the PDF file - Hans-Joachim Maaz – Stiftung
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1 Hans-Joachim Maaz Zur Psychodynamik von Protest und Gegenprotest Vortrag am 05.02.2015 in der Landeszentrale für politische Bildung, Dresden Die Proteste, die von Dresden ausgehen, weisen auf wachsende Konflikte in unserer Gesellschaft hin. Wir sind alle gefordert, verstehen zu wollen, was in den Pegida-Protesten und Gegendemonstrationen zum Ausdruck gebracht wird. Eine primitive Abwertung oder gegenseitige Beschimpfung ist sicher nicht hilfreich, klärt aber auf keinen Fall die sicher sehr verschiedenen Motive des Protestes. Ich würde mich weder bei Pegida noch bei den Gegendemonstationen einordnen, weil – wie immer bei Pro und Contra – beide Seiten Recht und Unrecht haben und die Spaltung in Gegensätze tiefere Analysen erschwert bis verhindert. Ich bin persönlich vor allem durch die Spaltung mit feindseliger Abwertung beunruhigt. Ich kenne leidvoll die Intoleranz und Verleugnungstendenzen gegenüber Andersdenken aus meiner Ursprungsfamilie und den gesellschaftlichen Verhältnissen im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Ich habe in der Auseinandersetzung mit der miterlebten Geschichte (Krieg, Rassenwahn, Holocaust, Vertreibung, repressive Erziehung und heute: narzisstische Gesellschaft) keine überzeugenden Antworten finden können, die die massenhafte individuelle Schuld von Mittäterschaft und Mitläufertum erklärt hätte. Wieso konnte eine große Mehrheit von uns Deutschen begeistert in den Krieg ziehen, einen Völkermord mitgestalten und tolerieren, eine repressive Gesellschaft gut heißen und in einem narzisstischen Wachstumswahn heute an der Zerstörung der Natur und wachsenden sozialen Ungerechtigkeit gedankenlos teilnehmen. Was sind da für Kräfte am Werk? Ich bin sicher, dass die Suche nach Antworten meinen Berufswunsch wesentlich mitgeprägt hat. 2 Ich habe mit Bitterkeit einsehen müssen, dass Gelöbnisse, Feierstunden, museale Erinnerungen und große Worte die massenhafte Beteiligung an unvorstellbaren Verbrechen nicht erklären können oder gar die „Vergangenheit bewältigen“ könnten. Lippenbekenntnisse klären nicht die individuelle Schuld, die aus familiären Verhältnissen, autoritären Strukturen und mangelhafter Bindung in der Kindheit resultieren. Erst wenn jeder Einzelne seine Entfremdung mit der Gefahr destruktiver Verhaltensweisen gegen sich selbst oder andere (Kinder, Partner, Nachbarn, Vorgesetzte, Fremde) oder gegen Tiere und die Natur wahrnimmt und ganz individuell zu regulieren bemüht ist, hätten wir Lehren aus der Geschichte gezogen oder wirkliche – innerseelisch verankerte – Demokratie gewonnen. Wir dürfen nicht vergessen, dass uns Deutschen „Demokratie“ von außen und von oben 1945 verordnet worden ist (entweder mit kapitalisierender Wohlstandshoffnung oder mit ideologisierender Friedenshoffnung). Auch 1989 haben wir Ostdeutschen die notwendige Revolution verschenkt und „verkauft“ und nur eine äußere Demokratisierung durch Beitritt vollzogen, statt individuelle Schuld an Mittäterschaft, Mitläufertum und Denunziation zu erkennen und heilsam-schmerzlich zu verarbeiten. Dass es z.B. in der Bundesrepublik 40 Jahre gebraucht hat, bis es ein Bundespräsident (R. v. Weizäcker) wagen durfte, den 8. Mai 1945 als einen „Tag der Befreiung“ zu nennen, wirft ein bedrückendes Bild auf die dominierende Verleugnung. Ich will Ihnen jetzt Überlegungen, Hypothesen und mögliche Deutungen eines Psychoanalytikers anbieten, die für die allgemeine Psychodynamik von Protest und Toleranz ausreichend gesichert sind, aber auf Pegida und Antipegida angewendet, solange Hypothesen bleiben müssen, solange nicht in tiefenpsychologischen Analysen die verschiedenen Motive für den Protest erhellt werden. Protest – tiefenpsychologisch verstanden – heißt „Ich“ sagen, heißt „Nein“ sagen. Protest ist notwendiger Widerstand gegen jede Form