Rock-Lexikon 1 - Rowohlt Theaterverlag

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Rock-Lexikon 1 - Rowohlt Theaterverlag
Leseprobe aus:
Siegfried Schmidt-Joos, Wolf Kampmann
Rock-Lexikon 1
Copyright © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
WAS IST ROCKMUSIK?
I – 1975
Was ist Rock? Auf diese Frage, die den Benutzer des vorliegenden Buches zuerst interessieren mag, gibt es kaum eine kurze, präzise, jedermann zufriedenstellende Antwort. Seit der
Mitte der fünfziger Jahre hat die Rockmusik so
viele hochdifferenzierte Personal- und Gruppenstile hervorgebracht, dass eine generalisierende Definition nur noch in unziemlicher Vereinfachung gefunden werden kann. Näher als
der musiktheoretische führen der historische
und der soziologische Ansatz an die Wirklichkeit heran.
Wie zuvor schon der Jazz, ist auch der Rock
ein sogenanntes Akkulturationsprodukt. Afrikanische und europäische Musiktraditionen
und Verhaltensweisen, die sich in den USA (modifiziert) erhalten hatten, wurden im Rock
’n’ Roll und allen nachfolgenden Stilformen
der Populärmusik abermals vermischt und verschmolzen. Bill Haley, dessen Rock-A-Beatin’
Boogie (Textzeile: «Rock, rock, rock everybody») der neuen Musikmode um 1955 den
Namen gab, übernahm aus der schwarzen
Ghettomusik Rhythm & Blues zunächst nur
den harten, treibenden Rhythmus, um seine
südstaatliche Kommerzfolklore attraktiver zu
machen. Elvis Presley und seine amerikanischen und englischen Adepten erschlossen bis
1965 sodann auch die Blues-Tonfarben und
Artikulationsnuancen der Black Music für den
weißen Markt.
Die technischen Voraussetzungen und die so-
ziale Situation waren in den fünfziger und sechziger Jahren freilich ganz andere als beim Jazz
rund ein halbes Jahrhundert zuvor. Während
die Jazzmusiker dreißig Jahre gebraucht hatten, um – etwa 1935 unter dem Markenbegriff
Swing – den Massenmarkt zu erreichen und
wirklich populär zu werden, wurde die neuentstandene Rockmusik sofort durch die Medien
Schallplatte, Rundfunk, Film und später Fernsehen multipliziert. In den erwähnten dreißig
Jahren Anlaufzeit hatten die Jazzmusiker das
schwarze afrikanische Erbe ihrer Musik weitgehend abgeschliffen und so weit sublimiert,
dass es der weißen, europäisch-amerikanischen Bürgerästhetik nicht mehr zuwiderlief.
Beim Rock wirkten gerade die Afrikanismen
als Erregungs- und Popularisierungsmomente,
weil sie einer neuen Generation weißer Jugendlicher den Ausbruch aus den erstarrten
musikalischen und gesellschaftlichen Normen
der Erwachsenenwelt ermöglichten.
Keine Generation verfügte jemals über ähnlich
unbegrenzte Möglichkeiten wie die Jugend, die
nach dem Zweiten Weltkrieg heranwuchs. Die
Revolution in der Technologie, Kybernetik und
Automation, die Werbeindustrie und der hochgezüchtete Business-Betrieb der Weltmetropolen, der durch die Massenmedien noch bis
ins kleinste Dorf ausstrahlte, prägten Vorstellungen und Verhaltensweisen dieser Jugend so
entscheidend, dass das amerikanische ‹Time›Magazin 1967 zu Recht folgerte, dies sei nicht
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einfach eine neue Generation, sondern eine
neue Art von Generation. Indem die Gesellschaft ihrem Nachwuchs materiellen Luxus
erwirtschaftete und eine vordem ungekannte
Mobilität ermöglichte, ließ sie ihn jedoch auch
in entscheidenden Stadien der Persönlichkeitsentwicklung allein. Auf einer Tagung führender
Mediziner, Soziologen und Theologen zum
Thema Einsamkeit in Stuttgart führte die Heidelberger Tiefenpsychologin Prof. Annemarie
Sänger 1967 Einsamkeits- und Heimwehneurosen unter Jugendlichen auf mangelndes
Verständnis der vom Berufsleben total in Anspruch genommenen Eltern zurück. Rocktexte
lieferten in den sechziger Jahren dafür eine
Fülle von Indizien.
