Materialmappe zur Inszenierung ULRIKE MARIA STUART

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Materialmappe zur Inszenierung ULRIKE MARIA STUART
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Materialmappe zur Inszenierung
ULRIKE MARIA STUART
von Elfriede Jelinek
Premiere: 29.09.2007
Regie: Fanny Brunner
Raum: Hans Poll
Kostüme: Angela C. Schuett
Dramaturgie: Michael Sommer
Keinen Frieden gebe ich euch! (Gudrun)
Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm
Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected]
1
Inhalt
Einleitung
S. 2
Die Autorin
S. 3
ICH MÖCHTE SEICHT SEIN von Elfriede Jelinek
S. 4
STATIONEN DER RAF BIS ZUM „DEUTSCHEN HERBST“
S. 5
Versuch einer „Inhaltsangabe“ des Stückes ULRIKE MARIA STUART
S. 7
Premierenkritik aus der Neu-Ulmer Zeitung
S. 9
Gesprächsanlässe
S. 10
Literaturhinweis
S. 10
Filmhinweise
S. 10
Internetquellen
S. 10
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Liebe Lehrerinnen und Lehrer,
wir glauben, dass das Erlebnis Theater erst dann richtig beginnt, wenn man
begreift. Schüler sollten auf den Theaterbesuch vorbereitet werden, damit sie
ihn genießen können. Die kleinen Materialsammlungen zu den Inszenierungen
am Theater Ulm sollen Ihnen zur Vorbereitung des Theaterbesuchs mit Ihrer
Klasse dienen. Neben Hintergrundinformationen zu Autor und Werk enthalten
sie Materialien, die für den Zugriff des jeweiligen Regisseurs von Bedeutung
sind.
Zu ULRIKE MARIA STUART gibt es, anders als zu den meisten anderen Stücken,
deren Besuch ich mit Schülern empfehle, keine theaterpädagogischen
Spielanlässe. Sicher: die Schauspieler spielen hervorragend und animieren
vielleicht den einen oder anderen, selbst auf die Bühne zu wollen, selbst zu
schauspielern, selbst seine Energie in ein solches Projekt zu stecken. Aber: Das
Stück von Elfriede Jelinek erfordert meiner Meinung nach eine vorherige
Auseinandersetzung mit seinen Inhalten. Also: RAF, Zusammenhang von RAF
und Nationalsozialismus, die Radikalität des Terrorismus als Entwicklung etc.
Wichtig finde ich, dass den Schülern ein Grundwissen vermittelt wird, dass als
Argumentationsgrundlage für Auseinandersetzung mit dem Thema dienen
kann. Die Gratwanderung, die das Stück unternimmt, ist es, keine
„Entscheidung“ im Sinne eines konkreten „Das ist gut“ und „Das ist böse“ zu
treffen. Das Stück fordert damit, dass man sich als Zuschauer zu ihm verhält.
Das kann man aber nur als mündiger Zuschauer, der zudem zumindest über
Basiswissen zum Thema verfügt. Aus diesen Gründen empfehle ich das Stück
auch frühestens ab Jahrgangsstufe 11, ggf. später, diese Einschätzung müssen
Sie für Ihre konkrete Gruppe treffen.
Sie können sich aus diesen Materialien einzelne Dinge herausgreifen, sie
abwandeln oder das gesamte Material verwenden.
Viel Freude beim Ausprobieren und dem Theaterbesuch wünscht
Nele Neitzke
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ULRIKE MARIA STUART
Schillers Maria Stuart und Elisabeth I. treffen als Ulrike Meinhof und Gudrun
Ensslin in Jelineks Stück neu aufeinander. Vereint nur noch im Widerspruch,
zweifelnd die eine (Ulrike/Maria), von der Notwendigkeit des eigenen Tuns
unbeugsam überzeugt die andere (Gudrun/Elisabeth), rufen sie noch einmal
die Geschichte der RAF auf, die 1977, also vor 30 Jahren, im Deutschen Herbst
ihren blutigen Höhepunkt fand.
Was trieb sie damals in den Untergrund? Wohin hat der bewaffnete Kampf
geführt? Und geht es um Macht, konkret, um weibliche Macht? Während die
Königinnen von Geblüt diese besitzen, benötigen die RAFlerinnen Gewalt, um
sie zu erringen. Sie maßen sich an, nicht bloß an der eigenen Geschichte
schreiben zu wollen - im Glauben freilich, das Volk verpflichte sie hierzu. Im
Begehren, zu Protagonistinnen dieser Geschichten zu werden, opfern sie ihre
Weiblichkeit. Und zerbrechen daran. Der Wahn, der aus der
Selbstüberschätzung des antibürgerlichen, revolutionären Subjekts resultiert,
macht sie blind für die allgemeinen Bedürfnisse, und für die eigenen.
