Der zweite Streich - Deutschland 1933 – 1990

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Der zweite Streich - Deutschland 1933 – 1990
1987
Der zweite Streich
Im Januar 1987 fand in der Westfalenhalle zu Dortmund ein Deutschlandtreffen der CDU statt. Bundeskanzler Kohl, verkündete bei der Gelegenheit, dass in der DDR „über 2000 unserer Landsleute als politische
Gefangene in Gefängnissen und Konzentrationslagern“ festgehalten
worden seien. Diese Äußerung hat mehrere Anteile, die auch einzeln
betrachtet werden sollten. Ja, es gab politische Gefangene in der DDR.
Und mein Vater ist nur ein Beispiel dafür gewesen, dass Schergen der
Staatsmacht Leuten auch außerhalb der Gefängnisse grausig zugesetzt
haben. Andererseits hatte dieser Umstand schon Dr. Konrad Adenauer
nicht zu einer Außenpolitik gebracht, die zur Vaporisierung der DDR
zusammen mit ihren Gefängnissen geführt hätte, und Dr. Helmut Kohl
brachte dieser Umstand vor Gorbatschows Amtsantritt auch nicht zu
einem solchen Ton im Umgang mit seinem Freund und Genossen Erich
Honecker. Vor Gorbatschow war es Dr. Kohl auch noch gleichgültig, ob
oder wie ein Bundesbürger in der DDR totgeschlagen worden war.
Daneben landete Herr Kohl natürlich einen Volltreffer mit dem Begriff
der Konzentrationslager. Dass solche Pläne Ende der achtziger Jahre
tatsächlich aufkamen, konnte Dr. Kohl Anfang 1987 wohl kaum ahnen.
Aber im Januar 1987 war das binnen eines Vierteljahres nach dem Vergleich von Gorbatschow mit Dr. Goebbels nun schon die zweite international wahrgenommene Entgleisung des Kanzlers, die man bei viel
gutem Willen für eine weitere Dummheit halten könnte, wenn dieser
nicht im Sommer noch eine dritte gefolgt wäre, die die Welt erneut an
die offene Wunde der Nazizeit erinnerte.
Würde über die Bonner Demokratie nicht immer in der Terminologie
des Theaters gesprochen, dann könnte ich die Medienkampagne, die
sich daran anschloss, etwas ernster nehmen. Dann könnte man ja auch
denken, die anderen Bonner Kulissenschieber hätten Kohls Äußerung
vielleicht entschärfen wollen. Aber das hatte ganz gewiss keiner vor.
Es meldeten sich vor allem diejenigen zu Wort, die es nicht einmal mit
guten Worten auf die Vereinigung unseres Landes abgesehen hatten.
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Offenbar sollten all diese vernünftigen Stimmen gerade herausarbeiten,
wie weit der Bundeskanzler hier neben der Schiene stand. So wurde
die noch frische Wirkung des Vergleiches von Gorbatschow mit dem
Propagandaminister der Nazis nur noch gefestigt und ein Abbau der
Spannungen in Europa auch weiterhin verhindert. Aber Sie können die
Wirkung auch anders interpretieren. Wie Sie mögen. Die Akteure von
damals jedenfalls haben nach dem Crash ihres Coups in den neunziger
Jahren ihre Aktivitäten fleißig uminterpretiert.
In einer Rezension über Dr. Helmut Kohls Werk Ich wollte Deutschlands
Einheit, Hans-Dietrich Genschers Erinnerungen, Wolfgang Schäubles Wie
ich über die deutsche Einheit verhandelte und Egon Bahrs Zu meiner Zeit
schrieb Gunter Hofmann: „Helmut Kohls Geschichte beginnt mit der
Berufung auf den Lieblingsphilosophen, den der Kanzler wohl oder
übel mit Helmut Schmidt teilt, Karl Raimund Popper: Geschichte sei
nicht Schicksal, sondern machbar. Und sie setzt ein mit den wehenden
schwarzrotgoldenen Fahnen in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober
1990 in Berlin. Hans-Dietrich Genschers Geschichte beginnt mit der
Szene auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag [Der Autor
meinte natürlich die BRD-Botschaft.], mit dem 30. September 1989,
jenem Tag, der ihn »mehr bewegt hat als alles im Leben«, und mit der
Mitteilung an die Flüchtlinge aus der DDR, sie könnten ausreisen.
Wolfgang Schäubles Geschichte beginnt im Kronprinzenpalais mit der
Unterzeichnung des Vereinigungvertrages vom 31. August 1990 – nein,
genaugenommen beginnt sie einen Monat später, als er in Oppenau
Opfer eines geistesgetörten Attentäters wurde. Seitdem ist er an den
Rollstuhl gefesselt. Kohl, Genscher, Schäuble: Buchautoren, die sich an
die Wiedervereinigung erinnern. Alle drei sagen sie, ein Traum habe
sich damit erfüllt. Alle drei machen Ansprüche an seiner Verwirklichung geltend. Alle drei sagen »ich« auf ganz unterschiedliche Weise.
Ich! ich! Ich!
Ein vierter, obwohl mit starkem Ego gewappnet, stellt keine Ansprüche: Egon Bahr. Seine Geschichte beginnt mit dem Besuch seines ostdeutschen Geburtsortes, Treffurt an der Werra. Hermann Axen hatte
ihm 1983 diese Visite »geschenkt«. [...]
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Während sich bei Kohl die Politik 1989/90 ableitet aus Adenauers
Zeiten, ganz linear, ohne Brüche, blickt Genscher unverkrampft zurück. Adenauer, schreibt er, habe »nicht sonderlich darunter gelitten«,
Westbindung und ein Ende der Teilung nicht zugleich erreichen zu
können. Er erinnert an die festgefahrene CDU-Politik. Kohl steht weit
darüber. [...] Für Genscher ist die Politik, die in die Einheit mündet, in
den wahren Traum also, ein langer Prozess. Und für Kohl? Ein kurzes
Ereignis. Unverhofft, unvermittelt, unpräpariert. Genscher spinnt sich
erst recht in einen ostwesteuropäischen Kokon ein. Kohl schafft die
Welt gemeinsam mit Michail Gorbatschow ab sofort neu. Er sieht jetzt
nur noch seine Ostpolitik. Immer wollte er »echte« Entspannung, die
anderen nicht.“ Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich von Dr. Kohl
mal was mit Entspannung gehört hätte. Da ging es immer nur um möglichst viele Raketen zum Schutz vor dem Russen. Aber das Changieren
zwischen Spannung und Entspannung mit einem leichten Hang zur
Spannung blickte da bereits auf eine lange Tradition zurück. Es ist ja
auch nicht sorgfältig beobachtet, wenn es mit dem Verweis auf seine
Kritik an Adenauer hier heißt, Genscher blicke unverkrampft zurück.
Die Politik der eigenen F.D.P. bog er in einer äußerst bemühten Manier
so zurecht, dass ausgerechnet die Partei, die in den sechziger Jahren
den Vorreiter für die Anerkennung der D.D.R. machte, als Verfechterin
des Zieles einer dereinstigen Vereinigung aufleuchten sollte.
Erinnern Sie sich, wie Konrad Adenauer 1949 den Weg zur Vereinigung
vorgezeichnet hat? „Wenn ich vom Frieden in der Welt und in Europa
spreche, dann, meine Damen und Herren, muss ich auf die Teilung
Deutschlands zurückkommen. Die Teilung Deutschlands wird eines
Tages – das ist unsere feste Überzeugung – wieder verschwinden. Ich
fürchte, dass, wenn sie nicht verschwindet, in Europa keine Ruhe eintreten wird. Diese Teilung Deutschlands ist durch Spannungen herbeigeführt worden, die zwischen den Siegermächten entstanden sind.
Auch diese Spannungen werden vorübergehen. Wir hoffen, dass dann
der Wiedervereinigung mit unseren Brüdern und Schwestern in der
Ostzone und in Berlin nichts mehr im Wege steht.“ Aber zurück zum
1987er Streich mit den Gefängnissen und Konzentrationslagern.
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Der ja einschlägig bekannte nordrheinwestfälische Ministerpräsident
Johannes Rau ließ zum Beispiel von sich hören: „Wer zwischen beiden
deutschen Staaten bei ihren unterschiedlichen Systemen Zusammenarbeit will, darf nicht so reden wie dieser Bundeskanzler.“ Unser Neues
Deutschland aus Ost-Berlin war auch erfreut über die Schützenhilfe der
Saarbrücker Zeitung: „Über die Sprache des Bundeskanzlers könne man
im Allgemeinen ja durchaus geteilter Meinung sein, schreibt die SZ
unter der Überschrift »Ein schlimmer Missgriff«. Bisweilen wähle Kohl
im Besonderen jedoch Worte, die geteilte Meinungen nicht mehr zuließen.
Jedenfalls nicht unter Bürgern, die sich das vom Kanzler selbst oft
so beschworene historische Bewusstsein bewahrt hätten. Seine Dortmunder Formulierung, dass in der DDR Menschen in »Konzentrationslagern« festgehalten würden, sei ein solches Wort.“
Der Sender RIAS Berlin strahlte damals den folgenden Kommentar aus:
„Schon der Vergleich zwischen dem sowjetischen KP-Generalsekretär
Gorbatschow und dem Nazipropagandisten Goebbels sei »unsinnig und
völlig unnötig gewesen«. Die ebenfalls im Wahlkampf mehrmals getroffene Feststellung, bei der DDR handle es sich um ein menschenfeindliches System, mag noch bei einem Teil der CDU-Wähler angekommen sein. Doch der Regierung des zweiten deutschen Staates nunmehr noch vorzuwerfen, sie halte über 2000 Bürger als politische
Gefangene in Gefängnissen und Konzentrationslagern, ist einfach
falsch. Die Folgen solcher Äußerungen auf die Ostpolitik und damit auf
ein Hauptziel dieser Politik, menschliche Erleichterungen im geteilten
Deutschland zu schaffen, könnten fatal sein. Wahlkampf hin oder her,
von Konzentrationslagern in der DDR zu sprechen, ist nicht nur ein
unerträglicher Vergleich, es ist auch eine Beleidigung des Staatsratsvorsitzenden der DDR. [...]
Kohl scheint im Wahlkampf alle Maßstäbe verloren zu haben, wobei
System dahinter vermutet werden darf, denn auch die CSU spricht der
Abkehr von einer Entspannungspolitik im Wahlkampf das Wort.“
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Die Welt dreht sich weiter
Bei der nun folgenden Bundestagswahl am 25. Januar 1987 haben die
Leute trotz der schlechten Presse für das Trottelchen Birne wegen der
ständigen „Ungeschicklichkeiten“ schon wieder denselben Dr. Helmut
Kohl (CDU) zu ihrem Kanzler gekürt. Außenminister blieb der absolut
unersetzliche Anhaltiner Hans-Dietrich Genscher (FDP). Jetzt wurde es
jedoch zeitlich eng. Weder jenes von der „Birne“ zertöpperte Geschirr
noch die Ost-Berliner Schützenhilfe für die SPD im Wahlkampf hatte
die Leute dazu bewegen können, die Partei zu wählen, die nach dem
politischen Rollentausch nun für die Anerkennung der DDR und ihrer
Staatsangehörigkeit zuständig war. Man konnte nur wegen der KohlBegeisterung einer demokratischen Mehrheit aber auch nicht erneut
die Rollen tauschen. Es war schon schwer genug zu vermitteln, warum
ein halbes Jahr nach dem Wahlsieg der erzkonservativen CDU und der
noch schlimmeren CSU Unser Genosse Honecker 1987 mit einer Interflugmaschine nach Bonn und München kommen durfte.
Die Situation war folglich kompliziert. Der neuerliche Kalte Krieg trieb
den Staatshaushalt der BRD mit jedem neuen Jahr tiefer ins Minus, und
zugleich wurde auch die finanzielle Lage Unserer DDR immer prekärer.
Trotz alledem wurde der Neubau der Ständigen Vertretung der BRD in
Pankow weiter vorangetrieben. Schon 1988 war Halbzeit am Bau des
Frankfurter Architekten Mäckler. Die nächste reale Chance für eine
Änderung des feinen Grundgesetzes und die Umwandlung der neuen
Ständigen Vertretung in eine Botschaft bot sich jedoch erst nach der
Bundestagswahl 1991. Ja, 1991. Dr. Helmut Kohl hat sie erst später um
Monate vorgezogen. Einstweilen warb nun also die SPD weiter um die
Zustimmung des Publikums, und inzwischen musste sich der alte und
neue CDU-Bundeskanzler weiter dem Aufbau des Sozialismus widmen.
In seiner Regierungserklärung vom 18. März 1987 sagte er dann sehr
plötzlich und unerwartet: „Die Bundesrepublik strebt nach aktiver und
weltweiter Friedenspolitik und setzt sich für ein gutes Klima in den
Beziehungen mit der DDR ein.“ Für ein prima Klima.
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Als hätte es eine Verstimmung im Verhältnis mit der DDR nie gegeben,
oder besser, nachdem die Verstimmung so einigermaßen ihren Zweck
erfüllt hatte, ging alles weiter wie seit ein paar Jahrzehnten. Im März
des Jahres sprach Unser Wirtschaftsexperte Günter Mittag (SED) bei der
Leipziger Frühjahrsmesse sowie der Hannover-Messe „mit führenden
Politikern und Vertretern der Wirtschaft“ aus der Bundesrepublik und
war anschließend in deren Hauptstadt „Bonn, wo er auch von Bundeskanzler Helmut Kohl empfangen wurde“.
„Von großer Bedeutung waren ebenso die Begegnungen des Genossen
Erich Honecker mit den Ministerpräsidenten weiterer BRD-Länder, so
von Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel, von Baden-Württemberg, Lothar
Späth, von Bayern, Franz Josef Strauß, und von Hamburg, Klaus von
Dohnanyi. In ihnen kam übereinstimmend zum Ausdruck, dass die
weitere Vertiefung der Beziehungen zwischen ihren Bundesländern
und der DDR im Interesse von guter Nachbarschaft und Entspannung
in Europa liege und deshalb beiderseits gefördert wird.“ Genosse Björn
Engholm (SPD) sagte am 6. April 1987 im Gespräch mit Hermann Axen
(SED): „Beide deutsche Staaten haben aus der Geschichte heraus eine
unteilbare Verantwortung für den Frieden.“ Er sprach sich für „eine
grundlegende Wende in den Beziehungen“ aus und wollte sich „mit
allem Nachdruck für die Respektierung der Staatsbürgerschaft der
DDR“ einsetzen. Gut. Und die Wirtschaft? „Der Wunsch nach Embargoware war auch Gegenstand eines Gesprächs, das der Ost-Berliner KokoManager Gerhard Gollin am 3. Juni 1987 mit Hernfried Fülling, damals
Generalbevollmächtigter des Siemens-Konzerns und Direktor für Kommunikations- und Datentechnik führte. [...]
So erfolge »kein Schritt in Richtung Ostblock ohne detaillierte Abstimmung« mit Bonn. Aber Fülling hatte einen Tipp: »Falls leitende Herren
der DDR mit Regierungsmitgliedern der BRD oder dem bayerischen
Ministerpräsidenten zusammentreffen, sollten sie unbedingt auf ein
höheres Niveau der bisher gelieferten Datentechnik drängen.«“ Auch
an dieser Stelle deckt sich die außenpolitische Linie der BRD nicht entfernt mit den Vorstellungen im Westen, wo man den Kommunismus
gerne auf den Aschehaufen der Geschichte befördern wollte.
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Meister der Hinhaltetaktik
Der Historiker Heinrich August Winkler hatte über den ersten Kanzler
Dr. Konrad Adenauer festgehalten: „Die Wiederherstellung der deutschen Einheit war bislang kein Nahziel des Bundeskanzlers gewesen.
Doch er war fest davon überzeugt, dass die Wiedervereinigung eines
Tages Wirklichkeit werden würde, wenn der Westen der Sowjetunion
gegenüber die nötige Festigkeit und Geschlossenheit bewies.
Das Deutschland, das ihm vor Augen stand, war aber kein ungebundener Nationalstaat, der eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West
treiben konnte. Ein solches Deutschland wünschte er nicht. [...]
Er dachte in langen Zeiträumen und war durch Rückschläge nicht von
der Überzeugung abzubringen, dass die Geschichte ihm Recht geben
würde.“ Zu dieser Strategie kann jeder stehen, wie er will; das wäre ja
auch alles halb so wild, hätte man das nach 1990 zugegeben und nicht
anschließend eine Pseudovergangenheitsbewältigung in Szene gesetzt.
