Der zweite Streich - Deutschland 1933 – 1990
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Der zweite Streich - Deutschland 1933 – 1990
1987 Der zweite Streich Im Januar 1987 fand in der Westfalenhalle zu Dortmund ein Deutschlandtreffen der CDU statt. Bundeskanzler Kohl, verkündete bei der Gelegenheit, dass in der DDR „über 2000 unserer Landsleute als politische Gefangene in Gefängnissen und Konzentrationslagern“ festgehalten worden seien. Diese Äußerung hat mehrere Anteile, die auch einzeln betrachtet werden sollten. Ja, es gab politische Gefangene in der DDR. Und mein Vater ist nur ein Beispiel dafür gewesen, dass Schergen der Staatsmacht Leuten auch außerhalb der Gefängnisse grausig zugesetzt haben. Andererseits hatte dieser Umstand schon Dr. Konrad Adenauer nicht zu einer Außenpolitik gebracht, die zur Vaporisierung der DDR zusammen mit ihren Gefängnissen geführt hätte, und Dr. Helmut Kohl brachte dieser Umstand vor Gorbatschows Amtsantritt auch nicht zu einem solchen Ton im Umgang mit seinem Freund und Genossen Erich Honecker. Vor Gorbatschow war es Dr. Kohl auch noch gleichgültig, ob oder wie ein Bundesbürger in der DDR totgeschlagen worden war. Daneben landete Herr Kohl natürlich einen Volltreffer mit dem Begriff der Konzentrationslager. Dass solche Pläne Ende der achtziger Jahre tatsächlich aufkamen, konnte Dr. Kohl Anfang 1987 wohl kaum ahnen. Aber im Januar 1987 war das binnen eines Vierteljahres nach dem Vergleich von Gorbatschow mit Dr. Goebbels nun schon die zweite international wahrgenommene Entgleisung des Kanzlers, die man bei viel gutem Willen für eine weitere Dummheit halten könnte, wenn dieser nicht im Sommer noch eine dritte gefolgt wäre, die die Welt erneut an die offene Wunde der Nazizeit erinnerte. Würde über die Bonner Demokratie nicht immer in der Terminologie des Theaters gesprochen, dann könnte ich die Medienkampagne, die sich daran anschloss, etwas ernster nehmen. Dann könnte man ja auch denken, die anderen Bonner Kulissenschieber hätten Kohls Äußerung vielleicht entschärfen wollen. Aber das hatte ganz gewiss keiner vor. Es meldeten sich vor allem diejenigen zu Wort, die es nicht einmal mit guten Worten auf die Vereinigung unseres Landes abgesehen hatten. 1492 1987 Offenbar sollten all diese vernünftigen Stimmen gerade herausarbeiten, wie weit der Bundeskanzler hier neben der Schiene stand. So wurde die noch frische Wirkung des Vergleiches von Gorbatschow mit dem Propagandaminister der Nazis nur noch gefestigt und ein Abbau der Spannungen in Europa auch weiterhin verhindert. Aber Sie können die Wirkung auch anders interpretieren. Wie Sie mögen. Die Akteure von damals jedenfalls haben nach dem Crash ihres Coups in den neunziger Jahren ihre Aktivitäten fleißig uminterpretiert. In einer Rezension über Dr. Helmut Kohls Werk Ich wollte Deutschlands Einheit, Hans-Dietrich Genschers Erinnerungen, Wolfgang Schäubles Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte und Egon Bahrs Zu meiner Zeit schrieb Gunter Hofmann: „Helmut Kohls Geschichte beginnt mit der Berufung auf den Lieblingsphilosophen, den der Kanzler wohl oder übel mit Helmut Schmidt teilt, Karl Raimund Popper: Geschichte sei nicht Schicksal, sondern machbar. Und sie setzt ein mit den wehenden schwarzrotgoldenen Fahnen in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 in Berlin. Hans-Dietrich Genschers Geschichte beginnt mit der Szene auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag [Der Autor meinte natürlich die BRD-Botschaft.], mit dem 30. September 1989, jenem Tag, der ihn »mehr bewegt hat als alles im Leben«, und mit der Mitteilung an die Flüchtlinge aus der DDR, sie könnten ausreisen. Wolfgang Schäubles Geschichte beginnt im Kronprinzenpalais mit der Unterzeichnung des Vereinigungvertrages vom 31. August 1990 – nein, genaugenommen beginnt sie einen Monat später, als er in Oppenau Opfer eines geistesgetörten Attentäters wurde. Seitdem ist er an den Rollstuhl gefesselt. Kohl, Genscher, Schäuble: Buchautoren, die sich an die Wiedervereinigung erinnern. Alle drei sagen sie, ein Traum habe sich damit erfüllt. Alle drei machen Ansprüche an seiner Verwirklichung geltend. Alle drei sagen »ich« auf ganz unterschiedliche Weise. Ich! ich! Ich! Ein vierter, obwohl mit starkem Ego gewappnet, stellt keine Ansprüche: Egon Bahr. Seine Geschichte beginnt mit dem Besuch seines ostdeutschen Geburtsortes, Treffurt an der Werra. Hermann Axen hatte ihm 1983 diese Visite »geschenkt«. [...] 1493 1987 Während sich bei Kohl die Politik 1989/90 ableitet aus Adenauers Zeiten, ganz linear, ohne Brüche, blickt Genscher unverkrampft zurück. Adenauer, schreibt er, habe »nicht sonderlich darunter gelitten«, Westbindung und ein Ende der Teilung nicht zugleich erreichen zu können. Er erinnert an die festgefahrene CDU-Politik. Kohl steht weit darüber. [...] Für Genscher ist die Politik, die in die Einheit mündet, in den wahren Traum also, ein langer Prozess. Und für Kohl? Ein kurzes Ereignis. Unverhofft, unvermittelt, unpräpariert. Genscher spinnt sich erst recht in einen ostwesteuropäischen Kokon ein. Kohl schafft die Welt gemeinsam mit Michail Gorbatschow ab sofort neu. Er sieht jetzt nur noch seine Ostpolitik. Immer wollte er »echte« Entspannung, die anderen nicht.“ Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich von Dr. Kohl mal was mit Entspannung gehört hätte. Da ging es immer nur um möglichst viele Raketen zum Schutz vor dem Russen. Aber das Changieren zwischen Spannung und Entspannung mit einem leichten Hang zur Spannung blickte da bereits auf eine lange Tradition zurück. Es ist ja auch nicht sorgfältig beobachtet, wenn es mit dem Verweis auf seine Kritik an Adenauer hier heißt, Genscher blicke unverkrampft zurück. Die Politik der eigenen F.D.P. bog er in einer äußerst bemühten Manier so zurecht, dass ausgerechnet die Partei, die in den sechziger Jahren den Vorreiter für die Anerkennung der D.D.R. machte, als Verfechterin des Zieles einer dereinstigen Vereinigung aufleuchten sollte. Erinnern Sie sich, wie Konrad Adenauer 1949 den Weg zur Vereinigung vorgezeichnet hat? „Wenn ich vom Frieden in der Welt und in Europa spreche, dann, meine Damen und Herren, muss ich auf die Teilung Deutschlands zurückkommen. Die Teilung Deutschlands wird eines Tages – das ist unsere feste Überzeugung – wieder verschwinden. Ich fürchte, dass, wenn sie nicht verschwindet, in Europa keine Ruhe eintreten wird. Diese Teilung Deutschlands ist durch Spannungen herbeigeführt worden, die zwischen den Siegermächten entstanden sind. Auch diese Spannungen werden vorübergehen. Wir hoffen, dass dann der Wiedervereinigung mit unseren Brüdern und Schwestern in der Ostzone und in Berlin nichts mehr im Wege steht.“ Aber zurück zum 1987er Streich mit den Gefängnissen und Konzentrationslagern. 1494 1987 Der ja einschlägig bekannte nordrheinwestfälische Ministerpräsident Johannes Rau ließ zum Beispiel von sich hören: „Wer zwischen beiden deutschen Staaten bei ihren unterschiedlichen Systemen Zusammenarbeit will, darf nicht so reden wie dieser Bundeskanzler.“ Unser Neues Deutschland aus Ost-Berlin war auch erfreut über die Schützenhilfe der Saarbrücker Zeitung: „Über die Sprache des Bundeskanzlers könne man im Allgemeinen ja durchaus geteilter Meinung sein, schreibt die SZ unter der Überschrift »Ein schlimmer Missgriff«. Bisweilen wähle Kohl im Besonderen jedoch Worte, die geteilte Meinungen nicht mehr zuließen. Jedenfalls nicht unter Bürgern, die sich das vom Kanzler selbst oft so beschworene historische Bewusstsein bewahrt hätten. Seine Dortmunder Formulierung, dass in der DDR Menschen in »Konzentrationslagern« festgehalten würden, sei ein solches Wort.“ Der Sender RIAS Berlin strahlte damals den folgenden Kommentar aus: „Schon der Vergleich zwischen dem sowjetischen KP-Generalsekretär Gorbatschow und dem Nazipropagandisten Goebbels sei »unsinnig und völlig unnötig gewesen«. Die ebenfalls im Wahlkampf mehrmals getroffene Feststellung, bei der DDR handle es sich um ein menschenfeindliches System, mag noch bei einem Teil der CDU-Wähler angekommen sein. Doch der Regierung des zweiten deutschen Staates nunmehr noch vorzuwerfen, sie halte über 2000 Bürger als politische Gefangene in Gefängnissen und Konzentrationslagern, ist einfach falsch. Die Folgen solcher Äußerungen auf die Ostpolitik und damit auf ein Hauptziel dieser Politik, menschliche Erleichterungen im geteilten Deutschland zu schaffen, könnten fatal sein. Wahlkampf hin oder her, von Konzentrationslagern in der DDR zu sprechen, ist nicht nur ein unerträglicher Vergleich, es ist auch eine Beleidigung des Staatsratsvorsitzenden der DDR. [...] Kohl scheint im Wahlkampf alle Maßstäbe verloren zu haben, wobei System dahinter vermutet werden darf, denn auch die CSU spricht der Abkehr von einer Entspannungspolitik im Wahlkampf das Wort.“ 1495 1987 Die Welt dreht sich weiter Bei der nun folgenden Bundestagswahl am 25. Januar 1987 haben die Leute trotz der schlechten Presse für das Trottelchen Birne wegen der ständigen „Ungeschicklichkeiten“ schon wieder denselben Dr. Helmut Kohl (CDU) zu ihrem Kanzler gekürt. Außenminister blieb der absolut unersetzliche Anhaltiner Hans-Dietrich Genscher (FDP). Jetzt wurde es jedoch zeitlich eng. Weder jenes von der „Birne“ zertöpperte Geschirr noch die Ost-Berliner Schützenhilfe für die SPD im Wahlkampf hatte die Leute dazu bewegen können, die Partei zu wählen, die nach dem politischen Rollentausch nun für die Anerkennung der DDR und ihrer Staatsangehörigkeit zuständig war. Man konnte nur wegen der KohlBegeisterung einer demokratischen Mehrheit aber auch nicht erneut die Rollen tauschen. Es war schon schwer genug zu vermitteln, warum ein halbes Jahr nach dem Wahlsieg der erzkonservativen CDU und der noch schlimmeren CSU Unser Genosse Honecker 1987 mit einer Interflugmaschine nach Bonn und München kommen durfte. Die Situation war folglich kompliziert. Der neuerliche Kalte Krieg trieb den Staatshaushalt der BRD mit jedem neuen Jahr tiefer ins Minus, und zugleich wurde auch die finanzielle Lage Unserer DDR immer prekärer. Trotz alledem wurde der Neubau der Ständigen Vertretung der BRD in Pankow weiter vorangetrieben. Schon 1988 war Halbzeit am Bau des Frankfurter Architekten Mäckler. Die nächste reale Chance für eine Änderung des feinen Grundgesetzes und die Umwandlung der neuen Ständigen Vertretung in eine Botschaft bot sich jedoch erst nach der Bundestagswahl 1991. Ja, 1991. Dr. Helmut Kohl hat sie erst später um Monate vorgezogen. Einstweilen warb nun also die SPD weiter um die Zustimmung des Publikums, und inzwischen musste sich der alte und neue CDU-Bundeskanzler weiter dem Aufbau des Sozialismus widmen. In seiner Regierungserklärung vom 18. März 1987 sagte er dann sehr plötzlich und unerwartet: „Die Bundesrepublik strebt nach aktiver und weltweiter Friedenspolitik und setzt sich für ein gutes Klima in den Beziehungen mit der DDR ein.“ Für ein prima Klima. 1496 1987 Als hätte es eine Verstimmung im Verhältnis mit der DDR nie gegeben, oder besser, nachdem die Verstimmung so einigermaßen ihren Zweck erfüllt hatte, ging alles weiter wie seit ein paar Jahrzehnten. Im März des Jahres sprach Unser Wirtschaftsexperte Günter Mittag (SED) bei der Leipziger Frühjahrsmesse sowie der Hannover-Messe „mit führenden Politikern und Vertretern der Wirtschaft“ aus der Bundesrepublik und war anschließend in deren Hauptstadt „Bonn, wo er auch von Bundeskanzler Helmut Kohl empfangen wurde“. „Von großer Bedeutung waren ebenso die Begegnungen des Genossen Erich Honecker mit den Ministerpräsidenten weiterer BRD-Länder, so von Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel, von Baden-Württemberg, Lothar Späth, von Bayern, Franz Josef Strauß, und von Hamburg, Klaus von Dohnanyi. In ihnen kam übereinstimmend zum Ausdruck, dass die weitere Vertiefung der Beziehungen zwischen ihren Bundesländern und der DDR im Interesse von guter Nachbarschaft und Entspannung in Europa liege und deshalb beiderseits gefördert wird.“ Genosse Björn Engholm (SPD) sagte am 6. April 1987 im Gespräch mit Hermann Axen (SED): „Beide deutsche Staaten haben aus der Geschichte heraus eine unteilbare Verantwortung für den Frieden.“ Er sprach sich für „eine grundlegende Wende in den Beziehungen“ aus und wollte sich „mit allem Nachdruck für die Respektierung der Staatsbürgerschaft der DDR“ einsetzen. Gut. Und die Wirtschaft? „Der Wunsch nach Embargoware war auch Gegenstand eines Gesprächs, das der Ost-Berliner KokoManager Gerhard Gollin am 3. Juni 1987 mit Hernfried Fülling, damals Generalbevollmächtigter des Siemens-Konzerns und Direktor für Kommunikations- und Datentechnik führte. [...] So erfolge »kein Schritt in Richtung Ostblock ohne detaillierte Abstimmung« mit Bonn. Aber Fülling hatte einen Tipp: »Falls leitende Herren der DDR mit Regierungsmitgliedern der BRD oder dem bayerischen Ministerpräsidenten zusammentreffen, sollten sie unbedingt auf ein höheres Niveau der bisher gelieferten Datentechnik drängen.«“ Auch an dieser Stelle deckt sich die außenpolitische Linie der BRD nicht entfernt mit den Vorstellungen im Westen, wo man den Kommunismus gerne auf den Aschehaufen der Geschichte befördern wollte. 1497 1987 Meister der Hinhaltetaktik Der Historiker Heinrich August Winkler hatte über den ersten Kanzler Dr. Konrad Adenauer festgehalten: „Die Wiederherstellung der deutschen Einheit war bislang kein Nahziel des Bundeskanzlers gewesen. Doch er war fest davon überzeugt, dass die Wiedervereinigung eines Tages Wirklichkeit werden würde, wenn der Westen der Sowjetunion gegenüber die nötige Festigkeit und Geschlossenheit bewies. Das Deutschland, das ihm vor Augen stand, war aber kein ungebundener Nationalstaat, der eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West treiben konnte. Ein solches Deutschland wünschte er nicht. [...] Er dachte in langen Zeiträumen und war durch Rückschläge nicht von der Überzeugung abzubringen, dass die Geschichte ihm Recht geben würde.