo schwer, enorm
gross, solide und furchtlos. Dezidiert packt sie den
dünnen Philosophen mit ihren dicken, kräftigen Armen
am Nacken und am Pferdeschwanz, zieht ihn durchs
Lokal und schmeisst ihn auf die Strasse. Alle Gäste
lachen sich tot. Hunde bellen unterm Tisch, denken, sie
sind in Gefahr. Na! Der Philosoph, vom brutalen
Temperaturwechsel ernüchtert, will protestieren. Martha
erhebt den Finger: «Du, du…!», Killerblick, das reicht,
der Philosoph senkt den Arm, sackt zusammen und
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schlendert durch den Schnee bis zum nächsten Lokal. Er
muss ja seine Rede unbedingt zu Ende halten. Er muss
Menschen überzeugen für eine bessere Welt. Das ist seine
Mission.
Im Kroky ist wieder Ruhe eingekehrt. Die Hunde dösen
wieder unterm Tisch. So gegen zehn erscheint Walti,
gefolgt von Jules. Grüssen die Runde, Küsschen hier,
Händeschütteln da. Sie sitzen am Tisch hinter mir. Im
schrägen Coca-Cola-Spiegel über der Bar sehe ich Jules’
Gesicht. Er sieht mich, schaut aber sofort weg. Ich weiss
schon, was er denkt. Er könnte wegschauen, vergessen
können wird er unsere Begegnung jedoch nie. Und wenn
ich Lust habe, drücke ich einfach auf den Knopf namens
Walti und der Lustroboter muss antraben. Schau nur weg!
Wir werden uns wieder sehen Jules! Walti hat eine Runde
bezahlt, mindestens zehn grosse Biere marschieren durchs
Lokal, hinter den hohen Schaumkronen die grosse
Martha. Diese Frau, die hat was. Welche Energie, welche
Ruhe. Ihr Königreich ist das Kroky. Sie ist die
Königinmutter. Die Hebamme, der tröstende Busen, die
Polizei, einfach alles. Sie kommt vom Land, war mal
verheiratet, Bäuerin, hatte Kinder, der Mann soff sich zu
Tode, Armut, Elend. Sie landete in der Stadt, putzte,
servierte, prostituierte sich mit Gelegenheitsstrich, um die
Familie durchzufüttern. Als die Kinder ausgeflogen
waren, übernahm sie ein kleines Restaurant, später
landete sie im Kroky.
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Keiner kann ihr das Wasser reichen in Sachen
Menschlichkeit, Gerechtigkeitssinn und Würde. Martha
ist eine Heilige. Es gibt viele Marthas im Chreis Cheib.
Nicht alle sind so dick wie sie, manche sind klein und
mager, aber sie alle haben diese Energie, diese Kraft,
diese natürliche Autorität. Männer bleiben für sie immer
kleine Jungen. Deshalb gibt es viele Marthas hier. Die
Marthas vom Chreis Cheib sind Überlebende aus einer
längst versunkenen Welt, der Welt des Matriarchats.
Walti lacht laut, sein braunrotes Gesicht ist über und über
mit Falten bedeckt, er macht Witze über Schwarze,
Schwule, Huren, alle Männer lachen, erzählen andere
blöde Witze, prosten sich zu, biegen sich vor Lachen,
klopfen einander auf die Schulter, die Knie. Jules lacht
kaum, raucht eine Zigarette nach der anderen, seine
Hände sind ständig in Bewegung. Ich weiss schon warum,
er hat furchtbare Angst, dass ich was ausplaudern könnte.
Würde ich aber nie tun, keine Angst Jules! Unser
Geheimnis bleibt unser Geheimnis, es geht ja nur uns an!
Walti weiss zwar Bescheid aber er wird auch nichts
ausplaudern, so sehr fürchtet er sich um seinen Ruf… und
die Sache mit Sandy, dem Punk-Girl, die ist ja auch nicht
sehr sauber. Minderjährig womöglich. Ein Fuss im Grab,
der andere im Knast. Wir drei sind wie Verschworene,
Wahrheit und Realität erscheinen nur sporadisch,
blitzartig, in unseren Blicken. Für die anderen nicht
wahrnehmbar. Nach draussen dringt gar nichts oder nur
derjenige Teil der Wahrheit, den wir als erträglich
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betrachten. Das ‹Imiitsch› wie sie sagen. Gut so. Ich
verlasse das Café Kroky gegen elf. Walti trinkt weiter,
Jules schweigt. Die Kollegen haben andere Witze erzählt
bis sie nicht mehr weiterwussten, Martha bringt weitere
Biere. Als ich schon bei der Tür bin, geht sie plötzlich
auf. Der Philosoph kommt rein, schweigt, schaut zu
Boden als Martha ihm entgegenkommt: «Isch guet, aber
bisch jetzt ruhig, gäll», sagt sie in mütterlichem Tonfall.
Der Philosoph schweigt und denkt, denkt... unter der
Sinalco-Werbung, ich ziehe den Pelzkragen hoch beim
Eingang. Als ich die Tür schliesse, sehe ich Jules’
fragenden, ängstlichen Blick. Draussen stehen die Sterne
am klaren Himmel, klirrende Kälte schlägt mir entgegen,
die Nacht auf der Langstrasse kann beginnen.
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Montag früh
So gegen eins lande ich in der Serena-Bar, ein Striplokal
mit grosser, langer Theke, wo grosszügige Männer
Animiermädchen Champagner spendieren. Die Girls sind
alle asiatisch. Blondinen gibt’s nur auf dem Plakat
draussen, um diese Zeit ist die Bar eine Art Sammelstelle,
das Auffangbecken des Nachtlebens. Die Polizeistunde ist
streng in der grauen, langweiligen und reichen
Huldrychsstadt. Hier herrscht ora et labora. Seit 1517, um
genauer zu sein. Der Buss- und Betttag dauert das ganze
Jahr. Tanzverbot, Café-Terrassenverbot, Alkoholverbot,
Dachterrassenverbot, Konkubinatsverbot, Fickverbot,
Privatradio- und Privatfernsehenverbot, Rockmusikverbot
– ist ja keine Kultur – diese Liste ist nicht vollständig.
Doch es brodelt ganz schön unter den Teens und Tweens.
Die Stadt braucht eine Revolution. Um Mitternacht ist
Schluss, auch am Samstagabend, denn Sonntag ist der
Tag des Herrn, dies dominica. Zwar betet kaum mehr
einer, ~ aber Gesetz ist Gesetz. Die Bars und Dancings
müssen um Mitternacht dichtmachen. Punkt. Touristen
und Besucher sind schockiert, egal, sie sollen zahlen und
schnell nach Hause gehen. Die Ordnungshüter sind
streng, der Frauenverein hat die Hosen an, seit mindestens
hundert Jahren. Kann man verstehen, denn damals
ernährten sich die Industriearbeiter des Chreis Cheibs
praktisch nur noch vom Schnaps, fürs Essen war kein
Geld mehr da. Der grassierende Alkoholismus musste
bekämpft werden. Arbeiter brauchen Schlaf und Geld fürs
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Essen. Also werden die Beizen früh geschlossen oder sind
gar alkoholfrei.
Doch die 1968er Studentenrevolte, die Rockmusik und
die sexuelle Revolution sind auch an Zürich nicht spurlos
vorbeigegangen. Trotz all der strengen Vorschriften,
hinterliessen sie ihre sündhaften Spuren in der
Huldrychsstadt. «Wehret den Anfängen», mahnte schon
mancher Politiker. Man stelle sich vor: Die Serena Bar ist
seit ein paar Jahren wieder eine der wenigen,
privilegierten Lokale, die länger offen bleiben dürfen.
Was musste da geschmiert werden, um die Bewilligung
zu bekommen, weiss Gott. Sonst alles ok hier, danke. Es
herrscht Ruhe und Ordnung. Seit die Polizeistunde für
wenige Lokale verlängert wurde, kommt so nach eins,
halb zwei Uhr alles hier rein, was nicht nach Hause gehen
will oder kann. Wer einsam oder betrunken ist, Huren,
Transvestiten, geflohene Gefangene, andere Barleute, die
dichtmachen mussten und noch keine Lust haben, nach
Hause zu gehen, aber auch Gesindel aller Art, einfach
alles. Es brodelt ganz schön hier drin, ein Hauch von
Sankt-Pauli, Singapur oder Schanghai irgendwie. Spielund Lusthölle, halbkriminell aber lebendig, eine Oase der
Laster und der Lust. Ich liebe diese Atmosphäre. So muss
es in Montmartre um 1920 herum gewesen sein. Lauter
Leute, die im Rausch das harte Leben lieber vergessen
möchten.
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Hier ist der Lärmpegel immer auf das Maximum
aufgedreht. Jeder spricht mit jedem, wir sind nicht an der
Bahnhofstrasse, nicht bei Sprüngli, sondern im Chreis
Cheib. Da herrscht Sex and Drugs and Rock’n Roll –
Obrigkeit und Frauenverein hin oder her – oder
wenigstens etwas, was danach aussieht. Ein Asian Girl
tanzt im Rosalicht, dünn, mager ja, kein Busen. Man ahnt,
Queen of Chinatown ist auf dem Plattenteller aufgelegt.
Doch die berüchtigte Shanghai Lily ist dieses Girl nicht!
Es scheint nicht ganz bei der Sache zu sein, seine
Bewegungen sind unmotiviert, die Augen leer. Nach einer
Weile zieht es ihren winzigen BH aus, nicht viel mehr ist
da, als vorher. Dann kommt der Tanga an die Reihe. Es
bewegt sich jetzt ganz nackt zur Musik, keine Spur von
Anrüchigkeit, so muss Eva ausgesehen haben, kurz bevor
sie in den Apfel biss. Von Sex und Laster keine Spur. Das
Girl zieht sich aus, so wie man sich auszieht vor dem
Zubettgehen und alleine ist. Dann verschwindet das
Mädchen in der winzigen Kabine neben der noch
winzigeren Bühne, niemand hat diesmal zugeschaut.
Später sehe ich sie wieder an der Bar: «You buy me
Cüpli?», fragt es einen jungen Mann, offensichtlich einen
vom Land, der hat wenigstens Erbarmen. Ein Piccolo
muss her für das arme Mädchen. In Thailand könnte sie
damit einen Monat lang ihre Grossfamilie durchfüttern.
Na und? Ist ja eine Champagner-Bar hier, wir sind nicht
bei Caritas, wer hier reinkommt weiss, worum es geht.
Die Männer kommen von weit weg hierher, bis
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zweihundert Kilometer fahren sie hin und zurück, um
einen Hauch von Sankt-Pauli an der Langstrasse zu
erleben. Meistens sind es junge Burschen aus dem
Mittelland, so von Bern bis Baden, alle wollen was
erleben. Dafür kommen sie hierher. Sind etwas
ungehobelt und unbedarft. Doch man soll in meiner
Gegenwart lieber nicht dumme Witze über sie reissen.
Denn ich mag sie am liebsten. Erstens sind sie
zurückhaltend und höflich, zudem immer herausgeputzt,
picobello, und ~ verfügen ~ über Qualitäten und
Merkmale, die schon den Römern vor zweitausend Jahren
aufgefallen sind: Sie sind gross, gesund, stark und
diszipliniert,
die
Helvetier.
Keine
Schwindsuchtbleichgesichter aus übervölkerten Städten,
nein, die sind echte Naturburschen. Auch Päpste nahmen
sie gerne als Garde, Könige als Söldner, Offiziere als
Stallburschen. Und ich nehme sie auch gerne! Ich schätze
all ihre Qualitäten, aber vor allem ihre Geheimwaffe, ich
fasse mich kurz: size matters. Jawohl! Aus dem gleichen
Grund mögen die leichten Damen sie nicht, zu
anstrengend, die Burschen vom Mittelland. Hier können
die kräftigen Jungen alles tun, was man auf dem Land
nicht darf. Und alles ausprobieren. Mich inklusive.
Frauen gibt es im Chreis Cheib in allen Farben, Grössen,
Formen und Preiskategorien. Blonde Männerfantasien
gibt’s hier zwar ebenso wenig wie draussen auf dem
Land. Alles ist irgendwie Importgeschäft, discount,
second hand. Wir im Chreis Cheib sehen das anders, wir
30
leben ja hier, wir kaufen Gemüse und Fleisch auf dem
Markt, gleich neben dem Sexshop. Ja und? Wenn
morgens um acht eine fragt, ob wir vögeln wollen, wenn
wir da im Nadelstreifenanzug vorbeilaufen, dann heisst es
nur: «Nei Süssi, jetzt nööd, muss go schaffe, tschüss!»
Bei mir geht es hier in der Serena-Bar um Wärme, aber
auch um etwas Gesellschaft, denn draussen ist es kalt, ich
will mir nicht die Füsse abfrieren, um einen Typ
kennenzulernen, also komm ich auch hierher so oft ich
Lust habe, wenn ich mich an einem trüben Sonntag
einsam fühle: ~ «What good is you sitting all alone in
your room, come to the cabaret», sang Liza. Tolle Typen
gibt’s hier auch, nicht nur verschämte Freier, Beamte oder
schüchterne Buben vom Land. Oft landen Sportler in der
Serena-Bar, nach ihrer Sauftour oder einem Sieg, mit
Kumpeln, ohne Frauen, zu dritt, zu viert, Fussballer,
Hockeyspieler, Bobfahrer, berühmt, olympisch gekrönt,
oder Drittligisten, unbekannt, einfach alles. Die sind gut,
sie streiten nicht, schreien nicht, stinken nicht. Die
meisten vertragen keinen Alkohol, wegen der immer
strikteren Dopingkontrollen, aber geil sind sie alle,
immer. Leichte Beute denk ich mir manchmal, was für ein
Jagdrevier diese Serena-Bar! Bin auch schon mit so einem
bekannten Spieler im Bett gelandet. Genial war das, zwei
Polaroids habe ich gemacht, vom Po meine ich, nicht vom
Gesicht, denn Autogramme brauche ich keine, keine
Fotos als Trophäen und Beweis, dass ich nicht spinne
oder angebe.
31
Am Morgen haben wir uns beide gefragt, was wir da
eigentlich miteinander getrieben haben. Wir mussten
beide lachen. Sind ja Männer, wie andere auch. Aber
dafür richtige Testosteronbomben, jung, dynamisch,
voller Energie und Tatendrang. Ich konnte nicht
einschlafen neben meinem Fussballer, denn der strahlte
soviel Körperwärme aus wie ein voll aufgedrehter
Heizkörper. Vollblut, hochgezüchtete Kampfmaschine.