Das Motiv der „langen Zeiträume“ findet sich bei den verschiedenen
Autoren immer wieder. Walter Scheel aus der FDP-Spitze hatte seine
große politische Zeit aber selbst auch schon lange nach Adenauer. Da
begann für mich die Schulzeit. Bei ihm findet sich dieses Motiv dann
so: „Die Einheit Deutschlands wird das Ergebnis eines langen historischen Prozesses sein. Wenn sie realisierbar wird, wird uns die Geschichte auch die Formen anbieten, die dann an der Zeit sind.“ Doch
absolut unübertroffener deutscher Großmeister im Zeitschinden über
naive Gebietsforderungen und Hochrüstungswünsche bleibt der total
geniale Redekünstler Franz Josef Strauß: „Die Deutschlandfrage spielt,
auch wenn sie als solche nicht angesprochen wird, in der Sicherheits-,
Abrüstungs- und Raketendiskussion eine wichtige Rolle.
Der Gefahr und des Risikos, die entstehen würden, wenn die Sowjets
ein politisches Angebot in Richtung Wiedervereinigung machten, bin
ich mir voll bewusst. Dann könnten uns die Felle wegschwimmen. Ich
habe hierüber mehrmals auch mit Helmut Kohl gesprochen, zuletzt
am 2. September 1987, wenige Tage nach seinem öffentlichen Verzicht
auf die Pershing 1A, in unserem Haus in München. Wenn wir die deut1498
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sche Frage lösen wollten, dann müssten wir uns darüber im Klaren
sein, dass es sich um einen langen geschichtlichen Prozess handle,
nicht um eine jähe Möglichkeit. Der lange Prozess könnte, rein theoretisch, dadurch abgekürzt werden, dass wir uns auf die andere Seite
schlagen – ob man uns dort gern aufnehmen würde, müsste allerdings
bezweifelt werden. Aber die Frage stelle sich nicht, denn abgesehen
von einer verschwindend kleinen Minderheit wolle niemand ins kommunistische Paradies.“ Das waren ja wohl Worte an das Publikum; zu
Kohl musste er das sicherlich nicht sagen. „Wir werden das nicht mehr
erleben, auch die nächste Politikergeneration wird es wohl nicht erleben, aber diese Entwicklung kommt.“ Ich mache hier einen Vorgriff,
damit an dieser Stelle die letzten zarten Zweifel über Dr. Helmut Kohls
Rolle in der deutschen Geschichte ausgeräumt werden. Im Dezember
1989, also noch Wochen nachdem diese Bösen diese Grenze aufgemacht
hatten, waren Dr. Kohls Worte in Dresden: „Mein Ziel bleibt, wenn die
geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation!“ Und viel
mehr wollte er da auch ganz bestimmt nicht reininterpretiert wissen.
Nein, von Boston über Manchester, Marseille, Heidelberg, Dresden und
Kraków bis nach Leningrad haben alle gehört, was sie hören wollten.
Sie wollten oder fürchteten die Vereinigung Deutschlands und hörten
zum Beispiel 1989 in Dresden, der Kanzler wolle „die Einheit unserer
Nation“. Dr. Kohl hat noch zwei Monate nach dem Mauerfall genau das
gesagt, womit man in Bonn seit 1949 die Leute hingehalten hatte. Die
Zwischenzeit wurde genutzt für Propaganda, die zur Anerkennung der
DDR-Staatsbürgerschaft führen sollte, und während Kohl in Dresden
sprach, wurden die Arbeiten an der neuen Ständigen Vertretung der
BRD in der DDR in Pankow-Rosenthal fortgesetzt. Zum Glück hatten
Bahr und Brandt wenigstens die Anerkennung der Staatsbürgerschaft
der „sogenannten“ DDR 1972 verhindert. Ich bin froh darüber.
Haben Sie noch von Weizsäckers 1983er Beitrag zur Rüstung im Ohr?
„Frieden bringen weder Aufrüstung noch Abrüstung.“ Und wenn diese
säuselnden Worte nicht halfen, wurde das renitente Kind mal richtig
abgewatscht. Sie erinnern sich sicherlich an diesen Herrn Friedmann?
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„Als ein christdemokratischer Abgeordneter, Bernhard Friedmann,
1987 mit dem Vorschlag auftauchte, die deutsche Frage auf die Abrüstungsagenda der Supermächte zu setzen, explodierte Wilhelm Grewe,
einer der erfahrensten ehemaligen Botschafter der Bundesrepublik, in
einem Brief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Wie soll man sich
erklären, dass ein aktiver, zu einem konkreten Vorstoß entschlossener
Politiker Überlegungen, Fragestellungen, Vorschläge zu Papier bringt,
ohne zu bemerken, dass alles, aber auch alles, was er sagt, schon unzählige Male gesagt, geschrieben, verkündet, bezweifelt, beantwortet
– und vorerst als irreal, utopisch, nichtpraktikabel stillschweigend
wieder beiseite gelegt worden ist?«“ Wie oft soll ich es dir denn noch
sagen? Hören wir dazu auch eine geistreiche Einlassung von Prof. Dr.
Heinrich August Winkler über die langfristig erzielten Erfolge dieser
jahrzehntelangen Hinhaltetaktik der Bonner: „Das Bewusstsein vieler
Deutschen, dass die tieferen Ursachen der Teilung ihres Landes in der
deutschen Geschichte lagen, wirkte deutschem Nationalismus entgegen, baute im Ausland Vorbehalte gegenüber Deutschland ab und erleichterte so am Ende die Vereinigung der beiden deutschen Staaten.
Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Tatsächlich ist die Absage
an einen deutschen Nationalstaat vielfach lediglich ein Ausdruck von
westdeutschem Desinteresse an den Ostdeutschen gewesen.
Meinungsumfragen aus der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zeigen,
dass das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit mit den Ostdeutschen bei jüngeren Westdeutschen sehr viel schwächer entwickelt war
als bei älteren. Von den Bundesbürgern im Alter von 14 – 29 Jahren
fühlten sich im Jahre 1987 nur 65 Prozent (gegenüber 90 Prozent der
über Sechzigjährigen) als Angehörige eines deutschen Volkes. Immerhin 34 Prozent der jüngeren Bundesbürger gingen von der Existenz
zweier deutscher Völker aus. Zwischen 1976 und 1987 empfanden in
der Gruppe der über Sechzigjährigen im Durchschnitt 15 Prozent die
DDR als einen ausländischen Staat; bei den jungen Bundesbürgern war
es gut die Hälfte. Eine Auswertung der entsprechenden Daten im
»Deutschland-Archiv« mündete 1989 in die Schlussfolgerung, die DDR
werde von einem großen Teil der jungen Generation als fremder Staat
mit einer anderen Gesellschaftsordnung und nicht mehr als Teil
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Deutschlands wahrgenommen.“ Doch nicht nur vielen jungen Leuten
attestierte der Meister das Desinteresse an Deutschland. „Viele, auch
ältere Bundesbürger, darunter nicht wenige, die man als »posthume
Adenauersche Linke« apostrophieren kann, empfanden die Teilung als
entlastend und den Nationalstaat, jedenfalls den deutschen, als Irrweg.“ Das dürfte wohl auch eines der Hauptmotive Adenauers gewesen
sein. „Nicht alle gingen so weit wie Günter Grass, der in der Spaltung
Deutschlands die Strafe für Auschwitz sah.“ Da wurde ja glücklicherweise auch nicht er bestraft. „Aber der Gesamtverlauf der deutschen
Geschichte schien doch Goethe und Schiller Recht zu geben, die schon
1796 in den Xenien gewarnt hatten: »Zur Nation euch zu bilden, ihr
hoffet es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu
Menschen euch aus!« [...] Gegen Ende des Jahrhunderts schien sich die
deutsche Geschichte in der Umkehrung dieses Prozesses zu vollenden:
vom Nationalstaat zum Weltbürgertum.“
Die Entwicklung zu Weltbürgern war in Unserer DDR dank der Bonner
Außenpolitik nicht möglich und blieb deshalb bedauerlicherweise aus.
Über eine Entwicklung zu freien Menschen in dem einen und anderen
Teil des Landes lässt sich freilich trefflich streiten. Wie könnten denn
verdummte Menschen frei sein?
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Kohl verhindert weiterhin die Lösung der deutschen Frage
Die Geschichte wird bekanntermaßen immer erst hinterher zu Papier
gebracht, sonst hätten die handelnden Politikern ja keine Möglichkeit
groben Unfug zu bauen. „Valentin Falin lüftete gegenüber dem Autor
ein Geheimnis: »Mitte der 80er Jahre machte ein sehr bekannter Politiker aus der Bundesrepublik den Sowjets ein Angebot: Wenn Moskau
die DDR aus dem Warschauer Pakt entlassen würde und die DDR einen
Status wie Österreich bekäme, dann würden die Sowjets 100 Milliarden
D-Mark als nicht rückzahlbaren Kredit erhalten. Dahinter standen sehr
mächtige Kräfte in der Bundesrepublik.«
Auch mehrmaliges Nachfragen brachte keine weitere Aufklärung über
den Mann, der da im Namen potenter westdeutscher Kreise den Sowjets ein solches Angebot gemacht hatte. Zu erfahren war nur, dass er
eine wichtige konservative Persönlichkeit der alten Bundesrepublik
gewesen war. Offenbar gab Gorbatschow auf dieses Signal eine Antwort, was bis heute unbekannt geblieben ist: Kurz vor Ostern 1987
fand im Kongresszentrum des Kreml ein Empfang für die deutsche
Wirtschaft statt. Anlass war die Eröffnung eines neuen Firmensitzes
der Deutschen Bank in Moskau.
Unter den Gästen waren natürlich auch der Chef der Deutschen Bank
F. Wilhelm Christians und einer der beiden Chefs des Hauses in Moskau, Axel Leban. Leban agierte an diesem Abend als Dolmetscher für
seinen Chef. Für einige Minuten stand Gorbatschow mit Christians,
Leban, mit dem wichtigsten bundesdeutschen Ost-West-Händler Otto
Wolff von Amerongen und Ministerpräsident Nikolai Ryschkow zusammen. Hiervon existiert ein Foto. In einem günstigen Augenblick
zog Gorbatschow Christians beiseite und sagte, er habe für Bundeskanzler Kohl eine Botschaft, die er ihm überbringen möge: Moskau sei
bereit, die DDR aus dem Warschauer Pakt zu entlassen, wenn die Deutschen dies so wollten. Dies würde zwar nicht die deutsche Frage im
Sinne Bonns lösen, denn die deutsche Einheit könne nicht von Moskau
verordnet werden. Aber beide deutsche Staaten könnten sich arrangieren, wie sie es für richtig befänden.“
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Was dieser Ferdinand Kroh alles weiß! „Ostern 1987, also nur kurze
Zeit später, fand im österreichischen Bad Ischl eine Tagung von westund osteuropäischen Wirtschaftsbossen und -wissenschaftlern zum
Problem der geplanten Annäherung der beiden Wirtschaftssysteme
statt. Teilnehmer waren auch Professor Jürgen Nitz, der damalige
DDR-Unterhändler im streng geheimen deutsch-deutschen Dialog, und
Axel Leban als Vertreter der Deutschen Bank in Moskau. Leban suchte
eine Möglichkeit, sich unbeobachtet mit Professor Nitz zu unterhalten.
Man wartete die Tagungspause ab und wollte sich im Kurpark treffen.
Als sie sich sicher waren, alleine zu sein, eröffnete Leban dem erstaunten Professor, was Gorbatschow in Moskau Christians mit auf den Weg
gegeben hatte. Hinter dieser Botschaft stünden außer Gorbatschow:
Schewardnadse, Ryschkow, Jakowlew und Sagladin. Nitz fragte den
Banker, warum er ihn einweihe; ob dies eine private Mitteilung sei
oder er das Gehörte zum Politbüro tragen solle? Leban drängte Nitz,
dem SED-Politbüro eine Mitteilung zu machen, denn man glaubte
wohl, dass die DDR in dieser für sie lebenswichtigen Frage mitspielen
und nicht ausgeschlossen werden sollte. Schließlich musste auch die
DDR diesen Schritt wollen. [...] Was dann passierte, bleibt im Dunkeln.
Ein enger Vertrauter Herrhausens aus dem Umfeld der Deutschen
Bank sowie ein Mitarbeiter des Vorstands haben dem Autor im April
2005 bestätigt, dass es diese Botschaft gab und sie nicht von Christians,
sondern von Herrhausen an den Bundeskanzler weitergereicht wurde.
Einmal war die Quelle Herrhausen, einmal war es Christians.“
Als ich erstmals das Interview in den Händen hielt, das Erich Honecker
1990 der Wochenpost gewährt hatte, habe ich es nicht zu Ende gelesen,
weil ich den Eindruck bekam, unser ehemaliger Staatschef wollte sich
zum Opfer einer Verschwörung hochstilisieren. Nachdem ich mich jedoch intensiver mit der Materie beschäftigt hatte, wurde mir klar, dass
er die Entwicklung in der Welt sehr genau beobachtet hatte und genau
deswegen auch auf Abstand zu Gorbatschows Innen- und Außenpolitik
ging. Natürlich hat er sich so schlussendlich völlig ins Abseits gestellt,
zumal er auch zu durchgreifenden Reformen in der Wirtschafts- und
Preispolitik Seiner DDR nicht bereit war.
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Der ehemalige Meister in Ost-Berlin sagte: „Mein Sturz als Partei- und
Staatschef war das Ergebnis eines großangelegten Manövers, dessen
Drahtzieher sich noch im Hintergrund halten. Diejenigen, die sich heute mit dieser Tat brüsten, sind dagegen kleine Lichter. Hier handelt es
sich um große Vorgänge, die nicht von heute auf morgen eintraten,
sondern um langfristig angestrebte Veränderungen auf der europäischen Bühne, ja auf der Weltbühne. Die heutigen Gegebenheiten bezeugen dies. Wir erhielten 1987 Signale aus Washington. Wir konnten
und wollten sie nicht als Grundlage unserer Politik betrachten. Dies,
obwohl unser Botschafter in Moskau, König, schon 1987 feststellte,
dass viele sowjetische Autoren in den verschiedensten Medien »die
Überwindung der deutschen Zweistaatlichkeit« plötzlich als Tagesaufgabe beschrieben. Die Überwindung der »deutschen Zweistaatlichkeit«
wäre als Beitrag zur Herausbildung des »europäischen Hauses« zu
betrachten. Dies konnte nach Lage der Dinge nur durch einen Systemwechsel in der DDR erreicht werden.“
Den Wechsel wünschte Honecker ganz sicher nicht. Auch Franz Josef
Strauß wusste von diesen erschröcklichen Neuigkeiten aus Moskau:
„So schrieb nach den Bundestagswahlen 1987 der Deutschland-Experte
Nikolai Portugalow einen Artikel in Moskovskie Novosti, in dem es sinngemäß hieß, dass es nur eine deutsche Nation gebe, wenn auch in zwei
Staaten. Michail Gorbatschow hat mir wenig später bei meinem Besuch in Moskau diese Auffassung bestätigt.“ Schade, dass er das erst in
seinen Memoiren verkündete. Das hätte die BundesbürgerInnen unter
Umständen auch schon 1987 interessiert.
Nachdem der Fake wenige Jahre später – ich hatte inzwischen mein
Studium abgeschlossen – in sich zusammengebrochen war und sich die
Rauchschwaden der Vereinigung hier verzogen hatten, fabulierte der
gute Hans-Dietrich Genscher: „Eine geschlossene, dichte Wolkendecke
hatte sich jahrzehntelang vor den Stern der deutschen Einheit geschoben, dann tat sich für kurze Zeit die Wolkendecke auf, ließ den Stern
sichtbar werden, und wir griffen nach ihm.“ 1990. Und über die Saga
Ein runder Tisch mit scharfen Ecken von Richard Kiessler und Frank Elbe
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heißt es im Vorwort: „Die Lektüre des Buches macht immer wieder
deutlich, wie wichtig es für den Erfolg der Verhandlungen war, den
gesamteuropäischen Zusammenhang, die Sicherheitsinteressen anderer Staaten und die Bestätigung der Endgültigkeit der Grenzen des die
Bundesrepublik Deutschland, die ehemalige DDR und Berlin umfassenden Gebietes zu wahren.“ Ich vermag hier nur nicht zu erkennen,
inwieweit sich in diesen Bereichen eventuell die Rahmenbedingungen
1989 im Verhältnis zu 1987 oder auch zu 1947 geändert gehabt hätten.
