Predigt zu Ps 130

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Predigt zu Ps 130
Universitätsgottesdienst vom 7. März 2010 in St. Peter zu Ps 130
Pfr. Dr. Luzius Müller, reformiertes Pfarramt beider Basel an der Universität
„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir
Herr, höre meine Stimme,
lass deine Ohren merken
auf die Stimme meines Flehens.“
Sehr knapp und sehr eindringlich ist der Beginn des 130. Psalms formuliert. „Aus der Tiefe
rufe ich, HERR, zu dir.“ Ganz wenig und ganz viel ist hier gesagt.
Es ist wenig gesagt, weil mit keinem Wort erläutert wird, was es mit dieser Tiefe auf sich hat.
Ist es eine körperliche Krankheit, welche den Psalmbeter plagt? Ein psychisches Leiden?
Befindet sich der Psalmbeter auf der Flucht oder in Gefangenschaft?
Es ist viel gesagt, weil dieser Psalmanfang, dieser Gebetsruf in uns viel auszulösen vermag.
Wir vernehmen nur den Ruf aus der finsteren Tiefe. Nur der Blick in einen dunklen Abgrund
wird uns gewährt. Und die so unbestimmte Tiefe, diese Untiefe, wird gerade in ihrer
Unbestimmtheit abgrundtief, wird gerade in ihrer Unbestimmtheit umso unheimeliger.
Liebe Gemeinde,
das hebräische Wort, welches hier mit „Tiefe“ übersetzt wird, lässt an verschiedenes denken.
An ein Wasserloch, in das man stürzen kann, und an eine dunkle Grube, die vielleicht zum
Gefängnis wird. Auch an ein Grab und im übertragenen Sinn dann an die nach antikorientalischer Vorstellung düster-modrige Unterwelt. Und nicht zuletzt an die Meerestiefen,
in denen Menschen der damaligen Zeit die Behausung von Ungeheuern und Chaosmächten
vermuteten.
All dies klingt an, in diesem Wort: „Tiefe“: Absturz, Gefangenschaft, Bedrohung, Chaos,
Tod.
Weil diese Tiefe so unbestimmt ist, kann sie uns an allerlei Tiefpunkte des eigenen Lebens
erinnern. Sie kann zu unserer Tiefe werden. Plötzlich sehen wir uns nicht mehr nur dem
Psalmbeter in seiner Not gegenüber. Weil diese Tiefe für vieles stehen kann, wechseln wir
schier unmerklich die Rolle und werden selbst zum Psalmbeter. Wir hören uns plötzlich selbst
mitbeten: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.“ Leicht finden wir uns in diesen Psalmanfang
ein.
Von ganz unten nach oben dringt diese Stimme. Die grösstmögliche Distanz wird
aufgemacht, zwischen dem Psalmbeter in seiner Tiefe und dem Gott in der Höhe.
Der Abstand ist so gross, dass der Psalmbeter laut rufen muss. Könnte ein stilles Gebet
ungehört in der Tiefe verhallen?
Es scheint so, als müsse der Psalmist sich der Aufmerksamkeit Gottes erst vergewissern:
„Höre auf meine Stimme! Lass deine Ohren merken.“ So abgrundtief ist die Tiefe, dass
Gottes Hören nicht mehr selbstverständlich ist. Die Angst, Gott könnte nicht hören, lässt uns
die Tiefe dieser Tiefe erahnen.
Im ägyptischen Raum wurden alte Steinplatten gefunden. Auf ihnen sind Bittgebete
eingraphiert. Neben den Gebeten sind hunderte von Ohren abgebildet: „Lass deine Ohren
merken auf die Stimme meines Flehens.“
Vielleicht war die Tiefe dieser Menschen so tief, dass sie ihrem Gott viele, viele Ohren
andenken mussten, um sich zu vergewissern, dass er höre.
Vielleicht war aber auch das Vertrauen dieser Menschen so gross, dass ihr Gott viele Ohren
habe und selbst den Ruf aus der tiefsten Tiefe hören würde.