von zu großer Belastung und Stress, Protest ist konstruktiv-aggressive Abgrenzung gegen 3 Zumutungen, ein angemessener affektiver Ausdruck von Unwillen, Unzufriedenheit, Ungerechtigkeit, Kränkung und Verletzung. Protest ist ein Symptom der Unlust und dient der Regulierung von Bedürfnisspannung, um den Selbsterhalt, die Individualität und Würde zu schützen. Protest ist befreiend und heilsam und sollte zur alltäglichen Selbstverständlichkeit gehören. Dagegen führt vermiedener oder verhinderter Protest in einen Gefühlsstau, der krank machen kann und jederzeit als Affektdurchbruch gefürchtet werden muss. Jede autoritäre Erziehung, jede repressive Gesellschaft, jeder Kollektivdruck, jede moralische Instanz, die Protest erschweren, untersagen oder diffamieren erzeugen in der Konsequenz Krankheit und Gewalt. Individueller Protest ist in aller Regel sehr viel schwieriger, weil dafür ein hohes Maß an Selbstwert, Mut und Identität erforderlich ist; im kollektiven Protest fällt es leichter, sich einfach nur anzuschließen, wobei allerdings auch das Risiko irrationaler Zuspitzung bis hin zu Gewalt und kriminellen Verbrechen wächst. Protest entsteht immer aus einem Anlass, der auch nur sehr geringe Bedeutung haben kann („die Fliege an der Wand“). Wenn der Affekt des Protestes nicht mehr mit der Problematik der auslösenden Situation in einem nachvollziehbaren Verhältnis steht, dann transportiert der Widerspruch noch ganz andere – verleugnete, verborgene bis unbewusste – Inhalte, so dass für die Klärung immer auch die ganz individuelle Problematik des Protestlers und die sozialen Belastungen untersucht und verstanden werden sollten. Wir kennen alle großen Ärger bei z.B. relativ harmlosem Ehestreit oder heftige Kränkungsgefühle bei nur geringer Kritik. Wenn Protest nach innerseelischen Gründen untersucht wird – was unbedingt erforderlich ist - besteht die Gefahr des Psychologisierens, indem die reale Kritik bagatellisiert wird. Es gibt aber auch die Gefahr des Politisierens, wenn individuelle Verletzungen im politischen Kampf ausagiert werden. Eine Politik der Abwertung und Diskriminierung, eine Haltung der Ausgrenzung Andersdenkender (ob gegenüber Nazis, Ausländern oder auch Pegida) 4 verschärft die Konflikte in der Gesellschaft, die von uns allen verantwortet werden müssen. Dagegen steht der hohe Wert der Toleranz. Wie verstehen Psychotherapeuten diese Haltung? Toleranz ist die Bereitschaft, Unbekanntes, Neues, Fremdes, Andersartiges prinzipiell als Realität zu akzeptieren, ohne es auch gut heißen zu müssen. Aber dazu muss der Mensch auch fähig sein. Und zur Toleranz fähig ist nur der, der das eigene Fremde, Unangenehme, Peinliche, Fehlerhafte und Begrenzte in sich selbst weiß und akzeptieren gelernt hat. Und da das Unbewusste im Menschen immer den viel größeren Seelenraum einnimmt als das Bewusste, muss man immer damit rechnen, neues Fremdes in sich selbst zu entdecken. Meist sind das schmerzliche, belastende, unangenehme und peinliche seelische Inhalte, wofür unsere Seele die Projektion als Schutzmechanismus zur Verfügung stellt. Dann sehen wir bei anderen das, was wir bei uns selbst nicht wahrhaben wollen. Leider führt das oft zu kränkender Denunziation oder verschärft eigene Fehleinschätzungen, weil bittere SelbstErkenntnis vermieden wird. Intoleranz ist immer ein Symptom der eigenen seelischen Einengung und Verleugnung. Wenden wir uns der aktuellen Situation in Dresden und anderswo zu und stellen erst mal die besonderen Auffälligkeiten fest: 1. Scheinbar ohne Protestbewegung, besonderen die Anlass vielleicht entsteht am ehesten eine anwachsende als konservative außerparlamentarische Opposition verstanden werden kann. 2. Dieser Protest kommt vor allem aus den „neuen Bundesländern“ 3. und löst eine sehr heftige und diffamierende Abwertung durch Politiker aus, die Verstehen und Gespräche ablehnen, 4. begleitet von einer sehr einseitigen, nicht mehr objektiven Berichterstattung in den Medien, die vor allem abwertet, ohne die Kritikpunkte des Protestes aufzugreifen und zu diskutieren (schon die 5 Bezeichnung „Islamgegner“ ist falsch, es wird Kritik an einer möglichen „Islamisierung“ formuliert). 