Brigitte Seebacher-Brandt hielt in ihrer Version einer Biographie des
einmaligen W. B. fest: „Auch in Moskau wird der Verfall der DDR zur
Kenntnis genommen. Gorbatschow hat schon 1987, in seinem Buch
über die »Perestrojka« verkündet, dass jede Nation einen Anspruch
darauf habe, »den Weg ihrer Entwicklung selbst zu wählen.« Seither
ist er viele Male darauf zurückgekommen. Müssen die Deutschen nicht
endlich selbst die Richtung weisen, in die sie gehen wollen?“ Die Frage
war berechtigt, und Willy Brandt selbst analysierte in dieser Angelegenheit: „Ein Bewusstseinswandel, der die geistig regsamen Schichten
besonders erfasste und bis in die höheren Ränge der regierenden Parteien reichte, hatte in »Osteuropa« lange vor Gorbatschow begonnen;
Ankündigungen und Anstöße von Moskau ausgehend, haben dem in
den Ländern zwischen Deutschland und Russland ohnehin ungleichzeitigen Wandel ungleichmäßige Schubkraft verliehen und Wirkung
auch dort gezeitigt, wo man sich von dem Perestroika-Wirbel gestört
fühlte oder – wie der Politbüro-Ideologe Hager in Ostberlin – fragte,
ob denn die eigenen Tapeten gewechselt werden müssten, wenn der
große Nachbar dies zu tun für richtig halte. [...]
Und von mehr Unabhängigkeit und von neuen Formen gleichberechtigter Zusammenarbeit war die Rede gewesen, bevor an der Moskwa
europäische Baupläne entworfen wurden.“
Es ist schon interessant, dass auch andere SPD-Spitzenpolitiker von
Wendeplänen im Osten wussten, und 1989 die gleiche Überraschung
vorgaukelten, wie Bundeskanzler Helmut Kohl. Erst im Jahre des Herrn
1993 äußerte zum Beispiel Erhard Eppler, „mit einigen SED-Funktio1505
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nären sei schon 1987 über die Vereinigung zu reden gewesen“. Hatte
sich nicht auch Horst Sindermann schon 1984 Hans-Dietrich Genscher
gegenüber in diesem Sinne geäußert? Über die wirklich unabhängigen
westdeutschen Medien hatte ich immer nur etwas von Betonköpfen in
Ost-Berlin gehört, insbesondere, was eine Vereinigung anging.
Genau so interessant ist auch dieser Hinweis, der einerseits den Mann
mit diesem langweiligen Hundeblick, Egon Krenz, in ein unerwartetes
Licht stellt, und andererseits klärt, warum der Genosse Honecker den
Herrn Krenz nicht auf den Thron ließ: Vladimir Putin, damals ein KGBAgent, hatte für den 18. Juni 1987 ein Treffen zwischen seinem Vorgesetzten Krjutschkow und dem berühmten Dresdener Forscher Manfred
von Ardenne organisiert. Bei diesem Gespräch sollen Namen von denkbaren Nachfolgern für den Genossen Staatsratsvorsitzenden erörtert
worden sein. Krenz selbst stand dann zwar „in der entscheidenden
Phase nicht auf der Wunschliste der Sowjets“. Aber hören Sie sich das
hier an: „Dem Vernehmen nach soll Krjutschkow Informationen über
Egon Krenz erbeten haben, über dessen reformerische Positionen der
Wissenschaftler offensichtlich bestens informiert war. [...]
Von Ardenne hatte Krenz kurz zuvor in einem privaten Gespräch zu
radikalen Wirtschaftsreformen aufgefordert, sich für die Abschaffung
des demokratischen Zentralismus eingesetzt und stattdessen eine Entscheidungsstruktur in Partei und Gesellschaft von unten nach oben
verlangt.“
Es gab in den achtziger Jahren eine ganze Reihe von Anzeichen für ein
Umdenken in Ostdeutschland. Im Geschichtsbild tauchten nun Martin
Luther und Friedrich der Große wieder auf. Es erschien eine Sonderbriefmarke, auf der man in der Mitte das Staatsratsgebäude in OstBerlin sah, ein schwarz-rot-goldenes Band als feierliche Umrahmung
auf weißem Grund und abgesetzt davon zwischen dem Band und dem
Gebäude das Wappen der DDR. Und im Gebäude des Leipziger Hauptbahnhofes, durch den täglich zehntausende Menschen gingen, war
hoch oben an einer Wand über einem Durchgang ein riesiges Wandbild
angebracht, auf dem eine schwarz-rot-goldene Schlaufe prangte, in
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deren Mitte verschwindend klein das Emblem der DDR saß. Aus einer
gewissen Entfernung war das jedoch gar nicht zu sehen.
Andere Signale kamen zu jener Zeit aus Bonn. Am 11. Juni 1987 las der
ehemalige Ständiger Vertreter der BRD in der DDR Günter Gaus (SPD)
im Klub der Kulturschaffenden in Ost-Berlin aus seinem neuesten Buch
Die Welt der Westdeutschen. Es war auch nicht über die Maßen erstaunlich, dass dieses Buch in der schönsten DDR auf dieser Welt erscheinen
durfte, schloss er doch auch schon beim Schreiben aus, dass sich sein
Genosse Erich Honecker über das Büchli hätte ärgern können. Da steht
dann völlig ungeniert: „Und älter geworden, will ich widerspruchslos
auch riskieren, dass behauptet wird, mein kurzer Exkurs über die Menschenrechte hätte so auch in der DDR formuliert werden können.“
Dann verwundert es nicht, dass Bärbel Bohley das Gefühl nicht mehr
loswurde, Gaus’ Ständige Vertretung in der Hannoverschen Straße in
Berlin, Hauptstadt der DDR, habe auf sie damals wie eine Zweigstelle
des Ministeriums für Staatssicherheit gewirkt.
Aber an einer Stelle schlug er mit der Faust auf den Tisch und merkte
an, er bezeichne die DDR natürlich nicht als Ost-Deutschland, das sei
für ihn Mittel-Deutschland, da sich doch im eigentlichen Osten noch
eine Menge deutschen Kulturbodens befinde. Ja, er hat Recht, und er
erwischt mit seiner rechten Faust erneut den eigentlichen Osten, weil
sein Kanzler und keiner vor ihm anerkannt hatte, dass es sich früher
mal um den Osten unseres Landes gehandelt hatte, womit man selbstverständlich uneingeschränkt Recht gehabt hätte. So war auch das Öl
ins lodernde Feuer. Sie werden staunen, worum sich die Gespräche
zwei Jahre später drehen werden. Darum. Lesen Sie da ruhig mal rein.
Da finden sich dann auf der anderen Seite auch Stellen wie diese hier:
„Und die Schlussfolgerung? Wohin entwickelt sich das nationale
Selbstverständnis der Mitteldeutschen? Kann eine entstaatlichte
Nation, also eine, die ihren Einheitsstaat eingebüßt hat, den Sockel
ihrer Identität gegen die Verselbstständigung grundverschiedener
variabler Größen behaupten? Ich weiß es nicht.
1507
1987
Unterstellt, der Friede in Europa – glanzlos, wie er ist, aber doch ein
Frieden – dauert weitere vierzig Jahre und mit ihm die beiden deutschen Republiken aus dem Rest des staatlichen Bismarckschen Erbes:
Welches Identitätsbewusssein wird diesseits und jenseits der Elbe dann
herrschen?“ Es ist ja auch nicht so, dass Gaus es nicht von der Sache
her begriffen hätte, schreibt er doch: „Die Berliner Mauer ist keine gemeinsame Grunderfahrung der Deutschen auf ihren beiden Seiten. Nur
die hohlste westliche Phrase kann dreist genug sein, die Bedeutung
dieses Bauwerks für die Brandenburger und, sagen wir die Badener
gleichzusetzen.“ Nur dass das nicht in eine andere Politik mündete,
sondern in eine Mahnung an die Vernunft – macht den Frieden nicht
wieder kaputt und nehmt den West-Deutschen nicht die Arbeitsplätze
weg. Aber lesen Sie seine Herleitung gerne selbst: „Die Einsicht, dass
das erste Schlachtfeld eines neuen Krieges in Europa ein gesamtdeutsches wäre, hat eine Gemeinsamkeit im Bewusstsein von Menschen
hier wie dort begründet, die den sonst auf viele Weise unterschiedlichen, auseinanderstrebenden Bewusstseinsprägungen in den beiden
Staaten entgegenwirkt. So man will – und warum sollte man nach
einem anderen Begriff suchen? –, kann man das, was die Demonstranten kundtun, als Ausdruck auch eines Nationalgefühls, eines nationalen Interesses bezeichnen, selbst wenn die [gegen die Atomraketen]
protestierenden West- und Mitteldeutschen diesen zusätzlichen Effekt
ihres Handelns nicht im Sinne hatten.
Ein Nationalgefühl, das nicht schreckt – weil es sich nicht absolut
setzt, sondern eingebunden ist in eine umfassendere Motivation: den
Wunsch nach einer Festigung des Friedens. Hier haben Minderheiten
diesseits und jenseits der Elbe – Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze – den Sockel deutscher Identität gestützt durch einen
Einklang ihrer Interessen und des entsprechenden Verhaltens.
Ich kann nicht sehen, wie, außer aus solchen Beweggründen, gemeinsame Erfahrungen sich noch herstellten. Gewiss, die westdeutsche Propaganda sagt es anders. Aber sobald die Führung der DDR die Ausgänge aus ihrem Staat auch nur ein wenig breiter macht, kommen
unter den Bundesrepublikanern auch ganz andere als gesamtdeutsche
Gefühle ans Licht. Soll ich es ihnen verargen? Ich glaube doch nicht,
1508
1987
nicht einmal sonntags, den nationalen Schwadroneuren in Bonn und
auf einigen westdeutschen Lehrstühlen für Geschichte, die inzwischen
– immer streng wissenschaftlich – sehr ungeniert in ihren historischen
Relativierungen rechter deutscher Vergangenheit geworden sind, um
desto unbefangener geschichtliche Perspektiven entwerfen zu können, in denen die Menschen wieder nichts als der Humus für groß
gedachte Abläufe sind. Ich bin, von meinen Freunden deshalb skeptisch beobachtet, durch meinen Aufenthalt in der DDR auf die Fragen
nach nationaler Identität gestoßen; aber ich vergesse doch darüber
nicht, welche Interessen und Empfindungen normalerweise unter den
Menschen vor dem Nationalbewusstsein rangieren. Sobald sich das
unter ihnen ändert, das Nationale nach vorn rückt und einen Platz im
Denken und Trachten besetzt, der ihm von den Menschen nur in
einem Massenrausch eingeräumt wird, ist Gefahr im Verzug. Natürlich
blicken Arbeitnehmer in einer Gesellschaft, aus der die Vollbeschäftigung entschwunden ist, misstrauisch auf konkurrierende Zuzügler aus
der DDR.“ Ich muss sagen, dass ich mich, solange ich denken kann, und
erst recht, seitdem ich mich mit diesem Thema hier beschäftige, wie
der Humus für groß gedachte Abläufe fühle. Vielleicht eher noch als
Teil einer Manövriermasse. Dass Herr Gaus mir hier selbst Propaganda
an den Kopf packte, wurde bei der ersten Wahl nach der Vereinigung
deutlich. Die Leute haben in einer breiten Mehrheit die Parteien gewählt, die sie für die Macher der Einheit hielten, die CDU und die FDP.
Wie man sich aber auch vertun kann. Hätte man jedoch die wählen
wollen, die die Einheit ohne Bonn, ja, gegen Bonn, organisiert haben,
hätte man zuvor erstmal für den Beitritt zu den Vereinigten Staaten
plädieren müssen.
Aber kommen wir doch noch einmal auf Winkler und Goethe zurück.
Jeder kann ja je nach Geschmack niedergelegte Worte eines Autoren
auswählen und damit die wildesten Thesen bestätigen oder eben auch
verwerfen, wie Sie an meinem Konvolut längst bemerkt haben. Sicher
haben Sie da auch gestaunt. Und auch im Falle von Johann Wolfgang
von Goethe wählte Heinrich August Winkler das aus, was seine Thesen
in den Jahren der real existierenden Teilung am besten stützte. Aber
1509
1987
selbstverständlich konnte Goethe auch ganz anders, je nachdem, wie
ihm gerade zumute war. Während der großartige Weltbürger Winkler
aus den Schriften des Meisters das Wort herausgefischt hatte: „Zur
Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens“, wählte eine
Barbara Ifland aus Weimar in Thüringen als Motiv für eine Postkarte
folgende Worte heraus: „Wir sind nicht bange, dass Deutschland nicht
eins werde . . . Vor allem sei es eins in Liebe untereinander. Und immer
sei es eins, dass der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reiche
gleichen Wert habe, Eins, dass mein Reisekoffer durch alle deutschen
Länder ungeöffnet passieren könne.“ Auch ein Denker wie Goethe soll
umfassend und allseitig studiert werden, um sich dialektisch mit ihm
auseinandersetzen zu können. Die einseitige Aneignung der Werke der
Klassiker war somit ebenfalls kein Phänomen, das sich auf ostelbische
Geistesgrößen beschränkte.
1510
1987
Rüstung, Abrüstung, Spannung und Entspannung
In den siebziger Jahren waren auf Druck von Helmut Schmidt und
Hans-Dietrich Genscher immer mehr Raketen in Europa aufgestellt
worden. In den achtziger Jahren musste auf Grund der Bemühungen
von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan dies und das und jenes
wieder abmontiert werden. Hören wir Franz Josef Strauß in dieser
Angelegenheit über den August 1987 sinnieren: „Ich gehöre nicht zu
denen, die aus der Bundesrepublik eine Supermacht machen wollen
und der Gefahr erliegen, die Dimensionen zu verwechseln. Aber Bonn
hat die ganze Raketendiskussion und das Thema der Null-Lösungen
verschlafen. Außenminister Genscher hat es bewusst versäumt, weil er
von vornherein auf dem falschen Fuß hurra geschrieen hat. Bundeskanzler Kohl hat sich immer wieder auch offiziell für die Beibehaltung
der Pershing 1 A auf deutschem Boden ausgesprochen, das letzte Mal
wenige Tage vor seiner Verzichtserklärung, von der ich während einer
Bulgarienreise am 26. August 1987 am Telefon erfuhr. Meiner Meinung
nach hätte der Kanzler bei Beginn dieser Diskussion in die USA fliegen
und dort für klare Verhältnisse sorgen müssen.“
Der da hurra geschrieen hatte, meinte in dieser Angelegenheit: „Schon
am 27. April war es in der Koalition erneut zu einem schwierigen Gespräch gekommen.“ Und weiter heißt es bei Minister Genscher: „In der
CDU/CSU neigte man zu Folgeverhandlungen über Raketen unterhalb
einer Reichweite von 1000 Kilometern: Ziel sollten Obergrenzen auf
einem möglichst niedrigen Niveau sein. Diese Haltung konnte nach
Meinung der F.D.P. zu einem Konflikt in der Koalition führen, denn
eine Ablehnung der doppelten Nulllösung drohte die Bewegung, die
endlich in die Abrüstungsverhandlungen gekommen war, zu gefährden und mit ihr die Ziele des NATO-Doppelbeschlusses. [...]
Washington ließ zwar deutlich erkennen, dass man für die doppelte
Nulllösung war, aber man würde ihr nur im Einvernehmen mit der
Bundesregierung zustimmen.