Der Psalmbeter von Ps 130 ruft aus der Tiefe. Er wähnt sich fern von Gott. Doch sein
Gottvertrauen lässt ihn gleichwohl rufen, denn sein Gott wird hören. Vertrauen und Angst
sprechen gleichermassen aus diesem Psalmanfang.
Zwischenspiel
„Wenn Du, HERR, Sünden anrechnen willst,
Herr, wer wird bestehen?
Doch bei dir ist die Vergebung,
dass man dich fürchte.“
Liebe Gemeinde,
in unserem Psalm tritt nun für unser Gefühl wohl etwas unvermittelt der schwierige Begriff
„Sünde“ auf. „Wenn du, HERR, Sünden anrechnen willst, Herr, wer kann bestehen.“
Wir müssen die Sünde in Vers 3 irgendwie in Verbindung mit der Tiefe in Vers 1 zu lesen
versuchen. Der Psalm bringt sie in Verbindung.
Aber, wie ich meine, nicht in dem schlichten, moralischen Sinn, dass der Psalmbeter eine
Sünde begangen habe und zur Strafe nun in der Tiefe sitze und von dort aus um Vergebung
bitte.
Die Sünde scheint vielmehr ein anderer Ausdruck für diese Tiefe zu sein, in welcher sich der
Psalmbeter befindet. Die Sünde veranschaulicht diesen himmelweiten Unterschied zwischen
dem Gott in der Höhe und dem Menschen in seiner Tiefe.
Um den himmelweiten Unterschied zwischen dem Psalmbeter und Gott zu verstehen, ist an
den Unterschied zwischen einem antiken König und einem Bittsteller zu denken.
Hatte der König den Stand der Hoheit und Würde, so hatte der Bittsteller den Stand der
Niedrigkeit und des Nichtswürdigen.
Der Nichtswürdige war mit seiner Bitte dem königlichen Edelmut auf Gedeih und Verderb
ausgeliefert. „Wenn du, HERR, Sünden anrechnen willst, Herr, wer kann bestehen?“ „Wenn
du meiner Nichtswürdigkeit, der Tiefe meines Standes, meiner Niedrigkeit als Bittsteller vor
dir gedenkst, wie soll ich bestehen?“
Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass in Vers 3 das Wort „Herr“ zweimal auftaucht und zuerst
in Grossbuchstaben und dann in normaler Schreibweise abgedruckt ist.
Das „HERR“ in Grossbuchstaben steht anstelle des Gottesnamens. Gott trägt im AT einen
Namen, wie Menschen auch. Dieser Name ist aber so heilig, dass er nicht ausgesprochen
wird. In verschiedenen Bibelübersetzungen wird deshalb der Gottesname mit diesem
grossgeschriebenen „HERR“ wiedergegeben.
Das „Herr“ in normaler Schreibweise ist eine alltägliche, untertänige Anredeform. Ein König
beispielsweise wurde mit diesem „Herr“ in normaler Schreibweise angesprochen. Es ist kein
Zufall, dass in diesem Psalm diese untertänige Anredeform Verwendung findet. Das
Verhältnis zwischen Bittsteller und König scheint unserem Psalm als Vorbild zu dienen.
Der Psalmbeter tritt als Bittsteller vor Gott. Aus der Tiefe seiner Not und aus der Tiefe seines
Standes fleht er zu Gott. Der niedere Stand und die Not bedingen sich quasi gegenseitig. Tief,
niedrig oder eben sündig ist quasi gleichbedeutend mit elend, schwach, moralisch fehlbar, in
materieller Not. Im Gegensatz zur Macht und Erhabenheit des Königs.
Liebe Gemeinde,
ich weiss nicht, ob sie mit diesen Erklärungen glücklich sind. Was habe ich getan? Ich habe
versucht, die Worte des Psalms in jene Verhältnisse zurückzuführen, in denen sie vermutlich
entstanden sind. Ich habe den Psalm als Zeugnis antiker Verhältnisse zu lesen versucht. Damit
hat sich aber zwangsläufig eine grosse Distanz zwischen uns und dem Psalm aufgebaut; eine
Distanz von rund 2500 Jahren.