5. Auch der Gegenprotest ist auffällig heftig mit zwar höchst ehrenwerten Parolen (bunt, weltoffen, Toleranz, Willkommenskultur), die am vorgetragenen Protest aber vorbeizielen. Es dominiert also ein „nicht-verstehen-wollen“, „nicht-klären-und-diskutierenwollen“, stattdessen abwerten, diffamieren, beschimpfen und verhindern wollen. Aber eine Politik, die diskriminiert: Hannelore Kraft: „Rattenfänger“, Jasmini Fahimi: „geistige Brandstifter“ Heiko Maas: „Schande für Deutschland Cem Özdemir: „Mischpoke“ Helmut Schmidt: „… die gehören nicht zu Deutschland“ Gerhard Schröder: fordert einen „Aufstand der Anständigen“ Angela Merkel: „… haben Kälte und Hass in den Herzen“ und sollen deshalb gemieden werden, Steinmeier: „Das Ansehen Deutschlands ist im Ausland beschädigt.“ Stimmen aus der Kirche: unchristlich, unerträglich. Eine solche Politik ist intolerant, undemokratisch, ausgrenzend und konfliktverschärfend – praktisch wie eine Anstiftung zur Gewalt. Selbst Rechtsextreme und Kriminelle brauchen eher Hilfe und Verständnis, um Fehlentwicklungen korrigieren zu können. Verständnis exkulpiert allerdings nicht vor notwendiger Strafe bei Gesetzesverletzungen. Von der Bundeskanzlerin als beispielgebende höchste Instanz und oft auch als „Mutti“ bezeichnet, erwarte ich eine Einstellung, die ich etwa so formulieren würde: „Ich vermute bei den Demonstranten Kälte und Hass in den Herzen, was 6 mir große Sorge macht. Wir müssen uns hilfreich darum kümmern und uns fragen, was es mit unserer Politik zu tun haben könnte.“ Wenn wir also den Protest und Gegenprotest verstehen und deuten wollen, müssen wir auf drei Ebenen untersuchen: 1. Was könnten individuelle Motive sein? Dazu gibt es Statements: Ich werde nicht gehört. Ich werde nicht ernst genommen. Ich fühle mich ohnmächtig. Ich habe keinen Einfluss auf politische Entscheidungen, die mein Leben beeinflussen. Ich fühle mich ausgeliefert, bedroht, finde keinen Halt, keine Orientierung mehr, meine Sicherheit steht in Frage. Mit solchen Aussagen werden innerseelische Erfahrungen aus der eigenen Lebensgeschichte transportiert, die offenbar durch die realen sozialen Verhältnisse wiederbelebt und verstärkt worden sind. 2. Ängste aus sozialen Motiven lassen sich im Osten Deutschlands sehr schnell finden. Verlust an Halt, Orientierung, Sicherheit und Bedeutung durch Übernahme eines völlig anderen Wertesystems und einer Lebensform, die DDRtypische Anpassungsleistungen durch Stärkekult, Dominanzgebaren und Konkurrenzverhalten nahezu konterkarieren. Die revolutionäre Kraft von 89 haben die meisten von uns mit der naiven Hoffnung aufgegeben, es könne alles nur besser werden und wir haben uns mit 100,00 DM Begrüßungsgeld in eine materielle Wertwelt einkaufen lassen – damals der Sehnsucht nach Befreiung und einem besseren Leben geschuldet, heute mit erlebter Ernüchterung und Enttäuschung oft als beschämend und peinlich erlebt. Aber die Tatsache, dass das westliche System nicht einfach nur das bessere sei, sondern auch erhebliche Fehlentwicklungen und nur andere Störungen und Ungerechtigkeiten generiert als das DDR-System, das ist bis heute nicht öffentlich wirklich diskutiert und akzeptiert. 