Innerhalb der Bundesregierung gingen die Meinungen weiter auseinander. Aus dem Kanzleramt hörte ich, Helmut Kohl sei bereit, auf
1511
1987
Beschränkungen für die Reichweiten zwischen 500 und 1000 Kilometern zu verzichten, wenn damit die zweite Nulllösung vermieden werden könnte. In der CDU/CSU fürchtete man, auf die zweite könne eine
dritte Nulllösung folgen und die Strategie der nuklearen Abschreckung
dadurch schwer beeinträchtigt werden.“ Genscher war natürlich auf
dem Pfad der Vernünftigen, aber er war der Vertreter des kleineren
Koalitionspartners. Damit setzte er die Nummer aus der Ära Schmidt
fort – der Kanzler ist der Unvernünftige und Böse, der Außenminister
jedoch der vernünftige Mann des Ausgleichs. Leute verklapsen. „Am
10. Mai hatte Franz Josef Strauß Bundeskanzler Kohl aufgefordert, von
seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch zu mach: CDU/CSU seien für
eine Nulllösung bei den Mittelstreckenraketen längerer Reichweite,
aber gegen die Nulllösung bei den SRINF. Nun war das gerade keine
Richtlinienfrage, es war eine Frage parlamentarischer Mehrheiten.“
Und weiter Genschman: „Durch seine Entschlossenheit bei der Stationierung der Mittelstreckenraketen gestärkt, musste Deutschland nun
das Signal für eine Revolution in der Abrüstung geben, und eben dazu
war ich fest entschlossen. Nach einer Sitzung der CDU/CSU-Fraktion
erklärte Helmut Kohl, dass man gegen die doppelte Nulllösung sei, weil
sie die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik gefährde. So kam es,
nach einem ergebnislosen Koalitionsgespräch, in der Bundestagssitzung vom 5. Mai 1987 zu offenen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Koalitionsparteien.“
Es ist traurig, dass die Alliierten dieses Kasperletheater als Ausdruck
einer quietschlebendigen Demokratie empfanden. „Als am 13. und 14.
Mai 1987 Alfred Dregger und Volker Rühe nach Paris und London flogen, um für ihre Auffassung zu werben, die Einbeziehung der Systeme
zwischen 500 und 1000 Kilometern Reichweite würde den deutschen
wie europäischen Sicherheitsinteressen schaden, war der Misserfolg
voraussehbar. Sie erhielten eine Abfuhr. Da ich die beiden Kollegen
schätzte, bedauerte ich, dass sie sich in eine solche Lage gebracht
hatten.“ Ich lasse mich für mein Leben gern verkohlen. Als die Länder
um Deutschland herum ernsthafte Anstalten beim Abrüsten machten,
hat Bonn das mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verhindert.
1512
1987
„Es wurde immer deutlicher: Eine Einigung zwischen den USA und der
Sowjetunion war von unserem Verzicht auf die Pershing I A abhängig.
Die Amerikaner wollten auf keinen Fall ohne Zustimmung der europäischen Verbündeten, vor allen Dingen Deutschlands, zu einem Abschluss kommen, und auch in London wurde die doppelte Nulllösung
akzeptiert.“ Präsident Mitterrand stand einer doppelten Nulllösung
nach Genschers Worten ebenfalls positiv gegenüber. Genau das hatte
mich ursprünglich auf die Frage gebracht, woher eigentlich der Kalte
Krieg kam. Wenn alle Welt ihn doch seit den fünfziger Jahren beenden
wollte und wenn alle Kanzler von Adenauer bis Kohl die Entspannung
fürchteten wie der Teufel das Weihwasser, wie war dann um Himmels
willen der Kalte Krieg entstanden? Sie haben Recht. Nicht alle Kanzler
von Adenauer bis Kohl. Guillaumes Dienstherr fürchtete sie nicht. „Im
Sommer 1987 zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die Vereinigten
Staaten auf Gorbatschows Vorschlag zur doppelten Nulllösung positiv
reagieren wollten. Auch ich sah hierin einen entscheidenden Durchbruch, dessen erster Bestandteil die einfache Nulllösung war. Es gab
keinen vernünftigen Grund, die Ausweitung der Verhandlungen auf
die kürzeren Reichweiten der Mittelstreckenraketen zu verhindern.“
Schade auch. „Doch zurück zum Sommeranfang 1987. Nach Wochen
schwerster Kontroversen hatte sich die Regierung schließlich am 1.
Juni für die doppelte Nulllösung entschieden: [...] Die Bundesregierung
befindet sich damit in Übereinstimmung mit den USA und den Verbündeten.“ Mit dieser Debatte hatte das Duo Genscher/Kohl weitere
Monate lang Debatten über eine Vereinigung verhindert.
Hören wir dazu auch den Entspannungsfanatiker Willy Brandt: „Ich
hatte immer noch einmal – auch mit weitsichtigen Freunden in den
USA – an die simple Wahrheit erinnert, dass geredet werden müsse,
wenn sich die Instrumente der Zerstörung nicht selbstständig machen
sollten. Unter die Hardliner gerechnet zu werden, konnte ich nicht
erwarten. Aber woher der Ruf kam, ich sei der Gegenspieler Helmut
Schmidts in der Raketenfrage gewesen, ist mir ein Rätsel geblieben.
Hätte man Strauß gesagt, würde ich nicht widersprechen, denn er
1513
1987
bekannte in aller Offenheit, dass er den Verhandlungsteil für einen
Geburtsfehler halte.“ Ach, Brandt war schon eine Marke.
Und wie war es zum Sinneswandel in Bonn gekommen? Der Moskauer
Botschafter in Bonn, Julij Kwizinskij, hatte für Mitte August um einen
dringenden Besuch bei Genscher ersucht, und dieser hatte ihn auch an
seinem Urlaubsort in Frankreich empfangen. Hans-Dietrich Genscher
berichtete: „Herr Schewardnadse, so sagte er, wolle mich an unser
Gespräch in Moskau erinnern, bei dem er mir zugesagt habe, sich zu
melden, sobald die INF-Verhandlungen stockten. In eben dieser Lage
befinde man sich jetzt. Das Abkommen über die westliche Beseitigung
der nuklearen Mittelstreckenraketen längerer und kürzerer Reichweite könne sofort abgeschlossen werden – die doppelte Nulllösung
stehe also unmittelbar vor der Annahme. Was nun noch fehle, sei
lediglich eine positive Stellungnahme Bonns zur Aufgabe der Pershing
I A. Die Sowjetunion sehe sich, nachdem sie ihre Position umfassend in
Richtung auf westliche Standpunkte verändert habe, außerstande, ein
Abkommen zu schließen, ohne die Pershing I A darin einzubeziehen.
Die USA sähen die Dinge genauso; das Hindernis liege allein in Bonn.
Schewardnadse appelliere daher an mich, alles zu tun, damit man diesen wichtigen Abrüstungsschritt endlich besiegeln könne.“ Dann habe
Genscher den Herrn Kohl in einem Vier-Augen-Gespräch überzeugt.
1514
1987
Der dritte Streich
Für den Sommer 1987 war ein Besuch des Präsidenten der Vereinigten
Staaten von Amerika in der Bundesrepublik geplant. In Vorbereitung
dieses festlichen Ereignisses kam es jedoch zu einer „Kommunikations
panne“. Aber das kann doch jedem einmal passieren. Es passiert aber
nicht jedem. Schon im Vorfeld war das Besuchsprogramm bekanntgegeben worden, und es beinhaltete den gemeinsamen Besuch auf einem
Soldatenfriedhof. Auf den ersten Blick musste der Eindruck entstehen,
Kohl wolle mit dem Amerikaner eine ähnlich bewegende Versöhnung
in Szene setzen wie zuvor mit dem Präsidenten der Republik Frankreich François Mitterrand über den Gräbern vor Verdun. Aber es kam
anders. Ausgewählt wurde der Friedhof „Kolmeshöhe“ am Rande des
kleinen Städtchens Bitburg.
„Was auf den ersten Blick eine prächtige Chance für das Image der
Stadt schien, entpuppte sich bald als horrendes Erlebnis. Bitburg
mutierte zum »Nazinest«. Bürgermeister Hallet erhielt wütende Briefe
aus der ganzen Welt. Bitburg war ausgesucht worden, weil auf seinem
amerikanischen Flugplatz Tausende US-Soldaten stationiert waren –
und ihr freundschaftliches Nebeneinander mit der Bevölkerung Vorzeigecharakter hatte. Doch Bitburg war eine Fehlentscheidung. Weil
bis in höchste Kreise der deutschen wie amerikanischen Politik nicht
recherchiert wurde, dass auf dem Friedhof kein einziger US-Soldat
liegt, dafür aber 49 Angehörige der Waffen-SS. Als die skandalöse
Kommunikationspanne aufflog, hagelte es Kritik. Reagans Stabschef
Don Regan seufzte: »Bitburg bringt uns noch um.« Nach der Lektüre
des Buches erschließt sich die Doppelbödigkeit der Inschrift des Denkmals, das der Bitburger Stadtrat unterdessen für die Gefallenen hat
aufstellen lassen: »Wer die Augen vor der Vergangenheit verschließt,
verliert den Blick für die Zukunft.«“
Von Sebastian Haffner lernen, heißt auf jeden Fall verstehen lernen. In
seiner Analyse bezüglich der Gründung der Bundesrepublik im Jahr
1949 hatte er formuliert, dass es „von Anfang an [einen] Unterschied
1515
1987
zwischen der westlichen Deutschlandpolitik und der deutschen Westpolitik“ gab, „der damals ein kaum wahrnehmbarer feiner Riss war,
später aber erhebliche Ausmaße annahm und in den sechziger Jahren
mitunter geradezu zum Gegensatz wurde.“ Zwanzig Jahre später in
den achtziger Jahren hießen die beiden Kombattanten auf deutscher
und auf amerikanischer Seite Helmut Kohl und Ronald Reagan. Hören
wir von Ferdinand Kroh, wie es 1987 zur Sache ging: „Nach dem Wirtschaftsgipfel 1987 in Venedig flog die Air Force One Präsident Reagan
nach Berlin. Er hatte zu gratulieren, denn die alte Reichshauptstadt
wurde 750 Jahre alt. Als er seine Absicht, diese Reise zu unternehmen,
kundtat, hatten West-Berliner Politiker ihm vorgeschlagen, eine Rede
vor einer geladenen Menschenmenge zu halten, und zwar vor dem
alten Reichstag neben dem Brandenburger Tor. Aber Reagan wollte
seine Rede direkt vor dem Tor halten, schließlich wusste er schon, was
er sagen würde. In einem Gespräch mit dem US-Senator Robert Byrd
hatte der CDU-Bundestagsabgeordnete Friedmann [Sie erinnern sich
doch an den Zusammenstoß mit Kohl nach dem Gipfel von Reykjavik?]
erklärt, man müsse eine operative Wiedervereinigungspolitik führen,
die Zeit sei reif. Byrd hatte dies seinem Präsidenten mitgeteilt. Sofort
erhob sich bei den deutschen Leisetretern Protest, als sie von Reagans
Absichten erfuhren. Die deutschen Politiker waren davon überzeugt,
dass diese Rede an einem solchen Ort als Provokation aufgefasst
werden könnte. Kanzleramtsminister Schäuble wurde bestürmt, einen
provokanten Auftritt Reagans zu verhindern. Reagan blieb stur. Er
wollte provozieren. [...]
Vor der Rede am Brandenburger Tor unternahm Reagan noch eine
Tour entlang der Mauer. Als er in der Nähe des Reichstags stand, bemerkte er die Graffitis. Dort standen Sätze wie »Die Mauer wird fallen«
und »Wünsche werden wahr«. Er machte die ihn begleitenden Presseleute auf die Sätze aufmerksam und sagte: »Ja, in ganz Europa wird
diese Mauer fallen. Diesem Glauben kann man nicht widerstehen. Die
Mauer kann dem Frieden nicht widerstehen.« [...]
Gegen einen leichten, aber lebhaften Wind ankämpfend, sprach er von
Frieden und der Notwendigkeit von Veränderung hinter dem Eisernen
Vorhang. Und dann rief er den Satz aus: »Öffnen Sie dieses Tor, Mr.
1516
1987
Gorbatschow!« Die Menge tobte. Niemals wurde an der Mauer etwas so
Eindeutiges gesagt. Für Reagan war das keine neue Idee; er hatte schon
1967 diesen Gedanken vorgebracht.“ Hätte Ronald Reagan aber zuvor
Sebastian Haffner gelesen, dann hätte er nicht Michail Sergejewitsch
sondern seinen Freund Helmut verbal vermöbelt.
Nach Ronald Reagans Besuch, der den Europäern Beine machen sollte,
schrieb Helmut Kohl in einem Brief an die Landsmannschaften, dass
„die CDU die Überwindung der Teilung Deutschlands wieder zu einem
Schwerpunkt ihrer Politik macht [...] unter dem Eindruck [...] der hervorragenden Vorschläge Reagans.“ Genau unter diesem Eindruck.
Was die Franzosen von der Mauer hielten, machten sie im gleichen
Jahr klar: „In jenem Jahr fanden in Berlin die 750-Jahr-Feiern statt. Ein
herausragendes Ereignis in diesem Zusammenhang war, nach der Rede
Ronald Reagans vom 12. Juni 1987, die er mit dem historischen Appell
verbunden hatte, die Mauer niederzureißen, der Start der Tour de
France vom Brandenburger Tor aus – eine politische Demonstration.
Zum Start der Tour kam auch Premierminister Chirac nach Berlin.“
Was die Großen der Welt von der architektonischen Revolution einer
Mauer durch eine Stadt hielten, war Unserem Genossen Erich aber fast
gleichgültig. Auch einem sowjetischen Außenpolitiker Falin gelang es
nicht, Erich umzustimmen: „Reagans Aufforderung vor dem Brandenburger Tor betraf die Situation in Berlin, die sogenannte Vermenschlichung der Grenze zwischen West- und Ost-Berlin, zwischen Westund Ostdeutschland. Übrigens hat die sowjetische Seite dieses Thema
mehrere Male der DDR-Führung beizubringen versucht, um es positiv
zu lösen. Aber alle unsere Vorstöße stießen immer auf eine harte und
kurzsichtige Position von Honecker und anderen. Die Amerikaner
wussten praktisch alles, was in der Führung der DDR vor sich ging. Sie
wussten von den sowjetischen Gesprächen mit Honecker. Honeckers
Taktik blieb stur – zuhören und alles beim Alten lassen.“ Völlig egal
war ihm die Mauer aber dann doch nicht, wie wir bald sehen werden.
1517
1987
Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Moskau
Im Sommer des Jahres 1987 fuhr der Bundespräsident nach Moskau.
Beim Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher kann man nachlesen:
„Vom 6. bis 11. Juli begleitete ich Bundespräsident von Weizsäcker bei
seinem Staatsbesuch in die Sowjetunion. Seine Reise war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert und von großer Bedeutung, denn auch
aus den Publikationen sowjetischer Politiker und Diplomaten wird
heute erkennbar, dass die Folgen des Newsweek-Interviews trotz Wien
noch nicht ganz überwunden waren. So schreibt der frühere Botschafter Kwinzinksij in seinem Buch Vor dem Sturm: »Inzwischen wurden
Besuche von Bundesministern in Moskau abgesagt, brach das Programm von Kontakten zusammen, das beim Besuch Genschers vereinbart worden war. Ich musste Gesprächen mit dem Kanzler ausweichen,
und Moskaus Repräsentanten machten um Bonn einen Bogen.«“
Nur gut, dass der Kanzler diese Wirkung weder vorausgesehen noch
beabsichtigt hatte. „Dem Bundespräsidenten fiel bei diesem Besuch die
Aufgabe zu, den deutsch-sowjetischen Beziehungen einen neuen Impuls zu geben. [...] Gorbatschow zeigte sich um Ausgleich bemüht; er
suchte Verständigung. [...]
Die Unterredung von Bundespräsident von Weizsäcker und Generalsekretär Gorbatschow war zuweilen recht deutlich, ja streckenweise
hart.“ Vermutlich, weil Herr von Weizsäcker in der Person des Herrn
Gorbatschow einen ganz schön sturen Esel vor sich hatte.
Man sprach über dies und das und „im Verlauf der Gespräche erhob
Weizsäcker dann die Frage der deutschen Einheit – »fast just for the
record« [fast nur für das Protokoll], wie er später dem Autor [T. G. Ash]
gegenüber im deutsch-englischen Gemisch erklärte. Er forderte damit
eine unerwartete Antwort heraus, die schnell in aller Munde sein
sollte. Die politische Realität, so entgegnete Gorbatschow, habe zwei
deutsche Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen geschaffen. Und, wie es im veröffentlichten Bericht der sowjetischen
Seite hieß: »Beide haben sie Lehren aus der Geschichte gezogen, und
1518
1987
jeder kann seinen Beitrag zu den Angelegenheiten Europas und der
Welt leisten. Und was in hundert Jahren sein wird, wird die Geschichte entscheiden.«“ An dieser Antwort war bis dahin erst einmal
noch gar nichts unerwartet. Der Herzschlag kam erst, als Weizsäcker,
der sich noch Monate nach dem Mauerfall immer wieder gegen eine
Vereinigung aussprach, Gorbatschow anstänkerte: „Oder vielleicht in
fünfzig?“ Die Frage von Weizsäckers nach der deutschen Einheit (ohne
eine Zusage, was aus den „deutschen Ostgebieten“ wird) und mitten in
der Moskauer Verstimmung über Kohls Vergleich zwischen Goebbels
und Gorbatschow, darf ich doch als ein neuerliches Stänkern deuten?