Am Morgen roch es im Schlafzimmer wie in einer
Bärenhöhle. Eine Pheromonwolke hing danach ein paar
Tage lang über dem Bett. Aber mehr als ein bisschen
Spass will ich ja nicht mit ihnen. Ich gehe aus, will mich
unterhalten, ich verlange nichts, fordere nichts. Das
beruhigt sie. Vor allem will ich kein Geld von ihnen.
Keine Telefonnummer. Manchmal möchte ich den einen
oder anderen schon mal wieder sehen, aber ich weiss, das
wird kaum möglich sein. Ich habe mir auch schon die
Finger verbrannt. Also lass ich das. Man kann das in
positive Energie umsetzen. Anstatt mit dem Partner im
Dauerstreit zu leben. Und eben, Einsamkeit kann auch
Freiheit bedeuten, wenn man mit ihr umzugehen versteht.
Nehmen, was man nehmen kann, lernen zu verzichten,
loszulassen, um nicht unnötig zu leiden. So lebt es sich
besser. No more drama.
Die Serena-Bar ist immer bumsvoll und laut, jetzt gibt’s
harte Rockmusik, AC/DC fahren zur Hölle, ja das wollen
wir alle hier und singen mit, wippen mit dem Fuss,
klatschen, schreien. Die Asia Girls kichern verlegen im
32
Rosalicht und wippen mit. Giessen den Champagner in
den Blumentopf, sobald der Freier weg schaut. Wie
schade, find ich. Würde ich gerne austrinken an ihrer statt.
Einige sind schon betrunken, alle gleichen sich irgendwie,
sind auswechselbar. Gibt’s da auch Individuen bei denen?
Originelle Persönlichkeiten? Schwer vorstellbar. Böse
Zungen behaupten, in dieser Bar verkehren um die
dreitausend Jahre Gefängnis! Mindestens. Der Spruch hat
etwas. Denn vor ein paar Monaten, als ich allein in der
Serena-Bar sass, es war schon spät, so um zwei, oder
danach, da setzte sich ein toller Kerl neben mich. Er
rauchte wie verrückt, Gitanes ohne Filter, die Blauen, mit
der Flamencotänzerin drauf, was für eine Giftimmission,
ein Gestank, er trank ein Bier nach dem anderen, war aber
nicht besoffen. Sicher einer, der sonst Härteres gewöhnt
ist, dachte ich. Er sah so aus wie man sich einen Legionär,
Söldner oder so was vorstellt. Breite Schultern,
aufwändige, raffinierte Tattoos am Arm, frisch gebügeltes
Kakihemd mit Schulterpatten, polierte Glatze, gepflegter
Riesenschnauzer, blondes Kräuselhaar auf den
Unterarmen, so um die vierzig. Schöne Hände mit
grossen Venen, dicke Finger, ein mächtiger Kerl. Er
sprach sehr gut Französisch, Jo hiess er, Johann. Er
stammte aus dem Glarnerland. Wir unterhielten uns lange,
er war schon überall gewesen, hatte als Söldner gekämpft,
war Drogenschmuggler und in der Guerilla unterwegs. Ob
alles wahr war, weiss ich nicht, aber irgendwie fand ich
ihn faszinierend. Er erzählte von Angola, Burma,
33
Bolivien, die geographischen Details stimmten, ~ es
passte alles zusammen. Und sein Französisch, so klar und
präzis. Irgendetwas musste schon daran gewesen sein.
Nach einer Weile kamen wir uns näher. Plötzlich fasste er
meine Hand mit unglaublicher Kraft, ich dachte er bricht
mir gleich das Handgelenk. Aber er führte sie unter die
Bar an seine bereits geöffnete Hose und sagte mit tiefer,
leiser Stimme: «Sers-toi!» Ich sollte mich bedienen.
Ziemlich unerschrocken, dieser Kerl. Gut, aber wer
konnte ihm gefährlich werden hier drin? Während die
Gäste tranken, sich unterhielten, die Girls Champagner
bestellten, tanzten zu Amanda Lear’s The Sphinx, waren
wir mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Er lachte herzig
dabei. Die Augen zu Schlitzen geschlossen. Johann,
Spitzbub du! Netter Kerl für später, dachte ich mir.
Eigentlich waren wir gerade mit dem beschäftigt, was die
meisten hier auch suchten. Spass. Nur anders. Konkreter.
Nun, wir waren uns ziemlich einig, wie es weiter gehen
soll, aber der Typ war ziemlich geladen, es ging schnell.
Er war, sagen wir, sehr spendabel, es begann wirklich
spannend zu werden und schon war Schluss, für den
Moment. Der Legionär lachte etwas verlegen, als
plötzlich ein Typ von hinten kam und den tätowierten
Arm des Mannes packte. Ich drehte mich um, hörte ein
metallisches Geräusch. Schnell zog ich seinen
Reissverschluss wieder hoch. Handschellen wurden
montiert, ein zweiter, grosser Kerl mit bösem, dunklem
Blick kam dazu. Stumm und leise packten sie meinen
34
Legionär und schleppten ihn hinaus. Er setzte sich nicht
zur Wehr. Kaum jemand hatte gemerkt, was geschehen
war. Johann lächelte traurig, und schon war er weg.
Polizeilich gesucht oder ausgebrochen? Schade fand ich,
denn ich hätte gerne mehr von ihm gehabt. Ich verstand
auch nicht, warum ein gesuchter Mann dort verkehrte, wo
doch jeder wusste, dass diese Bar eine Sammelstelle für
diejenigen ist, die die Zeit totschlagen wollen. Eine
Räuberhöhle könnte man fast sagen. Und dass die Polizei
das auch wissen musste. Johann trat in die einzige Bar,
die um diese Zeit noch geöffnet war. Fataler Fehler. Und
siehe da, kaum war mein Spielgefährte entführt worden,
kam Walti herein, lächelte alle an, drückte Hände, setzte
sich an den Tisch neben dem Eingang. Jules erschien bald
darauf und setzte sich zu ihm. Dann kamen auch die zwei
düsteren Gestalten in Zivil mit den Handschellen herein
und nahmen Platz neben Walti. Zufall? Wochen später
erzählte mir Walti, dass der Legionär verdächtigt wurde,
einen Mann und dessen Frau umgebracht zu haben, bevor
er die Serena-Bar aufgesucht hatte.
Von dieser Geschichte haben die asiatischen Go-go-Girls
hier sicher nie etwas gehört. Sie sind jetzt müde, einige
ziemlich blau, sie lallen herum, spendable Männer sind
rar geworden, der Champagner fliesst nicht mehr in
Strömen, die Serena-Bar wird bald schliessen. Die
verbleibenden Männer sind apathisch, sie scheinen keine
grosse Hoffnung mehr zu haben, zuviel Champagner, zu
viele leere Versprechungen, für die Séparées ist es jetzt zu
35
spät. Und auch ihre Taschen sind jetzt leer. Bald ist
Schluss, bald muss man raus, in die Kälte, etwas schlafen
und morgen geht’s wieder los. Arbeit, Lohn, Frau, Kind,
oh Gott! Plötzlich geht die Tür auf, alle Männer schauen
auf, alle drehen sich um, langsam, einer nach dem
anderen, wie Sonnenblumen sich an einem schönen
Sommertag nach der Sonne drehen. Ihre Gesichter sind
entzückt, verjüngt, wie verwandelt, die Müdigkeit ist
verschwunden. Die Erscheinung betritt ihre Bühne, setzt
sich lässig an die Bar in der Ecke, wo sie alle gut sehen
können, sie zieht ihren Waschbärpelz aus, ~ ein tiefes
Décolleté kommt zum Vorschein. ~ Wespentaille,
eingeschnürt in ein Lackkorsett mit roter Schnur. Langes
blondes Haar, frisches Gesicht, blutrote Fingernägel. Die
Männer sind wie betäubt, sitzen da mit offenem Mund,
schauen verstohlen auf den schönen, milchweissen Busen.
Gierige, verblüffte, verständnislose Blicke. Die
Erscheinung bestellt ein Glas Champagner, zündet sich
eine Dunhill Menthol an, (und) lächelt zufrieden vor sich
hin und lässt Rauchringe aufsteigen. Sie strahlt wie die
Jungfrau von Fatima, eine Aura umgibt sie, sie ist
unberührbar, unnahbar, nicht von dieser Welt. Ihre Nacht
war gut. Ich weiss, sie arbeitet jeweils nur am
Wochenende, dafür aber richtig. Umsatz muss her, sie
will eine Luxuswohnung kaufen, sagte sie mal der
Barmaid vom Nego. Morgen um neun wird sie wieder im
Büro sein. Die Verwaltungsratssitzung, die jeden Montag
stattfindet,
wird
sie
protokollieren.
Sie
ist
36
Direktionsassistentin irgendwo da draussen. Sie wird
dann dunkelblond sein und etwas kürzere Haare tragen,
streng im schwarzem deux-pièces. Schön und adrett.
Die SM-Statue mit der grossen Brille vor der Nego-Bar,
wird sich bald verwandeln. Das ist ihr Geheimnis, sie mag
Abwechslung, die Halbwelt, doch sie lässt sie nicht zu
nah an sich herankommen, etwas Distanz kann nicht
schaden. Sie mag Geld, aber keine Abhängigkeit, sie
möchte keinen alten Sack heiraten müssen, nur um ans
Geld zu kommen, wie so viele schöne Frauen es tun.
Kompromissbereit ist sie jedoch. Wie recht sie hat. Es ist
Montag, so gegen zwei Uhr. Eine neue Woche beginnt.
Die Männer würden am liebsten jetzt noch eine Weile
hier bleiben, nur nicht nach Hause gehen, kurz schlafen,
aufstehen müssen, es ist hart, aber es gibt kein
Entkommen. Der Frauenverein hat nach wie vor die
Hosen an in der Huldrychstadt. Ich und die blonde SMStatue auch, aber unsere engen Hosen sind aus
schwarzem Lack.
37
38
Montag, abends
Im Café Kroky ist bald Schluss, heute fand hier wie es
scheint der Prominententag statt. ~ Nicht Leute vom
Fernsehen oder ein Auftritt von Miss Cervelat – nebenbei
eine Beleidigung für die gute alte Wurst, denn diese soll
etwas Hirn drin haben! Nein, ich meine all die Chreis
Cheib-Grössen, ~ jene die es zu etwas gebracht haben
sind da, aber auch die, die es einst zu etwas gebracht
hatten und jetzt nichts mehr haben. Es ist wie auf dem
Dorf, alle kennen sich.
Der schöne Heiri steht auch da, weisser Leinenanzug
mitten im Winter, geföhnte Vokuhila-Frisur, dicke
Cohiba im Mundwinkel, jede Menge Gold am
Handgelenk, süffisantes Lächeln zwischen jedem Zug.
Der blaue Dunst steigt über seinen Kopf und bildet einen
Heiligenschein. Dabei ist er alles anders als ein Heiliger.
Was der so treibt? Er lebt, ist zufrieden, mehr ist da nicht
zu sagen. ~ Die einen sind zufrieden, die prahlen, sind
umschwärmt, die anderen sind einsam, still, sie saufen,
schauen ihren überlaufenden Aschenbecher stundenlang
an, es ist wie im Fernsehen. Für sie ist ihre Existenz wie
eine Art Kristallkugel, so scheint es mir. So vertieft, so
reglos gucken sie in das viereckige, schwere Glasstück
hinein. Ihr damaliges Leben scheint darin verschwunden
zu sein. Deshalb gucken sie da hinein, den ganzen Abend
lang. Auch ältere Zuhälter sind da, nicht unbedingt gute
Freunde, aber sie grüssen sich, bleiben auf Distanz.
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Respekt. Damen gibt’s heute keine hier. Um diese Zeit
schafft alles an. Nur Martha, die keine Dame ist, die
gehört zum Inventar. Sie ist so schwer wie ein
Bauernschrank. Manchmal gibt es auch Streitigkeiten
unter den Männern hier im Quartier. Oft geht es um die
Stehplätze der Frauen, um irgendwelche Abmachungen,
die nicht eingehalten wurden, um Abrechnungen
zwischen Zuhältern oder Wirten. Aber manchmal auch
um Drogen. Alles geschieht irgendwie im Dunkeln, die
Polizei läuft gegen eine Wand des Schweigens, denn wer
redet schon offen mit der Polizei, dem Erzfeind?
Es kann auch passieren, dass man eine Leiche im
Hinterhof findet, keiner weiss was geschehen ist, keiner
scheint den Toten richtig gekannt zu haben. Hatte er ein
Doppelleben? So ist es in der Halbwelt, alles geschieht im
Dunkeln, verborgen, geheim, Underground. Es gibt so
eine Ecke, ~ Bermuda-Dreieck genannt, ~ was ja alles
sagt. Da verschwinden nicht gerade Flugzeugträger der
US-Marine, aber gewaltige Geldsummen, ganze
Häuserreihen, alles ist irgendwie involviert, aber keiner
macht sich die Hände schmutzig. Ein sauberes Geschäft
eigentlich, viele besitzen gar nichts, das Auto, die
Wohnung, Häuser, alles gehört jemand anderem, man lebt
einfach so vor sich hin, mehr nicht. Wahre
Lebenskünstler.
Ich mag die Idee, nichts zu besitzen und trotzdem ein
schönes Leben in einer Luxuswohnung zu führen, mit viel
40
Bargeld in der Tasche. Und Weibern, so viele man will,
falls man Frauen mag. Oder eben Männer, wie in meinem
Fall. Viele träumen davon. Persönlich möchte ich nicht so
reich sein, so dass Geld die einzige Sorge ist, wie beim
Börsianer, der nicht schlafen kann wegen der Positionen,
auf die er am Tag zuvor gewettet hat. Die Gleichung ist
stadtbekannt: Riskant + Valium, Gewinn + Champagner,
Verlust + Temesta. Ein Leben zwischen Euphorie, Angst
und Apathie hin und her pendelnd. Das ist ~ kein Luxus,
sondern nur noch Stress und Chaos. Wo bleibt da die
Souveränität, die Ruhe, die der Besitz von Geld
normalerweise mit sich bringen sollte? So wird man nicht
alt. Herzbaracke, vor vierzig ist programmiert. Aber
genügend Geld zu haben, nur so viel, dass man keine
Sorgen mehr hat, ist beruhigend. Für mich ist Luxus nicht
Besitz, sondern Zeit und Musse zu haben, so dass man
genau das machen kann, wozu man Lust hat: Musik
hören, natürlich mit einer sehr guten Anlage, oder ein
Gourmet-Restaurant besuchen, und dazu einen
exzellenten Saint-Estèphe bestellen, Karten für ein
Konzert von Queen im Hallenstadion auch für Freunde zu
ergattern oder eine Verdi-Oper von der Opernloge aus
geniessen. Oder auch einfach nichts tun, im warmen
Wasser ~ still sitzen und dabei eine schöne Landschaft
bewundern, über den muskulösen Körper eines
Fussballers streicheln, wenn er schläft, und vor Rührung
vor dieser Schönheit zu vergehen… Es muss nicht immer
Geld kosten, denn Luxus kann auch gratis sein. Luxus ist
41
~ individuell, was für den einen Luxus ist, ist für den
anderen überflüssig. Luxus ist nicht immer mit Geld
verbunden, glücklich ist, wer Luxus im Kopf hat.