“ Zu dieser Strategie kann jeder stehen, wie er will; das wäre ja auch alles halb so wild, hätte man das nach 1990 zugegeben und nicht anschließend eine Pseudovergangenheitsbewältigung in Szene gesetzt. Das Motiv der „langen Zeiträume“ findet sich bei den verschiedenen Autoren immer wieder. Walter Scheel aus der FDP-Spitze hatte seine große politische Zeit aber selbst auch schon lange nach Adenauer. Da begann für mich die Schulzeit. Bei ihm findet sich dieses Motiv dann so: „Die Einheit Deutschlands wird das Ergebnis eines langen historischen Prozesses sein. Wenn sie realisierbar wird, wird uns die Geschichte auch die Formen anbieten, die dann an der Zeit sind.“ Doch absolut unübertroffener deutscher Großmeister im Zeitschinden über naive Gebietsforderungen und Hochrüstungswünsche bleibt der total geniale Redekünstler Franz Josef Strauß: „Die Deutschlandfrage spielt, auch wenn sie als solche nicht angesprochen wird, in der Sicherheits-, Abrüstungs- und Raketendiskussion eine wichtige Rolle. Der Gefahr und des Risikos, die entstehen würden, wenn die Sowjets ein politisches Angebot in Richtung Wiedervereinigung machten, bin ich mir voll bewusst. Dann könnten uns die Felle wegschwimmen. Ich habe hierüber mehrmals auch mit Helmut Kohl gesprochen, zuletzt am 2. September 1987, wenige Tage nach seinem öffentlichen Verzicht auf die Pershing 1A, in unserem Haus in München. Wenn wir die deut1498 1987 sche Frage lösen wollten, dann müssten wir uns darüber im Klaren sein, dass es sich um einen langen geschichtlichen Prozess handle, nicht um eine jähe Möglichkeit. Der lange Prozess könnte, rein theoretisch, dadurch abgekürzt werden, dass wir uns auf die andere Seite schlagen – ob man uns dort gern aufnehmen würde, müsste allerdings bezweifelt werden. Aber die Frage stelle sich nicht, denn abgesehen von einer verschwindend kleinen Minderheit wolle niemand ins kommunistische Paradies.“ Das waren ja wohl Worte an das Publikum; zu Kohl musste er das sicherlich nicht sagen. „Wir werden das nicht mehr erleben, auch die nächste Politikergeneration wird es wohl nicht erleben, aber diese Entwicklung kommt.“ Ich mache hier einen Vorgriff, damit an dieser Stelle die letzten zarten Zweifel über Dr. Helmut Kohls Rolle in der deutschen Geschichte ausgeräumt werden. Im Dezember 1989, also noch Wochen nachdem diese Bösen diese Grenze aufgemacht hatten, waren Dr. Kohls Worte in Dresden: „Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation!“ Und viel mehr wollte er da auch ganz bestimmt nicht reininterpretiert wissen. Nein, von Boston über Manchester, Marseille, Heidelberg, Dresden und Kraków bis nach Leningrad haben alle gehört, was sie hören wollten. Sie wollten oder fürchteten die Vereinigung Deutschlands und hörten zum Beispiel 1989 in Dresden, der Kanzler wolle „die Einheit unserer Nation“. Dr. Kohl hat noch zwei Monate nach dem Mauerfall genau das gesagt, womit man in Bonn seit 1949 die Leute hingehalten hatte. Die Zwischenzeit wurde genutzt für Propaganda, die zur Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft führen sollte, und während Kohl in Dresden sprach, wurden die Arbeiten an der neuen Ständigen Vertretung der BRD in der DDR in Pankow-Rosenthal fortgesetzt. Zum Glück hatten Bahr und Brandt wenigstens die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der „sogenannten“ DDR 1972 verhindert. Ich bin froh darüber. Haben Sie noch von Weizsäckers 1983er Beitrag zur Rüstung im Ohr? „Frieden bringen weder Aufrüstung noch Abrüstung.“ Und wenn diese säuselnden Worte nicht halfen, wurde das renitente Kind mal richtig abgewatscht. Sie erinnern sich sicherlich an diesen Herrn Friedmann? 1499 1987 „Als ein christdemokratischer Abgeordneter, Bernhard Friedmann, 1987 mit dem Vorschlag auftauchte, die deutsche Frage auf die Abrüstungsagenda der Supermächte zu setzen, explodierte Wilhelm Grewe, einer der erfahrensten ehemaligen Botschafter der Bundesrepublik, in einem Brief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Wie soll man sich erklären, dass ein aktiver, zu einem konkreten Vorstoß entschlossener Politiker Überlegungen, Fragestellungen, Vorschläge zu Papier bringt, ohne zu bemerken, dass alles, aber auch alles, was er sagt, schon unzählige Male gesagt, geschrieben, verkündet, bezweifelt, beantwortet – und vorerst als irreal, utopisch, nichtpraktikabel stillschweigend wieder beiseite gelegt worden ist?«“ Wie oft soll ich es dir denn noch sagen? Hören wir dazu auch eine geistreiche Einlassung von Prof. Dr. Heinrich August Winkler über die langfristig erzielten Erfolge dieser jahrzehntelangen Hinhaltetaktik der Bonner: „Das Bewusstsein vieler Deutschen, dass die tieferen Ursachen der Teilung ihres Landes in der deutschen Geschichte lagen, wirkte deutschem Nationalismus entgegen, baute im Ausland Vorbehalte gegenüber Deutschland ab und erleichterte so am Ende die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Tatsächlich ist die Absage an einen deutschen Nationalstaat vielfach lediglich ein Ausdruck von westdeutschem Desinteresse an den Ostdeutschen gewesen. Meinungsumfragen aus der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zeigen, dass das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit mit den Ostdeutschen bei jüngeren Westdeutschen sehr viel schwächer entwickelt war als bei älteren. Von den Bundesbürgern im Alter von 14 – 29 Jahren fühlten sich im Jahre 1987 nur 65 Prozent (gegenüber 90 Prozent der über Sechzigjährigen) als Angehörige eines deutschen Volkes. Immerhin 34 Prozent der jüngeren Bundesbürger gingen von der Existenz zweier deutscher Völker aus. Zwischen 1976 und 1987 empfanden in der Gruppe der über Sechzigjährigen im Durchschnitt 15 Prozent die DDR als einen ausländischen Staat; bei den jungen Bundesbürgern war es gut die Hälfte. Eine Auswertung der entsprechenden Daten im »Deutschland-Archiv« mündete 1989 in die Schlussfolgerung, die DDR werde von einem großen Teil der jungen Generation als fremder Staat mit einer anderen Gesellschaftsordnung und nicht mehr als Teil 1500 1987 Deutschlands wahrgenommen.“ Doch nicht nur vielen jungen Leuten attestierte der Meister das Desinteresse an Deutschland. „Viele, auch ältere Bundesbürger, darunter nicht wenige, die man als »posthume Adenauersche Linke« apostrophieren kann, empfanden die Teilung als entlastend und den Nationalstaat, jedenfalls den deutschen, als Irrweg.“ Das dürfte wohl auch eines der Hauptmotive Adenauers gewesen sein. „Nicht alle gingen so weit wie Günter Grass, der in der Spaltung Deutschlands die Strafe für Auschwitz sah.“ Da wurde ja glücklicherweise auch nicht er bestraft. „Aber der Gesamtverlauf der deutschen Geschichte schien doch Goethe und Schiller Recht zu geben, die schon 1796 in den Xenien gewarnt hatten: »Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus!« [...] Gegen Ende des Jahrhunderts schien sich die deutsche Geschichte in der Umkehrung dieses Prozesses zu vollenden: vom Nationalstaat zum Weltbürgertum.“ Die Entwicklung zu Weltbürgern war in Unserer DDR dank der Bonner Außenpolitik nicht möglich und blieb deshalb bedauerlicherweise aus. Über eine Entwicklung zu freien Menschen in dem einen und anderen Teil des Landes lässt sich freilich trefflich streiten. Wie könnten denn verdummte Menschen frei sein? 1501 1987 Kohl verhindert weiterhin die Lösung der deutschen Frage Die Geschichte wird bekanntermaßen immer erst hinterher zu Papier gebracht, sonst hätten die handelnden Politikern ja keine Möglichkeit groben Unfug zu bauen. „Valentin Falin lüftete gegenüber dem Autor ein Geheimnis: »Mitte der 80er Jahre machte ein sehr bekannter Politiker aus der Bundesrepublik den Sowjets ein Angebot: Wenn Moskau die DDR aus dem Warschauer Pakt entlassen würde und die DDR einen Status wie Österreich bekäme, dann würden die Sowjets 100 Milliarden D-Mark als nicht rückzahlbaren Kredit erhalten. Dahinter standen sehr mächtige Kräfte in der Bundesrepublik.« Auch mehrmaliges Nachfragen brachte keine weitere Aufklärung über den Mann, der da im Namen potenter westdeutscher Kreise den Sowjets ein solches Angebot gemacht hatte. Zu erfahren war nur, dass er eine wichtige konservative Persönlichkeit der alten Bundesrepublik gewesen war. Offenbar gab Gorbatschow auf dieses Signal eine Antwort, was bis heute unbekannt geblieben ist: Kurz vor Ostern 1987 fand im Kongresszentrum des Kreml ein Empfang für die deutsche Wirtschaft statt. Anlass war die Eröffnung eines neuen Firmensitzes der Deutschen Bank in Moskau. Unter den Gästen waren natürlich auch der Chef der Deutschen Bank F. Wilhelm Christians und einer der beiden Chefs des Hauses in Moskau, Axel Leban. Leban agierte an diesem Abend als Dolmetscher für seinen Chef. Für einige Minuten stand Gorbatschow mit Christians, Leban, mit dem wichtigsten bundesdeutschen Ost-West-Händler Otto Wolff von Amerongen und Ministerpräsident Nikolai Ryschkow zusammen. Hiervon existiert ein Foto. In einem günstigen Augenblick zog Gorbatschow Christians beiseite und sagte, er habe für Bundeskanzler Kohl eine Botschaft, die er ihm überbringen möge: Moskau sei bereit, die DDR aus dem Warschauer Pakt zu entlassen, wenn die Deutschen dies so wollten. Dies würde zwar nicht die deutsche Frage im Sinne Bonns lösen, denn die deutsche Einheit könne nicht von Moskau verordnet werden. Aber beide deutsche Staaten könnten sich arrangieren, wie sie es für richtig befänden.“ 1502 1987 Was dieser Ferdinand Kroh alles weiß! „Ostern 1987, also nur kurze Zeit später, fand im österreichischen Bad Ischl eine Tagung von westund osteuropäischen Wirtschaftsbossen und -wissenschaftlern zum Problem der geplanten Annäherung der beiden Wirtschaftssysteme statt. Teilnehmer waren auch Professor Jürgen Nitz, der damalige DDR-Unterhändler im streng geheimen deutsch-deutschen Dialog, und Axel Leban als Vertreter der Deutschen Bank in Moskau. Leban suchte eine Möglichkeit, sich unbeobachtet mit Professor Nitz zu unterhalten. Man wartete die Tagungspause ab und wollte sich im Kurpark treffen. Als sie sich sicher waren, alleine zu sein, eröffnete Leban dem erstaunten Professor, was Gorbatschow in Moskau Christians mit auf den Weg gegeben hatte. Hinter dieser Botschaft stünden außer Gorbatschow: Schewardnadse, Ryschkow, Jakowlew und Sagladin. Nitz fragte den Banker, warum er ihn einweihe; ob dies eine private Mitteilung sei oder er das Gehörte zum Politbüro tragen solle? Leban drängte Nitz, dem SED-Politbüro eine Mitteilung zu machen, denn man glaubte wohl, dass die DDR in dieser für sie lebenswichtigen Frage mitspielen und nicht ausgeschlossen werden sollte. Schließlich musste auch die DDR diesen Schritt wollen. [...] Was dann passierte, bleibt im Dunkeln. Ein enger Vertrauter Herrhausens aus dem Umfeld der Deutschen Bank sowie ein Mitarbeiter des Vorstands haben dem Autor im April 2005 bestätigt, dass es diese Botschaft gab und sie nicht von Christians, sondern von Herrhausen an den Bundeskanzler weitergereicht wurde. Einmal war die Quelle Herrhausen, einmal war es Christians.“ Als ich erstmals das Interview in den Händen hielt, das Erich Honecker 1990 der Wochenpost gewährt hatte, habe ich es nicht zu Ende gelesen, weil ich den Eindruck bekam, unser ehemaliger Staatschef wollte sich zum Opfer einer Verschwörung hochstilisieren. Nachdem ich mich jedoch intensiver mit der Materie beschäftigt hatte, wurde mir klar, dass er die Entwicklung in der Welt sehr genau beobachtet hatte und genau deswegen auch auf Abstand zu Gorbatschows Innen- und Außenpolitik ging. Natürlich hat er sich so schlussendlich völlig ins Abseits gestellt, zumal er auch zu durchgreifenden Reformen in der Wirtschafts- und Preispolitik Seiner DDR nicht bereit war. 1503 1987 Der ehemalige Meister in Ost-Berlin sagte: „Mein Sturz als Partei- und Staatschef war das Ergebnis eines großangelegten Manövers, dessen Drahtzieher sich noch im Hintergrund halten. Diejenigen, die sich heute mit dieser Tat brüsten, sind dagegen kleine Lichter. Hier handelt es sich um große Vorgänge, die nicht von heute auf morgen eintraten, sondern um langfristig angestrebte Veränderungen auf der europäischen Bühne, ja auf der Weltbühne. Die heutigen Gegebenheiten bezeugen dies. Wir erhielten 1987 Signale aus Washington. Wir konnten und wollten sie nicht als Grundlage unserer Politik betrachten. Dies, obwohl unser Botschafter in Moskau, König, schon 1987 feststellte, dass viele sowjetische Autoren in den verschiedensten Medien »die Überwindung der deutschen Zweistaatlichkeit« plötzlich als Tagesaufgabe beschrieben. Die Überwindung der »deutschen Zweistaatlichkeit« wäre als Beitrag zur Herausbildung des »europäischen Hauses« zu betrachten. Dies konnte nach Lage der Dinge nur durch einen Systemwechsel in der DDR erreicht werden.“ Den Wechsel wünschte Honecker ganz sicher nicht. Auch Franz Josef Strauß wusste von diesen erschröcklichen Neuigkeiten aus Moskau: „So schrieb nach den Bundestagswahlen 1987 der Deutschland-Experte Nikolai Portugalow einen Artikel in Moskovskie Novosti, in dem es sinngemäß hieß, dass es nur eine deutsche Nation gebe, wenn auch in zwei Staaten. Michail Gorbatschow hat mir wenig später bei meinem Besuch in Moskau diese Auffassung bestätigt.“ Schade, dass er das erst in seinen Memoiren verkündete. Das hätte die BundesbürgerInnen unter Umständen auch schon 1987 interessiert. Nachdem der Fake wenige Jahre später – ich hatte inzwischen mein Studium abgeschlossen – in sich zusammengebrochen war und sich die Rauchschwaden der Vereinigung hier verzogen hatten, fabulierte der gute Hans-Dietrich Genscher: „Eine geschlossene, dichte Wolkendecke hatte sich jahrzehntelang vor den Stern der deutschen Einheit geschoben, dann tat sich für kurze Zeit die Wolkendecke auf, ließ den Stern sichtbar werden, und wir griffen nach ihm.“ 1990. Und über die Saga Ein runder Tisch mit scharfen Ecken von Richard Kiessler und Frank Elbe 1504 1987 heißt es im Vorwort: „Die Lektüre des Buches macht immer wieder deutlich, wie wichtig es für den Erfolg der Verhandlungen war, den gesamteuropäischen Zusammenhang, die Sicherheitsinteressen anderer Staaten und die Bestätigung der Endgültigkeit der Grenzen des die Bundesrepublik Deutschland, die ehemalige DDR und Berlin umfassenden Gebietes zu wahren.