Danke. Da dieses Thema aber zwischen Washington und Moskau schon
seit Jahren diskutiert wurde, gab Gorbatschow dem Edlen trotz allem
„ein Zeichen der Zustimmung“.
Damit wird der Edle ja nun am allerwenigsten gerechnet haben. „In
seinen Memoiren erwähnt Eduard Schewardnadse, Genscher habe ihn
– nach der Vereinigung – gefragt, wann er zum erstenmal die deutsche
Vereinigung als unabwendbar angesehen hatte. Und er zitiert seine
überraschende Antwort: »Schon 1986«. [...]
Natürlich, so sagte Schewardnadse, sei der Zeitplan unbekannt gewesen, doch Gorbatschows Formel von »einhundert Jahren« wäre nur als
Beruhigung der öffentlichen Meinung in der Sowjetunion gedacht
gewesen, die für das radikale private Denken ihrer Regierungsspitze
noch wenig Sinn gehabt habe.“
Über die völlig unerwartete Entwicklung schrieb Der Spiegel wesentlich
später: „Im Jahr darauf nannte ZK-Konsultant Nikolai Portugalow
öffentlich die Ost- wie die Westdeutschen einer Nation zugehörig, und
Gorbatschow brach ein Tabu: Nach einem Vierteljahrhundert völliger
Immobilität erklärte ein Kreml-Herr dem Bundespräsidenten Richard
von Weizsäcker gegenüber, die deutsche Frage sei offen. Ein Plädoyer
Weizsäckers für die Einheit strich sein Gastgeber Andrej Gromyko, der
führende Hardliner, aus der Publikation der Iswestija. Gorbatschow
setzt die Veröffentlichung im Nachhinein durch.“
1519
1987
Das gemeinsame Papier von SED und SPD
vor dem Großen Besuch Honeckers in Bonn
„Im August 1987, am Vorabend von Honeckers Besuch in Bonn, präsentierten Eppler [SPD] und Reinhold [SED] schließlich ihr gemeinsames Papier unter dem Titel: »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«. Es wurde nicht nur in der westdeutschen Presse,
sondern auch im ostdeutschen Neuen Deutschland veröffentlicht. Es
war ein gewundener Text.“
Eine interne SED-Parteiinformation vor der Veröffentlichung dieses
Papiers machte deutlich, dass es ideologischer Kopfstände bedurfte,
um einen solchen Text, der Reformen einforderte, der eigenen Mannschaft plausibel zu machen: „Für uns steht daher nicht die Frage, ob
sich am Wesen des Imperialismus etwas verändert hat, sondern ob er
zum Frieden gezwungen werden kann. [...] Von der Reformfähigkeit
des Kapitalismus zu sprechen heißt, diesen auch als reformbedürftig
anzusehen.“
Und diese Meinung fand sich nach dem Ende des Spuks in der Presse:
„Höhepunkt ist aber der ständig wiederholte Versuch, das sogenannte
SPD-SED-Papier rückschauend umzudeuten. [...] Abgesehen davon,
dass hier ein Fall von typisch deutscher Selbstüberschätzung vorliegt,
ging es doch tatsächlich um nichts anderes als einen von vielen Fällen
der Anbiederung an das SED-Regime, um »Normalisierung« der Beziehungen unter der Überschrift »Friedliche Koexistenz«.“
„Dagegen verteidigte noch in der vergangenen Woche Erhard Eppler
die absurd machtfixierten SPD/SED-Gespräche samt dem dubiosen
Einigungspapier in der Enquetekommission des Bundestages, deren
Mitglied Poppe ist, mit dem Argument, auf diese Weise seien die Reformer in der SED gestärkt worden.“
In einem späteren Interview mit Ex-Kanzler Willy Brandt fragte ihn
ein Spiegel-Redakteur: „Die SPD, aber auch Sie müssen heute den Vor1520
1987
wurf ertragen, sie hätten sich zuwenig um die Oppositionsparteien in
den osteuropäischen Staaten gekümmert, weil eine Destabilisierung
der dortigen Regierungen verhindert werden sollte.“ Allein die Frage
spricht Bände. Was heißt eigentlich – Aber auch Sie. Vielleicht war er
der Vorsitzende der Partei? Freud lässt grüßen. Es hätte zumindest
heißen müssen – aber auch Sie persönlich. Brandt hat auf diese Frage
geantwortet: „Ich habe vorhin Herrn Dienstbier erwähnt. Ich war 1985
in Prag. Da war er noch Heizer. Peter Glotz hat damals in meinem Auftrag mit ihm und den Leuten der Charta 77 gesprochen. Drei Jahre später, bei meinem Besuch in Moskau, führte Hans Koschnick für mich
Gespräche mit dortigen Sozialdemokraten und Liberalen. Horst Ehmke
und ich hatten in der Deutschen Botschaft Gespräche mit Tadeusz
Mazowiecki, der damals, im Jahre 1985, einer der engsten Mitarbeiter
von Lech Wałesa war. Soll ich den Beispielen weitere hinzufügen?“
Der Spiegel konnte sich überhaupt erstaunlich gut an diese Zeit erinnern: „Sozialdemokraten, die den Kontakt zu Oppositionellen suchten,
standen in der Kritik ihrer Parteiführung, weil sie die Beziehungen zur
SED belasteten.“ Oder sie wurden gleich ganz von der Verantwortung
befreit und mussten sich dann zur Strafe um „die Partei und ihre Kindergärten“ kümmern wie Brandt. Und Timothy Garton Ash fand noch
ganz andere interessante Details heraus: „Es gab nur wenige, für die
die Vereinigung Deutschlands zu einem Staat in absehbarer Zukunft
ein ernsthaftes Ziel war, über das sie sowohl nachgedacht als auch
gesprochen haben. Und die wenigen, die dennoch darüber sprachen
oder schrieben, wurden häufig selbst von Christdemokraten als Randerscheinung betrachtet, wenn nicht sogar unverantwortlich genannt.“
Zauberhaft war auch, wie Der Spiegel aus Hamburg eine ernste Kritik
ins Bärtige verschob: „Unter dem Dach des Internationalen Congress
Centrums klatschen ergriffen auch junge Sozialdemokraten aus der
DDR: »Ja«, versichert in ihrem Namen Pfarrer Markus Meckel, SDPMitbegründer und nachmaliger Außenminister der DDR, »wir werden
für den deutschen Einigungsprozess eintreten.« Doch der Rauschebart
offenbart auch seinen Zorn darüber, dass die Partei allzu lange auf
1521
1987
ihren Exklusivpartner SED fixiert gewesen ist: Die West-SPD habe zu
zögerlich »das Gespräch mit den oppositionellen Gruppen gesucht«.“
Das erinnert mich doch verdammt an die feine Umgangsweise der
Bonner und später Berliner Regierungen seit den siebziger Jahren des
zwanzigsten Jahrhunderts mit China. Bin ich wirklich so ungerecht?
„Nach Egon Bahr war Karsten Voigt wohl häufigster SPD-Besucher im
Haus des Zentralkomitees. Im Juli 1987 – die DDR war nach einer späteren Auskunft des SED-Wirtschaftslenkers Günter Mittag längst pleite –
erfreute er seine Gesprächspartner von der Staatspartei mit Lob.“ Und
Helmut Kohl steuerte dem Lob noch 525 Millionen DM in Form einer
Transitpauschale und 200 Millionen als Postpauschale bei. Sie wissen
ja: Money makes the world go round.
1522
1987
Der deutsch-deutsche Herbst
Am 7. September kam Erich Honecker nach zehnjähriger Planung nun
endlich mit einer ganzen Delegation von Kommunisten an Bord einer
Interflugmaschine zu seinem Staatsbesuch in die völlig provisorische
Hauptstadt Bonn bei Köln, in das schöne München und andere schöne
Städte der schönsten Bundesrepublik Deutschland. Sicher hätte es ein
schöner Sonderzug auch getan, aber dann hätte Honecker ja nicht das
erhebende Gefühl eines erhebenden Atlantikfluges nach Bonn gehabt.
Hören wir zuerst den Genossen Generalsekretär Honecker selbst: „Der
Empfang in Bonn im September 1987 war freundlich. Zum ersten Mal
erklang die Staatshymne der DDR in Bonn; der Staatsflagge der DDR
wurde die ihr zukommende Ehre erwiesen.
Im Gegensatz zu Verlauf und Inhalt unserer bisherigen zweiseitigen
Gespräche unter vier Augen waren allerdings die Reden von Kohl auf
den offiziellen Empfängen grob gestrickt. Bekanntlich erwiderte ich
dies auf einem der offiziellen Empfänge mit den in meiner Rede eingeflochtenen Worten: »Sozialismus und Kapitalismus lassen sich ebenso
wenig vereinen wie Feuer und Wasser.« Dennoch möchte ich rückblickend sagen, die Verhandlungen verliefen sachlich. Sie fanden auch
in den Medien der BDR eine gute Aufnahme.“ Im Buch steht wirklich
BDR, was auch immer im Manuskript stand.
„Kohl begann seine Tischrede – vor dem Abendessen, damit die Fernsehzuschauer in beiden deutschen Staaten die Möglichkeit hatten, ihm
zuzusehen – mit einer ausdrücklichen Betonung seines Glaubens an
die deutsche Einheit. Der Blick von Millionen Deutschen zwischen
Stralsund und Konstanz, zwischen Flensburg und Dresden und in Berlin – sagte er – sei auf diese Begegnung gerichtet. »Das Bewusstsein für
die Einheit der Nation ist wach wie eh und je, und ungebrochen ist der
Wille, sie zu bewahren. [...] Die Menschen in Deutschland leiden unter
der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im
Wege steht und die sie abstößt.«“ Auf Joseph Goebbels und auf Bitburg.
1523
1987
Und auf die Konzentrationslager. Prosit. Sie waren bei seinem Herzensanliegen für das Heimatland gewiss ganz besonders segensreich.
Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker „brachte seine Freude
zum Ausdruck, E. Honecker in der Villa Hammerschmidt willkommen
heißen zu können. Bei seiner Amtsübernahme im Sommer 1984 habe
er auf den baldigen Besuch Honeckers gehofft, allerdings habe sich das
Haus damals im Umbau befunden. [...]
E. Honecker äußerte seine Freude, nach dem seinerzeitigen Gespräch
im Berliner Schloss Niederschönhausen erneut mit R. v. Weizsäcker
zusammenzutreffen, wobei er für alle Unterstützung danke, die R. v.
Weizsäcker dem Zustandekommen der heutigen Begegnung habe
zuteil werden lassen. Vieles, worüber man damals gesprochen habe,
sei bereits Wirklichkeit geworden oder werde es mehr und mehr.
Es bestünden gute Voraussetzungen, die Beziehungen zwischen der
DDR und der BRD zu normalisieren und fruchtbringend zusammenzuwirken. Von den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten
hänge für die Gestaltung der Atmosphäre in Europa viel ab. Hierbei
stimme er H. Kohl zu, der gesagt habe, beide deutsche Staaten seien
nicht der Nabel der Welt, sondern ein Teil der Welt, jedoch ein wichtiger. Vieles sei erreicht worden. Für das Wesentlichste halte er, die
große Chance zu nutzen, die sich gegenwärtig im Zusammenhang mit
dem in Aussicht stehenden Abkommen der Sowjetunion und der USA
über die Mittelstreckenwaffen ergebe. Diese Chance dürfte nicht versäumt werden. Er wisse, dass die UdSSR und M. Gorbatschow fest entschlossen seien, zu einem Ergebnis zu gelangen. Auch gehe er vom
Interesse R. Reagans aus, noch in diesem Jahr ein Abkommen abzuschließen und sich mit M. Gorbatschow in den USA zu treffen.“
Weizsäcker sagte auch: „Wir treffen uns weder, um gegeneinander
aufzutrumpfen noch um die Wirklichkeit durch Träume zu verklären.“
Fehl am Platz wären Streit und Vorwürfe „unter uns über die Vergangenheit, in der es zur schmerzlichen Teilung Europas, Deutschlands
und Berlins gekommen ist. Unsere Aufgabe besteht auch nicht in großen Prophetien für das nächste Jahrhundert. Was uns die Geschichte
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1987
in der Zukunft bringen wird, ist offen für uns alle. Wir können sie
nicht vorhersagen. Aber wir können ihr konstruktiv zuarbeiten.“
Danach folgte ein Gespräch Erich Honeckers mit Herrn Bundeskanzler
Helmut Kohl im erweiterten Kreis: „H. Kohl erklärte, er möchte die
Gelegenheit nutzen, um im Weiteren einige bilaterale Fragen zu besprechen. Als er sich zum ersten Mal mit E. Honecker getroffen habe,
habe man vernünftig miteinander reden können. Dabei sei man sich
einig gewesen, dass das Wichtigste sei, aus der deutschen Geschichte
zu lernen. Er habe neulich noch einmal nachgelesen, wie dieses Jahrhundert eröffnet worden sei. Es sei als Jahrhundert der Vernunft, des
Friedens bezeichnet worden und wie sei es tatsächlich verlaufen. Es sei
eine sehr persönliche Entscheidung für diesen Besuch gewesen. Die
beiden deutschen Staaten müssten ihren Beitrag zum Frieden leisten,
natürlich könnten sie sich dabei nicht übernehmen. Sie seien nicht das
Maß aller Dinge.“
Über Kohls Äußerungen im anschließenden Gespräch im kleinen Kreis
wurde fein festgehalten: „Er habe bei dem Gespräch in Moskau gesagt,
dass kaum DDR-Bürger in der BRD bleiben würden. Die Zahl von 0,02
Prozent bestätige dies.“ Honecker muss diese Formulierung überhört
haben. Hier wollte der Herr Kanzler sicher sagen, macht doch einfach
die Grenze auf, die Leute fahren schon wieder nach Hause.
Andererseits war es nicht besonders clever kalkuliert, das schon beim
Fernsehauftritt am Anfang als eine Forderung in den Raum zu stellen.
Wäre das zuerst in diesem Rahmen diskutiert worden, hätte Honecker
ja vielleicht die Möglichkeit genutzt, mit so einem Vorschlag als Held
in die Bücher einzugehen. Allerdings hatte Honecker durchaus eine
Erklärung zur Hand, warum man dieses Grenzregime in Berlin nicht
großzügiger handhaben könne: „Die USA legten sehr großes Gewicht
darauf, dass bestimmte Personen nicht über die Grenze wechseln. Die
Kontrolle müsse gesichert sein.“ Da würde mich auch interessieren, ob
es im Vorlauf tatsächlich eine amerikanische Äußerung gab, auf die er
sich beziehen konnte.
1525
1987
Weiter wies Dr. Kohl darauf hin, „dass nach seiner Kenntnis, wenn im
Herbst das Abkommen über die Mittelstreckenraketen abgeschlossen
werden könne, im nächsten Jahr eine Veränderung der COCOM-Liste
erfolgen werde.“ Damit konnten verschiedene bisher illegale Warenausfuhren endlich ohne ein schlechtes Gewissen durchgeführt werden.
Verstehenswert ist auch folgende Formulierung von Kanzler Kohl. Auf
Honeckers Formulierung, „die DDR sei entschlossen, die Beziehungen
zur BRD zu erweitern und den Prozess der Normalisierung weiter voranzubringen“, erwiderte Kohl, „er wolle diesen Prozess psychologisch
unterstützen. Er sei an Ergebnissen interessiert. Ihm komme es auf
Tatsachen an.“ Tatsache war zum Beispiel die Existenz zweier Staaten
hier seit 1949, ob anerkannt oder auch nicht. Tatsache war ebenso der
Grundlagenvertrag von 1972, der nach dem Ausscheiden von Brandt
dann als Grundvertrag missbraucht wurde. Tatsache war neben vielen
anderen Details die im Neubau befindliche Ständige Vertretung Bonns
in der „DDR“ fernab der Innenstadt von Ost-Berlin im Grünen. Unter
einer Unterstützung versteht man ja so landläufig eine Unterstützung.