Während ich so vor mich hin sinniere und die Leute
beobachte, schmeisst Martha wieder einen Querulanten
raus, das geht so schnell, dass kaum einer was merkt, da
hat sie Übung. Eins, zwei, drei, ein Tumult, die Tür knallt
zu, und Ruhe kehrt wieder ein. Wo war ich geblieben, ja
eben: Im Chreis Cheib hat sicher mancher sich diesen
Traum vom Luxus erfüllt, bis zum Geht-nicht-Mehr
ausgelebt und im Rausch von Las Vegas on the Limmat
gebadet. Meistens verpufft der Traum dann an
geldgierigen Ehefrauen, am Fiskus, oder im Suff, denn
wehe, wenn man die Orientierung verliert, den gesunden
Menschenverstand, die Bauernschläue, die nötig war, um
oben anzukommen, dann… aber das kennt jeder
Fussballer, wohin Selbstüberschätzung führt. «Von nun
an ging’s bergab», sang die Knef, und sie wusste, was das
bedeutet. Nach oben geht’s manchmal schnell, nach unten
noch schneller. Es gibt so einige Gestalten hier, die sich
abends für abends in Bars zu Tode saufen, die vor nicht
zu langer Zeit steinreich waren, und dann plötzlich mit
game over konfrontiert wurden.
Gefallene Engel, die gab es ja auch früher, der liebe Gott
hat sie aus dem Paradies verjagt. Im Chreis Cheib ist das
Leben eine Lotterie, ~ old money gibt’s hier kaum, nur
new money oder no money. Das macht das Ganze
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spannend, interessant, lebendig. Hier bietet das Leben
jedem eine Chance. Alles ist ständig in Bewegung. Früher
sind die armen Bauernsöhne aus dem Emmental oder
Glarnerland nach Amerika ausgewandert, sind dort
anonym geblieben und arm gestorben oder kamen
steinreich zurück. Heute kommen diese Abenteurer in den
Chreis Cheib, arbeiten sich hoch und, ganz oben
angelangt, bricht ihr Kartenhaus zusammen und sie
kehren aufs Land zurück. Züchten Pferde oder Hühner
anstatt Damen bei Laune zu halten. Auch nicht schlecht.
Trotzdem ist Gewalt relativ selten hier, verglichen mit
Chicago oder L.A. ist das Umfeld des Sexgewerbes von
Zürich ein Kindergarten. Die Leute sind zivilisiert,
respektieren sich irgendwie. Meiden Konflikte,
diskutieren, sprechen sich aus und bleiben ruhig. Die
strenge Erziehung macht das. Die Mütter haben den
Söhnen Respekt und Anstand eingebläut, die Väter sie
dabei mit der Rute oder dem Rohrstock kräftig
unterstützt. Das wirkt lange nach. Das kenne ich von
meinem Französischlehrer, der meine verwitwete Mutter
tatkräftig unterstützte. In einem Dorf kennt jeder jeden.
Wenn einer neu ankommt, misstraut man ihm erstmal. Er
muss sich behaupten können. Erst dann zählt der
Zugewanderte
wie
ich
zu
den
Etablierten,
Alteingesessenen. Zum Kuchen wie es so schön in der
Limmatstadt heisst.
Das alles geht mir durch den Kopf, weil so einer mir jetzt
gegenüber sitzt. Hier im Café Kroky, kurz vor
43
Mitternacht. Ein ehemaliger Sex-Tycoon, der Jösy. Er war
sehr beliebt, damals, warf das Geld aus dem Fenster, hatte
Stutz wie Heu, fuhr geile Sportwagen, wechselte
Freundinnen, Ehefrauen, auch Anwälte, wie schmutzige
Hemden. Champagner in der Badewanne, Pin-ups um
sich herum. Ein Art Hugh Hefner vom Chreis Cheib. Er
zahlte eine Runde nach der anderen, alle waren
eingeladen und durften an seinem Glück teilhaben. Das
dauerte immerhin ein paar Jahre. Die fetten Jahre des
Sexkönigs Jösy… aber der Huldrych mahnte oft, und
auch nicht zufällig, dass nach den fetten Jahren die
mageren folgen. Ein Naturgesetz ist das. Nur äusserste
Vorsicht und Sparsamkeit können uns davor bewahren, zu
verarmen, gar zu verelenden. Das wissen die Altreichen
vom Züriberg besser, und sie halten sich streng an die
Regeln. Machen weniger Kinder, heiraten unter sich,
verachten Gefühle, schauen lieber aufs Portemonnaie.
Anhäufen, hamstern über Generationen. Nicht so Jösy,
grosszügig, unvorsichtig wie er war, eine Grille in
Huldrychs Ameisenhaufen.
Da kommt mir Lafontaine in den Sinn, wie recht der
hatte, es geht etwa so: «Grillchen, das den Sommer lang –
Zirpt und sang – Litt, da nun der Winter droht’ – Harte
Zeit und bittre Not… » Und so sitzt er jetzt da, der Jösy,
gestürzter König, müde, rauchend, saufend, ein
Knochengerüst ist er geworden, zittert manchmal ganz
schön am ganzen Körper. Delirium… flüstert man. Ein
Sozialfall ist er geworden, und krank ist er auch noch.
44
Alle kennen ihn, und sind traurig ihn so zu sehen.
«Weisch no Jösy…». Mehr als das gibt’s nicht als Trost,
alles verpufft, alles ausgegeben, verloren, gespendet,
beschlagnahmt. Nun, Schmetterlinge sind auch nicht
lange schön, das süsse Leben dauert bei ihnen auch nicht
ewig, ein paar Tage, Wochen vielleicht, einen Sommer
lang höchstens, aber dann ist Schluss. Die Flügel fallen
ab, der schöne Falter stirbt, der Sommer geht vorüber und
bald kommt der Winter. Für den lieben, armen Jösy, die
Grille, ist der Winter schon da.
45
46
Dienstag
Am Dienstag ist Fussballtraining, deshalb ist die NegoBar nach zehn Uhr bumsvoll, und später wird die SerenaBar auch voll sein, Völkerwanderung der Dienerstrasse
entlang, vorbei an rosa beleuchteten Fenstern. Aber nicht
nur die müden Fussballer wandern von Lokal zu Lokal,
ihr Gefolge auch, Fans, Freunde, Zufallsbekanntschaften,
Jasskollegen, alle ziehen mit und fragen «Chumm,
gömmer no eis go ziehe»… nachdem alle in die Kälte
raus müssen. Ja und da gehe ich manchmal auch mit, denn
am Dienstag ist was los in der Serena-Bar nach
Mitternacht. Eine Art Spitzentreffen der Nachtgestalten
aller Art und Couleur, denn alle wissen was hier abläuft,
all diese jungen Männer, schön trainiert, geduscht, etwas
erheitert vom Bier, Wein oder Whisky, das zieht an!
Unter den Amateuren aller Alterskategorien und
Geschlechter mischen sich auch zwielichtige Gestalten,
Transvestiten, Schwule und ausrangierte Damen des
horizontalen Gewerbes unbestimmten Alters, verirrte
Liebespaare. Alle stehen stramm an der Bar, um schon
vor Mitternacht die besten Plätze zu belegen. Wenn wir
vom Nego kommen, sind da nur noch Stehplätze oder
Tische hinten frei.
Zuvorderst sind immer die gleichen an der Bar,
aufgetakelte ‹Herrendamen› im Paillettenkleid mit
turmhohen Perücken, Tiffany-Glitzerzeug, RhinestoneCowgirls überall, erinnert mich irgendwie an
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Weihnachten, und das mitten in Januar! Also wenn schon
so ausgehen, dann nur in schwarz-weiss, dezent, eng
anliegend und schick. Wer will schon beim Ausgehen wie
eine Hausfrau beim Staubsaugen aussehen? Oder wie ein
Weihnachtsbaum? Und welcher Fussballer möchte mit
einer ‹Hausfrau im Ausgang› nach Hause gehen?
Wobei… da bin ich mir nicht so sicher. Gelegenheit
macht Diebe, könnte ja doch vorkommen. Wenn diese
sogenannten ‹Damen› schön dasitzen, könnte man es noch
irgendwie durchgehen lassen, aber wehe, wenn sie
aufstehen müssen, um auf die Toilette zu gehen.
Trotz
flacher
Absätze
werden
die
billigen
Stofflampenschirme an der Decke der Serena-Bar arg
strapaziert. Gut zwei Meter über dem Boden. Denn so
gross sind die im Stehen. Da muss ein Mann schon
ziemlich stark sein beim Tango. Aber wer führt denn da
überhaupt? Das ist die Frage. Wer macht was im Duo?
Aber eben, wenn es keinen Abnehmer gäbe, würden die
auch nicht jeden Dienstag soviel Aufwand betreiben und
zuvorderst an der Bar stehen. Es muss doch gehen,
irgendwie. Es muss sich lohnen. Wer mit wem? Das
werden wir später sehen, es ist noch früh.
Auf der anderen Seite der Bar, gegen die Wand, sind noch
drei andere Herrendamen, Spanierinnen, Olé! Auch die
haben Weihnachten verpasst scheint mir, nur viel
dramatischer, Rot und Schwarz und Gold! Inspiriert von
den Barockkirchen ~ der Estremadura mit ihren Disco48
Madonnen, wo sie einst als Ministranten dienten. Da
trugen sie schon farbige Kleider, Röcke eben, das prägt.
Wenn schon Gold, dann richtig dachten die Bischöfe
damals, vor bald dreihundert Jahren, so wie die
Spanierinnen heute in der Serena-Bar. Sieht gut aus,
erinnert von weit an Fastnacht – kommt übrigens bald –
sicher eindrucksvoll auf der Theaterbühne, aber hier… na
ja, und dann mit dem Lamé-Kleid im Schneematsch
waten, eine tolle Leistung denke ich mir. Alle Achtung,
Ladies. Aber die Spanierinnen sind hier beliebt, sie sorgen
für Stimmung, haben Temperament, Stolz. Flirten auf
Distanz, prosten zu, die künstlichen Wimpern zucken.
Spielen ab und zu Castagñetas. Wenn sie auf der Strasse
laufen, könnte man meinen, Melchior, Kaspar und
Balthasar zu sehen, auf dem Weg nach Bethlehem. Sind
aber auch schon vorbei, die Dreikönige, das war vor zwei
Wochen oder so.
Nein, im Ernst, so viel Aufwand, wo man ja weiss, dass
die Männer hier nur an Verpackungen interessiert sind,
die man schnell aufmachen kann. Sie wollen immer
wissen,
was
drin
steckt.
Wie
mit
dem
Weihnachtsgeschenk damals, wie lang ging es bis das
kleine Auto in Einzelteile am Boden zerstreut lag? Drei
Minuten höchstens. Sie wollen gleich zur Sache kommen,
wenn schon, denn schon! Wissen, wie es funktioniert.
Aber eben, Anstand muss sein. Vorher. Eine der grossen
Damen flirtet mit einem kleinen, dicken Mann. Er hat
etwas spendiert, sie prostet zu, der Mann grabscht an
49
ihrem Körper herum und scheint etwas gefunden zu
haben. Er lacht nun zufrieden. Schatzinsel. Ich sagte ja
schon, Dienstag ist der Tag, an dem Wunder geschehen.
Nicht nur für mich, sondern auch für die andern. Einmal
hat diese Glück, einmal jene der Spanierinnen, ab und zu
ich. Muss ja nicht jedes Mal einen Volltreffer landen,
denn ich schätze auch die Kumpel hier, die Atmosphäre,
ein bisschen beschwipst zu sein und den Winter draussen
einfach zu vergessen.
Aber ich Sachen Kleidervorschrift würde ich keinen
Kompromiss machen. Schwarz. Immer. Ob Stoff, Leder,
Lack oder Wolle. Vielleicht etwas weiss dazwischen,
sieht frisch aus und irgendwie sauber. Die Haut ist ja
weiss genug. Schwarz bringt sie zur Geltung. Und Lippen
und Nägel sind ja schon knallrot normalerweise, das
reicht als Balzsignal. Die Accessoires müssen auch
stimmen, denn was nützt viel Gold und Lamé, wenn die
Uhr aus Plastik ist, der Diamant aus Glas und das Parfüm
nach Putzmittel riecht? Kläglich. Würde ich nie tragen,
lieber gar nichts. Und draussen erst recht. In Schwarz fällt
man nicht auf, wird kaum gesehen, wenn man nicht will,
wird auch nicht angepöbelt. Schwarz strahlt eine gewisse
Würde aus, Selbstrespekt, Zurückhaltung, das imponiert.
Man kann Tram fahren, ohne einen Aufruhr zu
verursachen. Ich sage immer: Schwarz ist der Vampir,
schwarz ist die Katze, die Hexe auch und erst recht die
Nacht. Und manchmal ist meine Seele auch ein bisschen
50
schwarz, nach all den Sünden in der Huldrychsstadt. Also
schwarz für immer. Black for ever.
So, genug jetzt mit den Kleidervorschriften, wir sind ja
nicht in einer Modeshow, es ist Dienstagnacht oder ist es
schon Mittwochmorgen ~ in der Serena-Bar? Die
Fussballer singen jetzt im Chor, sie hatten am Sonntag
gewonnen, Testmatch, aber gewonnen ist gewonnen. Und
das muss gefeiert werden, zum dritten Mal diese Woche.
Den einen kenne ich vom Nego, ein grosser Blonder,
breitschultrig, so um die dreissig. Eher Rugbyman als
Fussballer, sicher ein Verteidiger. Er schaut mich an, kaut
nervös an seinem Zahnstocher, seit einer halben Stunde,
der muss ja halb verdaut sein. Er traut sich nicht, möchte
mich nicht direkt sprechen vor seinen Kollegen, aber
seine Augen sprechen für sich. Sehnsucht, Geilheit,
Scham. Gute Mischung, vielleicht ist er etwas schüchtern.
