Der kleine Vampir One-Shot
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Der kleine Vampir One-Shot
Der kleine Vampir One-Shot Rüdiger – alleine, einsam und verlassen Wie lange war es her, seit Anton den Keller verlassen hatte? Eine Stunde oder schon länger? Die Nacht war noch nicht weit fortgeschritten…Rüdiger presste seine Lippen zusammen. Ein schmerzhaftes Ziehen machte sich in seiner Magengrube bemerkbar und der kleine Vampir unterdrückte ein Stöhnen. Er hatte solchen Hunger! Sicher, er hatte jetzt einen Schlüssel und konnte den Keller von Antons Eltern jederzeit verlassen aber zu Fuß? Missmutig fiel sein Blick auf den Umhang, den Anton ihn gebracht hatte…er war mittlerweile trocken aber was nützte er ihm schon? Rein gar nichts, ohne Flugpulver…ohne Flugpulver kein Fliegen, ohne Fliegen keine Lufthoheit, ohne Fliegen keine Sicherheit, keine Freiheit! Ja, Freiheit….Rüdiger stöhnte auf…Freiheit bedeutete den Vampiren alles…Onkel Theodors Lehren, die er immer mit einer gewissen Langeweile und Gleichmut über sich hatte ergehen lassen, kamen Rüdiger nun in den Sinn. Ja, jetzt wusste er, welch kostbares Gut doch die Freiheit war! Verzweifelt griff der Junge nach dem Umhang und presste ihn an sich…um ihn nach einem kurzen Moment wieder angeekelt von sich zu schleudern. Dieser Geruch! Dieser Geruch nach Frische und menschlichen Reinigungsmitteln….widerlich….es ging doch wirklich nichts über den Geruch von Flugpulver. Ach, wenn Antons schreckliche Nachbarin den Umhang nicht in die Finger bekommen hätte, wenn sie den Umhang nicht gewaschen hätte…wenn…Rüdiger ballte die Fäuste…dann hätte er jetzt nicht solche Probleme und säße nicht so in der Patsche. Er hätte einfach los fliegen und sich wie üblich Nahrung beschaffen können. Aber so war er dazu verdammt zu Fuß auf Nahrungssuche zu gehen. Laufen, auf Augenhöhe zwischen den Menschen…es würde Schwierigkeiten geben, das wusste Rüdiger. Kaum Möglichkeiten, sich im Verborgenen zu halten, erschwerte Flucht bei drohender Gefahr…. Der Junge zuckte zusammen und ein unbehagliches Gefühl machte sich – neben den immer stärker werdenden grässlichen Hungergefühlen – in seiner Magengrube breit. Rüdiger spürte panisch, wie allmählich die Angst in ihm hoch kroch, die Angst entdeckt zu werden. Klar, gegenüber Anton hatte er noch behauptet, es würde ihm gleich sein, wenn ihn sein – Antons – Vater, hier unten entdecken würde….was würde er auch schon finden, hatte er zornig gesagt, keinen Vampir…was sei schon ein Vampir, der nicht fliegen konnte? Und auch keinen Menschen. Er war schon seit 146 Jahren tot! Rüdiger presste erneut seine Lippen zusammen und neben seinen Hungergefühlen und der immer stärker werden nagenden Angst in seinen Eingeweiden machte sich noch ein anderes, für ihn äußerst unbehagliches Gefühl in seinem Inneren bemerkbar als er an seinen und Antons Disput vor einiger Zeit zurückdachte. Rüdiger schloss die Augen und versuchte krampfhaft dieses ungebetene Gefühl zu verdrängen, es einfach beiseite zu schieben doch es war da und weigerte sich schlicht und einfach zu verschwinden, es kroch in seine Gedanken und ließ sich einfach nicht leugnen: er fühlte sich schuldig! Schuldig? Der kleine Vampir schlug die Augen auf und schüttelte Kopf. Pah, warum sich schuldig fühlen? Nur, weil er von Anton – seinem besten Freund – mehr erwartete als eine sichere Bleibe und Obdach für den Tag? War eine Katze zum Beispiel zu viel verlangt? Seinem anderen „besten“ Freund Teddy Kasper