In einem nie zuvor gekannten Ausmaß erklärte
ein Großteil der Jugend nach 1955 im Rockkonzert, im Beatkeller oder am heimischen
Plattenspieler den Wertvorstellungen ihrer
Eltern eine Absage: zunächst, da im Umgang
mit ekstatischen Klängen ungeübt, in Form
zertrümmerten Mobiliars und in Straßenkrawallen, später durch die Herausbildung einer
Art Subkultur mit eigenen Verhaltensweisen,
Modeströmungen und einem eigenen Jargon.
Wie in den kultischen afrikanischen Stammestänzen, den Makumba-Riten Brasiliens und
der improvisierten Akrobatik der Ballsäle Harlems – so erschien es wenigstens den Älteren
– tanzte die Rockjugend in ihren Diskotheken
ein Ritual. «Sie stampfen mit ihren Absätzen
auf dem Tanzboden», beobachtete der italienische Schriftsteller Renzo Vespignani, «als ob
sie den Rücken eines besiegten Feindes treten.
Und ich habe den Verdacht, dass wir, die schon
fertige Generation, es sind, die sie unter ihren
Füßen glauben.»
Je deutlicher eine wachsende Zahl von Jugendlichen die Unmöglichkeit ungehemmter Bedürfnisbefriedigung und Selbstverwirklichung in
der westlichen Industriegesellschaft erkannte,
je intensiver die Heranwachsenden unter Kontaktschwierigkeiten mit Eltern und Gleichaltrigen litten, je stärker der berufliche Leistungsdruck – bei verkürzter Arbeitszeit – anwuchs, je
mehr sich Lehrlinge, Schüler und Studenten auf
komplizierte Produktions- und Lernprozesse
konzentrieren mussten, desto größer wurde ihr
Bedürfnis nach wortloser Kommunikation untereinander in Freizeiträumen außerhalb funktionaler Organisationen. Deshalb pilgerten die
jungen Arbeiter und Akademiker – scheinbar
weg von Repression und Autorität – nach Feierabend aus Fabrikhallen und Hörsälen in Rocklokale und Popkonzerte; deshalb suchten sie am
Wochenende unter der Lärmglocke gewaltiger
Festivals Asyl.
Mit der «kalten, entfremdeten, isolierten Elitekultur», das zeigte Richard Neville, Herausgeber des Londoner Underground-Magazins ‹Oz›
und Autor des Buches ‹Play Power›, hatten diese Jugendlichen nichts mehr im Sinn. Sie wollten das Musikerlebnis «demokratisieren»; ihre
Gegenkultur sollte laut Neville «warm sein und
alle einbeziehen». Vornehmlich die Rockbands
artikulierten ihre «sprachlose Opposition»
(Dieter Baacke). Sprachliche Verständigung
wurde durch gemeinsames Haschischrauchen
und Musikhören, die verbalen Kunstformen
Theater und Literatur durch Licht-Shows und
Comic-Bilder ersetzt, weil – so die Hamburger
Soziologen Jürgen Friedrichs und Fritz Haag
in einer Analyse für den ‹Spiegel› – «zwischen
Leistungsanspruch und verbalen Fähigkeiten
ein enger Zusammenhang besteht».
Die Rockmusik, vermuteten Friedrichs und
Haag, sei deshalb zum bevorzugten Kommunikationsmedium der leistungsmüden Mittelstandsjugend geworden, weil erstens der
intensive Rhythmus den motorischen Grundbedürfnissen junger Menschen entspreche, weil
zweitens Musik als sprachnächste Ausdrucksform wohl immer zuerst gewählt werde, wenn
die Sprache selbst zurückgedrängt werden soll,
und weil drittens Musik von allen sinnlichen
Medien das breiteste Assoziations- und Phantasiespektrum habe.