Die Autorin
Elfriede Jelinek wurde am 20.10.1946 in Mürzzuschlag in der Steiermark
geboren. Als Schülerin begann sie 1960 Orgel, Blockflöte und später auch
Komposition am Wiener Konservatorium zu studieren. Ihr Vater Friedrich
Jelinek (der zwar jüdischer Herkunft war, aber als Chemiker in kriegswichtiger
Forschung tätig und daher im Nationalsozialismus der Verfolgung entging) litt
seit den frühen fünfziger Jahren an einer psychischen Krankheit. Jelinek
studierte ab 1964 Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität
Wien, musste ihr Studium jedoch nach einigen Semestern wegen einer
kritischen psychischen Verfassung abbrechen. Mitte der Sechziger verfasste
sie erste Gedichte. Für das gesamte Jahr 1968 verließ Elfriede Jelinek ihr
Elternhaus nicht mehr, freiwillig isoliert. Ihr Vater verstarb im darauf folgenden
Jahr in einer psychiatrischen Klinik. Sie engagierte sich seit 1969 in der
Studentenbewegung und absolvierte 1971 ihre Orgelabschlussprüfung am
Wiener Konservatorium. In den Siebzigern schrieb sie erste Hörspiele, z.B.
WENN DIE SONNE SINKT IST FÜR MANCHE SCHON BÜROSCHLUSS, das 1974 von
der Zeitung "Die Presse" zum erfolgreichsten Hörspiel des Jahres erklärt wurde.
1972 Aufenthalt in Berlin, 1973 Aufenthalt in Rom. Seit 1974 verheiratet mit
Gottfried Hüngsberg, der in den sechziger Jahren dem Kreis um Rainer Werner
Fassbinder angehörte. 1974 Eintritt in die Kommunistische Partei Österreichs.
Sie verfasste Hörspiele und machte Übersetzungen aus dem Englischen.
1991 Austritt aus der KPÖ gemeinsam mit den beiden Parteivorsitzenden
Susanne Sohn und Walter Silbermayer. Als Reaktion auf die öffentliche
Wahrnehmung ihres Romans LUST und des Theaterstücks RASTSTÄTTE und auf
Grund von persönlichen Angriffen zieht sich die Autorin 1995 aus der
österreichischen Öffentlichkeit zurück.
Sie erlässt ein Aufführungsverbot ihrer Stücke für die Staatstheater. Dieser
Rückzug dauert bis 1998, als Einar Schleef am Burgtheater EIN SPORTSTÜCK
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inszeniert. Zwei Jahre später jedoch erlässt sie wiederum ein
Aufführungsverbot
nachdem
die
FPÖ
Teil
der
österreichischen
Bundesregierung wird. Elfriede Jelinek nimmt in Texten konkret auf aktuelle
Tagespolitik Bezug, kritisiert etwa Haider und den Umgang mit Asylbewerbern.
Im Jahr 2003 wird das zweite Aufführungsverbot mit Nicolas Stemanns
Inszenierung von DAS WERK beendet; im gleichen Jahr inszeniert Christoph
Schlingensief am Burgtheater BAMBILAND und LOST HIGHWAY, ein
Musiktheaterstück zu dem Elfriede Jelinek das Libretto geschrieben hatte, wird
uraufgeführt. 2005 findet im Wiener Burgtheater die Uraufführung von BABEL
statt, einer monumentalen Meditation über den Irakkrieg und den
Folterskandal in Abu Ghraib, wieder in der Regie von Nicolas Stemann, der im
Herbst 2006 auch das neueste und vorerst letzte Stück Jelineks ULRIKE MARIA
STUART inszenieren wird. Im Frühjahr 2007 veröffentlicht sie auf ihrer Website
nacheinander die ersten Kapitel ihres „Privatromans“ NEID.