hätte er sicher eine Katze besorgt! Ja, Teddy Kasper! Rüdigers Gesicht verfinsterte sich. Zu all dem Gefühlschaos, das mittlerweile in dem verzweifelten Jungen herrschte, kam jetzt noch die unterdrückte Eifersucht gegen den ihm unbekannten Teddy Kasper hinzu. Als hätte er nicht genug andere Sorgen! Rüdiger presste die Hände gegen seine Stirn. Er musste damit aufhören! Er musste einen klaren Kopf behalten….er musste sich darauf konzentrieren, dieses ganze elende Dilemma irgendwie heil zu überstehen….doch immer wieder kehrten seine Gedanken zu Anton und seinen eigenen harten Worten zurück…. Und schlussendlich führten sie Rüdiger zu einer für ihn bitteren Erkenntnis: er hatte seinem Freund, seinem besten Freund Unrecht getan! Was hatte Anton nicht alles für ihn riskiert? Er hatte ihn nicht nur für die Zeit der Verbannung Unterschlupf und Schutz gewährt, nein, er log und betrog sogar für ihn…und wie hatte es Rüdiger ihm gedankt? In dem er ihn Vorwürfe gemacht hatte, er würde nicht genug für ihn tun! „Es ist nicht genug, Anton!“ Seine eigenen Worte hallten in Rüdigers Kopf wider und der kleine Vampir stieß ein reuevolles Seufzen aus. Was war er nur für ein Freund, der seinen einzigen Freund in der Welt, der noch zu ihm hielt, so verletze? „Es tut mir leid“, wisperte der Junge leise in die Dunkelheit hinein um sich gleich darauf selbst voller Strenge zur Räson zu rufen. Ein Vampir entschuldigte sich niemals! Oder? Rüdiger fasste sich stöhnend an die Stirn….zu viele Gedanken auf einmal…dem Jungen wurde leicht schwindelig…was hatte Onkel Theodor noch gesagt? Ohne Nahrung würde er nicht sterben, aber er würde immer schwächer werden, bis er sich kaum noch rühren konnte und wie tot nur noch in seinem Sarg liegen konnte….Nein! Rüdiger begann zu zittern. Das durfte nicht passieren, niemals! Er würde es zu verhindern wissen…oh ja, er würde es irgendwie schaffen….aber trotz allem, trotz seiner verzweifelten Versuche, sich selbst Mut zuzusprechen, konnte Rüdiger das erneute aufkommende Gefühl der Angst nicht unterdrücken….er war hilflos und er wusste es! Ein dicker Kloß saß in seiner Kehle und wartete nur darauf, sich in heiseres Schluchzen zu verwandeln. Der Junge schloss kurz die Augen, holte tief Luft und schluckte dann mit großer Anstrengung den aufkommenden Brocken der Panik und Angst hinunter. Zu mehr war er heute Nacht wohl kaum mehr in der Lage. Erschöpft zog Rüdiger seine Arme und Beine an und ließ seinen Kopf auf seine Knie sinken. Anton – Selbstzweifel und Schuldgefühle „Anton?“ „Ja, Rüdiger?“ „Es ist nicht genug…..nicht genug…“ Anton seufzte. Nachdem er nach oben gegangen und sich kommentarlos in sein Zimmer zurückgezogen hatte, saß er nun auf seinem Bett und die vorwurfsvollen Worte seines verzweifelten Vampirfreundes wollten ihm nicht aus dem Sinn gehen. War es wirklich nicht genug? Was erwartete Rüdiger noch von ihm? Die Sache mit der Katze löste immer noch Unbehagen in Anton aus. Schon alleine die Vorstellung wie Rüdiger….Anton schauderte….Das war doch wirklich ekelig….abstoßend…um es mit den Worten des kleinen Vampirs zu sagen. Genau so wie die menschliche Art der Nahrungsaufnahme für Rüdiger abstoßend sein musste….von den Toilettengängen ganz zu schweigen…. „Was mache ich nur, was soll ich nur machen?