Dadurch ging verloren, was uns in Vers 1 gelang. In Vers 1 wurden diese 2500 Jahre alten
Worte so spielend leicht zu unseren eigenen Worten und wir konnten mitbeten: „Aus der
Tiefe rufe ich Herr zu dir.“
Aber in die Rolle des niedrigen Bittstellers vor dem als König gedachten Gott kann ich mich
nicht so spielend leicht einfinden. Diese Welt von hochfahrenden Königen und rechtlosen
Bittstellern ist mir sehr fremd; ihnen vermutlich auch. Und mit grossem Befremden reagieren
wir daher auch, wenn Staatsoberhäupter unserer Gegenwart ein solches Gehabe zeigen.
Und doch ist Psalm 130 nicht nur ein antiker Text, sondern ein Text unserer Bibel, unserer
heiligen Schrift. Er soll auch unser Gebet sein können.
Wir sollten ihn also für uns zurück zu gewinnen versuchen. Dazu fragen wir, was Sünde denn
für uns heute bedeuten könnte. Wie könnte dieser Standesunterschied heute verstanden
werden.
Ich meine, die ntl. Lesung helfe hier weiter. Aus der Tiefe seiner Not bittet Jesus im Garten
Getsemane seinen himmlischen Vater um Hilfe. Und Jesus bittet auch einige seiner Jünger um
Hilfe. Er bittet sie, mit ihm zu wachen, ihm beizustehen in der Stunde der Angst.
Und die Jünger schlafen ein, mal für mal. Sie wollten mit Jesus wachen, aber sie wissen sich
des Schlafes nicht zu erwehren, wie kleine Kindlein, die mitten im Spiel vom Schlaf
übermannt werden. Der Geist sei willig, aber das Fleisch schwach.
Die Jünger stehen in den Evangelien für die Kirche. Für eine Kirche, die gerne zu Christus
stehen würde, und sich des Schlafes nicht erwehren kann, wie kleine Kindlein. Für eine
Kirchen, die das Reich Gottes verkündigen in Wort und Tat. Die aber als Kirchen das Reich
Gottes nicht ist. Da ist ein unüberbrückbarer Unterschied. Ein Unterschied, vergleichbar dem
Standesunterschied zwischen dem König und dem niederen Mann in der Antike. Dieser
Unterschied gründet nicht so sehr in menschlicher Schuld. Es fehlt nicht an gutem Willen,
aber an der Kraft. Er gründet in unserem Unvermögen, unserem niederen Stand angesichts
des Reiches Gottes. Das würde ich heute Sünde nennen.
Wohlgemerkt: Dass gewisse kirchliche Institutionen für manche Menschen zur
richtiggehenden Hölle wurden, und dass gewisse kirchliche Stellen dies vertuscht haben, ist
ein ganz anderes Thema.
Wohlgemerkt auch: Unsere Kirchen sind gesellschaftlich gesehen gute, wichtige
Institutionen. Bloss, Kirche sind wir noch nicht, weil wir gesellschaftlich gesehen gut und
wichtig sind. Kirche sind wir, weil und insofern wir das Reich Gottes verkündigen in Wort
und Tat. Angesichts dieser Verkündigung, angesichts der Predigt vom Reiche Gottes
gewärtigen wir den zwangsläufigen Unterschied zwischen dem was wir verkündigen und dem
was wir sind. Wir werden unseres niederen Standes ansichtig.
Was wir nun nicht brauchen, sind zerknirschte Sündermienen. Was wir brauchen, ist einen
realistischen Blick auf uns selbst und unser Kirche-Sein.
Mögen wir der Kirche nicht sofort den Rücken zukehren, wenn wir merken, dass sie nicht das
Reich Gottes ist. Mögen wir gemeinsam als Kirche das Reich Gottes tapfer und demütig
weiterverkünden, und Reich Gottes verkündigen, heisst nicht so sehr von der Sünde, als von
Gotte Vergebung zu sprechen:
„Wenn Du, HERR, Sünden anrechnen willst,
Herr, wer wird bestehen?
Doch bei dir ist die Vergebung,
dass man dich fürchte.“
Zwischenspiel
„Ich hoffe auf den HERRN, meine Seele hofft,
ich harre auf sein Wort.