Aber ich will nicht aufdringlich sein und ihn in
Verlegenheit bringen. Die Spinne muss Geduld haben, ich
ziehe also meine Fäden und warte.
Ich dreh mich erstmal um und rede mit meinem
Tischnachbarn, einem Autohändler. ~ Das ist eine Spezies
für sich, draufgängerisch sind die, früher wären sie Rossund Viehhändler gewesen, gleiche Branche – andere
Zeiten. Er will mich nach Bülach mitnehmen: «Wie bitte?
Wo isch dänn das, Bülach? Was? im Unterland? Wo? Hui
nei!» Warum kommen die denn überhaupt hierher, die
Händler der Mobilität aus dem Unterland? Warum
51
scharren sie nicht dort? Wäre ja praktischer oder? Eben,
Sündenmeile gibt’s dort nicht, sie müssen die Atmosphäre
vom Chreis Cheib erleben, erst dann kommen sie in
Stimmung. Und vor allem, hier kennt sie keiner, denken
sie. Niemand plaudert aus, so weit weg von zu Hause.
Hier können sie sich furchtbar sündhaft geben. Nur mit
der Serviertochter vom Leuen in Bachenbülach dort unten
zu flirten, das reicht ihnen nicht. Der Autohändler ist
vorerst nett, höflich, spendabel. Aber er hat was im Kopf,
hartnäckig ist er. Ich darf noch einen Champagner trinken.
Komm doch mit, sagt er immer wieder. Aber ich wohne
gleich um die Ecke, was soll ich da riskieren? Mit einem
Viehhändler mitten in einer Schneewüste stecken zu
bleiben? An einem Mittwochmorgen, im Stall da unten?
In der Garage? Und das im Winter? Kommt nicht in
Frage. Lieber gehe ich nach Hause, jetzt. Schade um den
Fussballer mit dem Zahnstocher, aber so nicht. Er
insistiert, will mich mit Geld überreden, ich lehne zuerst
höflich ab, dann werde ich langsam sauer… die, die man
nicht will, wollen… die die man will, wollen nicht… Ich
muss mich jetzt entscheiden. Hier bleiben und belästigt zu
werden, von einem Autohändler, der langsam blau ist und
immer aufdringlicher wird, nicht mehr kann, vor allem
nicht mehr Auto fahren, soll ich dem Fussballer ein
Zeichen geben – wie sagt man so was wie ‹ein andermal›
in der Zeichensprache? Ein Zeichen geben, einen längeren
Faden spinnen und dann brav nach Hause gehen.
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So lass ich den Viehhändler einfach stehen. Der
Zahnstocher bewegt sich immer schneller. Es tut mir leid
für ihn, weil er ein Netter ist, im Grunde. Gutes Herz.
Und auch für den Fussballer, weil er nicht allein ist und
sich nicht entscheiden kann. Schüchterner Bub. Genug.
Ich ziehe den Mantel an und verlasse die Bar, es ist schon
spät, morgen ist ein Arbeitstag. Ich laufe der
Kanonengasse entlang, grüsse noch Leute, die aus der
Piraten-Bar rauskommen, schwatze ein bisschen mit
ihnen, es wird kalt, schnell, die Lagerstrasse runter… als
ich in der Nähe meiner Wohnung ankomme, da hält
plötzlich ein grosser, schwarzer BMW drohend vor mir
auf dem Trottoir… Upps, Streit? Rache? Habe ich was
angestellt in letzter Zeit? Und hier ist auch noch
Fahrverbot, Parkverbot, Einbahnstrasse, alles verboten.
Tut mir leid, der Laden ist geschlossen, denk ich, was will
denn der imponieren, mit seinem BMW? Ich laufe schnell
links vorbei am Fahrzeug, und was sehe ich? Den
nervösen Zahnstocher, mit meinem Fussballer dran, beugt
sich vor, gibt ein freundliches, schüchternes Zeichen.
Eben, ich sagte ja schon, Dienstag, da geschehen Wunder
in der Serena-Bar.
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54
Mittwoch
Ich habe eine Einladung bekommen, einen winzigen
Zettel mit einem umkreisten ‹A› drauf, Handschrift,
gekritzelt, schwarz auf rotem Papier, und eine fast nicht
lesbare Adresse. «Muesch unbedingt cho!», sagte mir
gestern Abend der aufgedrehte Punk, der mir das
Zettelchen in die Hand drückte. Ein Keller in einem
Abbruchhaus. Kurz vor elf, ich steige die schmutzige
Treppe hinunter, Punks überall, Irokesenfrisuren,
schwarze Kleider, Piercings, aufgekratzte, rotzige, Bier
saufende Jungs und Mädchen, so ab vierzehn aufwärts,
schätze ich. Dumpfe Basstöne dringen durch die dicke
Betontür, der Türsteher, ein Hüne mit roter Igelfrisur und
Sicherheitsnadel
in
der
Nase,
sieht
meine
briefmarkengrosse Einladung und zieht am Hebel, die
schwere Tür bewegt sich langsam. Eine Schallwelle wie
ein Donnerschlag empfängt mich, dicker Rauch,
Schweissgeruch, no perfume scheint das Motto hier zu
sein, stickige Luft steigt in meine Nase. Das junge
Publikum kreischt und hüpft auf und ab, singt mit, Bier in
einer Hand, Zigarette in der anderen. Es ist sehr laut,
chaotisch, brutal schlechte Musik, finde ich, noch
schlechter als die Velvet Underground, aber geiler,
hämmernder Rhythmus. Totale Amateure am Werk, die
Stimmung ist jedoch wie elektrisiert, genial, da passiert
was, der Funke springt über, ich hüpfe eine Weile mit.
Die Punkettes schreien hysterisch, die jungen Männer
grölen. Die Lärmorgie dauert etwa eine halbe Stunde, alle
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sind ziemlich betäubt, vom Lärm, vom Bier, vom
Kopfschütteln, einige auch von Drogen.
Während einer kurzen Pause, kurz bevor es wieder
losgehen soll, hört man Schreie von der Tür draussen,
plötzlich geht der Strom aus. Taschenlampen suchen sich
einen Weg durch den dunklen, rauchigen Raum. Die
Punks sind wütend. Vier Polizisten stehen an der Tür,
ziemlich verdutzt. Der Keller wird evakuiert, alles muss
raus, kaum hat die Party angefangen, schon ist sie fertig.
Papiere werden kontrolliert, Namen aufgeschrieben. Die
Jungs und Mädchen schreien, pöbeln die Polizisten an,
beleidigen sie und schimpfen. Eskalation droht, die Jungs
halten schon Steine und Bierflaschen parat. Es herrscht
Chaos im Keller. Draussen auf der Strasse ist die Hölle
los, die aufgebrachten, frustrierten Jugendlichen gehen
auf die Polizisten los, kurz hinterher hört man Sirenen,
eine Horde Polizisten in Kampfmontur stürzt aus einem
Kastenwagen, wird mit Bierflaschen und Steinen
empfangen,
die
Strassenschlacht
wütet
kurz.
Tränengaspetarden tanzen am Boden, ich ergreife die
Flucht, beim Helvetiaplatz versammeln sich die Punks
zusammen mit anderen jungen Leuten und bauen eine Art
Strassenblockade aus Abfallcontainern. Sieht aus wie im
Krieg hier, No Future, früher war Peace & Love, die
Zeiten ändern sich. Ich ergreife die Flucht, renne die
Kanonengasse entlang, höre Sirenen, die Luft ist vom
Tränengas verpestet. Ich biege in die Zwinglistrasse
56
(Jesses bei Huldrych!) und flüchte mich in die OchsenBar. Uff, gerettet!
Hier scheint niemand bemerkt zu haben, was da draussen
vor sich geht. Der schöne Heiri ist da und zieht wie
gewohnt an seiner Cohiba, präsentiert sein süffisantes
Lächeln unterm seinem blonden Robbenschnauz, die
Vokuhila-Frisur wie immer schön geföhnt. Sein silberner
Corvette Stingray steht vor der Tür. Er hat gut lachen, ich
sah gerade vorhin seine Damen die Zwinglistrasse entlang
spazieren und frieren (armer Huldrych, was ist aus deiner
Strasse geworden?). Vielleicht wird heute Heiris Business
etwas beeinträchtigt. Freier mögen keine Polizei. Die
schöne Barmaid serviert heute, alle Männer sind
ihretwegen gekommen, eine Augenweide ist sie und nicht
zickig, immer aufgestellt, hat immer einen lustigen
Spruch parat. Man munkelt, es gäbe Fotos von ihr… ja
genau, solche. Ihr ist das anscheinend egal, sie hat gar
keinen Grund sich zu schämen, bei der Figur. Die Männer
trinken und glotzen Richtung Décolleté, sinnierend,
fantasierend, aber eben, sie ist vergeben.
Hier trifft sich alles, was Rang und Namen in der Stadt
hat, nicht nur Sportler, Künstler, Musiker, sondern auch
Politiker, Wirtschaftsbosse, Journalisten, Moderatoren,
einfach alles. Natürlich gefolgt von einer Schar hübscher
Mädchen, die auf alte, reiche Säcke stehen. Aber die
hübschen Girls ziehen auch die jungen, eleganten, geilen
Burschen an, und die wiederum ziehen mich an. Deshalb
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bin ich hier. So schliesst sich der Kreis und jeder hat
etwas davon. Wenn ein Sexkönig reinkommt, kann es gut
sein, dass man den Rest des Abends bei
Champagnerlaune verbringt. Spendabel zeigt man sich
hier, wenn man es zu etwas gebracht hat. Ich erzähle vom
Punkkonzert und von den drohenden Krawallen. Alle
staunen, anscheinend hat sich die Revolution in Luft
aufgelöst, es waren schliesslich auch mehr Polizisten da
als Revoluzzer. Und die wollten ja nur Musik hören, mehr
nicht. Aber in Huldrychs Welt hat es keinen Platz für
laute Punkmusik, ist ja Lärm – keine Kultur. Nun, der
sogenannte Lärm hat ganz schön viel Energie drin und die
könnte auch mal explodieren. Das gab es schon mal vor
rund zehn Jahren, oder?
Die Bosse hier im Ochsen sind sehr tolerant, die Jungen
sollen ihren Spass haben, wie sie ihn ja auch hatten,
damals beim Rock’n Roll: «Weisch no!». Diese tolerante
Haltung ist anscheinend nicht bis zu den Politikern
vorgedrungen. Die zeigen sich zurückhaltend, um nicht zu
sagen feindselig gegenüber jungen Leuten und ihren
Wünschen. Mich nervt die Polizeistunde zum Beispiel
extrem, vor allem im Winter, und der ist hier sehr lang,
dauert manchmal bis in den Mai, gar Juni! Oder auch das
Radio, ewig diese Ländler, diese Schnulzen, Brot und
Käse-Musik, nichts gegen schöne, klassische Musik, aber
etwas Abwechslung täte gut: «Hey, hallo drüben, wir
zählen das Jahr 1980, Rock, Punk, New Wave, noch nie
was davon gehört in Beromünster?» Da sitzen wohl
58
immer noch die gleichen Leute, die bei der Gründung
1930 dabei waren! Im Ochsen diskutiert man jetzt heftig
über Jugendkultur. Ich spiele selbst in einer Band, wir
kriegen keine Konzertbewilligung.
Meine B&O-Anlage peilt illegale Radios an, schlechter
Empfang, gute Musik, aufgestellte Leute am Mikrophon.
Radio 24, das aus Italien sendet, ist der Renner. Ab und
zu funkt ein anderer Störsender mit Anarchie-Propaganda
dazwischen, mitten in die Nachrichtenbulletins aus
Beromünster. Dort ist der Ton wie aus der DDR,
monoton, bitterernst, sie hocken noch im Réduit, könnte
man denken. Monopol ist ein Zauberwort, ein Machtwort.
Huldrych wollte auch ein Monopol auf seine® Art,
damals! Man weiss wie es ausging.
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60
Donnerstag
Meine beste Freundin ruft an, heute Nacht gibt es wieder
mal eine Privatparty, ich bin auf der Gästeliste. Ich sollte
aber unbedingt neue Klamotten kaufen, Arbeitskleidung
sozusagen. Eintauchen in die dunkle Welt der Phantasmen
und Laster der Huldrychsstadt. Der kleine, diskrete Laden
im Niederdorf ist ganz in schwarz gehalten, an den
Ständern bizarre Kleidungsstücke aus Leder, Lack und
Latex, aber auch Ketten, Handschellen und Peitschen aller
Art. In diesem Reich der Sinne herrscht Ida, die berühmtberüchtigte Königin der SM-Mode. Aus London, Paris
und New York holt sie immer wieder die neuesten
Sachen, spürt Trends auf und beglückt damit biedere
Zürcher
Banker,
Anwälte
und
Ärzte,
die
sadomasochistischen oder sonst abartigen Sexpraktiken
frönen. In dieser Alibaba-Höhle der Lust findet jeder
Fetischist, was sein Herz begehrt. Ich kaufe mir eine
knallenge Lackhose mit seitlichen Schlitzen und
Reissverschlüssen an strategischen Stellen, dazu ein mit
Metallketten eng geschnürtes Oberteil. Ich frage mich,
wie man das repariert, wohl beim Mechaniker. Viel muss
man nicht anhaben bei diesen Partys, denn es ist extrem
heiss und schwül in den Logen, Verliessen, Kabinetten
und Ruheräumen.
Trotz strengem Regime wissen sich Huldrychs Jünger zu
helfen, wenn es um die Befriedigung ihrer geheimsten
Gelüste geht. Kein Weg ist ihnen zu weit, kein Hindernis
61
zu schwer, kein Aufwand zu viel, keine Montur zu teuer.
Sie gönnen sich was, investieren Unsummen und
organisieren alles, was es so braucht, um an ihr Ziel zu
gelangen, koste es, was es wolle. So lande ich in der
Industriezone, in einem grossen Fabrikgebäude mit
riesigem Parkplatz. Es ist bald Mitternacht und die
eiskalten Umkleideräume sind voll mit Männern und
Frauen, die ihre Alltagskleider gegen aufregende
Klamotten tauschen. Man guckt sich gegenseitig an,
mustert sich, munkelt zwischendurch: «Du lueg emal, wer
au da isch…», schnürt hohe Stiefel und Korsetts so eng,
bis der Atem stockt. Zum Glück gibt ein
Industrieventilator etwas Wärme ab, denn ich bekomme
gleich eine Gänsehaut beim Umziehen.
Im dunklen Flur zeigen kleine Kerzen am Boden den Weg
zur Party, zum Nirvana. Leise, geheimnisvolle Musik
ertönt, Stimmengeflüster, metallische Geräusche von
Ketten und Stiftabsätzen, schwere orientalische Düfte.