“ sprach Anton halblaut vor sich hin und legte seine Stirn erschöpft in Falten. Der Abend war wirklich anstrengend genug gewesen. Drei Vampire nebst Sarg in der Tiefgarage, Einquartierung eines Vampirs im Keller, der dazu nicht mehr fliegen konnte….das war für seine Verhältnisse wirklich mehr als heftig. Aber was jammerte er eigentlich? Anton schüttelte ärgerlich den Kopf. Wenn hier einer was zum jammern hatte, dann war das Rüdiger. Er war in einer schrecklichen Situation, überhaupt kein Vergleich zu seiner eigenen. Er war verbannt worden, von seiner eigenen Familie, er war allein und verlassen und jederzeit lief er Gefahr, entdeckt zu werden! ‚Ein toller Freund bin ich’, dachte Anton schuldbewusst. ‚Ich mache mir schon Gedanken und Sorgen, wie ich Paps am besten vom Keller abhalten soll, aber was soll Rüdiger denn sagen? Verbannt aus der Gruft und als wäre das nicht schon schlimm genug, auch noch Flugverbot. Er ist schon so geschwächt und nun soll er auch noch ohne Umhang….’ Anton unterbrach urplötzlich seinen Gedankengang und richtete sich kerzengerade auf seinem Bett auf. Eine irgendwie verrückte, dem Wahnsinn nahe und grauselige Idee manifestierte sich langsam, recht langsam aber mit grausamer Deutlichkeit in seinem Kopf. Der Junge schloss kurz die Augen und schluckte schwer. Dann stand er langsam auf und ging mit schwerfälligen Schritten zur Tür. Wenige Minuten später stand er vor der Kellertür. Wie in Trance war er durch die Wohnung gelaufen, vorbei an seinen Eltern, die gebannt einen Krimi im Fernsehen verfolgten und ihn nicht mal ansatzweise bemerkten, aus der Wohnung raus, runter durch das Treppenhaus…niemand war ihm begegnet, sogar Effi war ihm diesmal nicht hinterspioniert…. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube starrte Anton auf die Kellertür, die zu den einzelnen, kleinen Gemeinschaftskellern führte. „Stirbt denn nicht jeder, der von einem Vampir gebissen wird?“ „Nein, die Meisten werden nur ohnmächtig. Sie kommen wieder zu sich.“ Er konnte sich noch deutlich an Rüdigers Worte erinnern. Er würde also nicht sterben wenn er sich von ihm beißen lassen würde. Anton ächzte. Die Idee war verrückt, fast schon geisteskrank und Anton hatte das grässliche Gefühl, einem fiebrigen Wahnsinn nahe zu sein. Aber er musste etwas tun! Rüdiger würde ohne Nahrung – ohne Blut, wie Anton schaudernd dachte – elendig zugrunde gehen und er war es dann schuld! Nein, er konnte seinen besten Freund nicht im Stich lassen! Anton holte tief Luft und öffnete die Tür. Anton und Rüdiger – wie weit gehst du um einem Freund zu helfen? Rüdiger schreckte hoch. Das Licht ging an und Schritte näherten sich. Der Junge fletschte die Zähne. Anton? Oder doch sein Vater oder die neugierige Nachbarin? Ach, was machte es schon? Er war sowieso am Ende. Erschöpft sah Rüdiger zu wie langsam die Kartons vor seinem Sarg beiseite geräumt wurden. Und dann – und das würde er niemals vor einem anderen Vampir zugeben – war er doch unheimlich erleichtert, als er erkannte, dass es Anton war. Der Junge kniff die Augen zusammen. Anton sah seltsam aus. So bleich…fast schon so bleich wie er selbst…. Ein wenig erschüttert starrte Anton auf den kleinen Vampir. Rüdiger sah furchtbar aus. Er schien in der Zeit seit ihrer letzten Begegnung noch blasser als sonst geworden zu sein (wenn das überhaupt möglich war). Müde und traurige Augen voller Gleichgültigkeit mustern ihn. Wie ein kleines Häufchen Elend hockte Rüdiger da in seinen Sarg und schien förmlich mit seiner Existenz abgeschlossen zu haben. „Was?