7 3. Damit sind gesellschaftliche Motive der Proteste angesprochen, die als Vereinigungspolitik, Politikkritik, Systemkritik und Kapitalismuskritik vielfache bedrohliche Themen zum Ausdruck bringen: Die Diskussion um soziale Gerechtigkeit, mit wachsender Armut, Fragen der Euro- und Finanzkrise, der Klimakatastrophe, der Vergiftung von Luft, Wasser und Boden bis zu belasteten Lebensmitteln, Kleidung und Gebrauchsgegenständen, Artensterben, Tierquälerei, neue Kriege und Terroranschläge sind Anlass genug, beunruhigt zu sein und klare Ansagen, Orientierung und vor allem Schutz und Sicherheit einzufordern. Begriffe wie Patriotismus, Heimat, Tradition, Nation, Sprache, Kultur und Religion vermitteln doch hohe Werte, die Halt und Zugehörigkeit ermöglichen und die bei einer zunehmend globalisierten, medial vernetzten und damit unüberschaubaren Welt zur Grundlage sozialer Geborgenheit werden. Wer darin Symptome rechtsextremer Gesinnung zu erkennen glaubt, schürt nur die Verunsicherung und den berechtigten Protest. Weshalb reagieren Politiker und Medien so abwertend und einseitigdiskriminierend. Auf der Symptomebene, Unterlassungen und Schwächen der weil Asyl-, Fehlentscheidungen, Einwanderungs- und Integrationspolitik gespiegelt werden. Fragen danach, wer darf nach Deutschland kommen, wer sollte kommen, wie viele dürfen kommen, wer darf bleiben und wer wird wie abgeschoben, sind berechtigte Fragen, die klare politische Entscheidungen fordern. Eine bloße „Willkommenskultur“ beantwortet diese wichtigen Fragen nicht. Die Politik ist deshalb auch besonders angefragt, weil die Kriege, aus denen Flüchtlinge zu uns kommen, und die Armut, die Menschen vertreibt, sehr viel mit unserer („westlichen“) Lebensart und Expansionspolitik zu tun hat. Wir dürfen nicht übersehen, dass unsere Konsumsucht eine wesentliche Quelle wachsender sozialer Ungerechtigkeit und Ungleichheit ist. Dass eine Islamisierung kritisch angefragt und befürchtet wird, entsteht aus der ungeklärten Frage, welcher Islam denn zu Deutschland gehört 8 und gehören sollte. Muslime und islamische Verbände müssen erklären, was der Islam mit Terror zu tun haben könnte. Wie kann es sein, dass Hass-Predigern religiöse Räume zur Verfügung gestellt werden? Wie es sein kann, dass im Namen Allah`s Kriege, Morde und Terror möglich sind? Und wie die Integration islamischer Kultur und Religion in das deutsche Grundgesetz vollzogen wird? Es gibt also genug gesellschaftliche Krisen und ungelöste soziale Probleme, um den Protest dankbar aufzunehmen, weil Bürgerbeteiligung Erstarrtes, Ungeklärtes in Bewegung bringt. Um zu tieferen Deutungen der Auffälligkeiten der Proteste und Gegenproteste zu gelangen, gehe ich zunächst von der Symbolik der Anti-Pegida aus, die durch infantile bis alberne Gesten besonders auffallen. Da frage ich mich, was könnten die „Spaziergänger von Dresden“ Schmutziges aufgewirbelt haben, das mit Besen weggefegt werden soll. Und wohin? Nach Pirna oder Meißen? Oder auf den Müll? Wenn damit Menschen gemeint wären, wäre es keine lustige Geste mehr. Oder soll etwas „unter den Teppich gekehrt“ werden, damit man es nicht mehr sieht? Und warum wird Verdunkelung gewünscht, wenn die Lichter ausgeschaltet werden? Weshalb soll die christliche Strahlkraft des Kölner Doms erlöschen? Wer mag aus welchem Grund auf die Idee kommen, Schillers „Ode an der Freude“ als Antidot zu wählen? Aber es heißt so schön: „Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt, alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“. Wieso wird eine so feierliche Hymne, die verbinden will, missbraucht, um etwas zu übertönen, was offenbar nicht gehört werden will. Für die mögliche Deutung des Gesamtprozesses benutze ich drei klassische seelische Abwehrvorgänge: 1. Verleugnung und Verdrängung: Es soll etwas hinweggefegt, verdunkelt und übertönt werden. Die deutschen Gesellschaften zeichnen sich durch schwere Konflikte, Verleugnungen aus: Ich habe das nicht gewusst! Ich habe das nicht 9 gewollt! Ich habe doch nichts machen können! Nicht mitzumachen wäre (lebens-) bedrohlich oder man würde nicht mehr dazugehören, Karriere wäre ausgeschlossen! Es muss doch mal ein Schlussstrich gezogen werden! Wir schauen nach vorn! Mit solchen Einstellungen könnte weder die millionenfache Schuld am Nationalsozialismus und am Sozialismus heilsam verarbeitet noch unsere heutige destruktive narzisstische Lebensform erkannt und gebremst werden. 