Die Gäste unterhalten sich leise und geben sich kultiviert,
trinken Champagner. Sie setzen sich an die lange Bar, auf
schwarze Lacksofas. Die Kerzenbeleuchtung spendet ein
sanftes, warmes Licht, umhüllt alles wie ein Schleier,
Lack, Leder, Latex glänzen geheimnisvoll. Körper,
Formen, Glieder sind kunstvoll verpackt, wie Geschenke
im Weihnachtsschaufenster. Das Défilé kann beginnen,
einer nach dem anderen spazieren die Ankommenden an
der Bar vorbei, sehr langsam, würdevoll, bevor sie in den
verschiedenen Räumen verschwinden. Ein etwas älterer
62
Mann stöckelt an mir vorbei auf extrem hohen Absätzen,
stolpernd, leidend, gestützt von zwei Schönheiten, einer
schwarzen Dame in weissem Latex, einer Blondine in
schwarzem Latex, Trio infernal. Ein anderer Mann, jung
und wohl proportioniert, tritt herein, zusammen mit seiner
Krankenschwester im weissen Kleid, mit Haube und
rotem Kreuz drauf, alles in weissem Latex. Doktorspiele
in Aussicht?
Ein Mann und eine Frau teilen sich einen hohen,
massgeschneiderten Stiefel, so sind sie für immer vereint,
beim Gehen, Tanzen, Sitzen und Lieben. Eine
wunderschöne Frau tritt ein, an ihrer Leine ein Mann mit
Maske, der ihr folgt wie ein Hund. Die Prozession geht
weiter, es ist wie ein Ritual, sich zeigen, mild lächeln,
bewundert werden, oder aber auch schockieren,
erstaunen, verführen, alles ist möglich, sie scheinen keine
Grenzen zu kennen. Ein Gefühl von Freiheit und
Toleranz, Lust, Wollust, Phantasmen, Fantasie werden so
hautnah erlebbar, die Grenzen zwischen Norm und
Abnorm verwischen sich. Am Schluss sind nur Menschen
da, die sich einen Traum erfüllen wollen. Auch Gewalt ist
streng ritualisiert, ich bewundere die Vorstellung mit dem
Sklaven und seiner Domina, ein Drama mit Ouvertüre,
erstem, zweitem, drittem Akt und Finale. Die Steigerung
der Lust, der zugefügte Schmerz werden von der Herrin
derart fein dosiert, dass keiner der Zuschauer sich entsetzt
abwenden muss. Alles geschieht auf natürliche Weise,
dein Wunsch ist mir Befehl, deine Befehle sind meine
63
Lust… Schmerz, Rausch und Extase, Harmonie und
Faszination. Der Champagner fliesst grosszügig an der
Bar, Stimmung kommt langsam auf.
Ich beschliesse einen Rundgang zu machen, will die
diversen Räume ~ besichtigen. Eine Entdeckungsreise
durch die geheimen Wünsche und Phantasmen, Bilder die
an die phantastischen Landschaften von Hieronymus
Bosch erinnern, Himmel und Hölle zugleich. An der Bar
lerne ich einen schönen, grossen Mann kennen, Viktor
heisst er, Boxen ist seine Leidenschaft, so sieht er aus.
Sehr kräftig und muskulös, kantiges Gesicht, markante
Nase, die pechschwarzen Gomina-Haare nach hinten
gekämmt. Ein amerikanischer Boxer um 1940 muss so
ausgesehen haben. Toller Typ. Er nahm mich an die Hand
und wir betraten Räume, die für Paare reserviert sind.
Singles
haben
dort
keinen
Zugang,
um
‹Männerüberschuss› zu verhindern. Die SM-Welt ist
anscheinend eine sehr verbreitete Männerfantasie. Frauen
hingegen sind in dieser Welt untervertreten. Man trifft
zwar echte Herrinnen und Dominas, die offensichtlich
Spass dabei finden, Männer zu unterwerfen, zu demütigen
und zu erniedrigen. Aber irgendwie sind in meinen Augen
die meisten Damen nicht sehr motiviert, ich denke das
Geld spielt da auch eine Rolle. Männer in leitenden
Positionen – so meine Erfahrung – zahlen, um gedemütigt
zu werden. Frauen werden im Alltag oft gedemütigt, nicht
freiwillig allerdings. Es gibt aber starke, selbstbewusste
64
Frauen, die sich in der Rolle der Allmächtigen sehr wohl
fühlen. Um die geht es hier und heute.
Viktor führt mich wie eine Trophäe durch die Räume, ich
bin seine Errungenschaft. Ich weiss aber, dass er mich im
Grunde nur mitnimmt, weil er dadurch Zutritt zu ihm
sonst verschlossenen Räumen erhält. Mir ist das egal,
Viktor oder ein anderer, spielt für mich keine Rolle. Gut
aussehen muss er. Ich bin flexibel und kann mit Paaren,
Frauen und Männern gleichermassen Spass haben. Ich
habe also die Wahl. Viktor ist da etwas eingeschränkter.
Aber er ist ein netter Kerl, lächelt die ganze Zeit, ist
fasziniert, unheimlich erlebnisgeil. Wir betreten einen
Raum, der wie eine kleine Kirche ausgestattet ist, mit
Bänken, Altar, Beichtstuhl auf der Seite. Was für ein
Gottesdienst findet hier denn statt? Viktor schaut mich
fragend an. Eine Art Thron aus Metall steht auf einem
Podest, eine schöne Herrin sitzt drauf, ihre Hände sind
festgebunden. Sie trägt ein enges Lederkorsett, die dünne
Taille fest geschnürt, hohe Stiefel, die Beine ~ gespreizt,
die Scham rasiert, von unten schwach beleuchtet, der
Busen ist nackt, üppig und weiss. Im fahlen Licht
erscheint aber nicht eine Vulva, sondern ein Penis. Die
Männer stehen Schlange, nähern sich, knien vor der
Herrin, küssen ihre Scham, ihren Busen, verbeugen sich
und setzen sich auf die Bänke, die Zeremonie dauert eine
Weile. Der Kult gilt dem Hermaphroditen. Viktor ist
fasziniert, er starrt wie versteinert in den offenen Schoss.
65
Ich führe seine Hand an meine enge Lackhose. Er lächelt
etwas verlegen und folgt mir zum Beichtstuhl. Er besteht
aus drei Abteilen. Links und rechts für die Beichtenden,
in der Mitte kniet der Pfarrer. Zwei Öffnungen auf
Augenhöhe sind mit kleinen, vergitterten Fenstern
versehen. Viktor und ich nehmen Platz im mittleren
Abteil. Ich verriegle die Tür und beginne Viktors Brust
und Nippel sanft zu streicheln, meine Hand erkundet
seinen kräftigen Körper. Viktor ist wie elektrisiert, er
zittert am ganzen Körper, ist extrem angespannt, wie eine
Feder die gleich losgehen wird. Im linken Abteil nehmen
zwei neugierige Männer Platz, im rechten ein älterer Herr
mit glänzenden Augen. Ich lecke Viktors Nippel, meine
Zunge fährt nach unten, Viktor schliesst die Augen. Die
Männer links wichsen und schieben mir ihre Schwänze
durch das offene Fensterchen. Rechts bleibt das
Fensterchen geschlossen, der ältere Herr sabbert, grinst
dahinter, die Zunge ausgestreckt. Ich stehe auf und zeige
den Männern Viktors harten Schwanz, sie stürzen sich
drauf, lecken, blasen, wechseln sich ab, während ich
Viktor küsse und seinen festen Hintern hart anpacke.
Viktor ist wahnsinnig vor Geilheit, stöhnt wie eine
Dampflokomotive. Der Alte hält es nicht mehr aus,
schreit seine Lust raus, verdreht die Augen, fleht, man
solle das Fenster öffnen, rüttelt daran. Viktor bebt nun am
ganzen Körper, plötzlich packt er mich unsanft, dreht sich
um und fickt mich, während die Männer sich um meinem
Schwanz kümmern. Der Alte wichst und zittert hinterm
66
Gitter. Alles bebt und stöhnt im Beichtstuhl, das
Häuschen ist nicht sehr solid gebaut, droht
zusammenzustürzen. Oh Huldrych! Die Holztüren
knarren, die Steinmauer ist feucht und kalt. Plötzlich
stösst Viktor einen lauten Schrei aus und erdrückt mich
fast, als er zuckend in mir kommt. Die Männer bespritzen
mich mit ihren Ruten (eine Feuerwehrübung?), als auch
ich den Höhepunkt erreiche. Viktor ist schweissgebadet
und klebrig, die Männer zucken, der Alte schrumpft
zusammen und seufzt hinterm Gitter. Die Orgie ist
beendet, Viktor öffnet die Tür, ein Dutzend Zuschauer
sind noch da, Applaus gibt’s aber keinen. Wir schubsen
uns durch die Menge und verlassen die Kirche. Viktor
lächelt, triumphiert, bedankt sich: «Ich häätt nie
däänkt…», sucht eine Erklärung für sein Benehmen –
oder war das eine Bekehrung? – findet aber keine.
Erstmal auf die Toiletten, erfrischen, waschen, Schminke
nachbesseren.
Wir treffen uns wieder an der Bar, Viktors Dankbarkeit
berührt mich, er strahlt, seine dunklen Augen sind wie
besänftigt. Er schmunzelt die ganze Zeit, kann es gar
nicht fassen. Wir trinken noch was und beschliessen, eine
letzte Runde durch die verschwitzten Räume zu machen.
Die Musik ist lauter geworden, die Stimmen auch, aus
allen Räumen ertönt eine Mischung aus Stöhnen,
Schreien, Seufzen, man hört Klatschen, Lustschreie,
Männerstimmen ausser Atem, die Luft ist schwer,
Schweissgeruch überall, penetrant, unangenehm ätzend.
67
Viktor hat genug, er will gehen. Es ist sehr spät. Er zieht
sich um, ich ziehe nur meinen Pelzmantel über die
besudelten Party-Kleider. Draussen ist es bitterkalt, die
Sterne leuchten am Himmel, traumhaft schön, die Luft ist
durchsichtig, beissend, stimulierend zugleich. Wir
nehmen ein Taxi, zuerst zu mir. Als ich am Eingang bin,
sehe ich Viktors freundliches Handzeichen, bevor er in
die eisige Nacht verschwindet.
68
Freitag
Freitag ist der grosse Ausgangstag in der Huldrychsstadt.
Nach einer langen, arbeitsamen Woche sehnen sich die
Leute nach Unterhaltung, Spass, Abwechslung. Und
natürlich strömen alle in den Chreis Cheib. Da sieht man
ganze Horden von jungen Männern aus dem Mittelland
auf
Parkplatzsuche,
die
Massagesalons
haben
Hochkonjunktur – die Arbeiter hier sagen Zupfstube, was
der Realität besser entspricht, finde ich. Aber hier darf
man das Wort Sex nicht einmal aussprechen, auch nicht
schreiben, wehe denn ausüben. Die Hölle droht schon.
Massage tönt eben harmlos. Was da massiert wird spielt
keine Rolle, Hauptsache es klingt anständig und bieder,
besser noch, hygienisch. Ein Zauberwort hier, wird viel
gebraucht, nicht nur beim Zahnarzt. Die französische
Armee war da schon praktischer und nannte bis 1946 ihre
Zupfstuben BMC (Bordel Militaire de Campagne). Da
wusste man sofort, worum es geht, oder? Es kam auch
vor, dass dort – wie übrigens hier und heute abend – zu
wenig Damen (Pardon Personal) vorhanden war, dann
hängte der zuständige Offizier ein kleines Plakat vor die
Tür, auf dem diese Mahnung stand: «Infolge
Personalmangels werden die Herrschaften gebeten, sich
von Hand vorzubereiten».
Heute Freitag herrscht reger Betrieb, die Trottoirdamen
legen eine Schicht nach der anderen ein und kommen
trotzdem nicht mehr nach. Bald muss ich da eingreifen,
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ich bin ja hilfsbereit diesbezüglich, vor allem wenn es
sich um junge Männer aus der BE-SO-AG-Zone handelt,
hhhm… da läuft mir schon das Wasser im Mund
zusammen. Sooo viele schöne, geile Kerle hat es dort,
man kann sich kaum vorstellen, was die Huldrychsstadt
da für ein Reservoir an kräftigen Kerlen hat. Übrigens
sind die auch als Arbeitskräfte gesucht, und nicht nur für
Sex. Und alle suchen sich am Freitagabend einen
Parkplatz hier im Umkreis der Langstrasse, und die sind
rar. Wild parkieren ist fast eine Todesstrafe wert, die
Politessen (die sind nicht immer so höflich, wie die
lächerliche Verbalhornung es vermuten lässt) zeigen sich
unerbittlich. Polizeidamen müssen irgendwie einen
Übernamen haben, in Paris hiessen sie zuerst
Aubergines(!), nicht wegen der Figur, nein, sondern der
Uniformfarbe wegen, später wechselten sie auf hellblau,
prompt wurden sie Pervenches (Vergissmeinnicht)
genannt. Manche Sauftour kann teuer zu stehen kommen,
wenn die Kerle falsch parkiert haben. Und als mancher
von ihnen die Busse sah, war der gleich wieder nüchtern.
Nun, Parkplatzprobleme hin oder her, alle strömen in
Richtung Langstrasse, dort, wo die heile Welt aufhört und
die Hölle beginnt, vermeintlich.
Gut, verglichen mit einer Sauftour in, sagen wir,
Oberbuchsiten
around
midnight,
ist
das
Langstrassenquartier schon etwas attraktiver. Das Kino
Rotwand gibt gleich die Farbe an mit dem ‹O›, der gar
keinen Zweifel lässt, was da für ein Programm läuft. Und
70
es läuft wie verrückt, würde eigentlich rund um die Uhr
laufen, wäre da nicht die Obrigkeit, für die derart
luziferische Darbietungen ein Dorn im Auge sind. Also
los, ab ins Kino, die Kasse klingelt, man hört manchmal
komische Geräusche, lautes Stöhnen dringt bis draussen
auf das Trottoir – man kann sich bildlich vorstellen, wie
es drinnen zu und hergeht. Das tun die Minderjährigen
hier, gucken sich die Bilder in der Vitrine an, voller
Sehnsucht, können kaum warten bis sie achtzehn sind,
aber da gibt’s kein Pardon, bis dann gilt für sie
Handbetrieb und basta. Auch die Damen lehnen sie
kategorisch ab, ein ganzer Lehrlingslohn würde auch
nicht helfen.