“ Mit einer leicht gereizten Grimmigkeit schleuderte ihm Rüdiger diese Frage entgegen. Anton schluckte und machte einen Schritt auf ihn zu. Die folgenden Worte kamen ihn nur mit quälender Langsamkeit über die Lippen aber dennoch fand Anton den Mut sie auszusprechen. „Du…du hast gesagt, ich würde dir nicht genug helfen…du wolltest wissen, wie weit meine Freundschaft wirklich geht…“ Anton stockte. Rüdiger sah ihn verwirrt an und runzelte die Stirn. Worauf wollte Anton hinaus? Er schien förmlich mit sich selbst zu ringen und ein leichtes Zittern ging auch von ihm aus. Anton gab ihm die Antwort indem er wie in Zeitlupe auf ihn zuging und langsam zu dem kleinen Vampir in den Sarg stieg. „Anton? Was…?“ „Du hast gesagt, dass man nicht stirbt, wenn ein Vampir einen beißt, oder? Man wird nur ohnmächtig und es passiert nichts Schlimmes, ja?“ Rüdiger starrte seinen Freund an. Auf Antons Wangen hatten sich hektische rote Flecken vor Aufregung gebildet und seine Atmung hatte sich beschleunigt. „Ja“, sagte Rüdiger unsicher. Langsam aber sicher begann er sich unbehaglich zu fühlen…. „Niemand muss sterben, wenn ihn ein Vampir beißt, es sei denn, der Vampir will damit der Mensch zum Vampir wird…“ Anton holte tief Luft und sah Rüdiger direkt in die Augen. Die nächsten Worte kamen ihm seltsamerweise leicht von den Lippen. „Du kannst mich beißen! Du bist zu schwach um zu Fuß dir….du…du weißt schon…“ Rüdiger stieß ein heftiges Keuchen aus. Was sagte Anton da? War er wahnsinnig geworden? „Spinnst du?“ Schockiert sah Rüdiger seinen Freund an. „Ich…ich kann dich doch nicht beißen! Du bist mein Freund…“ „Gerade deswegen“, unterbrach ihn Anton. „Rüdiger, ich will nicht, dass du stirbst!“ „Anton, ich sterbe doch nicht, ich bin schon tot!“ „Du weißt wie ich’s meine!“ Entschlossen sah ihn Anton an. „Du wirst immer schwächer und…und was wenn sie dich hier finden….“ Eine eisige Hand griff nach Rüdigers Herzen. Ja, was wenn sie ihn hier fanden, geschwächt und wie tot in seinen Sarg liegend? Die Menschen würden ihn endgültig töten (mit einem Holzpflock, dachte Rüdiger schaudernd) oder einsperren oder was sonst für schlimme Sachen mit ihm anstellen! Er musste zu Kräften kommen! Anton hatte Recht. Aber seinen besten Freund beißen? Aber Anton hatte es ihm in Freundschaft angeboten. Er war wirklich ein wahrer Freund in der Not! Langsam sah ihn Rüdiger in die Augen. „In Ordnung“, sagte der kleine Vampir leise. „Ich tue es…“ Anton holte tief Luft. „Ich werde vorsichtig sein….“ „Rüdiger….tut es sehr weh?“ Mit bangem Blick sah ihn Anton an. „Nur kurz“, sagte Rüdiger leise. „Hab’ keine Angst…dir wird nichts passieren…ich…ich nehme nur ganz wenig…“ „Gut…dann...dann bring es hinter dich…“ Antons Mund wurde ganz trocken während er diese Worte sagte. Der kleine Vampir sah ihn noch einmal kurz an, dann beugte er sich langsam vor und streckte seine Hand aus. Schmerzhaft gruben sich seine Finger in Antons Schulter. Anton unterdrückte ein Stöhnen. Obwohl Rüdiger so geschwächt war, steckte doch noch eine erschreckende Kraft in ihm. Er schloss die Augen. Nein, er wollte nichts sehen…bitte, es sollte nur schnell vorbei gehen. Ob er ohnmächtig werden würde? Würde er sich danach an den Biss erinnern? Erinnerten sich die anderen an die Bisse der Vampire? Wohl kaum, sonst würde es haufenweise Anzeigen bei der Polizei oder in Krankenhäusern geben….aber Anton war sich sicher, er würde sich garantiert an den Biss erinnern, denn er wusste ja, dass ihn ein Vampir biss…seine wilden Gedankengänge wurden unterbrochen als er Rüdigers Atem in seinem Nacken spürte…. Rüdigers Zunge fuhr über seine aufgerissenen Lippen. Er