Meine Seele harrt auf den Herrn,
mehr als die Wächter auf den Morgen,
mehr als die Wächter auf den Morgen.
Harre, Israel, auf den HEERN.
Denn beim HERRN ist die Gnade,
und bei ihm ist Erlösung in Fülle.
Er wird Israel erlösen von all seinen Sünden.“
Der Psalmbeter hofft und harrt des Herrn, weil er ihn als den Gott kennt, bei dem Vergebung
ist. Gott ist dem Psalmbeter gleich einem barmherzigen König, welcher der Bedürftigkeit
seiner Menschen gedenkt und sich ihrer annimmt. Reich Gottes ist Annahme, ist Zuspruch
von Würde.
Liebe Gemeinde,
der Psalmbeter bestätigt sich wieder und wieder selbst in seinem Warten und Hoffen und
Vertrauen. So, diese wiederholende Reihung: Ich hoffe. Meine Seele hofft. Ich harre, mehr als
die Wächter auf den Morgen, mehr als die Wächter auf den Morgen.
Es ist ein Warten voller Hoffnung. Denn, mehr noch als die Wächter auf den Morgen warten,
der gewiss kommen wird, harrt der Psalmbeter des erlösenden Wortes Gottes, das doch
gewiss auch kommen wird.
Mir geht die Erfahrung des Wachens in den lichterlosen Nächten der Antike auf den Zinnen
Jerusalems ab. Dennoch meine ich, können wir nachempfinden: Es klingt in diesem Bild der
Wächter die Dunkelheit an. Im Dunkel sitzen die nächtlichen Wachen. Im Dunkel seiner
Tiefe sitzt der Psalmbeter am Psalmanfang.
Gottes Wort aber wird sein wie das Licht am Morgen, das die Dunkelheit vertreibt. Gottes
Wort ist das Wort, welches aufgeht wie die Sonne.
Und dieses Aufgehen der Sonne zeigt sich auch im Gang des Psalms.
Ruft Anfangs ein Einzelner aus seiner Tiefe, so wird Gott schliesslich zum Erlöser Vieler.
„Harre, Israel, auf den Herrn, denn bei ihm ist Erlösung in Fülle“. Die Gemeinschaft, Israel,
kommt in den Blick, denn viel Erlösung ist bei Gott. Nicht bloss der Einzelne in seiner
individuellen Tiefe, sondern das ganze Volk wird erhört und erhält Gottes Zuspruch, wird aus
der Sünde, aus der Niedrigkeit gehoben.
Und der Psalm, welcher Anfangs aus der Tiefe verzweifelt hinaufrufen lässt, lässt nun tapfer
der Gemeinde, den Mitmenschen, zurufen: „Harre, Israel, auf den Herrn“ „Er wird Israel
erlösen aus all seiner Gnade.“
Im Psalm ist eine grundlegende Wende eingetreten, von der verzweifelten Klage des
Einzelnen zum vertrauensvollen Warten der Gemeinde, von der tiefen Dunkelheit zum
Aufgang der Gnadensonne.
Liebe Gemeinde
Vielleicht haben sie nachvollziehen können, wie das Gotteswort hier dem Psalmbetern
aufgeht, aber sie haben sich vielleicht auch gefragt, wie es denn uns aufgehen kann.
Wenn sich Menschen angesichts dieses Psalms nicht nur einem arg fremden, 2500 Jahre alten
Text gegenüber sehen, sondern wenn sie sich in diesen Text einfinden können, wenn eine
intime Nähe zum Text, zum Psalm entsteht, die es ermöglicht, vor Gott mit zu klagen, aber
auch vertrauensvoll auf Gott mit zu hoffen, wenn dieser Gott, bei dem viel Erlösung ist, zu
unserem Gott wird, bei dem viel Erlösung ist für uns, wenn dieser Psalm aus einer fremden
Welt zu unserem eigenen, inneren Gebet wird, dann hat sich uns das Wort Gottes ereignet,
dann haben wir das Reich Gottes geschaut. Amen.