“ Ich vermag hier nur nicht zu erkennen, inwieweit sich in diesen Bereichen eventuell die Rahmenbedingungen 1989 im Verhältnis zu 1987 oder auch zu 1947 geändert gehabt hätten. Brigitte Seebacher-Brandt hielt in ihrer Version einer Biographie des einmaligen W. B. fest: „Auch in Moskau wird der Verfall der DDR zur Kenntnis genommen. Gorbatschow hat schon 1987, in seinem Buch über die »Perestrojka« verkündet, dass jede Nation einen Anspruch darauf habe, »den Weg ihrer Entwicklung selbst zu wählen.« Seither ist er viele Male darauf zurückgekommen. Müssen die Deutschen nicht endlich selbst die Richtung weisen, in die sie gehen wollen?“ Die Frage war berechtigt, und Willy Brandt selbst analysierte in dieser Angelegenheit: „Ein Bewusstseinswandel, der die geistig regsamen Schichten besonders erfasste und bis in die höheren Ränge der regierenden Parteien reichte, hatte in »Osteuropa« lange vor Gorbatschow begonnen; Ankündigungen und Anstöße von Moskau ausgehend, haben dem in den Ländern zwischen Deutschland und Russland ohnehin ungleichzeitigen Wandel ungleichmäßige Schubkraft verliehen und Wirkung auch dort gezeitigt, wo man sich von dem Perestroika-Wirbel gestört fühlte oder – wie der Politbüro-Ideologe Hager in Ostberlin – fragte, ob denn die eigenen Tapeten gewechselt werden müssten, wenn der große Nachbar dies zu tun für richtig halte. [...] Und von mehr Unabhängigkeit und von neuen Formen gleichberechtigter Zusammenarbeit war die Rede gewesen, bevor an der Moskwa europäische Baupläne entworfen wurden.“ Es ist schon interessant, dass auch andere SPD-Spitzenpolitiker von Wendeplänen im Osten wussten, und 1989 die gleiche Überraschung vorgaukelten, wie Bundeskanzler Helmut Kohl. Erst im Jahre des Herrn 1993 äußerte zum Beispiel Erhard Eppler, „mit einigen SED-Funktio1505 1987 nären sei schon 1987 über die Vereinigung zu reden gewesen“. Hatte sich nicht auch Horst Sindermann schon 1984 Hans-Dietrich Genscher gegenüber in diesem Sinne geäußert? Über die wirklich unabhängigen westdeutschen Medien hatte ich immer nur etwas von Betonköpfen in Ost-Berlin gehört, insbesondere, was eine Vereinigung anging. Genau so interessant ist auch dieser Hinweis, der einerseits den Mann mit diesem langweiligen Hundeblick, Egon Krenz, in ein unerwartetes Licht stellt, und andererseits klärt, warum der Genosse Honecker den Herrn Krenz nicht auf den Thron ließ: Vladimir Putin, damals ein KGBAgent, hatte für den 18. Juni 1987 ein Treffen zwischen seinem Vorgesetzten Krjutschkow und dem berühmten Dresdener Forscher Manfred von Ardenne organisiert. Bei diesem Gespräch sollen Namen von denkbaren Nachfolgern für den Genossen Staatsratsvorsitzenden erörtert worden sein. Krenz selbst stand dann zwar „in der entscheidenden Phase nicht auf der Wunschliste der Sowjets“. Aber hören Sie sich das hier an: „Dem Vernehmen nach soll Krjutschkow Informationen über Egon Krenz erbeten haben, über dessen reformerische Positionen der Wissenschaftler offensichtlich bestens informiert war. [...] Von Ardenne hatte Krenz kurz zuvor in einem privaten Gespräch zu radikalen Wirtschaftsreformen aufgefordert, sich für die Abschaffung des demokratischen Zentralismus eingesetzt und stattdessen eine Entscheidungsstruktur in Partei und Gesellschaft von unten nach oben verlangt.“ Es gab in den achtziger Jahren eine ganze Reihe von Anzeichen für ein Umdenken in Ostdeutschland. Im Geschichtsbild tauchten nun Martin Luther und Friedrich der Große wieder auf. Es erschien eine Sonderbriefmarke, auf der man in der Mitte das Staatsratsgebäude in OstBerlin sah, ein schwarz-rot-goldenes Band als feierliche Umrahmung auf weißem Grund und abgesetzt davon zwischen dem Band und dem Gebäude das Wappen der DDR. Und im Gebäude des Leipziger Hauptbahnhofes, durch den täglich zehntausende Menschen gingen, war hoch oben an einer Wand über einem Durchgang ein riesiges Wandbild angebracht, auf dem eine schwarz-rot-goldene Schlaufe prangte, in 1506 1987 deren Mitte verschwindend klein das Emblem der DDR saß. Aus einer gewissen Entfernung war das jedoch gar nicht zu sehen. Andere Signale kamen zu jener Zeit aus Bonn. Am 11. Juni 1987 las der ehemalige Ständiger Vertreter der BRD in der DDR Günter Gaus (SPD) im Klub der Kulturschaffenden in Ost-Berlin aus seinem neuesten Buch Die Welt der Westdeutschen. Es war auch nicht über die Maßen erstaunlich, dass dieses Buch in der schönsten DDR auf dieser Welt erscheinen durfte, schloss er doch auch schon beim Schreiben aus, dass sich sein Genosse Erich Honecker über das Büchli hätte ärgern können. Da steht dann völlig ungeniert: „Und älter geworden, will ich widerspruchslos auch riskieren, dass behauptet wird, mein kurzer Exkurs über die Menschenrechte hätte so auch in der DDR formuliert werden können.“ Dann verwundert es nicht, dass Bärbel Bohley das Gefühl nicht mehr loswurde, Gaus’ Ständige Vertretung in der Hannoverschen Straße in Berlin, Hauptstadt der DDR, habe auf sie damals wie eine Zweigstelle des Ministeriums für Staatssicherheit gewirkt. Aber an einer Stelle schlug er mit der Faust auf den Tisch und merkte an, er bezeichne die DDR natürlich nicht als Ost-Deutschland, das sei für ihn Mittel-Deutschland, da sich doch im eigentlichen Osten noch eine Menge deutschen Kulturbodens befinde. Ja, er hat Recht, und er erwischt mit seiner rechten Faust erneut den eigentlichen Osten, weil sein Kanzler und keiner vor ihm anerkannt hatte, dass es sich früher mal um den Osten unseres Landes gehandelt hatte, womit man selbstverständlich uneingeschränkt Recht gehabt hätte. So war auch das Öl ins lodernde Feuer. Sie werden staunen, worum sich die Gespräche zwei Jahre später drehen werden. Darum. Lesen Sie da ruhig mal rein. Da finden sich dann auf der anderen Seite auch Stellen wie diese hier: „Und die Schlussfolgerung? Wohin entwickelt sich das nationale Selbstverständnis der Mitteldeutschen? Kann eine entstaatlichte Nation, also eine, die ihren Einheitsstaat eingebüßt hat, den Sockel ihrer Identität gegen die Verselbstständigung grundverschiedener variabler Größen behaupten? Ich weiß es nicht. 1507 1987 Unterstellt, der Friede in Europa – glanzlos, wie er ist, aber doch ein Frieden – dauert weitere vierzig Jahre und mit ihm die beiden deutschen Republiken aus dem Rest des staatlichen Bismarckschen Erbes: Welches Identitätsbewusssein wird diesseits und jenseits der Elbe dann herrschen?“ Es ist ja auch nicht so, dass Gaus es nicht von der Sache her begriffen hätte, schreibt er doch: „Die Berliner Mauer ist keine gemeinsame Grunderfahrung der Deutschen auf ihren beiden Seiten. Nur die hohlste westliche Phrase kann dreist genug sein, die Bedeutung dieses Bauwerks für die Brandenburger und, sagen wir die Badener gleichzusetzen.“ Nur dass das nicht in eine andere Politik mündete, sondern in eine Mahnung an die Vernunft – macht den Frieden nicht wieder kaputt und nehmt den West-Deutschen nicht die Arbeitsplätze weg. Aber lesen Sie seine Herleitung gerne selbst: „Die Einsicht, dass das erste Schlachtfeld eines neuen Krieges in Europa ein gesamtdeutsches wäre, hat eine Gemeinsamkeit im Bewusstsein von Menschen hier wie dort begründet, die den sonst auf viele Weise unterschiedlichen, auseinanderstrebenden Bewusstseinsprägungen in den beiden Staaten entgegenwirkt. So man will – und warum sollte man nach einem anderen Begriff suchen? –, kann man das, was die Demonstranten kundtun, als Ausdruck auch eines Nationalgefühls, eines nationalen Interesses bezeichnen, selbst wenn die [gegen die Atomraketen] protestierenden West- und Mitteldeutschen diesen zusätzlichen Effekt ihres Handelns nicht im Sinne hatten. Ein Nationalgefühl, das nicht schreckt – weil es sich nicht absolut setzt, sondern eingebunden ist in eine umfassendere Motivation: den Wunsch nach einer Festigung des Friedens. Hier haben Minderheiten diesseits und jenseits der Elbe – Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze – den Sockel deutscher Identität gestützt durch einen Einklang ihrer Interessen und des entsprechenden Verhaltens. Ich kann nicht sehen, wie, außer aus solchen Beweggründen, gemeinsame Erfahrungen sich noch herstellten. Gewiss, die westdeutsche Propaganda sagt es anders. Aber sobald die Führung der DDR die Ausgänge aus ihrem Staat auch nur ein wenig breiter macht, kommen unter den Bundesrepublikanern auch ganz andere als gesamtdeutsche Gefühle ans Licht. Soll ich es ihnen verargen? Ich glaube doch nicht, 1508 1987 nicht einmal sonntags, den nationalen Schwadroneuren in Bonn und auf einigen westdeutschen Lehrstühlen für Geschichte, die inzwischen – immer streng wissenschaftlich – sehr ungeniert in ihren historischen Relativierungen rechter deutscher Vergangenheit geworden sind, um desto unbefangener geschichtliche Perspektiven entwerfen zu können, in denen die Menschen wieder nichts als der Humus für groß gedachte Abläufe sind. Ich bin, von meinen Freunden deshalb skeptisch beobachtet, durch meinen Aufenthalt in der DDR auf die Fragen nach nationaler Identität gestoßen; aber ich vergesse doch darüber nicht, welche Interessen und Empfindungen normalerweise unter den Menschen vor dem Nationalbewusstsein rangieren. Sobald sich das unter ihnen ändert, das Nationale nach vorn rückt und einen Platz im Denken und Trachten besetzt, der ihm von den Menschen nur in einem Massenrausch eingeräumt wird, ist Gefahr im Verzug. Natürlich blicken Arbeitnehmer in einer Gesellschaft, aus der die Vollbeschäftigung entschwunden ist, misstrauisch auf konkurrierende Zuzügler aus der DDR.“ Ich muss sagen, dass ich mich, solange ich denken kann, und erst recht, seitdem ich mich mit diesem Thema hier beschäftige, wie der Humus für groß gedachte Abläufe fühle. Vielleicht eher noch als Teil einer Manövriermasse. Dass Herr Gaus mir hier selbst Propaganda an den Kopf packte, wurde bei der ersten Wahl nach der Vereinigung deutlich. Die Leute haben in einer breiten Mehrheit die Parteien gewählt, die sie für die Macher der Einheit hielten, die CDU und die FDP. Wie man sich aber auch vertun kann. Hätte man jedoch die wählen wollen, die die Einheit ohne Bonn, ja, gegen Bonn, organisiert haben, hätte man zuvor erstmal für den Beitritt zu den Vereinigten Staaten plädieren müssen. Aber kommen wir doch noch einmal auf Winkler und Goethe zurück. Jeder kann ja je nach Geschmack niedergelegte Worte eines Autoren auswählen und damit die wildesten Thesen bestätigen oder eben auch verwerfen, wie Sie an meinem Konvolut längst bemerkt haben. Sicher haben Sie da auch gestaunt. Und auch im Falle von Johann Wolfgang von Goethe wählte Heinrich August Winkler das aus, was seine Thesen in den Jahren der real existierenden Teilung am besten stützte. Aber 1509 1987 selbstverständlich konnte Goethe auch ganz anders, je nachdem, wie ihm gerade zumute war. Während der großartige Weltbürger Winkler aus den Schriften des Meisters das Wort herausgefischt hatte: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens“, wählte eine Barbara Ifland aus Weimar in Thüringen als Motiv für eine Postkarte folgende Worte heraus: „Wir sind nicht bange, dass Deutschland nicht eins werde . . . Vor allem sei es eins in Liebe untereinander. Und immer sei es eins, dass der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reiche gleichen Wert habe, Eins, dass mein Reisekoffer durch alle deutschen Länder ungeöffnet passieren könne.“ Auch ein Denker wie Goethe soll umfassend und allseitig studiert werden, um sich dialektisch mit ihm auseinandersetzen zu können. Die einseitige Aneignung der Werke der Klassiker war somit ebenfalls kein Phänomen, das sich auf ostelbische Geistesgrößen beschränkte. 1510 1987 Rüstung, Abrüstung, Spannung und Entspannung In den siebziger Jahren waren auf Druck von Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher immer mehr Raketen in Europa aufgestellt worden. In den achtziger Jahren musste auf Grund der Bemühungen von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan dies und das und jenes wieder abmontiert werden. Hören wir Franz Josef Strauß in dieser Angelegenheit über den August 1987 sinnieren: „Ich gehöre nicht zu denen, die aus der Bundesrepublik eine Supermacht machen wollen und der Gefahr erliegen, die Dimensionen zu verwechseln. Aber Bonn hat die ganze Raketendiskussion und das Thema der Null-Lösungen verschlafen. Außenminister Genscher hat es bewusst versäumt, weil er von vornherein auf dem falschen Fuß hurra geschrieen hat. Bundeskanzler Kohl hat sich immer wieder auch offiziell für die Beibehaltung der Pershing 1 A auf deutschem Boden ausgesprochen, das letzte Mal wenige Tage vor seiner Verzichtserklärung, von der ich während einer Bulgarienreise am 26. August 1987 am Telefon erfuhr. Meiner Meinung nach hätte der Kanzler bei Beginn dieser Diskussion in die USA fliegen und dort für klare Verhältnisse sorgen müssen.“ Der da hurra geschrieen hatte, meinte in dieser Angelegenheit: „Schon am 27. April war es in der Koalition erneut zu einem schwierigen Gespräch gekommen.“ Und weiter heißt es bei Minister Genscher: „In der CDU/CSU neigte man zu Folgeverhandlungen über Raketen unterhalb einer Reichweite von 1000 Kilometern: Ziel sollten Obergrenzen auf einem möglichst niedrigen Niveau sein. Diese Haltung konnte nach Meinung der F.D.P. zu einem Konflikt in der Koalition führen, denn eine Ablehnung der doppelten Nulllösung drohte die Bewegung, die endlich in die Abrüstungsverhandlungen gekommen war, zu gefährden und mit ihr die Ziele des NATO-Doppelbeschlusses. [...] Washington ließ zwar deutlich erkennen, dass man für die doppelte Nulllösung war, aber man würde ihr nur im Einvernehmen mit der Bundesregierung zustimmen. Innerhalb der Bundesregierung gingen die Meinungen weiter auseinander. Aus dem Kanzleramt hörte ich, Helmut Kohl sei bereit, auf 1511 1987 Beschränkungen für die Reichweiten zwischen 500 und 1000 Kilometern zu verzichten, wenn damit die zweite Nulllösung vermieden werden könnte. In der CDU/CSU fürchtete man, auf die zweite könne eine dritte Nulllösung folgen und die Strategie der nuklearen Abschreckung dadurch schwer beeinträchtigt werden.