ICH MÖCHTE SEICHT SEIN von Elfriede Jelinek
Ich will nicht spielen und auch nicht anderen dabei zuschauen. Ich will auch
nicht andere dazu bringen zu spielen. Leute sollen nicht etwas sagen und so
tun, als ob sie lebten. Ich möchte nicht sehen, wie sich in
Schauspielergesichtern eine falsche Einheit spiegelt: die des Lebens. Ich will
nicht das Kräftespiel dieses "gut gefetteten Muskels" (Roland Barthes) aus
Sprache und Bewegung - den sogenannten "Ausdruck" eines gelernten
Schauspielers sehen. Bewegung und Stimme möchte ich nicht
zusammenpassen lassen. Beim Theater Heute wird etwas enthüllt, wie, sieht
man nicht, denn es werden im Hintergrund die Bühnenfäden dafür gezogen.
Die Maschine also ist verborgen, der Schauspieler wird mit Geräten umbaut.
angestrahlt und geht umher. Spricht. Der Schauspieler ahmt sinnlos den
Menschen nach, er differenziert im Ausdruck und zerrt eine andere Person
dabei aus seinem Mund hervor, die ein Schicksal hat, welches ausgebreitet
wird. Ich will keine fremden Leute vor den Zuschauern zum Leben erwecken.
Ich weiß auch nicht, aber ich will keinen sakralen Geschmack von göttlichem
zum Leben Erwecken auf der Bühne haben. Ich will kein Theater. Vielleicht will
ich einmal nur Tätigkeiten ausstellen, die man ausüben kann, um etwas
darzustellen, aber ohne höheren Sinn. Die Schauspieler sollen sagen, was
sonst kein Mensch sagt, denn es ist ja nicht Leben. Sie sollen Arbeit zeigen. Sie
sollen sagen, was los ist, aber niemals soll von ihnen behauptet werden
können, in ihnen gehe etwas ganz anderes vor, das man indirekt von ihrem
Gesicht und ihrem Körper ablesen könne. Zivilisten sollen etwas auf einer
Bühne sprechen! Vielleicht eine Modeschau, bei der die Frauen in ihren
Kleidern Sätze sprechen. Ich möchte seicht sein! (...) Wer kann schon sagen,
welche Figuren im Theater ein Sprechen vollziehen sollen? Ich lasse beliebig
viele gegeneinander antreten, aber wer ist wer? Ich kenne diese Leute ja
nicht! Jeder kann ein anderer sein und von einem Dritten dargestellt werden,
der mit einem Vierten identisch ist, ohne daß es jemandem auffiele. Sagt ein
Mann. Sagt die Frau. Kommt ein Pferd zum Zahnarzt und erzählt einen Witz.
Ich will Sie nicht kennenlernen. Auf Wiedersehn. Die Schauspieler haben die
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Tendenz, falsch zu sein, während ihre Zuschauer echt sind. Wir Zuseher sind
nämlich nötig, die Schauspieler nicht. Daher können die Leute auf der Bühne
vage bleiben, unscharf. Accessoires des Lebens, ohne die wir wieder
hinausgingen, die Handtaschen in die schlaffen Armbeugen geklebt. Die
Darsteller sind unnötig wie diese Tascheln, enthalten, gleich schmutzigen
Taschentüchern, Bonbondosen, Zigarettenschachteln, die Dichtung! die in sie
abgefüllt wurde. Verschwommene Gespenster!
(...)
Belästigen Sie uns nicht mit Ihrer Substanz! Oder womit immer Sie Substanz
vorzutäuschen versuchen, wie Hunde, die sich mit aufgeregtem Getön
umkreisen. Wer ist der Chef? Maßen Sie sich nichts an! Verschwinden Sie!
Theater hat den Sinn, ohne Inhalt zu sein, aber die Macht der Spielleiter
vorzuführen, die die Maschine in Gang halten. Nur mit seiner Bedeutung kann
der Regisseur die leeren Einkaufstüten zum Leuchten bringen, diese
schlappen undichten Sackeln mit mehr oder weniger Dichtung drin. Und
plötzlich bedeutet das Bedeutungslose was! Wenn der Herr Regisseur in die
Ewigkeit hineingreift und etwas Zappelndes herausholt. (...)
STATIONEN DER RAF BIS ZUM „DEUTSCHEN HERBST“ von Michael Sommer
14. Mai 1970 Andreas Baader wird durch Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin u.a.
aus der Haft befreit. Dabei wird ein Angestellter des Instituts für Soziale Fragen
angeschossen und erliegt später seinen Verletzungen.
Sommer 1970 Baader, Ensslin, Meinhof und andere lassen sich in einem
Trainingslager der
palästinensischen Fatah in Jordanien im Umgang mit Waffen und im
Nahkampf ausbilden.