2. Die Reaktionsbildung: d. h. dass wir Menschen dazu neigen, das Gegenteil von dem zu betonen und zu demonstrieren, was wir bei uns selbst nicht wahrhaben wollen oder dürfen. So verbirgt der besonders Freundliche seine Aggressivität, der Helfer kompensiert seine eigene Hilfsbedürftigkeit und der Moralapostel will eigene sexuelle Gelüste übertönen. Und wenn wir lauthals demonstrieren, dass wir weltoffen, bunt, tolerant und friedfertig sind, kann man ahnen, welche seelische Last damit kaschiert werden könnte. Sind wir wirklich ein so offenes und friedfertiges Volk – ist unsere Vergangenheit wirklich innerseelisch bewältigt? 3. Die Identifikation mit dem Aggressor. Wenn die Mächtigen, voran „Mutti“, festlegen, was Böse sein soll, dann kann man sich im Gegenprotest gut geborgen, geschützt fühlen und auf der richtigen Seite wähnen – es ist immer entlastend und bestätigend, wenn man sich auf der „richtigen Seite“ befindet. Aber auch in der Identifikation mit dem Islam – unter Vernachlässigung aller Probleme islamischer undemokratischer Gesellschaften, sehr problematischer (mittelalterlicher) Koranauslegungen, des Widerspruchs zu kulturellen „westlichen“ Werten (bezogen auf Partnerschaft, familiäre Strukturen, Frauenbild und Sexualität) wird durch eine überzogene Liberalität die notwendige Auseinandersetzung gescheut. Selbst der Antisemitismus 10 islamistischer Postition führt nicht zu einem deutschen Aufschrei und kämpfen die Feministinnen für die Frauenrechte von Muslima? Wenn wir die großen Worte nehmen und auf ihren möglichen Abwehrcharakter untersuchen (H. Schmidt: „… die gehören nicht zu Deutschland!“, Gerhard Schröder: ein „Aufstand der Anständigen“ ist notwendig, Frank-Walter Steinmeier: „der Ruf der Deutschen wird im Ausland beschädigt“, dann drängt sich unter Beachtung der drei genannten Abwehrprozesse die Frage auf: was soll nicht zu Deutschland gehören, was ist unanständig und wer sind die Unanständigen und was soll im Ausland keiner mehr sehen? Ich bekam einen Brief eines Lehrers zur Kenntnis, den er an den deutschen Außenminister geschickt hat: „Sehr geehrter Herr Dr. Steinmeier, Deutschlands Ruf im Ausland ist für Jahrhunderte durch die deutschen Verbrechen des 20. Jahrhunderts beschädigt. Wie viel Verdrängungsarbeit muss man leisten, wenn man glaubt, davon ablenken zu können, indem man ein paar Tausend Demonstranten beschimpft? Ihre Bemerkung illustriert unübertrefflich Deutschlands „zweite Schuld“ (Giordano). Für das Verständnis des Gesamtprozesses (Protest und Gegenprotest) stehen mir zwei gruppendynamische Deutungsmöglichkeiten zur Verfügung: 1. Jede gemeinsam agierende Gruppe von Menschen können wir nach ihren Funktionen und Rollen in der Gruppe unterteilen: Es gibt die/den Anführer („Alpha“), die Mitläufer („Gamma“), die Fachleute („Beta“) und die Außenseiter („Omega“). Omega ist für die Entwicklung der Gruppe am interessantesten und wichtigsten. Omega verkörpert und vertritt immer eine tiefere Wahrheit, die die Mehrheit der anderen nicht wahrhaben will. Deshalb wird Omega auch als Sündenbock beschimpft, verfolgt, ausgegrenzt und am liebsten mundtot (oder noch schlimmeres) gemacht. 11 2. In der Familiendynamik ist es fast immer so, dass sich Geschwister bei schlechten Eltern zumeist streiten, bekämpfen, schlagen und hassvoll abwerten – getragen von der Illusion, im Wettkampf um Zuwendung Vorteile zu erkämpfen. Dass sich Geschwister verbünden und ihre Unzufriedenheit gemeinsam den Eltern vortragen und Abhilfe einfordern, das kommt praktisch nie vor. Und im Gegenzug ist „teile und herrsche“ das erfolgreichste Machtmittel. So gesehen, stehen sich Pegida und Antipegida wie Geschwister gegenüber, die mit der feindseligen Spaltung etwas gemeinsam verleugnen und abwehren. In jedem einzelnen Protestler dürfte man ganz individuelle Motive