“ Genscher war natürlich auf dem Pfad der Vernünftigen, aber er war der Vertreter des kleineren Koalitionspartners. Damit setzte er die Nummer aus der Ära Schmidt fort – der Kanzler ist der Unvernünftige und Böse, der Außenminister jedoch der vernünftige Mann des Ausgleichs. Leute verklapsen. „Am 10. Mai hatte Franz Josef Strauß Bundeskanzler Kohl aufgefordert, von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch zu mach: CDU/CSU seien für eine Nulllösung bei den Mittelstreckenraketen längerer Reichweite, aber gegen die Nulllösung bei den SRINF. Nun war das gerade keine Richtlinienfrage, es war eine Frage parlamentarischer Mehrheiten.“ Und weiter Genschman: „Durch seine Entschlossenheit bei der Stationierung der Mittelstreckenraketen gestärkt, musste Deutschland nun das Signal für eine Revolution in der Abrüstung geben, und eben dazu war ich fest entschlossen. Nach einer Sitzung der CDU/CSU-Fraktion erklärte Helmut Kohl, dass man gegen die doppelte Nulllösung sei, weil sie die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik gefährde. So kam es, nach einem ergebnislosen Koalitionsgespräch, in der Bundestagssitzung vom 5. Mai 1987 zu offenen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Koalitionsparteien.“ Es ist traurig, dass die Alliierten dieses Kasperletheater als Ausdruck einer quietschlebendigen Demokratie empfanden. „Als am 13. und 14. Mai 1987 Alfred Dregger und Volker Rühe nach Paris und London flogen, um für ihre Auffassung zu werben, die Einbeziehung der Systeme zwischen 500 und 1000 Kilometern Reichweite würde den deutschen wie europäischen Sicherheitsinteressen schaden, war der Misserfolg voraussehbar. Sie erhielten eine Abfuhr. Da ich die beiden Kollegen schätzte, bedauerte ich, dass sie sich in eine solche Lage gebracht hatten.“ Ich lasse mich für mein Leben gern verkohlen. Als die Länder um Deutschland herum ernsthafte Anstalten beim Abrüsten machten, hat Bonn das mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verhindert. 1512 1987 „Es wurde immer deutlicher: Eine Einigung zwischen den USA und der Sowjetunion war von unserem Verzicht auf die Pershing I A abhängig. Die Amerikaner wollten auf keinen Fall ohne Zustimmung der europäischen Verbündeten, vor allen Dingen Deutschlands, zu einem Abschluss kommen, und auch in London wurde die doppelte Nulllösung akzeptiert.“ Präsident Mitterrand stand einer doppelten Nulllösung nach Genschers Worten ebenfalls positiv gegenüber. Genau das hatte mich ursprünglich auf die Frage gebracht, woher eigentlich der Kalte Krieg kam. Wenn alle Welt ihn doch seit den fünfziger Jahren beenden wollte und wenn alle Kanzler von Adenauer bis Kohl die Entspannung fürchteten wie der Teufel das Weihwasser, wie war dann um Himmels willen der Kalte Krieg entstanden? Sie haben Recht. Nicht alle Kanzler von Adenauer bis Kohl. Guillaumes Dienstherr fürchtete sie nicht. „Im Sommer 1987 zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die Vereinigten Staaten auf Gorbatschows Vorschlag zur doppelten Nulllösung positiv reagieren wollten. Auch ich sah hierin einen entscheidenden Durchbruch, dessen erster Bestandteil die einfache Nulllösung war. Es gab keinen vernünftigen Grund, die Ausweitung der Verhandlungen auf die kürzeren Reichweiten der Mittelstreckenraketen zu verhindern.“ Schade auch. „Doch zurück zum Sommeranfang 1987. Nach Wochen schwerster Kontroversen hatte sich die Regierung schließlich am 1. Juni für die doppelte Nulllösung entschieden: [...] Die Bundesregierung befindet sich damit in Übereinstimmung mit den USA und den Verbündeten.“ Mit dieser Debatte hatte das Duo Genscher/Kohl weitere Monate lang Debatten über eine Vereinigung verhindert. Hören wir dazu auch den Entspannungsfanatiker Willy Brandt: „Ich hatte immer noch einmal – auch mit weitsichtigen Freunden in den USA – an die simple Wahrheit erinnert, dass geredet werden müsse, wenn sich die Instrumente der Zerstörung nicht selbstständig machen sollten. Unter die Hardliner gerechnet zu werden, konnte ich nicht erwarten. Aber woher der Ruf kam, ich sei der Gegenspieler Helmut Schmidts in der Raketenfrage gewesen, ist mir ein Rätsel geblieben. Hätte man Strauß gesagt, würde ich nicht widersprechen, denn er 1513 1987 bekannte in aller Offenheit, dass er den Verhandlungsteil für einen Geburtsfehler halte.“ Ach, Brandt war schon eine Marke. Und wie war es zum Sinneswandel in Bonn gekommen? Der Moskauer Botschafter in Bonn, Julij Kwizinskij, hatte für Mitte August um einen dringenden Besuch bei Genscher ersucht, und dieser hatte ihn auch an seinem Urlaubsort in Frankreich empfangen. Hans-Dietrich Genscher berichtete: „Herr Schewardnadse, so sagte er, wolle mich an unser Gespräch in Moskau erinnern, bei dem er mir zugesagt habe, sich zu melden, sobald die INF-Verhandlungen stockten. In eben dieser Lage befinde man sich jetzt. Das Abkommen über die westliche Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen längerer und kürzerer Reichweite könne sofort abgeschlossen werden – die doppelte Nulllösung stehe also unmittelbar vor der Annahme. Was nun noch fehle, sei lediglich eine positive Stellungnahme Bonns zur Aufgabe der Pershing I A. Die Sowjetunion sehe sich, nachdem sie ihre Position umfassend in Richtung auf westliche Standpunkte verändert habe, außerstande, ein Abkommen zu schließen, ohne die Pershing I A darin einzubeziehen. Die USA sähen die Dinge genauso; das Hindernis liege allein in Bonn. Schewardnadse appelliere daher an mich, alles zu tun, damit man diesen wichtigen Abrüstungsschritt endlich besiegeln könne.“ Dann habe Genscher den Herrn Kohl in einem Vier-Augen-Gespräch überzeugt. 1514 1987 Der dritte Streich Für den Sommer 1987 war ein Besuch des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in der Bundesrepublik geplant. In Vorbereitung dieses festlichen Ereignisses kam es jedoch zu einer „Kommunikations panne“. Aber das kann doch jedem einmal passieren. Es passiert aber nicht jedem. Schon im Vorfeld war das Besuchsprogramm bekanntgegeben worden, und es beinhaltete den gemeinsamen Besuch auf einem Soldatenfriedhof. Auf den ersten Blick musste der Eindruck entstehen, Kohl wolle mit dem Amerikaner eine ähnlich bewegende Versöhnung in Szene setzen wie zuvor mit dem Präsidenten der Republik Frankreich François Mitterrand über den Gräbern vor Verdun. Aber es kam anders. Ausgewählt wurde der Friedhof „Kolmeshöhe“ am Rande des kleinen Städtchens Bitburg. „Was auf den ersten Blick eine prächtige Chance für das Image der Stadt schien, entpuppte sich bald als horrendes Erlebnis. Bitburg mutierte zum »Nazinest«. Bürgermeister Hallet erhielt wütende Briefe aus der ganzen Welt. Bitburg war ausgesucht worden, weil auf seinem amerikanischen Flugplatz Tausende US-Soldaten stationiert waren – und ihr freundschaftliches Nebeneinander mit der Bevölkerung Vorzeigecharakter hatte. Doch Bitburg war eine Fehlentscheidung. Weil bis in höchste Kreise der deutschen wie amerikanischen Politik nicht recherchiert wurde, dass auf dem Friedhof kein einziger US-Soldat liegt, dafür aber 49 Angehörige der Waffen-SS. Als die skandalöse Kommunikationspanne aufflog, hagelte es Kritik. Reagans Stabschef Don Regan seufzte: »Bitburg bringt uns noch um.« Nach der Lektüre des Buches erschließt sich die Doppelbödigkeit der Inschrift des Denkmals, das der Bitburger Stadtrat unterdessen für die Gefallenen hat aufstellen lassen: »Wer die Augen vor der Vergangenheit verschließt, verliert den Blick für die Zukunft.«“ Von Sebastian Haffner lernen, heißt auf jeden Fall verstehen lernen. In seiner Analyse bezüglich der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 hatte er formuliert, dass es „von Anfang an [einen] Unterschied 1515 1987 zwischen der westlichen Deutschlandpolitik und der deutschen Westpolitik“ gab, „der damals ein kaum wahrnehmbarer feiner Riss war, später aber erhebliche Ausmaße annahm und in den sechziger Jahren mitunter geradezu zum Gegensatz wurde.“ Zwanzig Jahre später in den achtziger Jahren hießen die beiden Kombattanten auf deutscher und auf amerikanischer Seite Helmut Kohl und Ronald Reagan. Hören wir von Ferdinand Kroh, wie es 1987 zur Sache ging: „Nach dem Wirtschaftsgipfel 1987 in Venedig flog die Air Force One Präsident Reagan nach Berlin. Er hatte zu gratulieren, denn die alte Reichshauptstadt wurde 750 Jahre alt. Als er seine Absicht, diese Reise zu unternehmen, kundtat, hatten West-Berliner Politiker ihm vorgeschlagen, eine Rede vor einer geladenen Menschenmenge zu halten, und zwar vor dem alten Reichstag neben dem Brandenburger Tor. Aber Reagan wollte seine Rede direkt vor dem Tor halten, schließlich wusste er schon, was er sagen würde. In einem Gespräch mit dem US-Senator Robert Byrd hatte der CDU-Bundestagsabgeordnete Friedmann [Sie erinnern sich doch an den Zusammenstoß mit Kohl nach dem Gipfel von Reykjavik?] erklärt, man müsse eine operative Wiedervereinigungspolitik führen, die Zeit sei reif. Byrd hatte dies seinem Präsidenten mitgeteilt. Sofort erhob sich bei den deutschen Leisetretern Protest, als sie von Reagans Absichten erfuhren. Die deutschen Politiker waren davon überzeugt, dass diese Rede an einem solchen Ort als Provokation aufgefasst werden könnte. Kanzleramtsminister Schäuble wurde bestürmt, einen provokanten Auftritt Reagans zu verhindern. Reagan blieb stur. Er wollte provozieren. [...] Vor der Rede am Brandenburger Tor unternahm Reagan noch eine Tour entlang der Mauer. Als er in der Nähe des Reichstags stand, bemerkte er die Graffitis. Dort standen Sätze wie »Die Mauer wird fallen« und »Wünsche werden wahr«. Er machte die ihn begleitenden Presseleute auf die Sätze aufmerksam und sagte: »Ja, in ganz Europa wird diese Mauer fallen. Diesem Glauben kann man nicht widerstehen. Die Mauer kann dem Frieden nicht widerstehen.« [...] Gegen einen leichten, aber lebhaften Wind ankämpfend, sprach er von Frieden und der Notwendigkeit von Veränderung hinter dem Eisernen Vorhang. Und dann rief er den Satz aus: »Öffnen Sie dieses Tor, Mr. 1516 1987 Gorbatschow!« Die Menge tobte. Niemals wurde an der Mauer etwas so Eindeutiges gesagt. Für Reagan war das keine neue Idee; er hatte schon 1967 diesen Gedanken vorgebracht.“ Hätte Ronald Reagan aber zuvor Sebastian Haffner gelesen, dann hätte er nicht Michail Sergejewitsch sondern seinen Freund Helmut verbal vermöbelt. Nach Ronald Reagans Besuch, der den Europäern Beine machen sollte, schrieb Helmut Kohl in einem Brief an die Landsmannschaften, dass „die CDU die Überwindung der Teilung Deutschlands wieder zu einem Schwerpunkt ihrer Politik macht [...] unter dem Eindruck [...] der hervorragenden Vorschläge Reagans.“ Genau unter diesem Eindruck. Was die Franzosen von der Mauer hielten, machten sie im gleichen Jahr klar: „In jenem Jahr fanden in Berlin die 750-Jahr-Feiern statt. Ein herausragendes Ereignis in diesem Zusammenhang war, nach der Rede Ronald Reagans vom 12. Juni 1987, die er mit dem historischen Appell verbunden hatte, die Mauer niederzureißen, der Start der Tour de France vom Brandenburger Tor aus – eine politische Demonstration. Zum Start der Tour kam auch Premierminister Chirac nach Berlin.“ Was die Großen der Welt von der architektonischen Revolution einer Mauer durch eine Stadt hielten, war Unserem Genossen Erich aber fast gleichgültig. Auch einem sowjetischen Außenpolitiker Falin gelang es nicht, Erich umzustimmen: „Reagans Aufforderung vor dem Brandenburger Tor betraf die Situation in Berlin, die sogenannte Vermenschlichung der Grenze zwischen West- und Ost-Berlin, zwischen Westund Ostdeutschland. Übrigens hat die sowjetische Seite dieses Thema mehrere Male der DDR-Führung beizubringen versucht, um es positiv zu lösen. Aber alle unsere Vorstöße stießen immer auf eine harte und kurzsichtige Position von Honecker und anderen. Die Amerikaner wussten praktisch alles, was in der Führung der DDR vor sich ging. Sie wussten von den sowjetischen Gesprächen mit Honecker. Honeckers Taktik blieb stur – zuhören und alles beim Alten lassen.“ Völlig egal war ihm die Mauer aber dann doch nicht, wie wir bald sehen werden. 1517 1987 Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Moskau Im Sommer des Jahres 1987 fuhr der Bundespräsident nach Moskau. Beim Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher kann man nachlesen: „Vom 6. bis 11. Juli begleitete ich Bundespräsident von Weizsäcker bei seinem Staatsbesuch in die Sowjetunion. Seine Reise war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert und von großer Bedeutung, denn auch aus den Publikationen sowjetischer Politiker und Diplomaten wird heute erkennbar, dass die Folgen des Newsweek-Interviews trotz Wien noch nicht ganz überwunden waren. So schreibt der frühere Botschafter Kwinzinksij in seinem Buch Vor dem Sturm: »Inzwischen wurden Besuche von Bundesministern in Moskau abgesagt, brach das Programm von Kontakten zusammen, das beim Besuch Genschers vereinbart worden war. Ich musste Gesprächen mit dem Kanzler ausweichen, und Moskaus Repräsentanten machten um Bonn einen Bogen.«“ Nur gut, dass der Kanzler diese Wirkung weder vorausgesehen noch beabsichtigt hatte. „Dem Bundespräsidenten fiel bei diesem Besuch die Aufgabe zu, den deutsch-sowjetischen Beziehungen einen neuen Impuls zu geben. [...] Gorbatschow zeigte sich um Ausgleich bemüht; er suchte Verständigung. [...] Die Unterredung von Bundespräsident von Weizsäcker und Generalsekretär Gorbatschow war zuweilen recht deutlich, ja streckenweise hart.“ Vermutlich, weil Herr von Weizsäcker in der Person des Herrn Gorbatschow einen ganz schön sturen Esel vor sich hatte. Man sprach über dies und das und „im Verlauf der Gespräche erhob Weizsäcker dann die Frage der deutschen Einheit – »fast just for the record« [fast nur für das Protokoll], wie er später dem Autor [T. G. Ash] gegenüber im deutsch-englischen Gemisch erklärte. Er forderte damit eine unerwartete Antwort heraus, die schnell in aller Munde sein sollte. Die politische Realität, so entgegnete Gorbatschow, habe zwei deutsche Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen geschaffen. Und, wie es im veröffentlichten Bericht der sowjetischen Seite hieß: »Beide haben sie Lehren aus der Geschichte gezogen, und 1518 1987 jeder kann seinen Beitrag zu den Angelegenheiten Europas und der Welt leisten. Und was in hundert Jahren sein wird, wird die Geschichte entscheiden.