Was Kohl und die anderen Eingeweihten aus CDU und CSU boten, war
jedoch eine psychologische Unterstützung. Ihre platten Äußerungen
haben immer mehr Leute von den schlimmen Inhalten weggetrieben,
die sie vorgaben, politisch zu vertreten.
Die folgende Erläuterung von Prof. Dr. Heinrich August Winkler wäre
sonst nämlich nach dem Crash nicht notwendig gewesen: „Die besondere Beziehung zwischen West- und Ostdeutschen ergibt sich aus der
gemeinsamen Geschichte seit der Nationsbildung im 19. Jahrhundert.
Die deutsche Nation, wie sie sich 1871 konstituierte, wäre nur dann ein
abgeschlossenes Kapitel, wenn sich West- und Ostdeutsche nach 1949
zu eigenen Nationen entwickelt hätten. In der Bundesrepublik gab es
dazu Ansätze, die aber nicht »offiziell« wurden. Die DDR verstand sich
seit den frühen siebziger Jahren zwar offiziell als neue »sozialistische«
deutsche Nation, fand aber damit in der Bevölkerung keinen Widerhall. Die deutsche Nation bestand also fort, und sie ist seit 1990 wieder,
was sie in der Zeit der Teilung nicht war, eine Staatsnation.
1526
1987
Nicht darum also kann es gehen, ob die Deutschen eine Nation sind,
sondern wie sie sich dazu verhalten und was sie daraus machen. »Dass
es Nationen gibt, ist historisch das Europäische an Europa«, hat der
Historiker Hermann Heimpel einmal bemerkt. So gesehen, kann der
Abschied vom postnationalen Sonderweg der alten Bundesrepublik
sogar ein Stück europäischer Normalisierung, eine Annäherung an das
Selbstverständnis der anderen Europäer, bedeuten.“ Super.
Doch zurück zum Staatsbesuch: „In den Gesprächen des Mitgliedes des
Politbüros und Sekretärs des ZK, Günter Mittag, mit dem Bundeswirtschaftsminister, Martin Bangemann, wurde der erreichte Stand der
Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen der DDR und der BRD
insgesamt als positiv eingeschätzt. Die vorhandenen langfristigen Vereinbarungen waren dafür eine gute Grundlage. Es wurde festgestellt,
dass die im Frühjahr in Leipzig und Bonn getroffenen Absprachen von
beiden Seiten voll erfüllt wurden. Beide Seiten haben ihren Willen
bekräftigt, die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen weiter zu entwickeln und zu fördern. Dabei kommt den langfristigen Vereinbarungen
und der Nutzung von Kooperationsmöglichkeiten eine besondere Bedeutung zu. Dies dient dem weiteren Ausbau der Handelsbeziehungen
im Umfang und in ihrer Struktur. [...]
Die BRD-Seite informierte über ihren Wunsch, den Internationalen
Seegerichtshof als UNO-Organ in Hamburg zu errichten, und bat um
Unterstützung durch die DDR.“
In einem Gespräch mit der Ministerin für innerdeutsche Angelegenheiten Dorothee Wilms stellte DDR-Außenminister Oskar Fischer „zu
Beginn seiner Ausführungen fest, dass die Aufgabenbereiche beider
Minister nicht deckungsgleich seien und der von Frau Wilms in der
und für die DDR nicht bekannt sei.“ Das war ihm sehr wichtig. Sie war
da praktischer orientiert und wiederholte Dr. Helmut Kohls Hinweis:
„Die Quote der Nichtrückkehrwilligen [bei Besuchsreisen in die BRD]
läge bei 0,02%, und die BRD sei daran interessiert, dass diese so gering
bleibe. [...] Staatssekretär Rehlinger, der von Frau Wilms als »alter
Fuhrmann im Geschäft« bezeichnet wurde, erklärte, es sei nicht die
1527
1987
Politik der BRD-Regierung, Leute aus der DDR abzuwerben und das
Land zu entvölkern.“ Wie deutlich hätten es die Bonner denn nur noch
sagen sollen, ohne dass sich Erich Honecker vor das Mikrofon stellt
und den Leuten sagt, dass sie von der CDU/CSU verschaukelt werden?
Der Staatsratsvorsitzende jedoch hörte da etwas anderes und verließ
deshalb ganz mutig sein Redekonzept: „Bereits im Jahre 1987 habe ich
anlässlich meines Besuches in der BRD versucht, den Vereinigungseifer der Bundesregierung zu dämpfen. Unter anderem mit dem Hinweis, dass die Vereinigung von Sozialismus und Kapitalismus ebenso
wenig möglich ist wie die von Feuer und Wasser. Das stand nicht im
Manuskript meiner Rede zum Empfang des Bundeskanzlers.
Angesichts seiner überraschenden provokativen Ausfälle gegen die
DDR, die völlig anders waren als die internen Gespräche, hielt ich es
für notwendig, das zu sagen.“
In Kohls Werk für diejenigen, die es wirklich wissen wollen – Ich wollte
Deutschlands Einheit –, wurde nach der Vaporisierung der „D.D.R.“ erst
einmal richtig deutlich, wie sehr Kohl alle diejenigen hasste, die sich
die Einheit Deutschlands nicht wünschten: „Er erinnere sich noch gut
daran, so Kohl, wie sich der damalige Partei- und Fraktionsvorsitzende
der SPD, Hans-Jochen Vogel, mit einem ganzen Forderungskatalog an
die Bundesregierung gewandt habe.
Auf dieser Liste habe die Aufnahme »normaler Beziehungen« zwischen
Bundestag und Volkskammer ebenso gestanden wie die Abschaffung
der Erfassungsstelle in Salzgitter.“
Aber wie waren eigentlich nach dem Staatsbesuch plötzlich die völlig
normalen Beziehungen zwischen Bundestag und Volkskammer auf
den Forderungskatalog der demokratischen Opposition geraten? Das
war nämlich so: Philipp Jenninger, der CDU-Mann, der sich dauernd
mit diesem Alexander Schalck-Golodkowski von der Ost-Berliner SED
traf, trat während seiner Gespräche mit dem Chef dieses ostdeutschen
Unrechtsregimes mit einer wertvollen Initiative hervor: „E. Honecker
habe zu Recht auf die Verantwortung der Parlamente verwiesen.
1528
1987
Er habe sich zum Ziel gesetzt, die Beziehungen zu Parlamenten sozialistischer Staaten auszubauen. Er habe deshalb auch das Gespräch mit
H. Sindermann gesucht und ihm gesagt, dass im Grundsatz auch die
Frage von Beziehungen zur Volkskammer anstehe. Es gebe aber noch
einige Hindernisse, z. B. müsse der »innerdeutsche« Ausschuss voll
einbezogen werden und eine Gleichbehandlung auch der Westberliner
Abgeordneten erfolgen. Diese Voraussetzungen spielten vor allem in
der Fraktion der CDU/CSU eine Rolle. Er möchte diese Hindernisse
abbauen. Die CDU/CSU-Fraktion müsse stärker eingebunden werden in
die Kontakte zwischen Parlamentariern, um ihren Widerstand zu
überwinden. Er müsse auf die CDU/CSU-Fraktion Rücksicht nehmen.
Er sei für kleine Schritte.
Auf diesem Wege denke er, das Ziel zu erreichen, Beziehungen zwischen Volkskammer und Bundestag herzustellen. Er teile völlig die
Meinung E. Honeckers zur Friedenssicherung, der Einstieg durch die
Null-Lösung sei wichtig. Ph. Jenninger wünschte abschließend einen
guten Verlauf des Besuches E. Honeckers in der BRD.“ Hier steht klipp
und klar, dass nicht irgendein Vertreter von einer feindlichen Partei
Herrn Kohl unsittliche Anträge gemacht hatte, sondern, dass die CDUFührung auch solche BundesbürgerInnen hinters Licht führte, die es
bis in den Bundestag geschafft hatten.
Die schönste Begrüßung für den Gast aus Asien hatte jedoch ein ganz
Wilder vom rechten Zipfel zu bieten: „Selbst Alfred Dregger, Spitzenmann der rechten Stahlhelm-Fraktion in der CDU, begrüßte laut DDRProtokollen den Staatsratsvorsitzenden Honecker bei dessen offizieller
Visite in Bonn 1987 als »deutschen Kommunisten«, mit dem ihn als
»deutscher Demokrat« viel verbinde. Deutsch-deutsche Doppelbödigkeiten.“ Wirklich schade, dass Der Spiegel immer alles nur andeutet.
„Auch der heutige SPD-Kanzleraspirant Björn Engholm kam in den
Genuss des Ost-Berliner Wohlwollens. […] Deshalb schlug er [Egon
Bahr] vor, dass Engholm den Staatsratsvorsitzenden »im Hinblick auf
die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein für zehn Minuten und vor
allem auch medienwirksam« treffen könne. Honecker war einverstan1529
1987
den. Auch Bahrs zweite Bitte für seinen Genossen im hohen Norden
wurde erfüllt: Er hatte Axen gefragt, »ob man einen winzigen Badesee
im Grenzgebiet zur DDR nicht für das Baden freigeben könne, was sehr
massenwirksam wäre.«“
Es kam übrigens – trotz der vorgeblichen juristischen Vorbehalte – zu
einer Begegnung der zwei Außenminister, wie Hans-Dietrich Genscher
berichtet hat: „Neu war, dass ich am Dienstagmorgen Außenminister
Fischer im Auswärtigen Amt empfing. Es war unser erstes Gespräch
auf deutschem Boden, denn die DDR war ja für uns kein Ausland und
die Beziehungen zu ihr entsprechend keine auswärtigen. Sie lagen
allein in der Verantwortung des Bundeskanzleramts. Diesmal jedoch
reiste Fischer als Mitglied der Delegation des Staatsratsvorsitzenden
Honecker an.“ Schwupp, und da mussten sich nun plötzlich auch die
beiden Außenminister treffen. Es ist doch immer die Hauptsache, dass
man für alles eine Formulierung bei der Hand hat. Als Lehrer kenne
ich das Phänomen. Es gibt Schüler, die einen Verwandten auch zum
dritten Mal sterben lassen, wenn sie erklären wollen, warum sie eine
Hausaufgabe nicht machen konnten.
Am 11. September 1987 traf Erich Honecker schießlich wieder einmal
zu einem Gespräch mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz
Josef Strauß von der „CSU“ zusammen, der weise Worte zu ihm sprach:
„2500 Jahre lang seien Kriege geführt worden, einmal müsse Schluss
damit sein.“ Sie haben aber noch im Ohr, wie er gegen die Helmut Kohl
abgerungene Zusage war, die Pershing 1A abzubauen? Und dieser Herr
Strauß überhäufte Honecker mit Freude: „Die Grenzlage sei weiterhin
ruhig, die Grenzabfertigung korrekt und zügig, auch die Grenzsperranlagen seien verändert worden. Erich Honecker habe Wort gehalten.“
Franz Josef Strauß hatte seinem Freund und Genossen Erich Honecker
in diesem Gespräch viel mehr Verständnis für die Zustände an der
Mauer entgegengebracht, als es die Staatsbürgerinnen und die Staatsbürger der DDR je getan hatten, so dass sich mir bei so warmem Verständnis die Frage aufdrängt, warum Strauß bei dieser so wahnsinnig
günstigen Gelegenheit nicht auch gleich ein Übersiedelungsersuchen
1530
1987
in die DDR formulierte: „Die Grenzanlagen zwischen der DDR und der
Bundesrepublik könnten nicht so sein wie zwischen Bayern und Österreich.“ Diese Worte hat der Anti-Hitler-Verschwörer dann im Passauer
Bierzelt sicherlich nicht wiederholt.
Sie erinnern sich doch an die sowjetischen Befürchtungen, hier braue
sich etwas gegen sie zusammen. Doch dem war nicht so: „Honecker
jedenfalls war entgegen den Befürchtungen Falins auf seinem »Anerkennungstrip« nach Bonn im September 1987 hart geblieben. Fast.
Denn auf einem Abstecher in seine saarländische Heimat äußerte er
überraschend zum ersten Mal öffentlich seine Zustimmung zu den alten Plänen Helmut Schmidts, die in das Modell Länderspiel gemündet
waren. Von Journalisten nach der deutsch-deutschen Zukunft befragt,
antwortete er sinngemäß: Wenn alle Vorhaben zwischen der Bundesrepublik und der DDR, wie sie auf seinem Besuch besprochen und vereinbart worden waren, umgesetzt würden, dann könnte die Grenze
zwischen beiden Staaten in Zukunft so aussehen, wie die zwischen
Polen und der DDR. Also offen!“
Schluss, aus, Klappe. Das war die falsche Einspielung. Wir wiederholen
diese Szene 824: „War dies nach seinem Nein zu den Ergebnissen der
Geheimgespräche von Beil & Co. ein kleiner historischer Kompromiss,
der ihm da vorschwebte? Die journalistische Öffentlichkeit jedenfalls
begann sofort wieder mit ihren Spekulationen. Aber Bonn dachte gar
nicht daran, auf Honeckers Vorschlag zu reagieren. Dieser Satz ging im
deutsch-deutschen Tagesgeschäft unverständlicherweise völlig unter.
Die Begründungen, die der damalige Kanzleramtsminister Wolfgang
Schäuble dafür gibt, sind aus heutiger Sicht nicht nachzuvollziehen.
Seiner Ansicht nach war das Angebot der Reisefreiheit nicht ernst zu
nehmen.“ Haben wir das jetzt? Der Osten ist böse, böse, böse und böse.
Dann haben wir heute genug geschafft. Schönen Feierabend!
Aber soll Herr Honecker doch selbst die Überlegungen darbieten, die
ihn damals umgetrieben haben. Vielleicht wird es dadurch ja leichter,
nachzuvollziehen, was er da 1987 meinte: „Die Privilegien der Intellek1531
1987
tuellen, der Künstler, gegenüber dem einfachen Arbeiter, diese Unterschiede wurden in der letzten Zeit immer größer. Sie führten zu einem
Spalt zwischen Volk und Führung. Wenn Sie damit unsere Reisepolitik
meinen, dann stimme ich Ihnen mit einer kleinen Einschränkung zu:
Es ist mir seit Langem klar geworden, dass die Reisefeiheit für Intellektuelle den einfachen Leuten nicht immer verständlich war. Das führte
mit der Zeit zu einer Missstimmung. Wir haben versucht, durch die
Erweiterung der Reisemöglichkeiten nach dem Westen die Dinge zu
beheben. So konnten 1986 bis 1989 jährlich zwischen fünf und sechs
Millionen Bürger der DDR die Bundesrepublik Deutschland und BerlinWest besuchen. Wir hatten damit praktisch auch die Trennung der
Reisemöglichkeiten zwischen Rentnern und den übrigen Bürgern aufgehoben.
Während meines Aufenthaltes in der BRD hat man mich sehr oft nach
der Ursache dieser zwiespältigen Reisepolitik gefragt. Ich habe ganz
offen gesagt, wenn die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD
nach dem Völkerrecht entwickelt werden, wird es auch möglich sein,
auf dem Gebiet des Reisens weiter die DDR zu öffnen. Man hat hoch
eingeschätzt, dass der damalige Reiseverkehr schon freier war. Alle
Beschränkungen konnte man bekanntlich nicht aufheben, denn es gab
Betriebe, die ja ein festes Regime in Bezug auf Arbeitskräfte hatten, um
die Produktion im Betrieb aufrechtzuerhalten und eine hohe Effektivität zu erreichen. Großräumige Reisen waren praktisch nur in Urlaubszeiten möglich. Ich habe allerdings damals zum Ausdruck gebracht:
Wenn die Aufgaben erfüllt sind, die wir uns im gemeinsamen Kommuniqué gestellt haben, dann wird auch der Tag kommen, an dem die
Grenze zwischen der DDR und der BRD den Charakter annimmt wie die
Grenze zwischen der DDR und Volkspolen. Es wird eine Grenze werden, die uns nicht trennt sondern einigt. Diese Worte von mir wurden
als Sensation betrachtet. Franz Josef Strauß sagte zu mir: »Herr Vorsitzender, was soll ich daraus entnehmen?«
Ich habe bestätigt, dass unser Wille darin besteht, die Reisemöglichkeiten zu erweitern, und zwar für alle Bürger der DDR einen Reisepass
auszufertigen, der ihnen die Möglichkeit gibt, in alle Himmelsrichtungen zu reisen. Allerdings wurde das Reisen auch gehemmt durch die
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1987
notwendigen Devisen. Es fuhren mehr Bürger der DDR in die BRD als
Bürger der BRD in die DDR, und unsere Reichsbahn hatte dadurch Devisenausfälle von etwa 100 Millionen Mark. Aber diese Fragen wollten
wir mit der BRD besprechen.“
Überlegungen dieser Art habe ich bei dem Konsistorialassessor, dem
Konsistorialpräsidenten und General-Superintendenten, und später
auch Konsistorialrat und Oberkonsistorialrat von der Evangelischen
Kirche in Deutschland, Herrn Dr. h.c. Manfred Stolpe, nicht gefunden.