1970-1971
Zahlreiche
Banküberfälle,
„Beschaffungskriminalität“ der Gruppe.
Autodiebstähle,
und
andere
15.07.1971 Das RAF-Mitglied Petra Schelm wird beim Versuch, sie zu verhaften,
erschossen - die erste tote Terroristin.
22.10.1971 Der Polizist Norbert Schmid wird erschossen - der erste tote Beamte.
Mai 1972 Bombenattentate auf Einrichtungen des US-Militärs, der Polizei, auf
den Wagen eines Bundesrichters und das Axel-Springer-Gebäude in
Hamburg.
01.06.1972 Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe werden in
Frankfurt verhaftet.
07.06.1972 Gudrun Ensslin wird in Hamburg beim Einkauf in der Boutique
„Linette“ verhaftet.
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14.06.1972 Ulrike Meinhof wird in Hannover verhaftet.
1973-1977 Zahlreiche Hungerstreiks der RAF-Gefangenen, um Verbesserungen
der Haftbedingungen und Zulassung von Anwälten zu erreichen. Die
Gefangenen werden immer wieder zwangsernährt.
09.11.1974 Holger Meins stirbt an den Folgen eines Hungerstreiks.
25.04.1975 Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm durch das
„Kommando Holger Meins“, Forderung nach Freilassung der Gefangenen.
Drei Tote.
21.05.1975 Der Prozess gegen Baader, Meinhof, Raspe und Ensslin beginnt in
Stammheim.
09.05.1976 Ulrike Meinhof erhängt sich in ihrer Zelle in Stammheim.
07.04.1977 Generalbundesanwalt Siegfried Buback wird ermordet.
28.04.1977 Prozessende: Baader, Raspe und Ensslin werden zu lebenslanger
Haft verurteilt.
30.07.1977 Dresdner Bank-Chef Jürgen Ponto wird erschossen.
05.09.1977 Der Arbeitgeberpräsident und Chef des BDI, Hanns Martin Schleyer
wird entführt. Das „Kommando Siegfried Hausner“ forderte die Freilassung von
Baader, Ensslin, Raspe u.a.
13.10.1977 Die Lufthansa-Maschine „Landshut“ wird von palästinensischen
Terroristen entführt, die sich den Forderungen der Schleyer-Entführer
anschließen.
18.10.1977 Nach einem Irrflug durch den Nahen Osten werden die Geiseln an
Bord der „Landshut“ durch die GSG 9 befreit. Drei der vier Terroristen werden
erschossen. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe begehen in
Stammheim Selbstmord. Irmgard Möller überlebt schwer verletzt.
19.10.1977 Hanns Martin Schleyer wird erschossen.
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Versuch einer „Inhaltsangabe“ des Stückes ULRIKE MARIA STUART:
„DIE GÖTTER: SCHILLER, SHAKESPEARE, BÜCHNER, MARX“ von Michael Sommer
Elfriede Jelinek beendet den Stücktext von ULRIKE MARIA STUART
dankenswerterweise mit Quellenangaben – dem Titel dieses Abschnitts. Wenn
auch kryptisch gehalten, sind diese Hinweise doch sehr hilfreich, weil sie
Dramaturgen und Literaturwissenschaftlern das Suchen erleichtern...
„Irgendwoher kenn ich doch diese Formulierung“. Der Produktionsprozess der
Nobelpreisträgerin ist mit einem Fleischwolf verglichen worden, in den viele
verschiedene Dinge eingefüllt werden, und aus dem am Ende eine
gleichförmige Jelinekwurst herauskommt. Die Autorin hat auch in ULRIKE
MARIA STUART eine Vielzahl unterschiedlichster Texte assimiliert – in diesem Fall
den wichtigsten sogar schon in den Titel integriert, nämlich Schillers MARIA
STUART. Die drei Teilstücke des Jelinekschen Stückes sind parallel zu Schiller
gebaut: Der erste Akt gehört dort Maria Stuart, der eingekerkerten Königin der
Schotten, im zweiten Akt wird ihre Kontrahentin Elisabeth I. aufgebaut, und im
dritten Akt kommt es zur Begegnung und direkten Auseinandersetzung
zwischen den beiden Königinnen. Entsprechend gehört Ulrike der erste Teil bei
Jelinek, Gudrun der zweite, und im dritten findet der Showdown statt. Weiter
gehende Parallelen, etwa zwischen Baader und Leicester und/oder Mortimer,
klingen zwar an, sind aber nicht konsequent ausgeführt. So stand der
„historische“ Baader einfach nicht zwischen den beiden RAFProtagonistinnen, auch hatte Ulrike Meinhof wohl keinen Vertrauten, der
einem Mortimer gleich käme. Das zweite große Palimpsest, das Jelinek in
ULRIKE MARIA STUART produziert, bezieht sich auf Shakespeares RICHARD III.