«“ An dieser Antwort war bis dahin erst einmal noch gar nichts unerwartet. Der Herzschlag kam erst, als Weizsäcker, der sich noch Monate nach dem Mauerfall immer wieder gegen eine Vereinigung aussprach, Gorbatschow anstänkerte: „Oder vielleicht in fünfzig?“ Die Frage von Weizsäckers nach der deutschen Einheit (ohne eine Zusage, was aus den „deutschen Ostgebieten“ wird) und mitten in der Moskauer Verstimmung über Kohls Vergleich zwischen Goebbels und Gorbatschow, darf ich doch als ein neuerliches Stänkern deuten? Danke. Da dieses Thema aber zwischen Washington und Moskau schon seit Jahren diskutiert wurde, gab Gorbatschow dem Edlen trotz allem „ein Zeichen der Zustimmung“. Damit wird der Edle ja nun am allerwenigsten gerechnet haben. „In seinen Memoiren erwähnt Eduard Schewardnadse, Genscher habe ihn – nach der Vereinigung – gefragt, wann er zum erstenmal die deutsche Vereinigung als unabwendbar angesehen hatte. Und er zitiert seine überraschende Antwort: »Schon 1986«. [...] Natürlich, so sagte Schewardnadse, sei der Zeitplan unbekannt gewesen, doch Gorbatschows Formel von »einhundert Jahren« wäre nur als Beruhigung der öffentlichen Meinung in der Sowjetunion gedacht gewesen, die für das radikale private Denken ihrer Regierungsspitze noch wenig Sinn gehabt habe.“ Über die völlig unerwartete Entwicklung schrieb Der Spiegel wesentlich später: „Im Jahr darauf nannte ZK-Konsultant Nikolai Portugalow öffentlich die Ost- wie die Westdeutschen einer Nation zugehörig, und Gorbatschow brach ein Tabu: Nach einem Vierteljahrhundert völliger Immobilität erklärte ein Kreml-Herr dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker gegenüber, die deutsche Frage sei offen. Ein Plädoyer Weizsäckers für die Einheit strich sein Gastgeber Andrej Gromyko, der führende Hardliner, aus der Publikation der Iswestija. Gorbatschow setzt die Veröffentlichung im Nachhinein durch.“ 1519 1987 Das gemeinsame Papier von SED und SPD vor dem Großen Besuch Honeckers in Bonn „Im August 1987, am Vorabend von Honeckers Besuch in Bonn, präsentierten Eppler [SPD] und Reinhold [SED] schließlich ihr gemeinsames Papier unter dem Titel: »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«. Es wurde nicht nur in der westdeutschen Presse, sondern auch im ostdeutschen Neuen Deutschland veröffentlicht. Es war ein gewundener Text.“ Eine interne SED-Parteiinformation vor der Veröffentlichung dieses Papiers machte deutlich, dass es ideologischer Kopfstände bedurfte, um einen solchen Text, der Reformen einforderte, der eigenen Mannschaft plausibel zu machen: „Für uns steht daher nicht die Frage, ob sich am Wesen des Imperialismus etwas verändert hat, sondern ob er zum Frieden gezwungen werden kann. [...] Von der Reformfähigkeit des Kapitalismus zu sprechen heißt, diesen auch als reformbedürftig anzusehen.“ Und diese Meinung fand sich nach dem Ende des Spuks in der Presse: „Höhepunkt ist aber der ständig wiederholte Versuch, das sogenannte SPD-SED-Papier rückschauend umzudeuten. [...] Abgesehen davon, dass hier ein Fall von typisch deutscher Selbstüberschätzung vorliegt, ging es doch tatsächlich um nichts anderes als einen von vielen Fällen der Anbiederung an das SED-Regime, um »Normalisierung« der Beziehungen unter der Überschrift »Friedliche Koexistenz«.“ „Dagegen verteidigte noch in der vergangenen Woche Erhard Eppler die absurd machtfixierten SPD/SED-Gespräche samt dem dubiosen Einigungspapier in der Enquetekommission des Bundestages, deren Mitglied Poppe ist, mit dem Argument, auf diese Weise seien die Reformer in der SED gestärkt worden.“ In einem späteren Interview mit Ex-Kanzler Willy Brandt fragte ihn ein Spiegel-Redakteur: „Die SPD, aber auch Sie müssen heute den Vor1520 1987 wurf ertragen, sie hätten sich zuwenig um die Oppositionsparteien in den osteuropäischen Staaten gekümmert, weil eine Destabilisierung der dortigen Regierungen verhindert werden sollte.“ Allein die Frage spricht Bände. Was heißt eigentlich – Aber auch Sie. Vielleicht war er der Vorsitzende der Partei? Freud lässt grüßen. Es hätte zumindest heißen müssen – aber auch Sie persönlich. Brandt hat auf diese Frage geantwortet: „Ich habe vorhin Herrn Dienstbier erwähnt. Ich war 1985 in Prag. Da war er noch Heizer. Peter Glotz hat damals in meinem Auftrag mit ihm und den Leuten der Charta 77 gesprochen. Drei Jahre später, bei meinem Besuch in Moskau, führte Hans Koschnick für mich Gespräche mit dortigen Sozialdemokraten und Liberalen. Horst Ehmke und ich hatten in der Deutschen Botschaft Gespräche mit Tadeusz Mazowiecki, der damals, im Jahre 1985, einer der engsten Mitarbeiter von Lech Wałesa war. Soll ich den Beispielen weitere hinzufügen?“ Der Spiegel konnte sich überhaupt erstaunlich gut an diese Zeit erinnern: „Sozialdemokraten, die den Kontakt zu Oppositionellen suchten, standen in der Kritik ihrer Parteiführung, weil sie die Beziehungen zur SED belasteten.“ Oder sie wurden gleich ganz von der Verantwortung befreit und mussten sich dann zur Strafe um „die Partei und ihre Kindergärten“ kümmern wie Brandt. Und Timothy Garton Ash fand noch ganz andere interessante Details heraus: „Es gab nur wenige, für die die Vereinigung Deutschlands zu einem Staat in absehbarer Zukunft ein ernsthaftes Ziel war, über das sie sowohl nachgedacht als auch gesprochen haben. Und die wenigen, die dennoch darüber sprachen oder schrieben, wurden häufig selbst von Christdemokraten als Randerscheinung betrachtet, wenn nicht sogar unverantwortlich genannt.“ Zauberhaft war auch, wie Der Spiegel aus Hamburg eine ernste Kritik ins Bärtige verschob: „Unter dem Dach des Internationalen Congress Centrums klatschen ergriffen auch junge Sozialdemokraten aus der DDR: »Ja«, versichert in ihrem Namen Pfarrer Markus Meckel, SDPMitbegründer und nachmaliger Außenminister der DDR, »wir werden für den deutschen Einigungsprozess eintreten.« Doch der Rauschebart offenbart auch seinen Zorn darüber, dass die Partei allzu lange auf 1521 1987 ihren Exklusivpartner SED fixiert gewesen ist: Die West-SPD habe zu zögerlich »das Gespräch mit den oppositionellen Gruppen gesucht«.“ Das erinnert mich doch verdammt an die feine Umgangsweise der Bonner und später Berliner Regierungen seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts mit China. Bin ich wirklich so ungerecht? „Nach Egon Bahr war Karsten Voigt wohl häufigster SPD-Besucher im Haus des Zentralkomitees. Im Juli 1987 – die DDR war nach einer späteren Auskunft des SED-Wirtschaftslenkers Günter Mittag längst pleite – erfreute er seine Gesprächspartner von der Staatspartei mit Lob.“ Und Helmut Kohl steuerte dem Lob noch 525 Millionen DM in Form einer Transitpauschale und 200 Millionen als Postpauschale bei. Sie wissen ja: Money makes the world go round. 1522 1987 Der deutsch-deutsche Herbst Am 7. September kam Erich Honecker nach zehnjähriger Planung nun endlich mit einer ganzen Delegation von Kommunisten an Bord einer Interflugmaschine zu seinem Staatsbesuch in die völlig provisorische Hauptstadt Bonn bei Köln, in das schöne München und andere schöne Städte der schönsten Bundesrepublik Deutschland. Sicher hätte es ein schöner Sonderzug auch getan, aber dann hätte Honecker ja nicht das erhebende Gefühl eines erhebenden Atlantikfluges nach Bonn gehabt. Hören wir zuerst den Genossen Generalsekretär Honecker selbst: „Der Empfang in Bonn im September 1987 war freundlich. Zum ersten Mal erklang die Staatshymne der DDR in Bonn; der Staatsflagge der DDR wurde die ihr zukommende Ehre erwiesen. Im Gegensatz zu Verlauf und Inhalt unserer bisherigen zweiseitigen Gespräche unter vier Augen waren allerdings die Reden von Kohl auf den offiziellen Empfängen grob gestrickt. Bekanntlich erwiderte ich dies auf einem der offiziellen Empfänge mit den in meiner Rede eingeflochtenen Worten: »Sozialismus und Kapitalismus lassen sich ebenso wenig vereinen wie Feuer und Wasser.« Dennoch möchte ich rückblickend sagen, die Verhandlungen verliefen sachlich. Sie fanden auch in den Medien der BDR eine gute Aufnahme.“ Im Buch steht wirklich BDR, was auch immer im Manuskript stand. „Kohl begann seine Tischrede – vor dem Abendessen, damit die Fernsehzuschauer in beiden deutschen Staaten die Möglichkeit hatten, ihm zuzusehen – mit einer ausdrücklichen Betonung seines Glaubens an die deutsche Einheit. Der Blick von Millionen Deutschen zwischen Stralsund und Konstanz, zwischen Flensburg und Dresden und in Berlin – sagte er – sei auf diese Begegnung gerichtet. »Das Bewusstsein für die Einheit der Nation ist wach wie eh und je, und ungebrochen ist der Wille, sie zu bewahren. [...] Die Menschen in Deutschland leiden unter der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt.«“ Auf Joseph Goebbels und auf Bitburg. 1523 1987 Und auf die Konzentrationslager. Prosit. Sie waren bei seinem Herzensanliegen für das Heimatland gewiss ganz besonders segensreich. Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker „brachte seine Freude zum Ausdruck, E. Honecker in der Villa Hammerschmidt willkommen heißen zu können. Bei seiner Amtsübernahme im Sommer 1984 habe er auf den baldigen Besuch Honeckers gehofft, allerdings habe sich das Haus damals im Umbau befunden. [...] E. Honecker äußerte seine Freude, nach dem seinerzeitigen Gespräch im Berliner Schloss Niederschönhausen erneut mit R. v. Weizsäcker zusammenzutreffen, wobei er für alle Unterstützung danke, die R. v. Weizsäcker dem Zustandekommen der heutigen Begegnung habe zuteil werden lassen. Vieles, worüber man damals gesprochen habe, sei bereits Wirklichkeit geworden oder werde es mehr und mehr. Es bestünden gute Voraussetzungen, die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD zu normalisieren und fruchtbringend zusammenzuwirken. Von den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten hänge für die Gestaltung der Atmosphäre in Europa viel ab. Hierbei stimme er H. Kohl zu, der gesagt habe, beide deutsche Staaten seien nicht der Nabel der Welt, sondern ein Teil der Welt, jedoch ein wichtiger. Vieles sei erreicht worden. Für das Wesentlichste halte er, die große Chance zu nutzen, die sich gegenwärtig im Zusammenhang mit dem in Aussicht stehenden Abkommen der Sowjetunion und der USA über die Mittelstreckenwaffen ergebe. Diese Chance dürfte nicht versäumt werden. Er wisse, dass die UdSSR und M. Gorbatschow fest entschlossen seien, zu einem Ergebnis zu gelangen. Auch gehe er vom Interesse R. Reagans aus, noch in diesem Jahr ein Abkommen abzuschließen und sich mit M. Gorbatschow in den USA zu treffen.“ Weizsäcker sagte auch: „Wir treffen uns weder, um gegeneinander aufzutrumpfen noch um die Wirklichkeit durch Träume zu verklären.“ Fehl am Platz wären Streit und Vorwürfe „unter uns über die Vergangenheit, in der es zur schmerzlichen Teilung Europas, Deutschlands und Berlins gekommen ist. Unsere Aufgabe besteht auch nicht in großen Prophetien für das nächste Jahrhundert. Was uns die Geschichte 1524 1987 in der Zukunft bringen wird, ist offen für uns alle. Wir können sie nicht vorhersagen. Aber wir können ihr konstruktiv zuarbeiten.“ Danach folgte ein Gespräch Erich Honeckers mit Herrn Bundeskanzler Helmut Kohl im erweiterten Kreis: „H. Kohl erklärte, er möchte die Gelegenheit nutzen, um im Weiteren einige bilaterale Fragen zu besprechen. Als er sich zum ersten Mal mit E. Honecker getroffen habe, habe man vernünftig miteinander reden können. Dabei sei man sich einig gewesen, dass das Wichtigste sei, aus der deutschen Geschichte zu lernen. Er habe neulich noch einmal nachgelesen, wie dieses Jahrhundert eröffnet worden sei. Es sei als Jahrhundert der Vernunft, des Friedens bezeichnet worden und wie sei es tatsächlich verlaufen. Es sei eine sehr persönliche Entscheidung für diesen Besuch gewesen. Die beiden deutschen Staaten müssten ihren Beitrag zum Frieden leisten, natürlich könnten sie sich dabei nicht übernehmen. Sie seien nicht das Maß aller Dinge.“ Über Kohls Äußerungen im anschließenden Gespräch im kleinen Kreis wurde fein festgehalten: „Er habe bei dem Gespräch in Moskau gesagt, dass kaum DDR-Bürger in der BRD bleiben würden. Die Zahl von 0,02 Prozent bestätige dies.“ Honecker muss diese Formulierung überhört haben. Hier wollte der Herr Kanzler sicher sagen, macht doch einfach die Grenze auf, die Leute fahren schon wieder nach Hause. Andererseits war es nicht besonders clever kalkuliert, das schon beim Fernsehauftritt am Anfang als eine Forderung in den Raum zu stellen. Wäre das zuerst in diesem Rahmen diskutiert worden, hätte Honecker ja vielleicht die Möglichkeit genutzt, mit so einem Vorschlag als Held in die Bücher einzugehen. Allerdings hatte Honecker durchaus eine Erklärung zur Hand, warum man dieses Grenzregime in Berlin nicht großzügiger handhaben könne: „Die USA legten sehr großes Gewicht darauf, dass bestimmte Personen nicht über die Grenze wechseln. Die Kontrolle müsse gesichert sein.“ Da würde mich auch interessieren, ob es im Vorlauf tatsächlich eine amerikanische Äußerung gab, auf die er sich beziehen konnte. 1525 1987 Weiter wies Dr. Kohl darauf hin, „dass nach seiner Kenntnis, wenn im Herbst das Abkommen über die Mittelstreckenraketen abgeschlossen werden könne, im nächsten Jahr eine Veränderung der COCOM-Liste erfolgen werde.“ Damit konnten verschiedene bisher illegale Warenausfuhren endlich ohne ein schlechtes Gewissen durchgeführt werden. Verstehenswert ist auch folgende Formulierung von Kanzler Kohl. Auf Honeckers Formulierung, „die DDR sei entschlossen, die Beziehungen zur BRD zu erweitern und den Prozess der Normalisierung weiter voranzubringen“, erwiderte Kohl, „er wolle diesen Prozess psychologisch unterstützen. Er sei an Ergebnissen interessiert. Ihm komme es auf Tatsachen an.