Die Langstrasse ist ~ ein Ort der Sehnsucht, war schon
immer einer, früher hatten die Italiener das Quartier ~
beschlagnahmt und nannten ihre Beizen Capri, Venezia
oder Lido. Orte der Sehnsucht eben, ein bisschen
Italianità und Lebensfreude mitten in der strengen
Huldrychsstadt, dort wo die Leute so früh ins Bett gehen
und wieder so früh aufstehen, und wo man so viel
arbeiten muss. Und wo man keine Siesta in der
Nachmittagshitze kennt, keine Terrasse, wo man an einem
lauwarmen Abend draussen sitzen und plaudern kann.
Aussenbestuhlung ? Mamma mia, streng verboten!
Gegen zehn Uhr lande ich im Bermuda-Dreieck, der
berühmt-berüchtigten Ecke, dem Sündenpfuhl par
excellence. Trotz des Winters herrscht hier immer
71
Hochbetrieb, die grellen Neons leuchten wie in Las
Vegas, vielversprechend ist das Angebot, Hotels,
Sexshops, Massagesalons, Erotikmarkt, rosa beleuchtete
Fenster, ~ Vitrinen mit leicht durchsichtigen
Vorhängen… alles buhlt laut und farbig um Kunden, aber
auch Restaurants, Beizen und Wurstbuden gibt’s. ~ Es hat
hier für jeden etwas, egal wie gross der Hunger ist, den
man gerade stillen möchte.
In der Nähe hat Mae ihren Salon. Mae ist eine schwarze
Gazelle, Black Beauty aus Kenia oder Äthiopien oder so.
Ihr English ist sehr beschränkt, sie kennt aber die Zahlen
bis hundert, dazu alle Sexstellungen auswendig, aber
sonst ist eine Konversation mit ihr eigentlich auf Gestik
beschränkt. Mae ist geschäftstüchtig, arbeitet hart und
spart für ein Haus draussen auf dem Land
(Horrorvorstellung für mich!). Ich sehe sie schon vor mir,
die Black & White-Idylle: Die schwarze Gazelle kauft
sich irgendwo in Glattbrugg oder Dübendorf ein Hüsli,
mit Zaun, Geranien überall, Gartenzwergen und
Schweizer Fahne. Na Prost! Das bittere Erwachen wird
nicht lange auf sich warten lassen. Sie sollte sich auf ein
langes, stummes und bewaffnetes Zusammenleben
vorbereiten (etwa so, wie Sartre die Ehe sah). Das hält
meine Gazelle niemals aus. Man stelle sich Frau
Sonderegger vor, mit einer schwarzen Nachbarin, «So
öppis gits bi üs nöd!» Und die Nachbarn werden den Duft
ihres Affenfleisch-Eintopfes auch nicht schätzen.
72
Aber Mae ist eine nette Person, grosszügig spendet sie
Drinks, verschenkt ihre alten Pelze wie andere Socken,
bietet jedem was zu essen, kocht und isst im Salon, auf
dem Bett. Ein Hauch Afrika. ~ Aber schön ist sie, ein
Profil wie Nofretete, oder Grace Jones. Turmhohe Frisur
mit farbigen Tüchern, lange Créole-Ohrringe. Exotik pur.
Die Kerle aus dem Emmental bleiben gleich stehen. So
ein unvorstellbarer langer Hals, solche unendlich langen
Beine, so dünn, so wohlgeformt, und das alles schwarz,
fast blau, so was gibt’s in Trubschachen garantiert nicht.
Schöne Menschen gibt’s überall, klar, aber so eine haben
sie noch nie in natura gesehen, höchstens im Pornoheftli,
das sie verschämt am Kiosk in Bern gekauft haben und
nach Gebrauch unter der Matratze verstecken. Eine
Gazelle eben. So nannten die Araber schöne Frauen schon
immer. Wenn Mae müde ist und trotzdem Kundschaft da
ist, darf ich auch ab und zu aushelfen. Ich wähle aber aus,
mit wem ich da im Hinterzimmer verschwinde.
Dreier sind eher selten hier, Mae mag das nicht, bei ihr
muss es schnell gehen, Business eben. Fast alle Männer
wünschen sich mal einen Dreier, wären bereit, viel mehr
dafür auszugeben. Auch Doppeldecker sind gefragt, hatte
ich auch schon, aber nicht mit Mae. Sie mag keine
komplizierte Gymnastik, das ist ihr zu anstrengend, und
erst recht mit den grossen, schweren, gut gebauten Kerlen
aus dem Mittelland. Reine Zeitverschwendung, findet sie,
im Gegensatz zu mir. Zeitdruck kenne ich nicht, ich muss
auch nicht ein Hüsli auf dem Land haben. Es kam schon
73
vor, dass sie mehrmals nervös an die Tür klopfte, wenn
ich mit einem wunderbaren Schwinger aus dem
Toggenburg beschäftigt war und die Hände nicht von ihm
lassen konnte, bis er total erschöpft war. Mae ist nicht
sentimental, ~ wirklich gar nicht, auch ist sie nicht sexgeil
oder ~ nymphomanisch veranlagt. Während ein Mann auf
ihr liegt und keucht, schliesst sie die Augen und zählt ihre
Moneten nach. Eine Spalte für die Einnahmen, eine für
die Ausgaben. Wie viel braucht es noch bis zum
Traumhaus? Da kann keine Geilheit aufkommen.
Männern scheint diese Haltung mehr oder weniger egal zu
sein, sie zahlen, hocken drauf, vergnügen sich und gehen:
«Mit so einere wie die da» im Dorf aufzukreuzen wäre ja
sowieso undenkbar. Was würde der Pfarrer sagen, oder
die Nachbarn? Und erst die Kollegen. So einfach ist das.
Schade, dass es so schnell gehen muss, finde ich, vor
allem bei extrem gut gebauten Kerlen, Prachtexemplaren,
echten
Zuchtbullen
mit
grossem
Gehänge,
Landschönheiten, riesig, schwer, meistens blond, blaue
Augen, makellose Haut, vor Gesundheit geradezu
strotzend, aber eben, ich habe den Chreis Cheib nicht
erfunden, die Welt auch nicht und erst recht nicht das
älteste Gewerbe, seit Eva in den Apfel biss. Ich kann
keinen Einfluss auf das Verhalten unbekannter Männer
haben. Und auch nicht auf Mae. Vieles könnte man besser
machen, ein bisschen mehr Menschlichkeit in diese
Kurzbeziehungen einbringen. Ich bin aber nur Zuschauer,
ab und zu Profiteur, deshalb erspare ich ihnen meine
74
Kommentare und gebe mich zufrieden mit dem, was ich
kriegen kann.
Und das ist nicht wenig. Das Reservoir um Zürich ist
schier unerschöpflich. Bei Mae scheint das Geld einfach
so reinzutropfen, Goldregen sagt sie: «It’s raining gold in
this town!». Ihr Laden läuft wie verrückt. Man müsste fast
eine Drehtür einbauen. Müsste sie nicht ab und zu
schlafen, würde es sich noch besser rentieren. Die Mieten
hier sind horrend, jeder verdient mit. Ich dachte auch
schon darüber nach, am Wochenende hier eine Schicht
einzulegen, um sie zu entlasten, und so noch mehr Spass
am Wochenende haben, vor allem im Winter. Aber die
Vorstellung, plötzlich meinem Finanzchef, klein, rund
und kahl, oder dem Pfarrer, jung, gross und schön, in
dieser Aufmachung gegenüber zu stehen, wäre mir doch
zu peinlich. Ist mir auch schon passiert, dass in einer Bar
plötzlich der nette, brave Familienvater, Buchalter im
Büro nebenan, mir gegenüber steht und heftig mit einem
Exotic Girl flirtet, da habe ich mich einfach diskret aus
dem Staub gemacht. Nicht, dass es mir peinlich gewesen
wäre, eher umgekehrt, aber ich hätte seinen fragenden
Blick im Büro nicht mehr ertragen können, seine
Bedenken kann ich mir auch gut vorstellen… wird er
ausplaudern, oder nicht, wer weiss es schon… Genieren
muss ich mich deswegen noch lange nicht, denn ich
werde dafür bezahlt, Ideen zu bringen und zu
verwirklichen. Also für meine Kreativität. Wenn diese
Nummer hier, das Schauspielern, Improvisieren, Sich75
selbst-darstellen und Verstellen, Rollentauschen und so
weiter, nicht kreativ ist, was denn sonst!
Umgekehrt gibt es in der Oper Männerrollen, die von
Frauen besetzt werden, die sogenannten Hosenrollen, die
gelten als höchst schwierig, nicht nur der Stimme wegen.
Nun, ich will kein Theater und auch kein Operndrama,
besser verschwinden und Schwamm drüber. Ich werde
auch niemanden erzählen, was ich da alles gesehen und
gehört habe. Die Welt ist schon verlogen, aber da kann
man nichts machen. Erlebnisse behalte ich für mich.
Intrigen gibt es schon genug im Büro. Aber man sieht,
selbst im Undercover ist der Mensch nicht unsichtbar und
es gibt viele Leute, die ein ausgesprochenes Talent für
Physiognomie besitzen, da nützt die Verkleidung
überhaupt nichts. Barleute zum Beispiel, oder Taxifahrer,
oder alte Prostituierte, die besitzen so was wie einen
Radarblick. Sie haben so viele Menschen kennengelernt,
gesehen, gehört und gemustert, dass sie durch einen
hindurchsehen, dank einer Art sechsten Sinns. Diese
Menschen sehen hinter die menschliche Fassade,
durchschauen einen schnell, ein Blick genügt, ein
Lächeln, eine Bewegung und schon läuft bei ihnen die
innere Kartei, vergleicht, errechnet, evaluiert und findet
blitzschnell, was sie sucht. So eine Art Déjà-vu-Effekt.
Bekannt, unbekannt, die Grenze ist schmal und
durchlässig.
76
Dass ich seit einiger Zeit mit Mae und anderen Damen
befreundet bin, liegt einerseits daran, dass ich sie um ihre
vielen geilen Männer beneide, dies obwohl ich weiss,
dass sie nichts daraus machen. Die schönen Männer
interessieren sie überhaupt nicht. Vielleicht liegt es auch
daran, dass ich sie als Mensch verstehe. Sprachlich sind
sie gewiss nicht sehr begabt, aber es kommt viel rüber.
Ihre Welt ist durchschaubar, einfach gestrickt, pendelt
zwischen Glanz und Misere hin und her, from the Ritz to
the Pits sozusagen. Der alte Traum vom grossen Geld,
schnellen Geld, die meisten von ihnen haben das Gefühl,
dass die momentanen Erfolge weitergehen werden,
Euphorie macht blind, das weiss jeder. Denn die
Konkurrenz ist immer da, während sie Tag für Tag, Jahr
für Jahr älter werden, wird die Konkurrenz immer jünger,
hübscher, exotischer und zahlreicher. Oft geraten sie
ausser Kontrolle. Mae zum Beispiel trinkt manchmal über
den Durst und hat sich dann nicht mehr im Griff. Sie
taucht in einer Bar auf, poltert herum, schreit Männer an,
beschimpft Unbekannte, wirft Gegenstände um sich,
danach heult sie. Die Gäste lachen, wenige zeigen etwas
Mitgefühl, die Barleute versuchen sie zu beruhigen, sie
solle nach Hause gehen, aber sie will weiter trinken und
ihren Kummer im Suff vergessen. Man kann ihr auch
nicht helfen.
Woher diese Krisen kommen, weiss ich auch nicht, aber
vermutlich hat sie Schlimmeres durchgemacht, denn diese
Wut kommt nicht von ihrer Arbeit hier. Die Männer, die
77
sie hier bedient sind alle nett und respektieren sie, sie sind
distanziert zwar, kalt, aber immer korrekt. Arme Mae
denk ich manchmal, wenn sie so weitermacht wird sie ihr
Hüsli wohl nie kaufen können. Es wird ihr Traum bleiben,
ein Traum vom Familienglück, mit Ehemann und
Kindern, einfach und bieder. Aber eben, jeder weiss, aus
welchem Stoff diese Art von Träumen sind.
78
Samstag
So gegen zwölf ist die Hölle los im Chreis Cheib. Denn
selbst am Samstagabend machen die meisten Buden dicht
um diese Zeit in der Huldrychsstadt. Alles strömt auf die
Strasse, will noch was erleben, irrt durch die eisigen
Gassen, steht in der beissenden Kälte herum, sucht
vergeblich noch eine offene Beiz, um ein letztes Glas zu
trinken. Aber die Bars mit Verlängerung sind rar und
teuer. Die wenigen, die länger offen haben dürfen,
betreiben eine skandalöse Preispolitik. Da kann es gut
vorkommen, dass man für ein Mineralwasser zwanzig
Franken bezahlen muss. Ein Büezer müsste dafür eine
Stunde lang hart arbeiten. Da wird brutal abgezockt, eine
direkte Konsequenz der restriktiven Gesetze im
Gastgewerbe. Astronomische Preise und Gewinne kann
man hier ~ mit einem Nachtclub erzielen, ich habe mal
ausgerechnet, was drei Deziliter Quellwasser im Einstand
kosten, im Verhältnis zum Endpreis, Faktor Tausend
garantiert, astronomischer Mehrwert eben, es wird einem
schlecht. Aber eben, Träume haben keinen Preis.
Restriktiv bedeutet rar, und rar teuer, künstlich verteuert
zwar, aber fast nicht bezahlbar für Normalsterbliche. Das
wollte die Obrigkeit hier schon immer.
Als vor zweihundert Jahren die Franzosen in Zürich
einmarschierten, war die Hölle los. Die waren entsetzt,
hier gab es kein Theater, kein Musical, kein Bordell,
keine Cafés dansants, keine Strassenbeleuchtung, Couvre79
feu um acht Uhr, ora et labora, Punkt Schluss. Sie
fackelten nicht lange, Obrigkeit hin oder her. Schnell
wurden erst ein Theatersaal, dann eine Konzerthalle und
eine Art Musical aus dem Boden gestampft. Die hübschen
Damen, die bis dahin das älteste Gewerbe der Welt im
Dunklen und unter ständiger Angst vor dem Gefängnis
betrieben, liefen plötzlich mit farbigen Kleidern und
gefärbten Haaren herum, ausgestattet wie Prinzessinnen.