aus lebensgeschichtlichen Kränkungen und Verletzungen finden, für soziale Bedrohungen und Ängste gibt es genug Anlass und für das friedliche Zusammenleben mit fremden Kulturen und Religionen hat die Politik bisher versagt. Auf dieser Symptomebene lässt sich mit Recht streiten und kämpfen, da es genug Ärger und Verunsicherung gibt. Was aber wird gemeinsam abgewehrt? Was muss so heftig bekämpft und diskriminiert werden, warum werden die sachlichen Kritikpunkte nicht aufgenommen, sondern mit der Keule „Rechtsextremismus“ erschlagen, was soll hinweggefegt werden, was soll verdunkelt und übertönt werden, weshalb werden „Weltoffenheit“, „Toleranz“, „Courage“ plakatiert? Verstehen wir Pegida als Omega, dann werden mit dem Positionspapier wichtige Themen berührt (unklare, falsche, zu liberale Asyl-, Einwanderungsund Integrationspolitik; mit der Forderung nach direkter Demokratie Kritik an nicht mehr ausreichend wirksamen demokratischen Verhältnissen geübt und Schlagworte wie Patriotismus, Heimat, Nation rufen nach Halt und Orientierung bei sozialer Verunsicherung und unüberschaubarer Globalisierung.) Das sind alles verstehbare und diskussionswürdige Themen. Weshalb also so heftige und irrationale Ablehnung und eine spezifische Stigmatisierung als rechtsextrem. 12 So wären die Gegendemonstrationen, die Diffamierung durch Politiker, die einseitige und tendenziöse Berichterstattung in den Medien als Reaktionsbildung zu verstehen, um sich und aller Welt zu beweisen, dass wir Deutschen doch inzwischen ein friedfertiges, zivilisiertes und liberales Volk geworden sind, gereinigt von aller Schuld. So kann die Auseinandersetzung mit individueller Schuld an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen vom Nationalsozialismus, über Sozialismus bis zur narzisstischen Gesellschaft geleugnet und verdrängt werden. Sicher, man kann die politischen Systeme nicht vergleichen: so war die DDR betont antifaschistisch, für Frieden und soziale Gerechtigkeit und die west- und jetzt gesamtdeutsche Gesellschaft ist wirtschaftlich so erfolgreich und weltweit so hilfreich unterwegs , dass doch kein Zweifel an der geläuterten Gesinnung bestehen kann. Aber die Gefahr destruktiver Lebensformen bleibt so lange bestehen – unabhängig von äußeren Erfolgen und demonstriertem Verhalten – solange innerseelische Verletzungen und Kränkungen nicht erkannt und verarbeitet sind und noch besser: gar nicht mehr verursacht werden. Nur ein Mensch, der sich gut versteht und selbst lieben kann, ist sich auch selbst genug und muss nicht immer mehr haben oder seine inneren Spannungen projektiv an anderen abreagieren. Man kann Krieg und Völkermord nicht mit einer destruktiven Lebensform der Umweltzerstörung, der Klimaveränderung, der Tierquälerei und des Artensterbens, der Hungerkatastrophen und wachsenden Armut, der neuen Epidemien und Zivilisationskrankheiten u.a. gleichsetzen. Schwere Verbrechen müssen als schwere Verbrechen benannt bleiben und entsprechend geahndet und bestraft werden. Aber das schafft noch keine wirkliche Erkenntnis und umfassende Prävention, um neue kollektive Fehlentwicklungen und Entladungen destruktiver innerseelischer Spannungen zu verhindern oder gar nicht entstehen zu lassen. In Deutschland ist etwas in Bewegung geraten, das von der politischen Klasse verleugnet und von den Medien nicht ausreichend geklärt und diskutiert wird und das vor allem droht, durch „Geschwisterstreit“ erstickt zu werden. Nur die ehrliche 13 Auseinandersetzung mit der innerseelischen Entfremdung mit individueller Schuld an destruktiven Lebensformen könnte helfen, gemeinsam eine Beziehungskultur zu entwickeln, die ehrlicher, bescheidener, empathischer ist und damit wesentlich befriedigender, als für das vermeintliche Recht, kämpfen zu müssen, seine Position zu behaupten und innerseelischen Mangel durch Macht, Erfolg und Konsum letztlich erfolglos befriedigen zu wollen.