Dies könnte erklären, warum sich die europäisch-amerikanische Bürgerjugend so vorbehaltlos mit einer auf ekstatische Totalerlebnisse gerichteten Musikkultur identifizierte
– die allerdings von Musikindustrie und Massenmedien binnen kurzem als Norm und Mode
propagiert wurde. Es erklärt aber noch nicht,
auf welche Weise die dionysische Tradition in
die abendländisch-apollinische Welt einbrechen konnte, die vordem «allein das Sublime
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kultiviert hatte und einzig im still ergriffenen
Lauschen für die Musik die angemessene Rezeptionsform sah» (Manfred Miller).
Bis in die vierziger Jahre waren ungeschminkte
Emotionen und animalische Affekte für jede
Art von Großstadtunterhaltung tabu. Gewiss,
auch Schlagermacher wie Irving Berlin und
Cole Porter hatten in ihren cleveren Songs
Betterlebnisse besungen – freilich lediglich in
raffinierten Andeutungen und Umschreibungen. Sexpraktiken, Schweiß, Hitze, Arbeit und
Schmutz kamen in ihren Liedern nicht vor.
Rund 1000 Komponisten bestimmten als Mitglieder der Urheberrechtsgesellschaft American Society of Composers, Authors and
Publishers (ASCAP) um 1940 den populären
Musikgeschmack der USA. Nach einem Pauschalabkommen zwischen ASCAP und den
Rundfunksendern wurden nur ihre Produkte
über Ätherwellen ausgestrahlt; realistische
Folklore vom Lande und der deftige Blues
aus den schwarzen Ghettos kamen – von Hinterwäldler-Regionen abgesehen – über die Medien nur in Ausnahmefällen zu Gehör.
1940 verlangten die Komponisten, Songtexter
und Musikverleger für ihre im Funk gespielten
Werke mehr Geld: 7,5 Prozent von den Bruttoeinnahmen aller amerikanischer Sender. Mit
dem Argument «Der Rundfunk strahlt keine
Musik aus, sondern elektrische Energie» traten
Programmdirektoren in den Streik. Zehn Monate lang, vom Januar bis Anfang November
1941, boykottierten sie das ASCAP-Repertoire und sendeten stattdessen Uralt-Schlager
oder rechtlich ungeschützte Volksmusik. Als
die ASCAP schließlich klein beigab und sich
mit Tantiemen in Höhe von 2,75 Prozent der
Sendereinnahmen beschied, war auch ihr Geschmacksmonopol auf dem Musikmarkt gebrochen.
Um nicht noch einmal einer ähnlichen ASCAPErpressung ausgesetzt zu sein, hatten die Radiofürsten inzwischen ihre eigene Lizenzgesellschaft gegründet: Broadcast Music Incorporated (BMI). Eine gigantische Abwerbungsaktion
bei ASCAP-Mitgliedern setzte ein, doch die
Kompositionen, die etablierte Tonsetzer mitbrachten, reichten für den immer größer werdenden Musikhunger der Sender nicht aus.
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BMI musste Komponisten gewinnen, deren
Werke bisher noch nicht durch die ASCAP
geschützt worden waren. Ihre Suchtrupps gingen auf die Dörfer. Sie nahmen Hillbilly- und
Countrymusikanten, Bluessänger und obskure
Bandleader auf, die von der ASCAP früher
nicht als vollwertige Komponisten akzeptiert
worden wären.