Bei ihm klang die Sachlage ganz anders: „Im Interesse der bestehenden
Ordnung hat der damalige Kirchenjurist auch die Einschränkung der
Informations- und Pressefreiheit gerechtfertigt und die Beschneidung
des Rechtes auf Freizügigkeit für menschenrechtskonform erklärt.
»Die Ausreise in kapitalistische Länder ist auf gesetzlicher Grundlage
genehmigungspflichtig. [...] Eine generelle Ausreisegenehmigung für
alle Bürger ist zur Zeit nicht möglich. Sie würde sofort einen subjektiven Abwerbungsmechanismus auslösen, dem infolge von Wohlstandsverblendung doch eine größere Zahl von Menschen erliegen könnte«,
hatte Stolpe seinerzeit gesagt.“
Es ist gewiss sehr ungerecht, in dieser Angelegenheit immer nur auf
Manfred Stolpe herumzuhacken. Der Genosse Egon Krenz vermerkte,
dass das Grenzregime bei den Verhandlungen zwischen BRD und DDR
nie ein Gegenstand der Erörterungen war. Das bestätigte Egon Bahr in
seinem Werk Zu meiner Zeit und begründete das 1996 damit, dass die
Sowjetunion in dieser Frage das Sagen hatte. Auch er ging von einer
faulen Leserin aus. Genscher schrieb ein Jahr zuvor das Gegenteil, und
am 24. Oktober 1996 befand das Karlsruher Bundesverfassungsgericht,
dass der Einfluss der Sowjetunion auf die Ausgestaltung der Grenzsicherungsanlagen in Deutschland „eher gering“ war. Die Reisefreiheit
hing somit nicht an Moskau und nicht an Honecker sondern an Bonn.
Endweder man erkannte jetzt offen die andere Staatsbürgerschaft an
oder man orientierte sich unter Abkehr von Adenauers Masterplan auf
eine Vereinigung um. Beides geschah nicht, mit den bekannten Folgen.
1533
1987
Ab und zu störten Uneingeweihte die gute Harmonie. „Gemeinsam mit
anderen Bürgerrechtlern gründete [Bärbel] Bohley 1986 die »Initiative
für Frieden und Menschenrechte« (IFM), die anders sein wollte als die
zahlreichen kirchlichen Friedenskreise im Land – eine Oppositionsgruppe nach dem Vorbild der tschechischen Charta ’77.
Damals lernte sie die westdeutsche Grünen-Gründerin Petra Kelly kennen und schätzen, die im Unterschied zu anderen West-Politikern
Kontakt nicht nur zu den Mächtigen in der DDR suchte. Regelmäßig
traf sich die Bundesstagsabgeordnete Kelly mit DDR-Oppositionellen,
die sie mit Büchern und Druckmaterialien versorgte, »kofferraumweise«, wie sich das einstige IFM-Mitglied Ralf Hirsch erinnert. Als
Erich Honecker 1987 Bonn besuchte, schenkte die Grünen-Politikerin
dem SED-Boss einen Bildband der DDR-Malerin – ein in den Jahren der
Teilung einmaliger Akt der Solidarität.“ Von Petra Kelly oder dem Gert
Weisskirchen: „In einem Meinungsaustausch mit Rettner kritisierte
Glotz das Einreiseverbot für den Wieslocher SPD-Bundestagsabgeordneten Gert Weisskirchen. Dieser habe sich, so Glotz, die »Betreuung
von Dissidenten in der DDR zur Aufgabe gemacht«. Das werde zwar
»von den führenden SPD-Vertretern keineswegs überbewertet«, aber
es gehe um Prinzipien, deren Einhaltung von vielen Genossen angemahnt würde, die sonst mit Weisskirchen »nichts am Hut« hätten. Die
Kontakte Weiskirchens, aber auch der SPD-Bundestagsabgeordneten
Freimut Duve und Hans Büchler zu DDR-Oppositionellen waren in der
zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein Dauerthema in den einheitssozialistischen Gesprächsrunden. Führende Genossen fanden nichts
dabei, ihre Parteifreunde dafür zu tadeln.“
Ganz so einmalig war das offenbar nicht; zum Zuge kamen die Gegenspieler aber nicht: „Bürgerrechtler waren allemal ein Störfaktor in der
gouvernementalen Nebenaußenpolitik der SPD. Sozialdemokraten, die
den Kontakt zu Oppositionellen suchten, standen in der Kritik ihrer
Parteiführung, weil sie die Beziehungen zur SED belasteten.“ Und auch
den nächsten Kanzleraspiranten wollten die Leute in Halle, Stralsund,
in Dresden, Erfurt und Leipzig dann genauso wenig wählen. „Oskar
Lafontaine [SPD!] sprach sich zwar ebenfalls gegen das Weisskirchen
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1987
[dieselbe SPD!]-Einreiseverbot aus, aber die SED-Akten zitieren ihn mit
der Bemerkung, er halte den Bundestagsabgeordneten für einen »Einzelgänger, der sich mit bestimmten Kontakten in der DDR interessant
machen« wolle. In einer Partei wie der SPD sei es nahezu unmöglich,
alles unter Kontrolle zu bringen, schon gar nicht die Abgeordneten des
Bundestages. Lafontaine fügte zur Beruhigung seiner Partner hinzu:
Auch die Kontakte führender SPD-Politiker zur evangelischen Kirche
bedeuteten nicht, dass die SED nicht weiterhin den Vorzug genieße –
jede andere Vorstellung sei »völlig absurd«.“
„Die damalige SPD-Bundesgeschäftsführerin Anke Fuchs etwa äußerte
gegenüber ZK-Westabteilungschef Rettner laut dessen Bericht im Dezember 1987 »die Sorge, dass auf Grund des pluralistischen Charakters
der SPD die Führung der Partei die Kontrolle über die Kontakte von
SPD-Gliederungen und Mandatsträgern in der DDR verlieren könne . . .
Priorität müssten die Parteibeziehungen haben.«“ Was die kritisierte
gouvernementale Nebenaußenpolitik der bösen SPD angeht, fehlt hier
wiederum der entscheidende Hinweis, dass es gleichlautende Kritiken
auch bereits über die Zeit gab, in der die gute CSU und die mindestens
ebenso gute CDU ein Dutzend Jahre in der Opposition waren.
In den Jahren nach dem Ende der Teilung kamen dann unerfreuliche
Details aus den Unterlagen der Staatssicherheit ans Licht. Wie ließ sich
der schräge Eindruck beheben, der so entstanden war? „Konfrontiert
mit den zitierten Auszügen aus den SED-Berichten, unterstellt Oskar
Lafontaine dem Verfasser [des Spiegel-Artikels], dieser gehe davon aus,
»dass in den Akten der SED die Wahrheit und nichts als die Wahrheit
zu finden ist. Es wäre für einen Zeitgeschichtler hilfreich, bei der Aufarbeitung sich auf westliche Zeitungsberichte zu stützen.«“ Na, das ist
doch ein Wort, Kurt. Wenn ich allerdings die Wahl habe zwischen den
beiden Optionen, weiß ich, worauf ich eher vertraue. Ick schwör.
Ganz ähnliche Ratschläge gab auch schon der so unglaublich populäre
Politologe Baring in seinem Werk Machtwechsel – Die Ära Brandt/Scheel.
Dort hieß es in demselben Ton: „Auch Sitzungsprotokolle werden hier
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1987
die Neugier unbefriedigt lassen; Politiker gehen diskreter miteinander
um, als mancher vermutet. [...] Erstaunlich viel steht übrigens auch in
Zeitungen und Zeitschriften. Immer wieder ist man verblüfft, was alles
in die Öffentlichkeit dringt und irgendwo publiziert wird.“ Genau.
Hören wir die Einschätzung des Briten Ash: „Ob sie es nun auf genau
dieselbe Weise analysierten oder nicht, jedenfalls setzten Bundeskanzler Kohl und sein Team in der Praxis genau diesen politischen Ansatz
fort, mit zunehmender äußerer Anerkennung der DDR, bis hin zum
bemerkenswerten Crescendo des Honecker-Besuchs 1987. [...] Nach
den zur Verfügung stehenden Akten der DDR über diese Begegnungen
– die natürlich mit Vorsicht behandelt werden müssen – waren nur
wenige dieser prominenten westdeutschen Besucher unmittelbar auf
die Frage der Menschenrechte zu sprechen gekommen, wenn auch
viele diskret Listen mit »humanitären Fällen« übergaben. Alle waren
sie respektvoll und höflich. Denn »halfen« sie »den Menschen« nicht
gerade durch diese Höflichkeit, die manchmal schon in Schmeichelei
ausartete? (Mit Sicherheit aber halfen sie ihrem eigenen politischen
»Profil« in der Fernsehdemokratie Bundesrepublik.)“ Fällt Ihnen auf,
dass der Brite 1987 sagt und nicht in 1987? So heißt das auf Deutsch. Die
westdeutsche Variation geht auf die englische Sprache zurück, ist aber
nicht allein deshalb schon richtig. Der Brite weiß es.
Zusammenfassend darf gesagt werden, dass unserem Genossen Erich
Honecker von seinem Großen Bruder in der Bundesrepublik sehr viel
mehr Vertrauen in seine leitende Tätigkeit entgegengebracht wurde
als von den Leuten in der DDR. Seine Karriere war aber auch atemberaubend. Im Jahr 1912 wurde Erich Honecker als ein süßes kleines Kind
in Neunkirchen an der Saar geboren. Er besuchte bis zum vierzehnten
Lebensjahr eine Schule. 1926 begann er als Landarbeiter in Pommern
zu arbeiten. Ab 1928 arbeitete er zunächst als Dachdeckergehilfe und
nahm schließlich eine Dachdeckerlehre in Angriff. 1930 brach er diese
Lehre vorzeitig ab. Zwischenzeitlich besuchte er 1929 eine Bezirksschule des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands. 1930/31
besuchte er auch die internationale Lenin-Schule in Moskau. Vielleicht
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gab es die Kurse dort noch nicht einmal auf Deutsch. Und 1931 wurde
er Politischer Leiter von irgendwas. Ja, liebe Kinder, nun kennt Ihr den
Grund, warum Eure Eltern wollen, dass Ihr was lernt. Nach dem Krieg
blieben dem Mann zweieinhalb Jahrzehnte zum Besuch von Schulen.
Er hat diese Frist bedauerlicherweise ungenutzt verstreichen lassen.
Ein bisschen realitätsfern war er ja obendrein. Nach seiner Abdankung
fragte dann ein Journalist: „Aber wer nicht wählen ging, hatte unter
Umständen Nachteile, oder?“ Darauf meinte er: „Meines Erachtens ist
das ein übles Gerücht. Das entsprach weder der Linie unserer Parteiund Staatsführung noch der der Nationalen Front. Wir waren wirklich
interessiert, dass in Vorbereitung der Wahlen mit jedem gesprochen
wurde. Wenn einer nicht zur Wahl gehen wollte, brauchte er keinen
Nachteil daraus zu haben. Ich kann mir das nicht vorstellen. Im Gegenteil, wir waren ja wirklich daran interessiert, die Meinung des Volkes
kennenzulernen.“
Eine Frage in jenem Interview, das Erich Honecker den Journalisten
Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg 1990 gewährte, bezog sich
auf seinen Besuch in Bonn: „Nach Ihrem BRD-Besuch war Ihr Ansehen
sehr hoch. Warum sind Sie damals nicht zurückgetreten?“ Darauf er:
„Aus dem Abstand heraus kann man heute wohl zur Schlussfolgerung
kommen, dass der damalige Zeitpunkt richtig gewesen wäre, zurückzutreten. Aber ich glaube andererseits, dass das damals nicht richtig
verstanden worden wäre; ich fühlte mich sowohl körperlich als auch
geistig noch so in Form, um nicht nur im Innern des Landes, sondern
auch durch meine Besuche in Frankreich und Italien auch außenpolitische Schwerpunkte zu setzen. Im Nachhinein zeigt sich, dass das nicht
richtig war, aber es ging nicht darum, im Triumph aus der Funktion zu
scheiden, sondern es ging für mich darum, so lange wie möglich einen
Beitrag zur Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik zu leisten und damit ihres internationalen Ansehens. Karrieregründe waren
für mich nie die Ursachen für mein Handeln. Die Ursache für mein
Handeln war die eines Kommunisten, der entsprechend seinem Parteiauftrag bestrebt war, seine Aufgaben zu erfüllen.“
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Am Ende probierte es einer dieser Journalisten noch einmal: „In Ihrer
Biographie steht: »Ich kann mich an keinen Augenblick in meinem
Leben erinnern, dass ich an unserer Sache gezweifelt hätte.«“ Er kam
so zu der absolut ausgezeichneten Frage: „Gab es Augenblicke, wo Sie
gezweifelt haben, etwa, dass Sie Ihren Aufgaben nicht gewachsen sein
könnten?“ Darauf antwortete der Genosse Honecker: „Wenn es bei mir
Zweifel gegeben hätte, dann wäre ich zurückgetreten.“
Wo Genosse Honecker aber Recht hatte, da hatte er Recht: „Westliche
Unternehmen handelten nicht nur gern mit uns, sondern legten auch
ihr Kapital an, in manchen Jahren mehr als eine Milliarde, indem sie
gegen langfristige Kredite Anlagen verkauften und auf dem Boden der
DDR errichteten. Offenbar hatten sie damals Vertrauen in den Rückfluss des Geldes trotz oder wegen der Planwirtschaft. Die DDR ist auch
stets ihren Verpflichtungen nachgekommen. Sie war auf dem internationalen Markt kreditwürdig.“
Als hätte er die Qualität derjenigen Waren nicht gekannt, die letztlich
nicht exportfähig waren, schrieb er später in seinen Moabiter Notizen:
„Das Gefasel von Kohl und Waigel und der Achtgroschenjungen in diversen Medien über die »marode« Wirtschaft der DDR wird wohl auch
widerlegt durch die Tatsache, dass die DDR einen jährlichen Handelsumsatz mit der BRD von 15 Milliarden DM hatte.“ Damit meinte er das,
was die Medien seit seiner Abdankung den Leuten erzählen.
Diese Diskrepanz in der medialen Darstellung der DDR ist 1989 auch
seinem westdeutschen Pendant nicht entgangen: „In diesen Tagen, so
Helmut Kohl rückblickend, habe er sich mitunter geradezu die Augen
reiben müssen, wenn er gelesen habe, wer in den westdeutschen Medien so alles plötzlich entdeckte, dass in der DDR doch nicht alles zum
Besten stand: »Viele waren darunter, die sich noch kurz zuvor nicht
gescheut hatten, Honecker als eine Art guten Onkel von nebenan darzustellen. Wer es zuvor dagegen gewagt hatte, über Menschenrechtsverletzungen in der DDR zu sprechen oder gegen Mauer und Stacheldraht zu protestieren, der war von denselben Leuten als kalter Krieger
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beschimpft worden. Plötzlich hatten sie alle es schon immer gewusst,
dass in Ost-Berlin Alt-Stalinisten an den Schalthebeln der Macht saßen, die von Reformen nichts wissen wollten.
Wenn man da an manchen Abenden Fernsehen schaute, konnte man
das kalte Grausen bekommen: [...] «“ Das waren freilich gewagte Worte
von einem der Hauptakteure. Und die hiesigen Medien haben ja auch
zwei Jahrzehnten später noch Schwierigkeiten, ein vernünftiges Maß
bei einer realistischen Darstellung des Lebens in der DDR zu finden.