“ Tatsache war zum Beispiel die Existenz zweier Staaten hier seit 1949, ob anerkannt oder auch nicht. Tatsache war ebenso der Grundlagenvertrag von 1972, der nach dem Ausscheiden von Brandt dann als Grundvertrag missbraucht wurde. Tatsache war neben vielen anderen Details die im Neubau befindliche Ständige Vertretung Bonns in der „DDR“ fernab der Innenstadt von Ost-Berlin im Grünen. Unter einer Unterstützung versteht man ja so landläufig eine Unterstützung. Was Kohl und die anderen Eingeweihten aus CDU und CSU boten, war jedoch eine psychologische Unterstützung. Ihre platten Äußerungen haben immer mehr Leute von den schlimmen Inhalten weggetrieben, die sie vorgaben, politisch zu vertreten. Die folgende Erläuterung von Prof. Dr. Heinrich August Winkler wäre sonst nämlich nach dem Crash nicht notwendig gewesen: „Die besondere Beziehung zwischen West- und Ostdeutschen ergibt sich aus der gemeinsamen Geschichte seit der Nationsbildung im 19. Jahrhundert. Die deutsche Nation, wie sie sich 1871 konstituierte, wäre nur dann ein abgeschlossenes Kapitel, wenn sich West- und Ostdeutsche nach 1949 zu eigenen Nationen entwickelt hätten. In der Bundesrepublik gab es dazu Ansätze, die aber nicht »offiziell« wurden. Die DDR verstand sich seit den frühen siebziger Jahren zwar offiziell als neue »sozialistische« deutsche Nation, fand aber damit in der Bevölkerung keinen Widerhall. Die deutsche Nation bestand also fort, und sie ist seit 1990 wieder, was sie in der Zeit der Teilung nicht war, eine Staatsnation. 1526 1987 Nicht darum also kann es gehen, ob die Deutschen eine Nation sind, sondern wie sie sich dazu verhalten und was sie daraus machen. »Dass es Nationen gibt, ist historisch das Europäische an Europa«, hat der Historiker Hermann Heimpel einmal bemerkt. So gesehen, kann der Abschied vom postnationalen Sonderweg der alten Bundesrepublik sogar ein Stück europäischer Normalisierung, eine Annäherung an das Selbstverständnis der anderen Europäer, bedeuten.“ Super. Doch zurück zum Staatsbesuch: „In den Gesprächen des Mitgliedes des Politbüros und Sekretärs des ZK, Günter Mittag, mit dem Bundeswirtschaftsminister, Martin Bangemann, wurde der erreichte Stand der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen der DDR und der BRD insgesamt als positiv eingeschätzt. Die vorhandenen langfristigen Vereinbarungen waren dafür eine gute Grundlage. Es wurde festgestellt, dass die im Frühjahr in Leipzig und Bonn getroffenen Absprachen von beiden Seiten voll erfüllt wurden. Beide Seiten haben ihren Willen bekräftigt, die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen weiter zu entwickeln und zu fördern. Dabei kommt den langfristigen Vereinbarungen und der Nutzung von Kooperationsmöglichkeiten eine besondere Bedeutung zu. Dies dient dem weiteren Ausbau der Handelsbeziehungen im Umfang und in ihrer Struktur. [...] Die BRD-Seite informierte über ihren Wunsch, den Internationalen Seegerichtshof als UNO-Organ in Hamburg zu errichten, und bat um Unterstützung durch die DDR.“ In einem Gespräch mit der Ministerin für innerdeutsche Angelegenheiten Dorothee Wilms stellte DDR-Außenminister Oskar Fischer „zu Beginn seiner Ausführungen fest, dass die Aufgabenbereiche beider Minister nicht deckungsgleich seien und der von Frau Wilms in der und für die DDR nicht bekannt sei.“ Das war ihm sehr wichtig. Sie war da praktischer orientiert und wiederholte Dr. Helmut Kohls Hinweis: „Die Quote der Nichtrückkehrwilligen [bei Besuchsreisen in die BRD] läge bei 0,02%, und die BRD sei daran interessiert, dass diese so gering bleibe. [...] Staatssekretär Rehlinger, der von Frau Wilms als »alter Fuhrmann im Geschäft« bezeichnet wurde, erklärte, es sei nicht die 1527 1987 Politik der BRD-Regierung, Leute aus der DDR abzuwerben und das Land zu entvölkern.“ Wie deutlich hätten es die Bonner denn nur noch sagen sollen, ohne dass sich Erich Honecker vor das Mikrofon stellt und den Leuten sagt, dass sie von der CDU/CSU verschaukelt werden? Der Staatsratsvorsitzende jedoch hörte da etwas anderes und verließ deshalb ganz mutig sein Redekonzept: „Bereits im Jahre 1987 habe ich anlässlich meines Besuches in der BRD versucht, den Vereinigungseifer der Bundesregierung zu dämpfen. Unter anderem mit dem Hinweis, dass die Vereinigung von Sozialismus und Kapitalismus ebenso wenig möglich ist wie die von Feuer und Wasser. Das stand nicht im Manuskript meiner Rede zum Empfang des Bundeskanzlers. Angesichts seiner überraschenden provokativen Ausfälle gegen die DDR, die völlig anders waren als die internen Gespräche, hielt ich es für notwendig, das zu sagen.“ In Kohls Werk für diejenigen, die es wirklich wissen wollen – Ich wollte Deutschlands Einheit –, wurde nach der Vaporisierung der „D.D.R.“ erst einmal richtig deutlich, wie sehr Kohl alle diejenigen hasste, die sich die Einheit Deutschlands nicht wünschten: „Er erinnere sich noch gut daran, so Kohl, wie sich der damalige Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD, Hans-Jochen Vogel, mit einem ganzen Forderungskatalog an die Bundesregierung gewandt habe. Auf dieser Liste habe die Aufnahme »normaler Beziehungen« zwischen Bundestag und Volkskammer ebenso gestanden wie die Abschaffung der Erfassungsstelle in Salzgitter.“ Aber wie waren eigentlich nach dem Staatsbesuch plötzlich die völlig normalen Beziehungen zwischen Bundestag und Volkskammer auf den Forderungskatalog der demokratischen Opposition geraten? Das war nämlich so: Philipp Jenninger, der CDU-Mann, der sich dauernd mit diesem Alexander Schalck-Golodkowski von der Ost-Berliner SED traf, trat während seiner Gespräche mit dem Chef dieses ostdeutschen Unrechtsregimes mit einer wertvollen Initiative hervor: „E. Honecker habe zu Recht auf die Verantwortung der Parlamente verwiesen. 1528 1987 Er habe sich zum Ziel gesetzt, die Beziehungen zu Parlamenten sozialistischer Staaten auszubauen. Er habe deshalb auch das Gespräch mit H. Sindermann gesucht und ihm gesagt, dass im Grundsatz auch die Frage von Beziehungen zur Volkskammer anstehe. Es gebe aber noch einige Hindernisse, z. B. müsse der »innerdeutsche« Ausschuss voll einbezogen werden und eine Gleichbehandlung auch der Westberliner Abgeordneten erfolgen. Diese Voraussetzungen spielten vor allem in der Fraktion der CDU/CSU eine Rolle. Er möchte diese Hindernisse abbauen. Die CDU/CSU-Fraktion müsse stärker eingebunden werden in die Kontakte zwischen Parlamentariern, um ihren Widerstand zu überwinden. Er müsse auf die CDU/CSU-Fraktion Rücksicht nehmen. Er sei für kleine Schritte. Auf diesem Wege denke er, das Ziel zu erreichen, Beziehungen zwischen Volkskammer und Bundestag herzustellen. Er teile völlig die Meinung E. Honeckers zur Friedenssicherung, der Einstieg durch die Null-Lösung sei wichtig. Ph. Jenninger wünschte abschließend einen guten Verlauf des Besuches E. Honeckers in der BRD.“ Hier steht klipp und klar, dass nicht irgendein Vertreter von einer feindlichen Partei Herrn Kohl unsittliche Anträge gemacht hatte, sondern, dass die CDUFührung auch solche BundesbürgerInnen hinters Licht führte, die es bis in den Bundestag geschafft hatten. Die schönste Begrüßung für den Gast aus Asien hatte jedoch ein ganz Wilder vom rechten Zipfel zu bieten: „Selbst Alfred Dregger, Spitzenmann der rechten Stahlhelm-Fraktion in der CDU, begrüßte laut DDRProtokollen den Staatsratsvorsitzenden Honecker bei dessen offizieller Visite in Bonn 1987 als »deutschen Kommunisten«, mit dem ihn als »deutscher Demokrat« viel verbinde. Deutsch-deutsche Doppelbödigkeiten.“ Wirklich schade, dass Der Spiegel immer alles nur andeutet. „Auch der heutige SPD-Kanzleraspirant Björn Engholm kam in den Genuss des Ost-Berliner Wohlwollens. […] Deshalb schlug er [Egon Bahr] vor, dass Engholm den Staatsratsvorsitzenden »im Hinblick auf die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein für zehn Minuten und vor allem auch medienwirksam« treffen könne. Honecker war einverstan1529 1987 den. Auch Bahrs zweite Bitte für seinen Genossen im hohen Norden wurde erfüllt: Er hatte Axen gefragt, »ob man einen winzigen Badesee im Grenzgebiet zur DDR nicht für das Baden freigeben könne, was sehr massenwirksam wäre.«“ Es kam übrigens – trotz der vorgeblichen juristischen Vorbehalte – zu einer Begegnung der zwei Außenminister, wie Hans-Dietrich Genscher berichtet hat: „Neu war, dass ich am Dienstagmorgen Außenminister Fischer im Auswärtigen Amt empfing. Es war unser erstes Gespräch auf deutschem Boden, denn die DDR war ja für uns kein Ausland und die Beziehungen zu ihr entsprechend keine auswärtigen. Sie lagen allein in der Verantwortung des Bundeskanzleramts. Diesmal jedoch reiste Fischer als Mitglied der Delegation des Staatsratsvorsitzenden Honecker an.“ Schwupp, und da mussten sich nun plötzlich auch die beiden Außenminister treffen. Es ist doch immer die Hauptsache, dass man für alles eine Formulierung bei der Hand hat. Als Lehrer kenne ich das Phänomen. Es gibt Schüler, die einen Verwandten auch zum dritten Mal sterben lassen, wenn sie erklären wollen, warum sie eine Hausaufgabe nicht machen konnten. Am 11. September 1987 traf Erich Honecker schießlich wieder einmal zu einem Gespräch mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß von der „CSU“ zusammen, der weise Worte zu ihm sprach: „2500 Jahre lang seien Kriege geführt worden, einmal müsse Schluss damit sein.“ Sie haben aber noch im Ohr, wie er gegen die Helmut Kohl abgerungene Zusage war, die Pershing 1A abzubauen? Und dieser Herr Strauß überhäufte Honecker mit Freude: „Die Grenzlage sei weiterhin ruhig, die Grenzabfertigung korrekt und zügig, auch die Grenzsperranlagen seien verändert worden. Erich Honecker habe Wort gehalten.“ Franz Josef Strauß hatte seinem Freund und Genossen Erich Honecker in diesem Gespräch viel mehr Verständnis für die Zustände an der Mauer entgegengebracht, als es die Staatsbürgerinnen und die Staatsbürger der DDR je getan hatten, so dass sich mir bei so warmem Verständnis die Frage aufdrängt, warum Strauß bei dieser so wahnsinnig günstigen Gelegenheit nicht auch gleich ein Übersiedelungsersuchen 1530 1987 in die DDR formulierte: „Die Grenzanlagen zwischen der DDR und der Bundesrepublik könnten nicht so sein wie zwischen Bayern und Österreich.“ Diese Worte hat der Anti-Hitler-Verschwörer dann im Passauer Bierzelt sicherlich nicht wiederholt. Sie erinnern sich doch an die sowjetischen Befürchtungen, hier braue sich etwas gegen sie zusammen. Doch dem war nicht so: „Honecker jedenfalls war entgegen den Befürchtungen Falins auf seinem »Anerkennungstrip« nach Bonn im September 1987 hart geblieben. Fast. Denn auf einem Abstecher in seine saarländische Heimat äußerte er überraschend zum ersten Mal öffentlich seine Zustimmung zu den alten Plänen Helmut Schmidts, die in das Modell Länderspiel gemündet waren. Von Journalisten nach der deutsch-deutschen Zukunft befragt, antwortete er sinngemäß: Wenn alle Vorhaben zwischen der Bundesrepublik und der DDR, wie sie auf seinem Besuch besprochen und vereinbart worden waren, umgesetzt würden, dann könnte die Grenze zwischen beiden Staaten in Zukunft so aussehen, wie die zwischen Polen und der DDR. Also offen!“ Schluss, aus, Klappe. Das war die falsche Einspielung. Wir wiederholen diese Szene 824: „War dies nach seinem Nein zu den Ergebnissen der Geheimgespräche von Beil & Co. ein kleiner historischer Kompromiss, der ihm da vorschwebte? Die journalistische Öffentlichkeit jedenfalls begann sofort wieder mit ihren Spekulationen. Aber Bonn dachte gar nicht daran, auf Honeckers Vorschlag zu reagieren. Dieser Satz ging im deutsch-deutschen Tagesgeschäft unverständlicherweise völlig unter. Die Begründungen, die der damalige Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble dafür gibt, sind aus heutiger Sicht nicht nachzuvollziehen. Seiner Ansicht nach war das Angebot der Reisefreiheit nicht ernst zu nehmen.“ Haben wir das jetzt? Der Osten ist böse, böse, böse und böse. Dann haben wir heute genug geschafft. Schönen Feierabend! Aber soll Herr Honecker doch selbst die Überlegungen darbieten, die ihn damals umgetrieben haben. Vielleicht wird es dadurch ja leichter, nachzuvollziehen, was er da 1987 meinte: „Die Privilegien der Intellek1531 1987 tuellen, der Künstler, gegenüber dem einfachen Arbeiter, diese Unterschiede wurden in der letzten Zeit immer größer. Sie führten zu einem Spalt zwischen Volk und Führung. Wenn Sie damit unsere Reisepolitik meinen, dann stimme ich Ihnen mit einer kleinen Einschränkung zu: Es ist mir seit Langem klar geworden, dass die Reisefeiheit für Intellektuelle den einfachen Leuten nicht immer verständlich war. Das führte mit der Zeit zu einer Missstimmung. Wir haben versucht, durch die Erweiterung der Reisemöglichkeiten nach dem Westen die Dinge zu beheben. So konnten 1986 bis 1989 jährlich zwischen fünf und sechs Millionen Bürger der DDR die Bundesrepublik Deutschland und BerlinWest besuchen. Wir hatten damit praktisch auch die Trennung der Reisemöglichkeiten zwischen Rentnern und den übrigen Bürgern aufgehoben. Während meines Aufenthaltes in der BRD hat man mich sehr oft nach der Ursache dieser zwiespältigen Reisepolitik gefragt. Ich habe ganz offen gesagt, wenn die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD nach dem Völkerrecht entwickelt werden, wird es auch möglich sein, auf dem Gebiet des Reisens weiter die DDR zu öffnen. Man hat hoch eingeschätzt, dass der damalige Reiseverkehr schon freier war. Alle Beschränkungen konnte man bekanntlich nicht aufheben, denn es gab Betriebe, die ja ein festes Regime in Bezug auf Arbeitskräfte hatten, um die Produktion im Betrieb aufrechtzuerhalten und eine hohe Effektivität zu erreichen. Großräumige Reisen waren praktisch nur in Urlaubszeiten möglich. Ich habe allerdings damals zum Ausdruck gebracht: Wenn die Aufgaben erfüllt sind, die wir uns im gemeinsamen Kommuniqué gestellt haben, dann wird auch der Tag kommen, an dem die Grenze zwischen der DDR und der BRD den Charakter annimmt wie die Grenze zwischen der DDR und Volkspolen. Es wird eine Grenze werden, die uns nicht trennt sondern einigt. Diese Worte von mir wurden als Sensation betrachtet. Franz Josef Strauß sagte zu mir: »Herr Vorsitzender, was soll ich daraus entnehmen?