Was musste das für ein Anblick unter den Laternen der
neuen Strassenbeleuchtung gewesen sein! Cafés,
Restaurants und Bistros wuchsen wie Pilze nach einem
Sommerregen, blieben weit nach Mitternacht offen. Das
junge Volk vergnügte sich mit der Soldatesque wie nie
zuvor, die Obrigkeit zeigte sich entsetzt, die Bigotten
flehten, der Himmel möge dieses Ungeziefer vernichten,
aber es passierte nichts. Bis Napoleon Bonaparte weiter
zog und mit ihm die Grande Armée – es gab ja noch viel
zu tun – und so fiel die Euphorie wie ein verschmähtes
Soufflé in sich zusammen. Ruhe und Ordnung kehrten
wieder ein, die Kirchen waren wieder voll. Die sündige
Zeit war überwunden. Aber die Strassenbeleuchtung und
die Hausnummerierung blieben, auch das Theater und der
Konzertsaal wurden weitergeführt. Das Volk hatte die
Spassgesellschaft und die Kultur entdeckt. Und fortan
wurde es für die Obrigkeit immer schwieriger, ihre
strengen Regeln durchzusetzen. Sie wurden immer wieder
durch List und Tricks umgegangen, der Drang nach
Vergnügungen aller Art blieb bis heute erhalten.
80
Das heutige Couvre-feu an der Langstrasse ist ein Segen
für mich, so gegen Mitternacht mach ich mich auf den
Weg. Da fällt mir das alte Lied von Régine ein: «J’suis
qu’une souris, gueule de nuit et je vais je viens je passe,
passe…» (in etwa: bin ein Mäuschen nur, ein
Nachtgewächs, ziehe um die Häuser, husch! fort bin ich).
Heute gibt’s in der Paulus-Bar eine Arrivage von jungen
Girls aus praktisch allen Herrenländern, Fresh meat for
the market. Die Aufregung ist gross, die Nachricht macht
die Runde. Deshalb gibt es eine Warteschlange an der
Tür, so um Mitternacht. Männer wollen unbedingt sehen,
wie die Neuen aussehen. Die Mädchen werden
nacheinander auf dem Podium präsentiert, tanzen ein
bisschen, ziehen sich mehr oder weniger motiviert oder
kunstvoll aus und verschwinden. Die Männer werfen
gierige Blicke auf sie, treffen ihre Wahl, zuerst im Kopf,
irgendwann werden sie der Auserwählten ein Piccolo
offerieren, in der Hoffnung endlich mal zum Zug zu
kommen. Aber meistens kommt es nicht dazu, entweder
ist das Girl am Ende zu müde oder zu betrunken, um
irgendwas anfangen zu können, oder er ist stier und dazu
noch blau(!). Die Kombination ist nicht gerade ideal. Und
so träumt man weiter: «Die Nächste bitte!»
An der grossen Bar sind nur ‹patentierte Girls›
zugelassen, aus Angst vor der Konkurrenz, die sich da
draussen den Arsch abfriert und sich die Füsse platt läuft.
Erfrierungsgefahr. Die Damen kommen auch gerne mal
rein, um sich zu wärmen, was zu trinken… schauen sich
81
ein bisschen um… Schwupps! Sie schnappen sich einen
geilen Gaffer. Schon ein Freier weniger für die Girls an
der grossen Bar, ein Big Spender weniger für die PaulusBar. Das geht aber Sonja, der Chefin, zu weit. Wehe sie
entdeckt die Machenschaften der ‹Auswärtigen›: «Raus
mit euch, aber schnell!», da ist Sonja nicht gerade
zimperlich. In der Ecke neben dem Eingang gibt es zum
Glück eine kleine, diskrete Bar für diejenigen, die nicht so
betucht sind oder kein Interesse am Markt haben. Dort ist
mein Stuhl quasi reserviert, stillschweigend sozusagen,
jeden Samstag ab Mitternacht. Aber nur während der
Wintersaison. Wir alle sind Habitués hier, kennen die
Mony, die dicke Barmaid, kennen uns auch untereinander,
es ist immer lustig hier. Drüben wird getanzt, animiert,
gehofft, gelogen, gegafft, dort wird gekauft, verkauft, es
geht zu wie auf dem Gemüsemarkt. Hier hingegen wird
gelacht, diskutiert, geraucht, aber auch geflirtet und
gebaggert, und zwar tariffrei! Nur die Sympathie zählt,
mir ist das recht. So sind wir ein bisschen wie eine
Familie, sind unter uns. Der schöne Heiri ist oft da um
diese Zeit, er muss aber immer wieder nach draussen
gehen, um sein Revier zu kontrollieren, kommt manchmal
erbost wieder rein, oder auch mal zufrieden, seine Cohiba
im Mundwinkel, paffend, verschmitzt und immer elegant,
ganz in weiss und klar, mit Föhnfrisur. Im Schnee ist er
fast unsichtbar, so kann er unbemerkt sein Reich besser
überwachen.
82
Gegen eins platzen Walti und Jules herein, setzen sich erst
mal an die grosse Bar. Eine Traube exotischer Girls stürzt
sich auf Walti, der Champagner fliesst, alle trinken,
prosten sich zu. Jules’ grosse Hand fasst ein Thai-Girl am
Po, seine Pranke knetet den schmalen Hintern wie zwei
frische Semmeln. Heute scheint er gut gelaunt zu sein.
Nach einer Weile steht Walti auf und kommt auf mich zu
mit einem Glas Champagner: «Na Prost! du geili Sau –
gliichfalls Walti, vieux cochon». Jules schaut amüsiert zu,
weiss nicht so recht, ob er zu uns kommen soll oder nicht.
Walti gibt ihn endlich ein Zeichen, Jules umarmt das Tiny
Girl(,) und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Er nimmt
die Flasche aus dem Kühler, nimmt ein Glas und kommt
zu uns. Jules grüsst mich diesmal herzlich, Küsschen,
Küsschen. Was ist los mit Jules, ist er betrunken?
Kaum… er ist einfach glücklich, ich merke dass er
mächtig geil ist, wie immer. Das Thai-Girl hat er schon
gehabt, ist ja nicht schwierig mit Walti als Mäzen im
Rücken.
Walti erzählt verrückte Geschichten. Es scheint etwas zu
laufen im Moment im Chreis Cheib, die Polizei ist vollauf
beschäftigt. Die Unterwelt ist immer einen Schritt voraus,
die Polente hinkt hinterher. Mal gibt’s Krach bei den
Hell’s Angels, mal zwischen den Zuhältern oder
Drogenhändlern, es gibt auch Streit in den illegalen Bars,
die sich in letzter Zeit wie Ratten in Kellern vermehren.
Jules diskutiert mit Walti und drückt seinen Oberschenkel
gegen mein Bein. Da ist was los. Ich bin schon am hirnen,
83
was ich mit dem Ding heute Nacht alles ausprobieren
möchte. Walti hat schon gemerkt was zwischen uns
abläuft. Ist ihm auch recht, denn er weiss, dass er seine
Ration bekommt, wenn er will. Kaum zu glauben, was die
beiden Männer für Sachen erleben in der braven
Huldrychsstadt. Miami ist nicht mehr sehr weit. Leichen
gibt’s da, Mord und Totschlag, Menschenhandel,
Drogenhandel, das Quartier ist ein Umschlagplatz für
gestohlene Autos geworden, Spielhöllen werden jede
Woche geschlossen, neue eröffnet, so ergeht es auch den
illegalen Bars und Tanzpartys: Eröffnungen, Razzia,
Schliessung, Neueröffnung, ein Katz-und-Mausspiel ohne
Ende.
Walti und Jules sind auf dem Laufenden, Jules kennt die
Akten, Walti die implizierten Leute persönlich. Das Duo
ist eine Art James Bond mit zwei Gesichtern, Dr. Jekyll &
Mister Hyde. Aber Jules sieht viel besser aus als der
richtige James Bond, finde ich, der ist nicht so gross, hat
nicht so schöne Augen und garantiert nicht so einen
Hammer in der Hose. Ich würde auf keinen Fall tauschen,
berühmt hin oder her. Und heute sowieso nicht, denn
mein Bond hat seine Geheimwaffe bereits entsichert.
Walti lacht als er die gruseligsten Mordsgeschichten
erzählt, die letzthin passiert sind. Jules merkt, dass es mir
langsam(er) schlecht wird, umarmt mich und drückt
seinen Schenkel noch fester gegen mein Bein, Zeichen
seiner Anteilnahme und Mitgefühl.
84
So gegen zwei, nach der zweiten Flasche Champagner,
will Walti unbedingt in die ‹Hölle› gehen, eine illegale
Bar, die kürzlich aufgegangen ist. Der Geheimtipp im
Moment. So lande ich, Blonder Engel, flankiert von
Erzengel Jules und dem machiavellischen Teufel Walti in
der Unterwelt der Huldrychsstadt. Im Auge des Zyklons,
im Kernreaktor der Subversion. Ich bin nicht zum ersten
Mal hier, aber das wissen die beiden nicht. Ich war schon
ein paar Mal alleine unten gewesen, wegen eines schönen,
gefallenen Engels, genauer eines Hell’s Angels mit
irrsinnig langem, blondem Haar. Von hinten sieht er aus
wie die Farah Fawcett, von vorne wie Sylvester Stallone,
aber viel besser, ein Prachtkerl. Nun bin ich mit meinen
beiden Aussersihl-James-Bond zusammen, auch nicht
schlecht für meinen Ruf und meine Sicherheit, wie ich
kürzlich feststellen konnte. Die Halbweltdamen, die mir
anfänglich feindliche Blicke zuwarfen, als sie mir auf
dem Trottoir begegneten, grüssen mich heute mehr als
freundlich (so im Stil: also wenn die da mit den beiden
unterm Dach ist, da müssen wir wohl im guten
Einvernehmen mit ihr sein). Vorher tönte es so: «Du loos,
I gseh dich zum letzte Mal daa, kapiert?» Und jetzt so:
«Hoi wie häsches, alles ok by dir, schöne Abiig no,
gäll!». Ich muss ~ ehrlicherweise zugeben, dass dieselben
Damen meine Browning auch mal von ganz Nahe
gesehen haben, genauer gesagt, zwischen den Augen.
Aber eben, man merkt sofort den Unterschied zwischen
vorher und nachher.
85
So und jetzt zurück zur Hölle. Wenn man mir damals in
meiner Dorfkirche erzählt hätte, dass die Hölle so geil
aussieht, hätte ich garantiert keine Minute mehr auf dem
Beichtstuhl verloren und all die vermeintlichen bösen
Sünden runtergespült, nur um den armen Vikar zu
schockieren. Die Hölle hier ist ein Paradies für mich, die
schönsten Girls sind da, die geilsten Männer auch, alles
was Rang und Namen hat kommt hier vor um Duft der
grossen, weiten… Unterwelt. Bankbosse zum Beispiel,
berühmte Künstler auch, und vor allem die ganze
Füdliprominenz. Alles trifft sich hier, nicht im Himmel
sondern in der Hölle. Das hat keinen Preis, deshalb kostet
die Flasche Champagner hier so viel wie im Moulin
Rouge, aber was soll’s? Die Stimmung ist fantastisch, die
Musik sehr laut, West Coast Rock, Eagles, Rod Stewart
oder ähnliches. Die Klimaanlage fehlt, es riecht nach
Motoröl, Tabak, Schweiss, Shampoo und Haarlack. Die
Farah-Fawcett-Frisur ist auch da, Indianerstirnband,
breitbeinig, mit Ledergilet und nackten, tätowierten
Armen, und das mitten im Winter, brrrr! Er denkt wohl er
sei in Arizona, auf der Route 66. Er trinkt Bier, scheint
zufrieden mit sich und der Welt zu sein. Ein kaum
bemerkbares Augenzeichen gibt er mir, sein Budweiser
nippend, seinen Zahnstocher kauend. Warum sollte er
sich bemühen, er weiss ja das er unwiderstehlich ist, für
mich zumindest. Was für eine Erscheinung, direkt aus
dem Gigolo-Katalog von Beverly Hills würde man
denken, Breeder, sagen die Amis, so was wie Zuchtbulle.
86
Der Olie ist wirklich ein Prachtexemplar seines Genres.
Arbeiten tut er nicht, er fährt herum auf seiner Harley,
trifft sich mit anderen Kumpels, schläft mit den geilsten
Chicks – oder lässt sich von mir diskret in der
Besenkammer bedienen – stärkt seine Muskeln und föhnt
seine Frisur. Ab und zu spielt er den Türsteher an
Konzerten oder Veranstaltungen aller Art. Das reicht ihm
als Lebensinhalt, für den Moment allenfalls, was will man
da mehr. Recht hat er, denn Haare fallen aus, Bäuche
werden dicker, Hüften müssen operiert werden, und fertig
ist die Parade. Deshalb soll man den Tag geniessen, wie
er kommt – carpe diem – und sich nicht den Kopf
zerbrechen, was morgen sein könnte.
Genau das tu ich jetzt mit Jules und Walti, eher mit Jules
natürlich. Der spricht jetzt plötzlich viel, er ist ein netter,
aufgestellter Kerl, hätte ich nie gedacht nach unserer
letzten Begegnung, die mir einen bitteren Geschmack
hinterliess. Jules ist nicht dumm, er ist nur vorsichtig wie
sich herausstellt, er möchte seine Karriere mit Hilfe von
Walti etwas beschleunigen. Daher seine reservierte Art in
der Öffentlichkeit. Zuerst dachte ich, er sei so was wie ein
Roboter, Waltis Hampelmann sozusagen. Ist er gar nicht,
Walti ist beeindruckt von ihm, überzeugt von seinem
Talent. Er ist wie ein Vater für ihn – etwas pervers
vielleicht, aber doch väterlich auf seine Art. Die beiden
sind auch Tag und Nacht zusammen. Jules war jung
verheiratet, hat ein Kind, hat sich aber scheiden lassen, ist
nur für seinen Job da. Tag und Nacht. Er weiss, was er
87
will, und das ist nicht wenig. Mit Walti im Rücken kann
nichts schiefgehen.
Farah läuft an mir vorbei mit einer Kiste Bier, blinzelt
diskret mit den Augen und macht eine kaum bemerkbare
Kopfbewegung. Kurz drauf entschuldige ich mich bei
Walti, der mit Jules diskutiert, ich muss mal… Die Tür
der Abstellkammer ist gleich neben dem Eingang zur
Damentoilette. Sie ist nicht ganz zu. Ich verschwinde
diskret im Kellerabteil, Farah legt die schwere Bierkiste
auf ein Gestell und lässt gleich seine Hose runter. Ich knie
nieder, öffne sein Gilet und spiele mit seinen kräftigen
Titten, während meine flinke Zunge und mein Mund sich
an seinem harten Glied vergnügen. Ich stehe auf und
lecke seine makellose Brust, seinen Bauch, streichle seine
lange, blonde Mähne, die nach Heu riecht (L’Oréal?),
hhhm ich schliesse die Augen und male mir aus, wie
schön Olie auf dem Heuhaufen aussehen würde… seine
muskulösen Beine in die Luft gestreckt. Hä, ja ich träume,
heute muss es schnell gehen, wir wollen nicht zu sehr
auffallen. Hier kann ich nicht die ganze Nummer mit Olie
durchziehen, aber nächste Woche kommt er vorbei,
versprochen. Ich lasse Olie mit flatternden Knien bei
seiner Bierkiste stehen und verschwinde diskret auf der
Damentoilette.