Das beschriebene Phänomen war letztlich auch der Auslöser meiner
aufwendigen geschichtlichen Recherchen. In meinen zwei Jahren in
Kassel war ich höchst erstaunt, dass ich dort mit meiner Freude über
die Vereinigung von den meisten meiner Gesprächspartner äußerst
skeptisch beäugt worden war. Nachdem ich mit meinem Freund nach
Berlin umgezogen war, ging ich schnurstracks in den Zeitungslesesaal
der Humboldt-Universität und sah mir die Mikrofilme der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung – Zeitung für Deutschland vom September bis zum
Dezember 1989 an. Dort ging es mir dann auch wie Kohl. Ich habe mir
ebenfalls geradezu die Augen reiben müssen über den Herrn Bundeskanzler vor und nach dem 9. November 1989. Und Herr Kohl war auch
beileibe nicht der Einzige, der seltsam agierte.
Der Brite Ash merkte an: „Auch bei den politischen Beziehungen war
die reine Anzahl von Besuchen und Austausch einzigartig. Das galt
nicht nur für Minister, Diplomaten und andere Beamte, sondern auch
für bedeutende und unbedeutendere Vertreter aller großen politischen Parteien auf Länder- wie Bundesebene. Und es herrschte nicht
nur eine außergewöhnliche Intensität an Kontakten, sondern auch
eine bemerkenswerte Kontinuität auf deutscher Seite. Bei fast allen
politischen Ost-West-Kontakten wechselten ständig die westlichen
Partner. Im Fall der Bundesrepublik war es jedoch fast schon umgekehrt. Osteuropäische Außenminister kamen und gingen, doch der
Außenminister der Bundesrepublik blieb. Dieselben Politiker, Beamten
und Kommentatoren verfolgten dasselbe Geschäft jahrein, jahraus.“ Ja,
natürlich – wie will man sonst eine Verschwörung bewerkstelligen?
1539
1987
Der fleißige Historiker konstatierte auch: „Der einzige Aspekt, unter
dem dieses politische Netzwerk – verglichen mit dem britischen oder
amerikanischen – immer schwach blieb, betraf die Kontakte mit unabhängigen und oppositionellen politischen Gruppen.“ Wen wundert’s?
Der galaktische Alexander Schalck-Golodkowski notierte über Helmut
Kohls Statthalter in der Mark Brandenburg: „Honeckers bevorzugte
Betätigungsfelder waren die Gesellschafts- und Außenpolitik und die
großen Personalfragen. In der Wirtschaftspolitik, von der er nicht viel
verstand, verließ er sich weitgehend auf Günter Mittag, doch bei ihm
wichtigen Angelegenheiten fällte der Generalsekretär sehr wohl auch
in diesem Feld selbst Entscheidungen. Ein leidiges Beispiel dafür ist die
Preispolitik.“
Günter Mittag war von 1953 bis in das Jahr 1961 Abteilungsleiter im
Zentalkomitee der SED. 1956 begann er ein Fernstudium an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden und schloss dieses Studium als
Diplom-Wirtschaftler ab. Schon 1958 erfolgte seine Promotion zum Dr.
rer. oec. mit einer Dissertation über Probleme der sozialistischen Entwicklung des Verkehrswesens. (Sie erinnern sich ja vielleicht noch an
das Verkehrswesen vor zwanzig Jahren?) Mir ist nur nicht absolut klar
geworden, wie er in zwei Jahren das Grund- und das Aufbaustudium
absolviert hat und zugleich (?) an der Doktorarbeit schrieb. Von 1958
bis 1961 war er Sekretär der Wirtschaftskommission beim Politbüro
des ZK der SED. In dieser Position nahm Günter Mittag bereits großen
Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der SED. So steht das im Internet.
Weniger kritisch als von den Ökonomen in der DDR wurde Mittag von
Kanzler Kohl gesehen: „Ich habe mich heute vorbereitet gehabt auf das
Gespräch mit Herrn Mittag. [...] Ich habe bis zum Ende Juli Parlament
und muss in den Tagen hier sein, weil wir einen Haufen Probleme hier
haben im Parlament, die ich selber lösen muss. Aber mein Interesse ist
eben, dass ich Ihren Beauftragten noch einmal in Ruhe sprechen kann.
Ich habe hin und her überlegt.
1540
1987
Wenn ich heute das Gespräch führe mit Herrn Mittag, ist es in einer
Weise vorbelastet, dass es keine gute Sache ist. [...] Aber heute im Konkreten ist ja das Problem, dass Herr Mittag da ist. Sie merken daran,
dass ich Sie anrufe, dass mir nicht daran liegt, dass aus dieser Sache
ein bleibender Schaden entsteht. Ich sehe mich natürlich außerstande
in dieser Lage, heute den Herrn Mittag zu empfangen. Es gibt eine
ganz ungute Situation. [...] Mein Vorschlag ist, dass der Herr Mittag –
ich habe ja öffentlich nie etwas dazu gesagt, ob der Termin stattfindet.
Alles, was in den Zeitungen steht, sind Spekulationen. Mein Vorschlag
ist, dass der Herr Mittag sein Programm hier abwickelt, so wie es vorgesehen ist.
Er hat jetzt gerade mit den Fraktionsvorsitzenden des Bundestages gesprochen und hat heute Mittag wieder den Grafen Lambsdorff – dass
sie den Besuch einfach durchführen ohne den Besuch bei mir.
Eine weitere Idee ist, und da läge mir schon dran, dass wir in einigen
Wochen – mir ist es am liebsten, der Herr Mittag ist es, aber es ist ja
dann Ihre Sache, eine erneute Gelegenheit zu einem Termin hier finden, dass Ihr Beauftragter bei mir vorbeikommt.“
Auch Alex Schalcks einschlägige Einschätzung eines der Vorsitzenden
des Ministerrates der DDR, was in Bonn dem Kanzler entsprach, fällt
vernichtend aus: „[Horst] Sindermann hatte zu Zahlen kein Verhältnis
und sorgte dafür, dass der Import von Jeans durch das Politbüro beschlossen wurde. Tatsächlich verbesserte sich in der ersten Hälfte der
siebziger Jahre die Stimmung in der Bevölkerung merklich.“ Aber über
sich selbst hatte Schalck-Golodkowski ja auch gesagt: „Das Manko, kein
Abitur zu haben, konnte ich rasch ausbügeln.“ Jemand mit dieser Sicht
auf seine Bildung hat bei mir die achte Klasse nicht überstanden. Dann
gab ich ihm die Möglichkeit, sich eine neue Schule zu suchen.
Dazu passt dann wie eine Faust auf’s Auge dieser charmante Wink mit
einer Klammer in der FAZ – Dahinter steckt immer ein schlauer Kopf: „Und
als die DDR finanziell und wirtschaftlich in Not geriet, suchte (und
fand) sie Hilfe nicht bei den Klassenbrüdern im Osten, sondern bei den
Stammesbrüdern im Westen.“
1541
1987
Wenn Sie bei Gelegenheit Zeit übrig haben, schauen Sie doch mal nach,
wie viele Absolventen die Universitäten und Hochschulen der DDR seit
1949 hatten. Und da konnte man wirklich niemanden finden, der die
DDR besser gelenkt und geleitet hätte als diese Leute? Aber weil unsere
DDR, wie wir alle wissen, ganz bestimmt keine Diktatur war, sind an
der jetzigen Situation die DDR-Bürger schuld. Nicht Bonn. Bonn nicht.
Aber es gab logischerweise Menschen in dieser DDR, die in führender
Stellung an den Zuständen verzweifelt sind. Der Gerechtigkeit halber
soll auch Hans Modrow, der ehemalige SED-Chef von Dresden, in einer
Wiedergabe von Karl-Heinz Arnold hier zu Wort kommen: „Einerseits
waren die von dem Puritaner Walter Ulbricht geprägten fünfziger,
sechziger Jahre ja keine Zeit des moralischen Verfalls einer Führungsschicht, aus jener Zeit habe ich meine Vorbilder, meine Ideale, soweit
sie nicht literarischen Ursprungs sind. Andererseits hat Ulbricht, wie
eigenständig er auch immer sein wollte, sein konnte, den Stalinismus
auf die DDR übertragen oder die Übertragung solcher Strukturen zugelassen, vielleicht zulassen müssen.
Später, in den achtziger Jahren, als dies immer mehr in einen eigenständigen Byzantinismus ausartete, von immer mehr Menschen als
ekelhaft empfunden, blieben viele Genossen bei der Stange, weil ihnen
gesagt wurde: Gegen den Klassenfeind müssen wir zusammenhalten!
Führte das nicht hin zu jenem höchst bedenklichen Wort der Briten
»Recht oder Unrecht – mein Land«? Und stand der Feind, der die DDR
am meisten bedrohte, nicht im eigenen Land? Hat vielleicht jene korrupte Führung die Chance, die dem Sozialismus auf deutschem Boden
gegeben war, aus Unfähigkeit verspielt? Oder war er im 20. Jahrhundert nicht machbar? Fragen über Fragen.
Oh, ich weiß schon, was viele angeekelt hat, was sie loswerden, nicht
mehr sehen und hören wollten und nun zum Glück nicht mehr zu ertragen brauchen: Jene Aufmärsche und Akklamationsveranstaltungen,
die schon penetrant an die Nazizeit erinnerten und immer schlimmer,
immer verlogener wurden. Aufmarschierte junge Leute heuchelten Begeisterung, die von den Greisen auf der Tribüne geglaubt wurde.
1542
1987
Die aufmarschierte Menge quatschte, während ein Politbüromitglied
die ewiggleichen Versatzstücke, leere Worthülsen in ein Mikrofon las.
Habe ich da nicht auch mitgemacht? fragt sich Modrow. Ich habe, und
manchmal siegte das Ritual über das Nachdenken, ganz abgesehen davon, dass Massenveranstaltungen mit professioneller Regie ihr Eigenleben bekommen, psychotische Wirkungen erzeugen, das gab es schon
einmal in Deutschland, und das gibt es mit anderen Vorzeichen beim
Wahlrummel in den USA ebenso wie bei Rockkonzerten.
Ein weites Feld. Irgendwann aber musste es in der DDR losgehen, irgendwann konnten es einige nicht mehr ertragen und fassten sich ein
Herz, trugen die »falschen« Plakate – und wurden verhaftet.“
Einen Monat nach dem großen Staatsbesuch äußerte Oskar Lafontaine
im Oktober 1987: „Unter Berücksichtigung der grundlegenden Interessen der DDR, bei absoluter Anerkennung der Zweistaatlichkeit, halte er
es für notwendig, zu prüfen, welche Schritte in der Perspektive möglich sind. In der BRD sei es inzwischen allgemeiner Konsens, dass die
Zweistaatlichkeit eine Realität ist, an der niemand vorbei kann.“ Oskar
Lafontaine probierte es dann ernstlich, 1990 Kanzler zu werden. Aber
vielleicht hatten sie ja keinen anderen bei der Hand.
Und der nächste Kanzleraspirant war Rudolf Scharping (damals SPD,
heute Bund Deutscher Radfahrer). Er trat dann überraschenderweise
im Herbst 1987 einmal für etwas vollkommen Innovatives ein – für die
Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und die Abschaffung der
Erfassungsstelle in Salzgitter. Ich habe nie verstanden, warum sich die
BundesbürgerInnen immer gewundert haben, dass man bei der ersten
freien Wahl in der DDR von keinem der Jungs aus dieser SPD ein Stück
Brot haben wollte. „Nach dem Bonn-Besuch traf sich Honecker bis zu
seiner akuten Gallenerkrankung im Juli 1989 noch mit 24 führenden
BRD-Politikern.“ Der Genosse Honecker nutzte diese Gespräche sicher
ausgiebig, um all diese Politiker auf der Basis der wissenschaftlichen
Weltanschauuung fachlich zu beraten. Sie wissen ja, mich hat es schon
immer mal interessiert, wie viele von unseren Wirtschaftslenkern den
Dr. Karl Marx tatsächlich irgendwann einmal gelesen haben.
1543
1987
Ein weiteres Jahr geht zu Ende
Willy Brandt, der erneut der Alterspräsident des Bundestages wurde,
sagte am 19. November des Jahres 1987: „In der Welt östlich von uns
hat ein wahrhaft erregender Prozess der Reformen begonnen, die teilweise umwälzenden Charakters sind. Wenn die Kraft reicht, neues
Denken in der Sowjetunion durchzusetzen, könnten sich geschichtlich
neue Perspektiven ergeben. Was man dazu von außen tun kann, was in
unserem Volke viele erwarten, verlangt ein seriöses Erproben des politischen Gegenübers.“
In der guten alten DDR gab es ja ganz gruselige Witze über eine Staatsführung, die man durchaus gar nicht mehr losbekam. Einer von ihnen
wurde gleich mehrfach von der Realität bestätigt: „Was hat Honecker
mit einem Blindgänger gemeinsam? Niemand traut sich an ihn ran,
und von selbst krepiert er nicht.“ Im Dezember 1987 unternahm dann
der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, seinen offenbar letzten
Versuch, den Genossen Michail Sergejewitsch Gorbatschow in Moskau
zu bitten, etwas zu unternehmen, um Genossen Honecker endlich von
seiner Verantwortung für alle diese vielen Menschen, die ihn in jeder
Hinsicht heillos überforderte, zu entbinden. Sie dürfen jetzt aber nicht
fragen, warum die Ost-Berliner den Saarländer nicht selbst absetzten.
Wenn Er trotz der offensichtlichen Unfähigkeit die uneingeschränkte
Unterstützung durch den Großen Bruder in Bonn genoss, konnte man
weder in Moskau noch in Ost-Berlin sonderlich viel gegen den Helden
der sozialistischen Arbeit unternehmen.
Da auch der Chef der Supermacht in Moskau nicht bereit war, Farbe zu
bekennen und irgend etwas zu unternehmen, standen die Ost-Berliner
im Regen. Genosse Erich Mielke hatte ja schon 1984 und 1986 erfolglos
versucht, Gorbatschow zu einem gezielten Fangschuss zu überreden.
Der Supermächtige vertrat in jenem Gespräch im Dezember 1987 vermutlich erneut die Auffassung, seine Kollegen in Ost-Berlin sollten das
wie erwachsene Menschen lösen. Doch nicht nur Erich Mielke war am
Ende dieses Jahres bei Gorbatschow.
1544
1987
Die Tage zwischen den Jahren nutzte der bayerische Ministerpräsident
Franz Josef Strauß für einen halsbrecherischen Ausflug nach Moskau:
„Vom 28. bis 31. Dezember 1987 war ich, begleitet von Theodor Waigel,
Gerold Tandler, Edmund Stoiber und Wilfried Scharnagl, in Moskau.
Die Reise erregte nicht nur deshalb Aufsehen, weil ich selbst am Steuer
unserer Maschine saß und auf dem Moskauer Flughafen bei Nacht und
Nebel, bei Schnee und vereister Landebahn eine der schwierigsten
Landungen meiner Pilotenlaufbahn zu meistern hatte. Eine mehr als
zweieinhalbstündige Unterredung mit Michail Gorbatschow stand im
Mittelpunkt meines Besuches, und dieses Gespräch vor allem war es,
das im In- und Ausland größte Aufmerksamkeit fand.“
Von Timothy Garton Ash wurde das so kommentiert: „Als Franz Josef
Strauß 1987 nach Moskau fuhr, erklärte er: »Mars hat abzutreten und
Merkur auf die Bühne zu treten.« [...] Und schließlich ist Merkur, der
Gott des Handels, ein friedlicher Gott. Wer wollte ihn nicht dem
Kriegsgott Mars vorziehen?“ Mein Gott, ja. Niemand wollte hier einen
Krieg. Schon gar keinen Krieg mit Kernwaffen. Aber während sich der
amerikanische Präsident Reagan und die britische Premierministerin
Thatcher abmühten, das Reich des Bösen auf den Aschehaufen der Geschichte zu befördern, hat die Weltmacht Bonn die Sowjetunion durch
den Handel und durch Kredite tatkräftig unterstützt. Ashs Historikerkollege Norman Stone war da wohl näher an des Pudels Kern, als er in
seinem Essay über Außenminister Gromyko meinte, „der Handel und
die finanziellen Hilfen des Westens, wohlmeinende Diplomaten und
unsere Ostpolitik hätten die Sowjetunion stabilisiert und aufgewertet.
»Man könnte sogar darüber nachdenken«, schreibt er, »ob die [westdeutsche] Ostpolitik die Krise des Kommunismus nicht zwei Jahrzehnte
hinausgeschoben hat.«“
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