konnte das Blut förmlich riechen, dass da in so verlockender Nähe war. Er sah Antons Halsschlagader wild pochen und öffnete langsam den Mund. Immer näher kam er Antons Hals….doch dann hielt er inne. Anton hatte die Augen geschlossen, fest zusammengepresst und sein ganzer Körper hatte sich versteift. Durch seine Hand, seine Finger, die sich in Antons Schulter vergraben hatten, konnte er das Zittern seines Freundes spüren. Und er konnte Antons Herzschlag hören. Sein Herz schlug unnatürlich schnell, in einer Geschwindigkeit, die für einen Menschen überhaupt nicht gut war. Er hatte Angst, furchtbare Angst! Rüdiger stockte. Was tat er hier eigentlich? Er war gerade dabei seinen besten Freund seine scharfen Eckzähne in den Hals zu schlagen um seine eigene, kleine Existenz zu retten! Was war er nur für ein furchtbarer Freund? Anton und Rüdiger – beste Freude für immer „Nein!“ Entsetzt und als hätte er sich verbrannt wich Rüdiger vor Anton zurück. „Ich kann nicht! Ich kann dich nicht beißen, niemals!“ Anton riss die Augen auf. Das Gefühl der Erleichterung, dass in ihm aufstieg, drohte den Jungen zu überwältigen. Aber dennoch…Rüdiger musste essen! „Aber“, setzte Anton schwach an. „Du musst doch…“ „Nein!“ Mit einem Keuchen schüttelte Rüdiger heftig den Kopf. „Ich werde dich nicht beißen, niemals! Du bist mein Freund! Mein bester Freund! Ich kann dir das nicht antun, Anton!“ Mit wilder Entschlossenheit sah ihn der kleine Vampir an. „Lieber gehe ich hier unten erbärmlich zu Grunde oder werde da draußen von den Menschen getötet als dass ich meinen besten Freund verrate!“ Anton schien es als würde eine Zentnerlast der Angst von seinem Herzen fallen. Er sah zu seinen Freund hinüber. Rüdiger hatte sich erschöpft von seinem flammenden Appell an ihre Freundschaft zurückgelehnt. „Mir muss etwas anderes einfallen“, sagte Rüdiger leise. „Das…das…eben kann keine Lösung sein!“ Er schloss kurz die Augen. Dann blickte er fragend zu Anton hinüber. „Wissen deine Eltern überhaupt wo du bist? Wundern die sich nicht wo du so lange bleibst?“ Anton schüttelte den Kopf. „Die kucken einen Krimi im Fernsehen. Auf den hat sich Paps die ganze Woche gefreut. Die haben noch nicht mal bemerkt, dass ich hier runter bin.“ Anton hielt für einen Moment inne. „Soll ich noch bleiben? Oder…oder möchtest du dass ich gehe?“ „Nein!“ Rüdiger sah in fast flehend an. „Bleib noch etwas, ja? Ich will nicht alleine sein!“ Anton nickte und für eine ganze Weile saßen die beiden Kinder – der eine ein menschlicher Junge und der andere ein Kind der Nacht – schweigend nebeneinander. Schließlich ergriff Rüdiger das Wort. „Anton?“ „Ja?“ „Ich habe dir doch mal gesagt, dass Vampire niemals etwas versprechen und sich niemals entschuldigen?“ Verwundert sah Anton ihn an. Die nächsten Worte schienen Rüdiger schwer zu fallen. „Vampire entschuldigen sich niemals“, sagte der Junge langsam. „Aber…“ Er stockte erneut. Schien förmlich mit sich zu ringen. Dann blickte Rüdiger Anton fest in die Augen. „Ich tue es trotzdem! Es tut mir leid, Anton. Es tut mir leid, dass deine Hilfe nicht gewürdigt habe. Es tut mir leid, dass ich so undankbar war. Du hast viel für mich riskiert und ich habe es dir nicht gedankt. Ganz im Gegenteil, ich habe dir sogar noch Vorwürfe gemacht.“ Reuevoll sah ihn der kleine Vampir an. „Ich wüsste nicht, wo ich ohne deine Hilfe wäre….danke dafür. Ich danke dir, mein Freund!