Mit offenem und geheimem Terror brachten
die BMI-Abgesandten ihre neuen Schlager bei
den Discjockeys an den Mann. «Denken Sie
immer daran», hieß es in einem BMI-Rundschreiben an die Programmgestalter, «dass
das Publikum seine Lieblingsmelodien aus der
Musik auswählt, die es hört. Es vermisst nicht,
was es nicht hört.» Für die Programmpolitik des
US-Rundfunks gab Programmdirektor Murray
Arnold von der Station WIP in Philadelphia
damals folgende Losung aus: «In den nächsten
drei Monaten sollten alle Sender 70 Prozent
ASCAP- und 30 Prozent BMI-Nummern bringen. In den nächsten sechs Monaten ändern Sie
das Verhältnis 60 zu 40, danach 50 zu 50. Allmählich werden die Lieder, die Amerika singt,
ganz selbstverständlich BMI-Eigentum sein.»
Um nicht das gesamte Rundfunkterrain zu verlieren, sah sich ASCAP gezwungen, gleichfalls
Songautoren aus dem Folklore- und BluesUnderground aufzunehmen. Nachdem die ehrwürdige Gesellschaft eine Niederlassung in
der Country-Hochburg Nashville in Tennessee
eröffnet hatte, war das Monopol der AsphaltTroubadoure endgültig gebrochen: Die Tanzweisen aus den Arbeiterkneipen und aus abgelegenen Südstaatendörfern schwappten in die
Medien. Sie brachten ein völlig neues Realitätsverständnis in die Unterhaltungsmusik, dazu
einen ländlich-folkloristischen Swing. Zwar
sank das Niveau der amerikanischen Populärmusik in den ersten Jahren gewaltig, Quantität
trat an die Stelle von Qualität. Zugleich aber
war nun sämtliche Musik, die irgendwo in den
USA gespielt wurde, für die ganze Nation hörbar geworden.
Ohne diese brachiale Demokratisierung der
populären Musikproduktion und -vermarktung in den USA wären der Initialerfolg von
Bill Haleys und Elvis Presleys Rock ’n’ Roll
sowie die folgende nationale und internationa-
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le Jugendbewegung zur Rockmusik hin wohl
kaum möglich gewesen. Einerseits gab sie dem
einzelnen jungen Musikanten unerhörten Auftrieb: Er konnte nun, auch wenn er in Arizona
oder Texas lebte, auf einen überregionalen Hiterfolg seiner Melodien hoffen und entschied
sich umso leichter für eine Profikarriere (schon
1964 waren aus den 1000 eingetragenen hauptberuflichen Komponisten der USA 18 900 geworden). Andererseits wurde das jugendliche
Massenpublikum durch Folk- und Bluesschallplatten im Funk auf den bevorstehenden Rock
’n’ Roll eingestimmt: Als Haley 1954/55 seinen
Rock Around The Clock anschlug, versetzte er
damit die ganze USA wie einen ungeheuren
Resonanzkörper in Schwingung: Das Land
hatte gleichsam ein Jahrzehnt lang auf die Verschmelzung von Blues und Countrymusik gewartet.
Der neue Stil erschien simpel. Er war mit
wenigen Instrumenten billig herzustellen, verzichtete auf schwierige Arrangements und aufwendige Orchestrierungen, setzte so gut wie
keine Musikausbildung und Harmoniekenntnisse voraus. Dennoch gelang er nur jenen Musikanten, die den rhythmischen Bewegungsmodus (sprich: Swing) der schwarzen Musik
sowie die Country-Intonation schwarzer und
weißer Folklorespieler sozusagen durch akustische Osmose, durch das ständige Abhören
von Soul-Radio und Country-Funk oder entsprechende Schallplatten adaptiert hatten.
Mehr als jede vorausgegangene Massenmusik
waren Rock ’n’ Roll und Rock, denen die Musikindustrie später das irreführende Adjektiv
progressiv beilegte, eine Sache von Überlieferung und Tradition. Eine Rockphrase richtig
artikulieren zu können setzte voraus, aus dem
euroamerikanischen in den afroamerikanischen Traditionsraum hinübergewechselt zu
sein – anders ausgedrückt: sich bewegen, gehen und sprechen zu können wie ein Farbiger.