« Ich habe bestätigt, dass unser Wille darin besteht, die Reisemöglichkeiten zu erweitern, und zwar für alle Bürger der DDR einen Reisepass auszufertigen, der ihnen die Möglichkeit gibt, in alle Himmelsrichtungen zu reisen. Allerdings wurde das Reisen auch gehemmt durch die 1532 1987 notwendigen Devisen. Es fuhren mehr Bürger der DDR in die BRD als Bürger der BRD in die DDR, und unsere Reichsbahn hatte dadurch Devisenausfälle von etwa 100 Millionen Mark. Aber diese Fragen wollten wir mit der BRD besprechen.“ Überlegungen dieser Art habe ich bei dem Konsistorialassessor, dem Konsistorialpräsidenten und General-Superintendenten, und später auch Konsistorialrat und Oberkonsistorialrat von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Herrn Dr. h.c. Manfred Stolpe, nicht gefunden. Bei ihm klang die Sachlage ganz anders: „Im Interesse der bestehenden Ordnung hat der damalige Kirchenjurist auch die Einschränkung der Informations- und Pressefreiheit gerechtfertigt und die Beschneidung des Rechtes auf Freizügigkeit für menschenrechtskonform erklärt. »Die Ausreise in kapitalistische Länder ist auf gesetzlicher Grundlage genehmigungspflichtig. [...] Eine generelle Ausreisegenehmigung für alle Bürger ist zur Zeit nicht möglich. Sie würde sofort einen subjektiven Abwerbungsmechanismus auslösen, dem infolge von Wohlstandsverblendung doch eine größere Zahl von Menschen erliegen könnte«, hatte Stolpe seinerzeit gesagt.“ Es ist gewiss sehr ungerecht, in dieser Angelegenheit immer nur auf Manfred Stolpe herumzuhacken. Der Genosse Egon Krenz vermerkte, dass das Grenzregime bei den Verhandlungen zwischen BRD und DDR nie ein Gegenstand der Erörterungen war. Das bestätigte Egon Bahr in seinem Werk Zu meiner Zeit und begründete das 1996 damit, dass die Sowjetunion in dieser Frage das Sagen hatte. Auch er ging von einer faulen Leserin aus. Genscher schrieb ein Jahr zuvor das Gegenteil, und am 24. Oktober 1996 befand das Karlsruher Bundesverfassungsgericht, dass der Einfluss der Sowjetunion auf die Ausgestaltung der Grenzsicherungsanlagen in Deutschland „eher gering“ war. Die Reisefreiheit hing somit nicht an Moskau und nicht an Honecker sondern an Bonn. Endweder man erkannte jetzt offen die andere Staatsbürgerschaft an oder man orientierte sich unter Abkehr von Adenauers Masterplan auf eine Vereinigung um. Beides geschah nicht, mit den bekannten Folgen. 1533 1987 Ab und zu störten Uneingeweihte die gute Harmonie. „Gemeinsam mit anderen Bürgerrechtlern gründete [Bärbel] Bohley 1986 die »Initiative für Frieden und Menschenrechte« (IFM), die anders sein wollte als die zahlreichen kirchlichen Friedenskreise im Land – eine Oppositionsgruppe nach dem Vorbild der tschechischen Charta ’77. Damals lernte sie die westdeutsche Grünen-Gründerin Petra Kelly kennen und schätzen, die im Unterschied zu anderen West-Politikern Kontakt nicht nur zu den Mächtigen in der DDR suchte. Regelmäßig traf sich die Bundesstagsabgeordnete Kelly mit DDR-Oppositionellen, die sie mit Büchern und Druckmaterialien versorgte, »kofferraumweise«, wie sich das einstige IFM-Mitglied Ralf Hirsch erinnert. Als Erich Honecker 1987 Bonn besuchte, schenkte die Grünen-Politikerin dem SED-Boss einen Bildband der DDR-Malerin – ein in den Jahren der Teilung einmaliger Akt der Solidarität.“ Von Petra Kelly oder dem Gert Weisskirchen: „In einem Meinungsaustausch mit Rettner kritisierte Glotz das Einreiseverbot für den Wieslocher SPD-Bundestagsabgeordneten Gert Weisskirchen. Dieser habe sich, so Glotz, die »Betreuung von Dissidenten in der DDR zur Aufgabe gemacht«. Das werde zwar »von den führenden SPD-Vertretern keineswegs überbewertet«, aber es gehe um Prinzipien, deren Einhaltung von vielen Genossen angemahnt würde, die sonst mit Weisskirchen »nichts am Hut« hätten. Die Kontakte Weiskirchens, aber auch der SPD-Bundestagsabgeordneten Freimut Duve und Hans Büchler zu DDR-Oppositionellen waren in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein Dauerthema in den einheitssozialistischen Gesprächsrunden. Führende Genossen fanden nichts dabei, ihre Parteifreunde dafür zu tadeln.“ Ganz so einmalig war das offenbar nicht; zum Zuge kamen die Gegenspieler aber nicht: „Bürgerrechtler waren allemal ein Störfaktor in der gouvernementalen Nebenaußenpolitik der SPD. Sozialdemokraten, die den Kontakt zu Oppositionellen suchten, standen in der Kritik ihrer Parteiführung, weil sie die Beziehungen zur SED belasteten.“ Und auch den nächsten Kanzleraspiranten wollten die Leute in Halle, Stralsund, in Dresden, Erfurt und Leipzig dann genauso wenig wählen. „Oskar Lafontaine [SPD!] sprach sich zwar ebenfalls gegen das Weisskirchen 1534 1987 [dieselbe SPD!]-Einreiseverbot aus, aber die SED-Akten zitieren ihn mit der Bemerkung, er halte den Bundestagsabgeordneten für einen »Einzelgänger, der sich mit bestimmten Kontakten in der DDR interessant machen« wolle. In einer Partei wie der SPD sei es nahezu unmöglich, alles unter Kontrolle zu bringen, schon gar nicht die Abgeordneten des Bundestages. Lafontaine fügte zur Beruhigung seiner Partner hinzu: Auch die Kontakte führender SPD-Politiker zur evangelischen Kirche bedeuteten nicht, dass die SED nicht weiterhin den Vorzug genieße – jede andere Vorstellung sei »völlig absurd«.“ „Die damalige SPD-Bundesgeschäftsführerin Anke Fuchs etwa äußerte gegenüber ZK-Westabteilungschef Rettner laut dessen Bericht im Dezember 1987 »die Sorge, dass auf Grund des pluralistischen Charakters der SPD die Führung der Partei die Kontrolle über die Kontakte von SPD-Gliederungen und Mandatsträgern in der DDR verlieren könne . . . Priorität müssten die Parteibeziehungen haben.«“ Was die kritisierte gouvernementale Nebenaußenpolitik der bösen SPD angeht, fehlt hier wiederum der entscheidende Hinweis, dass es gleichlautende Kritiken auch bereits über die Zeit gab, in der die gute CSU und die mindestens ebenso gute CDU ein Dutzend Jahre in der Opposition waren. In den Jahren nach dem Ende der Teilung kamen dann unerfreuliche Details aus den Unterlagen der Staatssicherheit ans Licht. Wie ließ sich der schräge Eindruck beheben, der so entstanden war? „Konfrontiert mit den zitierten Auszügen aus den SED-Berichten, unterstellt Oskar Lafontaine dem Verfasser [des Spiegel-Artikels], dieser gehe davon aus, »dass in den Akten der SED die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu finden ist. Es wäre für einen Zeitgeschichtler hilfreich, bei der Aufarbeitung sich auf westliche Zeitungsberichte zu stützen.«“ Na, das ist doch ein Wort, Kurt. Wenn ich allerdings die Wahl habe zwischen den beiden Optionen, weiß ich, worauf ich eher vertraue. Ick schwör. Ganz ähnliche Ratschläge gab auch schon der so unglaublich populäre Politologe Baring in seinem Werk Machtwechsel – Die Ära Brandt/Scheel. Dort hieß es in demselben Ton: „Auch Sitzungsprotokolle werden hier 1535 1987 die Neugier unbefriedigt lassen; Politiker gehen diskreter miteinander um, als mancher vermutet. [...] Erstaunlich viel steht übrigens auch in Zeitungen und Zeitschriften. Immer wieder ist man verblüfft, was alles in die Öffentlichkeit dringt und irgendwo publiziert wird.“ Genau. Hören wir die Einschätzung des Briten Ash: „Ob sie es nun auf genau dieselbe Weise analysierten oder nicht, jedenfalls setzten Bundeskanzler Kohl und sein Team in der Praxis genau diesen politischen Ansatz fort, mit zunehmender äußerer Anerkennung der DDR, bis hin zum bemerkenswerten Crescendo des Honecker-Besuchs 1987. [...] Nach den zur Verfügung stehenden Akten der DDR über diese Begegnungen – die natürlich mit Vorsicht behandelt werden müssen – waren nur wenige dieser prominenten westdeutschen Besucher unmittelbar auf die Frage der Menschenrechte zu sprechen gekommen, wenn auch viele diskret Listen mit »humanitären Fällen« übergaben. Alle waren sie respektvoll und höflich. Denn »halfen« sie »den Menschen« nicht gerade durch diese Höflichkeit, die manchmal schon in Schmeichelei ausartete? (Mit Sicherheit aber halfen sie ihrem eigenen politischen »Profil« in der Fernsehdemokratie Bundesrepublik.)“ Fällt Ihnen auf, dass der Brite 1987 sagt und nicht in 1987? So heißt das auf Deutsch. Die westdeutsche Variation geht auf die englische Sprache zurück, ist aber nicht allein deshalb schon richtig. Der Brite weiß es. Zusammenfassend darf gesagt werden, dass unserem Genossen Erich Honecker von seinem Großen Bruder in der Bundesrepublik sehr viel mehr Vertrauen in seine leitende Tätigkeit entgegengebracht wurde als von den Leuten in der DDR. Seine Karriere war aber auch atemberaubend. Im Jahr 1912 wurde Erich Honecker als ein süßes kleines Kind in Neunkirchen an der Saar geboren. Er besuchte bis zum vierzehnten Lebensjahr eine Schule. 1926 begann er als Landarbeiter in Pommern zu arbeiten. Ab 1928 arbeitete er zunächst als Dachdeckergehilfe und nahm schließlich eine Dachdeckerlehre in Angriff. 1930 brach er diese Lehre vorzeitig ab. Zwischenzeitlich besuchte er 1929 eine Bezirksschule des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands. 1930/31 besuchte er auch die internationale Lenin-Schule in Moskau. Vielleicht 1536 1987 gab es die Kurse dort noch nicht einmal auf Deutsch. Und 1931 wurde er Politischer Leiter von irgendwas. Ja, liebe Kinder, nun kennt Ihr den Grund, warum Eure Eltern wollen, dass Ihr was lernt. Nach dem Krieg blieben dem Mann zweieinhalb Jahrzehnte zum Besuch von Schulen. Er hat diese Frist bedauerlicherweise ungenutzt verstreichen lassen. Ein bisschen realitätsfern war er ja obendrein. Nach seiner Abdankung fragte dann ein Journalist: „Aber wer nicht wählen ging, hatte unter Umständen Nachteile, oder?“ Darauf meinte er: „Meines Erachtens ist das ein übles Gerücht. Das entsprach weder der Linie unserer Parteiund Staatsführung noch der der Nationalen Front. Wir waren wirklich interessiert, dass in Vorbereitung der Wahlen mit jedem gesprochen wurde. Wenn einer nicht zur Wahl gehen wollte, brauchte er keinen Nachteil daraus zu haben. Ich kann mir das nicht vorstellen. Im Gegenteil, wir waren ja wirklich daran interessiert, die Meinung des Volkes kennenzulernen.“ Eine Frage in jenem Interview, das Erich Honecker den Journalisten Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg 1990 gewährte, bezog sich auf seinen Besuch in Bonn: „Nach Ihrem BRD-Besuch war Ihr Ansehen sehr hoch. Warum sind Sie damals nicht zurückgetreten?“ Darauf er: „Aus dem Abstand heraus kann man heute wohl zur Schlussfolgerung kommen, dass der damalige Zeitpunkt richtig gewesen wäre, zurückzutreten. Aber ich glaube andererseits, dass das damals nicht richtig verstanden worden wäre; ich fühlte mich sowohl körperlich als auch geistig noch so in Form, um nicht nur im Innern des Landes, sondern auch durch meine Besuche in Frankreich und Italien auch außenpolitische Schwerpunkte zu setzen. Im Nachhinein zeigt sich, dass das nicht richtig war, aber es ging nicht darum, im Triumph aus der Funktion zu scheiden, sondern es ging für mich darum, so lange wie möglich einen Beitrag zur Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik zu leisten und damit ihres internationalen Ansehens. Karrieregründe waren für mich nie die Ursachen für mein Handeln. Die Ursache für mein Handeln war die eines Kommunisten, der entsprechend seinem Parteiauftrag bestrebt war, seine Aufgaben zu erfüllen.“ 1537 1987 Am Ende probierte es einer dieser Journalisten noch einmal: „In Ihrer Biographie steht: »Ich kann mich an keinen Augenblick in meinem Leben erinnern, dass ich an unserer Sache gezweifelt hätte.«“ Er kam so zu der absolut ausgezeichneten Frage: „Gab es Augenblicke, wo Sie gezweifelt haben, etwa, dass Sie Ihren Aufgaben nicht gewachsen sein könnten?“ Darauf antwortete der Genosse Honecker: „Wenn es bei mir Zweifel gegeben hätte, dann wäre ich zurückgetreten.“ Wo Genosse Honecker aber Recht hatte, da hatte er Recht: „Westliche Unternehmen handelten nicht nur gern mit uns, sondern legten auch ihr Kapital an, in manchen Jahren mehr als eine Milliarde, indem sie gegen langfristige Kredite Anlagen verkauften und auf dem Boden der DDR errichteten. Offenbar hatten sie damals Vertrauen in den Rückfluss des Geldes trotz oder wegen der Planwirtschaft. Die DDR ist auch stets ihren Verpflichtungen nachgekommen. Sie war auf dem internationalen Markt kreditwürdig.“ Als hätte er die Qualität derjenigen Waren nicht gekannt, die letztlich nicht exportfähig waren, schrieb er später in seinen Moabiter Notizen: „Das Gefasel von Kohl und Waigel und der Achtgroschenjungen in diversen Medien über die »marode« Wirtschaft der DDR wird wohl auch widerlegt durch die Tatsache, dass die DDR einen jährlichen Handelsumsatz mit der BRD von 15 Milliarden DM hatte.“ Damit meinte er das, was die Medien seit seiner Abdankung den Leuten erzählen. Diese Diskrepanz in der medialen Darstellung der DDR ist 1989 auch seinem westdeutschen Pendant nicht entgangen: „In diesen Tagen, so Helmut Kohl rückblickend, habe er sich mitunter geradezu die Augen reiben müssen, wenn er gelesen habe, wer in den westdeutschen Medien so alles plötzlich entdeckte, dass in der DDR doch nicht alles zum Besten stand: »Viele waren darunter, die sich noch kurz zuvor nicht gescheut hatten, Honecker als eine Art guten Onkel von nebenan darzustellen. Wer es zuvor dagegen gewagt hatte, über Menschenrechtsverletzungen in der DDR zu sprechen oder gegen Mauer und Stacheldraht zu protestieren, der war von denselben Leuten als kalter Krieger 1538 1987 beschimpft worden. Plötzlich hatten sie alle es schon immer gewusst, dass in Ost-Berlin Alt-Stalinisten an den Schalthebeln der Macht saßen, die von Reformen nichts wissen wollten. Wenn man da an manchen Abenden Fernsehen schaute, konnte man das kalte Grausen bekommen: [...] «“ Das waren freilich gewagte Worte von einem der Hauptakteure. Und die hiesigen Medien haben ja auch zwei Jahrzehnten später noch Schwierigkeiten, ein vernünftiges Maß bei einer realistischen Darstellung des Lebens in der DDR zu finden. Das beschriebene Phänomen war letztlich auch der Auslöser meiner aufwendigen geschichtlichen Recherchen. In meinen zwei Jahren in Kassel war ich höchst erstaunt, dass ich dort mit meiner Freude über die Vereinigung von den meisten meiner Gesprächspartner äußerst skeptisch beäugt worden war. Nachdem ich mit meinem Freund nach Berlin umgezogen war, ging ich schnurstracks in den Zeitungslesesaal der Humboldt-Universität und sah mir die Mikrofilme der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Zeitung für Deutschland vom September bis zum Dezember 1989 an. Dort ging es mir dann auch wie Kohl. Ich habe mir ebenfalls geradezu die Augen reiben müssen über den Herrn Bundeskanzler vor und nach dem 9. November 1989. Und Herr Kohl war auch beileibe nicht der Einzige, der seltsam agierte. Der Brite Ash merkte an: „Auch bei den politischen Beziehungen war die reine Anzahl von Besuchen und Austausch einzigartig. Das galt nicht nur für Minister, Diplomaten und andere Beamte, sondern auch für bedeutende und unbedeutendere Vertreter aller großen politischen Parteien auf Länder- wie Bundesebene. Und es herrschte nicht nur eine außergewöhnliche Intensität an Kontakten, sondern auch eine bemerkenswerte Kontinuität auf deutscher Seite. Bei fast allen politischen Ost-West-Kontakten wechselten ständig die westlichen Partner. Im Fall der Bundesrepublik war es jedoch fast schon umgekehrt. Osteuropäische Außenminister kamen und gingen, doch der Außenminister der Bundesrepublik blieb. Dieselben Politiker, Beamten und Kommentatoren verfolgten dasselbe Geschäft jahrein, jahraus.