“ Mit diesen Worten neigte Rüdiger leicht seinen Kopf. Ein wenig erschüttert und auch irgendwie gerührt sah Anton ihn an. Das war unerwartet und so gar nicht Rüdigers Art. Es gehörte eine ordentliche Portion Mut dazu, seine Fehler einzugestehen und dann noch seinem Freund Abbitte zu leisten. „Schon in Ordnung“, sagte Anton ein wenig verlegen. „Jetzt, jetzt ist doch alles wieder gut zwischen uns…“ „Ja.“ Erleichtert sah ihn Rüdiger an. Er versuchte ein Lächeln, das ihm aber nicht gelingen wollte. Stattdessen biss sich der kleine Vampir fest auf die Lippen. „Rüdiger?“ Besorgt beugte sich Anton vor. „Was ist los? Ist dir schlecht…“ „Nein!“ Sein Freund schüttelte den Kopf. „Anton…“ Rüdiger stockte. Erneut schien es in dem kleinen Vampir zu arbeiten. Auf seinem Gesicht manifestierten sich die verschiedensten Emotionen und schlussendlich überwog eine Regung alle anderen, eine Regung, die Anton bisher noch niemals bei seinem Freund gesehen oder bemerkt hatte. Angst. „Anton, ich habe Angst!“ Furchtsam blickte Rüdiger zu Anton hinüber. „Was wird mit mir geschehen? Was kommt noch? Was, wenn mich doch dein Vater oder andere Leute hier entdecken? Was mache ich dann? Ich…ich..“ Die Stimme des Jungen brach und sein ganzer Körper schien ein einziges Beben zu sein. Und dann sah Anton erneut etwas, was er zuvor niemals bei dem kleinen Vampir gesehen hatte. Tränen liefen Rüdiger die blassen Wangen herunter. Er versuchte krampfhaft sie zu unterdrücken aber es gelang ihm nicht. Ein Schluchzen drang aus seiner Kehle und voller Scham senkte er vor Anton den Blick. „Rüdiger…“ Vorsichtig streckte Anton seine Hand aus. Erst berührte er behutsam Rüdigers Schulter, dann rückte er näher. „Es ist in Ordnung….keine Sorge…uns wird schon was einfallen…“ Langsam streckt er seine Arme aus, fasste Rüdiger an beiden Schultern und zog ihn zu sich. Verzweifelt klammerte sich Rüdiger an ihm und ließ seinen Gefühlen schlussendlich freien Lauf. Vor Anton brauchte er sich nicht zu schämen! Eine ganze Weile hielten sich die beiden ungewöhnlichen Freunde so in den Armen. Schließlich löste sich Rüdiger mit einem verlegenden Blick von Anton. Er wischte sich die Tränen weg. Dann atmete er tief durch. „Danke“, sagte er leise. Anton nickte nur. Dann: „Vielleicht hat Anna ja Glück und bringt dir Flugpulver…sie ist gewieft, das weißt du…“ „Ja…“ Ein hoffnungsvoller Ausdruck machte sich auf Rüdigers Gesicht breit. „Anna ist listig….sie schafft es sicher, Tante Dorothee das Flugpulverglas zu stehlen…“ Ein leichtes Grinsen umspielte die Lippen des kleinen Vampirs. Anton lachte leise. „Wenn es jemand schafft, dann Anna“, versuchte er seinem Freund Mut zu machen. „Damals hat sie es ja auch ohne Probleme geschafft, Udo den Umhang zurück zu klauen!“ Rüdiger lachte kurz auf. Dann wurde er wieder ernst. „Anton?“ „Ja Rüdiger?“ „Bitte erzähl Anna nichts von all dem hier“, bat ihn der kleine Vampir. „Das ich dich fast gebissen hätte…ich würde mich vor ihr so furchtbar schämen….und….und das ich geweint habe.“ Anton schüttelte beruhigend den Kopf. „Mach dir keine Gedanken, ich erzähle ihr nichts.“ Rüdiger stieß einen erleichterten Laut aus. „Gut…danke…“ Der Junge lächelte. „Du bist wirklich ein guter Freund, Anton. Ich bin wirklich froh, dass du mein Freund bist….dass ich dein Freund sein darf….“ Anton lächelte zurück. „Und ich bin auch sehr froh, dass wir Freunde sind. „ Die beiden ungleichen Kinder sahen sich an und wussten beide, dass durch die Ereignisse der letzten Zeit das Band ihrer Freundschaft stärker geworden war. Plötzlich ließen trippelnde kleine Schritte beide aufhorchen. „Rüdiger, Anton, ich bin’s!