Nur in einem langen Einfühlungs- und Anpassungsprozess war das zu erreichen, und erfahrungsgemäß gelang es Proletarierkindern am
leichtesten. Sie waren kulturell unverkrampft,
emotional locker (was vielen Rockmusikern
später den Vorwurf moralischer Haltlosigkeit
eingetragen hat) und in einer ähnlichen sozia-
len Lage wie die von der weißen Gesellschaft
ausgesperrten und unterdrückten Schwarzen.
Dementsprechend war der Rock ’n’ Roll der
fünfziger Jahre zunächst eine überwiegend
proletarische Musik.
Als Arbeiterkinder im englischen Liverpool
am Ende der fünfziger Jahre darangingen, sich
mit Elektrogitarren den Weg aus dem SlumElend zu bahnen und mit ihrer sogenannten
Beatmusik den entscheidenden zweiten Schritt
zum Rock taten, war die Situation durchaus
ähnlich: «Eine ‹geborgte› Musik wurde übernommen – der amerikanische Rock ’n’ Roll der
mittfünfziger Jahre, und nach und nach umgewandelt in einen unverkennbaren Lokalstil.
Die Gruppe aus drei Gitarren plus Schlagzeug,
typisch für die Beatles und die Musiker aus der
Zeit ihres Anfangs, schuf das Modell ... Dabei
handelte es sich um eine echte Entwicklung
über mehrere Jahre hin» (so der Liverpooler
Saxophonist und Soziologe Mike Evans im
Buch ‹Beat in Liverpool›).
Auch in England ging dem neuen Stil ein massenpsychologischer Umorientierungsprozess
voraus. Als Katalysatoren wirkten nicht nur
die amerikanischen Rock ’n’ Roll-Schallplatten,
die von Sängern wie Tommy Steele und Cliff
Richard nachgeahmt wurden, sondern auch der
traditionelle Jazz von Ken Colyer, Chris Barber und anderen Dixieland-Enthusiasten, der
vor 1960 in Großbritannien ein einträgliches
Revival erlebte. Eine 1956 eingespielte Chris
Barber-Aufnahme von Sidney Bechets Komposition Petite Fleur mit dem Klarinettisten Monty
Sunshine erzielte 1959 in wenigen Wochen eine
Millionenauflage. Andere Hits ähnlichen Ausmaßes waren Ice Cream, Down By The Riverside und When The Saints Go Marching In.
Diese Stücke weichten die britische Schlagertradition durch Rhythmus, Intonation, Phrasierung und Feeling ebenso auf, wie Blues- und
Countryelemente zuvor den amerikanischen
Popsong durchsetzt und unterminiert hatten.
Sie ließen zahlreiche junge Musikanten nach
den folkloristischen Wurzeln des alten Jazz
fragen und lenkten das Interesse auf Volksmusik und Blues. Die typisch englische Doit-yourself-Folklore, die damals auf Gitarren,
Banjos, Waschbrettern und selbstgebauten Sei-
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fenkisten-Bässen in Amateurkellern entwickelt
wurde, nannte man Skiffle Music. Nachdem der
Gitarrist und Banjospieler Lonnie Donegan
dieses Schrumm-Schrumm mit der Melodie
Rock Island Line in der Hitparade etabliert hatte, war klar geworden, dass Englands Popkonsumenten nunmehr bereit waren, erfrischenden
Dilettantismus höher zu bewerten als perfekte,
aber altbackene Professionalität.
«Für den professionellen Musiker», erklärte
der Skiffler Chas McDevitt damals, «ist eine
Skiffle-Session ein Job wie jeder andere. Er
mag technisch perfekt sein, aber er identifiziert sich nicht mit seiner Musik. Der FolkloreAmateur spielt dagegen zunächst zu seinem eigenen Vergnügen und aus echter Begeisterung.
Das Publikum merkt sofort den Unterschied.
Es hört auf Anhieb, wer es aufrichtig meint und
wer nicht.»