Als ich frisch und munter wieder zu Walti und Jules
zurückkehre, lächelt Walti etwas zynisch (Zweifel,
Vorwurf, Neid?), irgendwas hat sich in seinem Gesicht
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verändert. Jules ist gleich wie vorher, seine Hand umfasst
jetzt meine Taille, sein Bein drückt noch fester gegen
meinen Rücken, ich spüre seine Kraft direkt an mir.
«Schön gsii, hätt dir de Olie ä Linie gäh, häsch ihm eis
blaaset?», fragt plötzlich Walti laut lachend… Meine
verdutzte Mine beeindruckt ihn nicht: «Ich weiss scho,
dass du de Olie kännscht, isch es geil gsii?». Da komm
ich nicht einfach so weg, ich wusste ja das Waltis Ohren
lang sind… ja sag ich, oh ja, Olie ist ein toller Kerl, wir
haben schon öfters was gehabt miteinander, aber jeder
hier weiss, dass ich keine Cokenase bin, wenn schon eher
ein Dieselmotor – Nuttendiesel sagt man hier für
Champagner. Jules klopft mir auf den Rücken, irgendwie
ist er geschmeichelt, weiss nicht genau, warum. Der Olie
ist eben ein geiler Typ, Jules sieht ja seine Chicks und
würde sicher nicht nein sagen. Plötzlich flüstert er mir ins
Ohr: «Jetzt bin iich aber draa, gäll!». Aber noch so gerne
Jules, nur nicht hier in der Hölle, sondern bei mir im Bett,
im Himmel.
So landen wir gegen vier Uhr morgens, Walti, Jules und
ich, in meiner Wohnung. Walti sitzt auf dem Sofa, schläft
bald ein, schnarchend, sein Kinn stützt sich auf den
Bauch. Ich stelle meinen Paravent vor ihn hin, lösche das
Licht im Wohnzimmer und lasse die Schlafzimmertür
offen, Jules legt sich nackt aufs Bett, ist schon total erregt.
Sanftes Licht fällt von den dunkelroten Wänden, hinter
uns ein grosser Goldspiegel, Jules’ Körper ist
wunderschön, noch nie hatte ich ihn so gesehen. Ich bin
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gerührt, er voller Erwartung, voller Kraft und Energie.
Wir lieben uns zum ersten Mal in einem richtigen Bett, in
einer schönen, geborgenen Umgebung, Jules ist ein
fantastischer Liebhaber, Walti hat plötzlich aufgehört zu
schnarchen. Die Nacht wird lang.
90
Sonntag
Walti und Jules sind verschwunden, als ich so gegen
Mittag erwache. Nur die Parisienne-Zigarettenstummel
zeugen davon, dass ich nicht geträumt habe. Jules war
wirklich da. Draussen im Park schneit es, ich werde wohl
den ganzen Tag im Bett verbringen und mich ausruhen.
Morgen geht’s wieder los. Lebewohl Abenteuerleben,
Partys und Ausschweifungen und Expedition in die
Unterwelt. Der harte Alltag hat mich wieder. Heute also
Ruhetag. Sonntag war immer heilig in der Huldrychsstadt.
Beizen, Gaststätten und Restaurants machen dicht. Und
das ausgerechnet an dem Tag, wo die Leute Zeit hätten
ausgiebig zu essen und zu feiern, wie in Frankreich oder
Italien, aber auch im Welschland, wo man den ganzen
Tag am Tisch sitzt, isst, trinkt, plaudert, lacht und sich des
Lebens erfreut.
Nicht so hier. Ruhetag stand mal vor unseren verdutzen
Augen an der Tür des Ausflugsrestaurants, das wir nach
dreistündiger Wanderung erreichten, durstig, hungrig,
erschöpft: «Ruhe! Geht euren Weg, es ist Sonntag, der
Tag des Herrn!». Nun, aus meinem Ruhetag wird halt ein
Bildungs-und-Schreibtag. Meine russischen Bücher sind
auf dem Bett verstreut, ich lege Boris Godunow auf, eine
vierstündige, schwermütige Oper. Die tragische
Geschichte Russlands, der verrückte Zar, Kindsmörder
und Despot, die bösen Hofintrigen. Die riesigen Chöre,
die schrägen Töne, die Melancholie der russischen Seele
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passen gut zu diesem verschneiten Sonntag. Das Dekor ist
bereit, Russland liegt da draussen, im Park, wir schreiben
das Jahr 1598. Das Volk hungert, die Kinder betteln. Vor
nicht einmal drei Wochen war ich in der CCCP, der
Sowjetunion. Der Newski Prospekt lag im Schnee,
menschenleer, grösser und schöner als die ChampsElysées, flankiert von schrillen, pastellfarbigen Palästen
und bizarren Zwiebelkirchtürmen. Die Zarenstadt wirkte
im Dämmerlicht, unter einer dicken Schneedecke, wie
eingeschlafen. Alles stand still, kein Auto, kein
Restaurant. Man hatte das Gefühl, alles sei noch wie
damals, 1941, während der deutschen Belagerung, man
merkt: Russland leidet immer noch. Morgen fahren wir
mit dem Nachtzug nach Moskau, zum Bolschoi Theater.
Ich hatte Boris Godunow bereits in der Wiener Staatsoper
gesehen. Wir vor dem Stephansdom, fantastische, irreale
Architektur, wie mit Puderzucker übergossen. Der eisige
Wind fegt um die Kathedrale, wir beeilen uns Richtung
Oper, in dicke Mäntel eingehüllt. Das riesige Foyer, die
festlichen Gäste. Dann steigt leise die traurige Ouvertüre
auf, wie eine Klage, die Klage des russischen Volkes im
Tal der Tränen…
Zum Glück ist das Leben hier nicht so problematisch und
triste wie in Russland. Heute ist es zwar trüb und kalt
draussen, Schwermut kommt auf. Trotz allem herrscht ~
eine gewisse Freiheit, wir leben im Überfluss, können uns
frei bewegen und denken. Das darf man nicht vergessen,
es gibt andere Menschen, denen es viel schlechter geht.
92
Deshalb wird morgen wieder in die Hände gespuckt und
ab zur Arbeit. Die Motivation hält sich zwar in Grenzen.
Nach einer so aufregenden Woche – die eigentlich als
Ruhezeit vorgesehen war – fällt es mir nicht leicht den
alten Rhythmus wieder zu finden. Aber da kann man
nichts machen, ich muss mich damit abfinden. Doch im
Moment gilt, zurück nach Russland, eintauchen in die
Geschichte, umhüllt von der schwermutigen Musik.
Draussen schneit es, es gibt kaum Tageslicht, alles ist
grau, ruhig, still, warm. Zeit zum Nachdenken. Meine
Schreibmaschine klappert, schnell muss das Erlebte auf
dem Papier fixiert werden, bevor es aus meinem
Gedächtnis entschwindet. Denn nichts ist so launenhaft
und trügerisch wie unser Gedächtnis. Jeder kennt diese
Erfahrung, man bespricht mit einem Freund ein längst
vergessenes Erlebnis und stellt fest, dass beide Versionen
völlig auseinander klaffen. Erst wenn man mühsam die
Bruchstücke zusammenfügt, wird das Erlebte wieder
korrekt wiederhergestellt. Unser Gedächtnis arbeitet
selektiv, wählt aus, verdrängt, hebt hervor, was es gerade
für interessant, wichtig oder unerwünscht hält, und das
ändert sich ständig. Im Unterbewusstsein. Also traue
deinem Gedächtnis nie! Die weissen Blätter füllen sich,
mein Tagebuch ist bald zu Ende, der Tag geht, die Nacht
bricht herein. Es war ein Tag voller Geschichten, meiner
kleinen Geschichte und der grossen Geschichte, der
Weltgeschichte. Die Oper hat mich den ganzen
Nachmittag begleitet, inspiriert, meine Lektüren vertieft,
93
ein virtuelles Dekor für meine Schreibarbeit gegeben.
Boris Godunow wäre im Sommer absolut unerträglich, zu
dissonant, schräg und pessimistisch. Aber an einem
kalten, verschneiten Wintersonntag dagegen, gibt es
nichts Schöneres als die melancholische Klage des
russischen Volkes zu hören und sein Leid zu teilen. Ich
sammle die Blätter, hefte sie zusammen und lege sie
erstmal im grossen Bildband über Leningrad ab.
Irgendwann werde ich meine Abenteuer wieder zur Hand
nehmen und vielleicht, wer weiss, mit etwas Distanz neu
redigieren, falls die Geschichten mir dann überhaupt noch
gefallen.
94
Epilog
Nachdem ich die kleine, braune Agenda und das
Manuskript wieder geschlossen hatte, sinnierte ich lange
über Nostalgie, Vergangenheit, Zeit und Erinnerungen
nach. Sollte ich meine Tagebücher, Fotos und Texte als
wertvolle Erinnerungsstütze behalten, oder alles
vernichten? In süssen Erinnerungen schwelgen, über
traurige Erlebnisse nachdenken oder doch lieber Tabula
rasa mit meiner Vergangenheit machen? Etwas verbittert
stellte ich fest, dass all diese aufregenden Momente, diese
schönen Menschen, diese einmaligen Augenblicke heute
sehr weit weg von mir sind. Übrig bleibt allein der diffuse
Schmerz, die Gewissheit, dass die unwiderstehlichen
Verführer von damals heute mit Bauch und Glatze
herumlaufen. Vielleicht ergeht es ihnen auch nicht anders
als mir. Vielleicht sind sie auch ab und zu traurig,
deprimiert, denken über ihre Vergänglichkeit nach.
Erinnern sich an schöne Erlebnisse. Sie trauern vielleicht
ihrer verlorenen Jugend nach, trösten sich an ihren
Kindern, ihren ähnlich aussehenden Söhnen. Vielleicht
bin ich auch einem von ihnen begegnet, vor ein paar
Tagen, als ich plötzlich diesen unerklärlichen Déjà-vuEffekt spürte, der mich in eine melancholische, ja
unerklärliche, depressive Stimmung versetzte. All die
schönen Bilder erinnern an längst vergangene
Eroberungen, die übrigen lassen traurige Erinnerungen
wieder hoch kommen. Orte und Fotos können sich auch
für lange einprägen. Jedes Mal wenn ich am Haus meiner
95
ehemaligen Schlummermutter vorbeifahre oder vor der
alten Eichenholztür stehe, wird es mir schlecht, so tief
sitzt meine damalige Hoffnungslosigkeit noch in mir drin,
so tief der Hass. Ob ich die Tür als Erinnerungsstütze
benutze oder all die Fotos, es kommt nicht darauf an.
Nach so vielen Jahren, ob nun schöne und hässliche
Erinnerungen,
leiden
tut
man
gleichermassen.
Vergangenheit ist Gift für die Seele, denk ich, nur die
Gegenwart zählt. Nostalgie ist eine Krankheit, ein Leiden,
das man sich selbst freiwillig zufügt, eine Wunde in der
man lieber nicht stochert.
Also entschloss ich mich zu einem Waldspaziergang am
Uetliberg. Ich nahm meine mp3-Musik mit, so wird mich
Boris Godunow durch die Schneelandschaft begleiten.
Der Himmel war grau verhangen an diesem
Spätsonntagnachmittag. Im Wald lag tiefer Schnee. Kurz
vor der Dämmerung kam ich an einer Lichtung vorbei,
von wo aus man die Stadt überblicken konnte. Ein
Lichtermeer begann zu funkeln, eine Stadt voller Bars,
Clubs, Lounges, schöner Menschen, die sich dort bald
treffen und lieben würden. Eine Stadt voller vernetzter
Männer und Frauen, die nun nicht mehr nur in Bars,
sondern sich auch im Internet treffen und chatten.
Ich zog die kleine Agenda und das Manuskript aus der
Tasche, zündete eine Seite nach der anderen an. Ein
kleines Feuer loderte kurz im kalten, dunklen Wald, ich
warf die Polaroidfotos dazu und sah wie meine
96
Vergangenheit langsam im Feuer aufging. Mit jedem
Blatt, jedem Foto fühlte ich mich leichter, ruhiger.
Morgen werde ich einen runden Geburtstag feiern. Von
diesem Ritual werden meine Freunde nie etwas erfahren.
Wir werden feiern und lachen und trinken, als wäre nichts
geschehen. Diese Vorstellung beruhigte mich, tröstete
mich über den Verlust hinweg. Stille kehrte wieder ein in
der Waldlichtung. Und Ruhe auch zu mir zurück. Die
Stadt glühte auf wie ein Feuerwerk, wie eine Einladung,
in sie einzutauchen, zu versinken. Ich verliess den eisigen
Wald und kehrte meiner Vergangenheit den Rücken.
Übrig blieb nur noch etwas Rauch und Asche im nassen
Schnee.
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«Wo sind Sie alle geblieben? Wo sind die Frauen und
Männer, die damals kurz in meinem Leben auftraten?
Sind sie noch am Leben, oder schon tot, sind sie krank,
alt, verbittert, sind sie gesund und glücklich, sind sie
eingesperrt, ausgewandert, verheiratet, haben sie ihr
Leben komplett verändert, sich neu orientiert, haben sie
mich längst vergessen, oder denken sie ab und zu immer
noch an mich?»
99
Charles Héritier-Debons
Der Autor ist Romand und lebt in Zürich als Übersetzer
und Künstler. Er hat diesen Kurzroman als Erinnerung an
seine turbulente Zeit in der Zwinglistadt verfasst und
präsentiert somit seinen Erstling auf Deutsch. Der Roman
basiert auf einem bereits vorhandenen Drehbuch und
weist starke biographische Züge auf.
Die Geschichte
Während er sich zu hause von einer Grippe langsam
erholt, sieht sich der Protagonist gezwungen, etwas gegen
eine sich einschleichende Depression zu tun. Er
beschliesst, nachts transformiert als Frau, anonym und
unerkannt, die Sümpfe der sonst so prüden
Huldrychsstadt zu entdecken. Das Erlebte dient als
Vorlage für ein Tagebuch, das er dreissig Jahre zufällig
später wiederentdeckt.
100