“ Ja, natürlich – wie will man sonst eine Verschwörung bewerkstelligen? 1539 1987 Der fleißige Historiker konstatierte auch: „Der einzige Aspekt, unter dem dieses politische Netzwerk – verglichen mit dem britischen oder amerikanischen – immer schwach blieb, betraf die Kontakte mit unabhängigen und oppositionellen politischen Gruppen.“ Wen wundert’s? Der galaktische Alexander Schalck-Golodkowski notierte über Helmut Kohls Statthalter in der Mark Brandenburg: „Honeckers bevorzugte Betätigungsfelder waren die Gesellschafts- und Außenpolitik und die großen Personalfragen. In der Wirtschaftspolitik, von der er nicht viel verstand, verließ er sich weitgehend auf Günter Mittag, doch bei ihm wichtigen Angelegenheiten fällte der Generalsekretär sehr wohl auch in diesem Feld selbst Entscheidungen. Ein leidiges Beispiel dafür ist die Preispolitik.“ Günter Mittag war von 1953 bis in das Jahr 1961 Abteilungsleiter im Zentalkomitee der SED. 1956 begann er ein Fernstudium an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden und schloss dieses Studium als Diplom-Wirtschaftler ab. Schon 1958 erfolgte seine Promotion zum Dr. rer. oec. mit einer Dissertation über Probleme der sozialistischen Entwicklung des Verkehrswesens. (Sie erinnern sich ja vielleicht noch an das Verkehrswesen vor zwanzig Jahren?) Mir ist nur nicht absolut klar geworden, wie er in zwei Jahren das Grund- und das Aufbaustudium absolviert hat und zugleich (?) an der Doktorarbeit schrieb. Von 1958 bis 1961 war er Sekretär der Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK der SED. In dieser Position nahm Günter Mittag bereits großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der SED. So steht das im Internet. Weniger kritisch als von den Ökonomen in der DDR wurde Mittag von Kanzler Kohl gesehen: „Ich habe mich heute vorbereitet gehabt auf das Gespräch mit Herrn Mittag. [...] Ich habe bis zum Ende Juli Parlament und muss in den Tagen hier sein, weil wir einen Haufen Probleme hier haben im Parlament, die ich selber lösen muss. Aber mein Interesse ist eben, dass ich Ihren Beauftragten noch einmal in Ruhe sprechen kann. Ich habe hin und her überlegt. 1540 1987 Wenn ich heute das Gespräch führe mit Herrn Mittag, ist es in einer Weise vorbelastet, dass es keine gute Sache ist. [...] Aber heute im Konkreten ist ja das Problem, dass Herr Mittag da ist. Sie merken daran, dass ich Sie anrufe, dass mir nicht daran liegt, dass aus dieser Sache ein bleibender Schaden entsteht. Ich sehe mich natürlich außerstande in dieser Lage, heute den Herrn Mittag zu empfangen. Es gibt eine ganz ungute Situation. [...] Mein Vorschlag ist, dass der Herr Mittag – ich habe ja öffentlich nie etwas dazu gesagt, ob der Termin stattfindet. Alles, was in den Zeitungen steht, sind Spekulationen. Mein Vorschlag ist, dass der Herr Mittag sein Programm hier abwickelt, so wie es vorgesehen ist. Er hat jetzt gerade mit den Fraktionsvorsitzenden des Bundestages gesprochen und hat heute Mittag wieder den Grafen Lambsdorff – dass sie den Besuch einfach durchführen ohne den Besuch bei mir. Eine weitere Idee ist, und da läge mir schon dran, dass wir in einigen Wochen – mir ist es am liebsten, der Herr Mittag ist es, aber es ist ja dann Ihre Sache, eine erneute Gelegenheit zu einem Termin hier finden, dass Ihr Beauftragter bei mir vorbeikommt.“ Auch Alex Schalcks einschlägige Einschätzung eines der Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, was in Bonn dem Kanzler entsprach, fällt vernichtend aus: „[Horst] Sindermann hatte zu Zahlen kein Verhältnis und sorgte dafür, dass der Import von Jeans durch das Politbüro beschlossen wurde. Tatsächlich verbesserte sich in der ersten Hälfte der siebziger Jahre die Stimmung in der Bevölkerung merklich.“ Aber über sich selbst hatte Schalck-Golodkowski ja auch gesagt: „Das Manko, kein Abitur zu haben, konnte ich rasch ausbügeln.“ Jemand mit dieser Sicht auf seine Bildung hat bei mir die achte Klasse nicht überstanden. Dann gab ich ihm die Möglichkeit, sich eine neue Schule zu suchen. Dazu passt dann wie eine Faust auf’s Auge dieser charmante Wink mit einer Klammer in der FAZ – Dahinter steckt immer ein schlauer Kopf: „Und als die DDR finanziell und wirtschaftlich in Not geriet, suchte (und fand) sie Hilfe nicht bei den Klassenbrüdern im Osten, sondern bei den Stammesbrüdern im Westen.“ 1541 1987 Wenn Sie bei Gelegenheit Zeit übrig haben, schauen Sie doch mal nach, wie viele Absolventen die Universitäten und Hochschulen der DDR seit 1949 hatten. Und da konnte man wirklich niemanden finden, der die DDR besser gelenkt und geleitet hätte als diese Leute? Aber weil unsere DDR, wie wir alle wissen, ganz bestimmt keine Diktatur war, sind an der jetzigen Situation die DDR-Bürger schuld. Nicht Bonn. Bonn nicht. Aber es gab logischerweise Menschen in dieser DDR, die in führender Stellung an den Zuständen verzweifelt sind. Der Gerechtigkeit halber soll auch Hans Modrow, der ehemalige SED-Chef von Dresden, in einer Wiedergabe von Karl-Heinz Arnold hier zu Wort kommen: „Einerseits waren die von dem Puritaner Walter Ulbricht geprägten fünfziger, sechziger Jahre ja keine Zeit des moralischen Verfalls einer Führungsschicht, aus jener Zeit habe ich meine Vorbilder, meine Ideale, soweit sie nicht literarischen Ursprungs sind. Andererseits hat Ulbricht, wie eigenständig er auch immer sein wollte, sein konnte, den Stalinismus auf die DDR übertragen oder die Übertragung solcher Strukturen zugelassen, vielleicht zulassen müssen. Später, in den achtziger Jahren, als dies immer mehr in einen eigenständigen Byzantinismus ausartete, von immer mehr Menschen als ekelhaft empfunden, blieben viele Genossen bei der Stange, weil ihnen gesagt wurde: Gegen den Klassenfeind müssen wir zusammenhalten! Führte das nicht hin zu jenem höchst bedenklichen Wort der Briten »Recht oder Unrecht – mein Land«? Und stand der Feind, der die DDR am meisten bedrohte, nicht im eigenen Land? Hat vielleicht jene korrupte Führung die Chance, die dem Sozialismus auf deutschem Boden gegeben war, aus Unfähigkeit verspielt? Oder war er im 20. Jahrhundert nicht machbar? Fragen über Fragen. Oh, ich weiß schon, was viele angeekelt hat, was sie loswerden, nicht mehr sehen und hören wollten und nun zum Glück nicht mehr zu ertragen brauchen: Jene Aufmärsche und Akklamationsveranstaltungen, die schon penetrant an die Nazizeit erinnerten und immer schlimmer, immer verlogener wurden. Aufmarschierte junge Leute heuchelten Begeisterung, die von den Greisen auf der Tribüne geglaubt wurde. 1542 1987 Die aufmarschierte Menge quatschte, während ein Politbüromitglied die ewiggleichen Versatzstücke, leere Worthülsen in ein Mikrofon las. Habe ich da nicht auch mitgemacht? fragt sich Modrow. Ich habe, und manchmal siegte das Ritual über das Nachdenken, ganz abgesehen davon, dass Massenveranstaltungen mit professioneller Regie ihr Eigenleben bekommen, psychotische Wirkungen erzeugen, das gab es schon einmal in Deutschland, und das gibt es mit anderen Vorzeichen beim Wahlrummel in den USA ebenso wie bei Rockkonzerten. Ein weites Feld. Irgendwann aber musste es in der DDR losgehen, irgendwann konnten es einige nicht mehr ertragen und fassten sich ein Herz, trugen die »falschen« Plakate – und wurden verhaftet.“ Einen Monat nach dem großen Staatsbesuch äußerte Oskar Lafontaine im Oktober 1987: „Unter Berücksichtigung der grundlegenden Interessen der DDR, bei absoluter Anerkennung der Zweistaatlichkeit, halte er es für notwendig, zu prüfen, welche Schritte in der Perspektive möglich sind. In der BRD sei es inzwischen allgemeiner Konsens, dass die Zweistaatlichkeit eine Realität ist, an der niemand vorbei kann.“ Oskar Lafontaine probierte es dann ernstlich, 1990 Kanzler zu werden. Aber vielleicht hatten sie ja keinen anderen bei der Hand. Und der nächste Kanzleraspirant war Rudolf Scharping (damals SPD, heute Bund Deutscher Radfahrer). Er trat dann überraschenderweise im Herbst 1987 einmal für etwas vollkommen Innovatives ein – für die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und die Abschaffung der Erfassungsstelle in Salzgitter. Ich habe nie verstanden, warum sich die BundesbürgerInnen immer gewundert haben, dass man bei der ersten freien Wahl in der DDR von keinem der Jungs aus dieser SPD ein Stück Brot haben wollte. „Nach dem Bonn-Besuch traf sich Honecker bis zu seiner akuten Gallenerkrankung im Juli 1989 noch mit 24 führenden BRD-Politikern.“ Der Genosse Honecker nutzte diese Gespräche sicher ausgiebig, um all diese Politiker auf der Basis der wissenschaftlichen Weltanschauuung fachlich zu beraten. Sie wissen ja, mich hat es schon immer mal interessiert, wie viele von unseren Wirtschaftslenkern den Dr. Karl Marx tatsächlich irgendwann einmal gelesen haben. 1543 1987 Ein weiteres Jahr geht zu Ende Willy Brandt, der erneut der Alterspräsident des Bundestages wurde, sagte am 19. November des Jahres 1987: „In der Welt östlich von uns hat ein wahrhaft erregender Prozess der Reformen begonnen, die teilweise umwälzenden Charakters sind. Wenn die Kraft reicht, neues Denken in der Sowjetunion durchzusetzen, könnten sich geschichtlich neue Perspektiven ergeben. Was man dazu von außen tun kann, was in unserem Volke viele erwarten, verlangt ein seriöses Erproben des politischen Gegenübers.“ In der guten alten DDR gab es ja ganz gruselige Witze über eine Staatsführung, die man durchaus gar nicht mehr losbekam. Einer von ihnen wurde gleich mehrfach von der Realität bestätigt: „Was hat Honecker mit einem Blindgänger gemeinsam? Niemand traut sich an ihn ran, und von selbst krepiert er nicht.“ Im Dezember 1987 unternahm dann der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, seinen offenbar letzten Versuch, den Genossen Michail Sergejewitsch Gorbatschow in Moskau zu bitten, etwas zu unternehmen, um Genossen Honecker endlich von seiner Verantwortung für alle diese vielen Menschen, die ihn in jeder Hinsicht heillos überforderte, zu entbinden. Sie dürfen jetzt aber nicht fragen, warum die Ost-Berliner den Saarländer nicht selbst absetzten. Wenn Er trotz der offensichtlichen Unfähigkeit die uneingeschränkte Unterstützung durch den Großen Bruder in Bonn genoss, konnte man weder in Moskau noch in Ost-Berlin sonderlich viel gegen den Helden der sozialistischen Arbeit unternehmen. Da auch der Chef der Supermacht in Moskau nicht bereit war, Farbe zu bekennen und irgend etwas zu unternehmen, standen die Ost-Berliner im Regen. Genosse Erich Mielke hatte ja schon 1984 und 1986 erfolglos versucht, Gorbatschow zu einem gezielten Fangschuss zu überreden. Der Supermächtige vertrat in jenem Gespräch im Dezember 1987 vermutlich erneut die Auffassung, seine Kollegen in Ost-Berlin sollten das wie erwachsene Menschen lösen. Doch nicht nur Erich Mielke war am Ende dieses Jahres bei Gorbatschow. 1544 1987 Die Tage zwischen den Jahren nutzte der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß für einen halsbrecherischen Ausflug nach Moskau: „Vom 28. bis 31. Dezember 1987 war ich, begleitet von Theodor Waigel, Gerold Tandler, Edmund Stoiber und Wilfried Scharnagl, in Moskau. Die Reise erregte nicht nur deshalb Aufsehen, weil ich selbst am Steuer unserer Maschine saß und auf dem Moskauer Flughafen bei Nacht und Nebel, bei Schnee und vereister Landebahn eine der schwierigsten Landungen meiner Pilotenlaufbahn zu meistern hatte. Eine mehr als zweieinhalbstündige Unterredung mit Michail Gorbatschow stand im Mittelpunkt meines Besuches, und dieses Gespräch vor allem war es, das im In- und Ausland größte Aufmerksamkeit fand.“ Von Timothy Garton Ash wurde das so kommentiert: „Als Franz Josef Strauß 1987 nach Moskau fuhr, erklärte er: »Mars hat abzutreten und Merkur auf die Bühne zu treten.« [...] Und schließlich ist Merkur, der Gott des Handels, ein friedlicher Gott. Wer wollte ihn nicht dem Kriegsgott Mars vorziehen?“ Mein Gott, ja. Niemand wollte hier einen Krieg. Schon gar keinen Krieg mit Kernwaffen. Aber während sich der amerikanische Präsident Reagan und die britische Premierministerin Thatcher abmühten, das Reich des Bösen auf den Aschehaufen der Geschichte zu befördern, hat die Weltmacht Bonn die Sowjetunion durch den Handel und durch Kredite tatkräftig unterstützt. Ashs Historikerkollege Norman Stone war da wohl näher an des Pudels Kern, als er in seinem Essay über Außenminister Gromyko meinte, „der Handel und die finanziellen Hilfen des Westens, wohlmeinende Diplomaten und unsere Ostpolitik hätten die Sowjetunion stabilisiert und aufgewertet. »Man könnte sogar darüber nachdenken«, schreibt er, »ob die [westdeutsche] Ostpolitik die Krise des Kommunismus nicht zwei Jahrzehnte hinausgeschoben hat.«“ 1545