Liverpool wurde zum Dampfkessel, in dem
Jugendliche Blues, Rock’n’Roll und Skiffle
unter starkem sozialem und psychologischem
Druck sowie mit äußerstem Engagement zur
Beatmusik verkochten. Das 1,28 Millionen
Einwohner umfassende Industriegebiet an der
Mündung des Mersey River ähnelte in vielem
der Atmosphäre in den schwarzen Ghettos. Es
hatte die höchste Arbeitslosenziffer, die scheußlichsten Elendsquartiere und das bunteste
Völker- und Rassengemisch in ganz England.
43 Prozent aller Wohnungen waren Slums. Die
Zahl der Verbrechen lag fast doppelt so hoch wie
der Landesdurchschnitt. Für den Lebenskampf
in der hochindustrialisierten Gesellschaft fand
der junge Mensch dort am Ende der fünfziger
Jahre beinahe aussichtslose Startbedingungen
vor. Allein die Popmusik schien eine Chance
zur Selbstverwirklichung zu bieten, und viele
Jugendliche gingen diesen Weg.
Mehr als 400 Beatbands musizierten um 1960
in den Kneipen und Kellern am Mersey River,
jahrelang wurden sie von der Schallplattenindustrie und vom Monopolsender BBC ignoriert. Als sich der Deckel des Dampfkessels
nach 1962 durch den Erfolg der Beatles hob,
war die neue proletarische Musiktradition
gefestigt, waren sowohl der Stil als auch die
Musiker ausgereift. Der Vorsprung der amerikanischen und englischen Rockmusiker, den
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ihre kontinentaleuropäischen Kollegen nie einholen konnten, lag in dieser Tradition begründet. Sie waren von klein auf von rockähnlichen
Klängen umgeben und entwickelten instinktiv
jene musikalischen Verhaltensweisen, die sich
ein Rockmusiker in Kopenhagen, Paris oder
Berlin erst spät und mühsam wie eine Fremdsprache aneignen musste. Demzufolge kamen
erst ein Jahrzehnt später, nach 1970, kontinentaleuropäische Bands über die Imitation
anglo-amerikanischer Vorbilder hinaus.
In der herkömmlichen Unterhaltungsmusik
der Erwachsenen hatte stets vornehmlich der
Song den Erfolg einer Schallplatte bestimmt –
beinahe gleichgültig, von wem gesungen oder
gespielt. Der amerikanische Rock ’n’ Roll und
die englische Beatmusik setzten anstelle der
Melodie den Vorrang des Klanges und der
Interpretation. «Diente früher die Interpretation zur Mitteilung des Notentextes», schrieb
der Musikwissenschaftler Konrad Boehmer
in einer Analyse des Beatles-Stils, «so dient
dieser nun zur Mitteilung der spezifischen Interpretation. Die Frage, was gesungen werden
soll, tritt in den Hintergrund vor der Frage, wie
dies geschieht.» Folgerichtig sanken von 1956
an die Umsätze für Notenausgaben populärer
Schlager: Rock war nur über die Tonaufnahme
adäquat zu vermitteln.
Neben dem gemeinsamen interpretatorischen
Grundgestus wiesen der Rock ’n’ Roll der fünfziger und die Popmusik der sechziger Jahre
(die heute unter der Bezeichnung Rock zusammengefasst werden) jedoch fundamentale Unterschiede auf. Der Rock ’n’ Roll, der
auf einem schmalen Fundus von musikalischen
Standardformeln und Textmotiven aus der Vorstellungswelt der Teenager beschränkt blieb,
war bereits nach vier Blütejahren – 1954 bis
1958 – erschöpft. Denn das konventionelle Gefüge der Musikindustrie war durch das stürmische Shake, Rattle And Roll von Elvis Presley,
Chuck Berry, Little Richard, Buddy Holly und
Jerry Lee Lewis nicht erschüttert worden. Das
alte Management hatte sich deren Einfälle,
die zunächst auf kleinen Außenseitermarken
wie Sun, Specialty oder Chess verlegt worden
waren, einfach einverleibt und stellte von 1957
an am Fließband platte Imitationen her.