“ Anna trat vor die beiden, einen stolzen und triumphierenden Ausdruck in den Augen. „Seht mal was ich habe!“ Sie hob ihre Arme und Anton und Rüdiger sahen ein Glas, auf dessen Deckel sich eine Fledermaus befand. Das schwarze Pulver im Inneren des Glases schien auf eine magische Art zu schimmern. Freudestrahlend sah Rüdiger seinen besten Freund an. „Anton“, rief er. „Es ist Flugpulver! Anna hat es wirklich geschafft!“ Anton lachte erleichtert auf. Nun sah die ganze Sache nicht mehr allzu finster aus. Rüdiger würde wieder fliegen können und er konnte mit Sicherheit auch irgendwann wieder in die Gruft zurück. Aber bis es soweit war, würde Anton ihm helfen. Jederzeit und ohne zu zögern. Denn Rüdiger war sein bester Freund! Rüdiger – wieder allein und doch nicht allein Sehr spät in der Nacht, bereits kurz vor Morgengrauen lag Rüdiger in seinen Sarg. Er war erschöpft, aber auf eine angenehme Art und Weise. Nachdem Anna ihm das Flugpulver gebracht hatte, er sich draußen gestärkt und sogar einen weiten Nachtflug auf sich genommen hatte, um Antons anderen besten Freund Teddy Kasper zu besuchen, fühlte der Junge eine wohlige Müdigkeit in sich aufsteigen. Komischerweise war er gar nicht mehr eifersüchtig auf diesen Teddy Kasper! Er hatte ihn beobachtet. Dieser Teddy schlief in einem kleinen Zelt in seinem Garten. Er schien die Dunkelheit zu mögen, genau wie Anton. Wer die Dunkelheit liebt, der konnte so schlecht nicht sein. Das hatte er auch zu Anton gesagt, als er ihm den von Teddy angefangen Brief an ihn, Anton, gebracht hatte, damit ihm seit Freund glaubte, dass er wirklich Teddy besucht hatte. Rüdiger lachte leise. Damit hatte Anton nicht gerechnet. Zufrieden rückte der kleine Vampir noch mal sein kleines Kopfkissen zurecht und wollte sich gerade dem süßen Tagschlaf hingeben, da öffnet er noch mal die Augen. Die Nacht war wirklich ereignisreich gewesen! Sowohl auf schlimme als auch auf schöne Art und Weise. Nachdenklich starrte Rüdiger seinen Sargdeckel an. Anton hatte ihn überrascht. Das sein Freund ihm wirklich helfen wollte, in dem er sich freiwillig von ihm, Rüdiger, beißen lassen wollte, schockierte und freute den Jungen immer noch auf eine gewisse Weise. Es war mehr als ein Freundschaftsdienst, es ging über bloße Freundschaft hinaus, das wusste Rüdiger. Und er war froh, dass er es nicht getan hatte. Er hätte Anton niemals mehr in die Augen blicken könnte. Es wäre niemals wieder so wie sonst zwischen ihnen gewesen. Der kleine Vampir war aber auch von sich selber überrascht worden. Er hätte es niemals für möglich gehalten, dass er sich jemals bei jemandem entschuldigen würde, und dann auch noch bei einem Menschen! Nein, falsch, korrigierte sich Rüdiger sofort. Bei seinem Freund. Seinem besten Freund. Er hatte sich danach sogar gut gefühlt. Es war ein angenehmes Gefühl gewesen, seinem Freund Anton seine Fehler einzugestehen und ihm um Verzeihung zu bitten. Anton hatte ihm vergeben. Sogar mehr noch, er hatte ihn getröstet und war für ihn da gewesen, als er seine Angst und Verzweiflung nicht mehr hatte zurück halten können. Für einen Moment hatte er sich vor Anton geschämt, aber nur für einen kurzen Moment. Rüdiger schloss langsam die Augen. Auf Anton konnte er sich verlassen, dass wusste er. Er hatte jetzt keine Angst mehr. Er würde die Verbannung überstehen. Er würde es überleben. Gemeinsam mit Anton konnte er alles schaffen. Denn Anton war sein bester Freund!