Schon die erste Zeile des Stücks zitiert einen „Sohn“ aus dem Königsdrama,
die Rollenbezeichnung „Die Prinzen im Tower“ für die Kinder der Ulrike weist
ihnen eine ähnlich hilflose Spielballsituation zu, wie sie den rechtmäßigen
Thronfolgern bei Shakespeare zukommen, die von ihrem Onkel Richard
Gloucester im Tower gefangen gehalten und später ermordet werden. Sie
wachsen in eine tödliche politische Situation herein, stellen naiv-kindliche
Fragen und müssen sich orientieren. Im Gegensatz zu Shakespeare lässt
Jelinek ihre Prinzen freilich nicht sterben, ihre Stimmen tauchen in der Ulmer
Inszenierung in der Gestalt von heutigen Linken, attac-Aktivisten auf. Der dritte
große literarische Bezugspunkt für Jelinek ist Büchners DANTONS TOD, das
große Revolutionsdrama.
„Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder“ ist das Thema, das in beiden
Stücken eine große Rolle spielt. Mechanismen der Radikalisierung und
Fraktionierung – bei Büchner die Robespierre-Fraktion gegen Dantons
Fraktion, bei Jelinek Ulrike gegen Gudrun/Andreas – werden durch Zitate in
Bezug zueinander gesetzt. Viele Originalzitate von Ulrike Meinhof und Gudrun
Ensslin, aus ihren Briefen, Schriften der RAF, aus dem Info-System der RAFGefangenen und anderen Quellen sind ebenfalls in ULRIKE MARIA STUART
eingeflossen. Überaschenderweise bezieht Jelinek auch Werke über die RAF
wörtlich mit ein, so Stefan Austs bekanntes Buch „Der Baader-MeinhofKomplex“ und Butz Peters’ „Tödlicher Irrtum: Die Geschichte der RAF“. Für alle
Texte, die Jelinek in ihr Stück miteinbezieht, gilt, dass sie nicht nur zitiert und
verändert, sondern auch kommentiert, sich zu Text und Autor verhält. Ihr Text
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ist immer auch eine Reflexion über Literatur und über das Schreiben, auch
über ihre Rolle als Autorin. Oft hat man den Eindruck, dass die Stimme der
Autorin durch die vielen fließend ineinander übergehenden Stimmen des
Textes geistert. Ein Spezifikum des Textes ist es, dass Äußerungen unmittelbar
wieder in Zweifel gezogen werden, dass sich die Figuren verfransen, vom
eigentlichen Thema abkommen und ins Uneigentliche abgleiten: „Was wollt
ich gleich noch sagen?“ – diese Formel findet sich überall im Text. Die
Aufteilung des Jelinekschen Sprachflusses (der Nobelpreis wurde ihr verliehen
für: „den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen
und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität
und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen“) – die Aufteilung des
Sprachflusses auf Figuren scheint oft nur bedingt gültig zu sein. Schemen- oder
besser schattenhaft werden die Konturen von Figuren erkennbar, viel stärker
als deren Charakterisierung ist jedoch die charakteristische Schreibe der
Autorin. Nimmt man die Reflexion ihrer Rolle als Autorin, die ständigen Zitate
anderer Texte und diese Unschärfe der Figuren zusammen, so lässt sich
argumentieren, dass ein Text wie ULRIKE MARIA STUART nur dann als
dramatischer Text zu klassifizieren ist, wenn man ihn als Monolog der Autorin,
als Selbstgespräch mit beliebig verteilten Rollen auffasst. Keinesfalls erhebt
Elfriede Jelinek mit diesem Text Anspruch auf eine realistische, historisch oder
politisch korrekte Repräsentationen von Wirklichkeit. Vielmehr leistet sie durch
die sprachspielerische Zusammenschau von Texten, ihrer Geschichte und ihrer
Wirkung eine assoziative Bewertung und Deutung von Geschichte.
Gebrochen, uneigentlich, parodistisch ist die Sicht auf die Wirklichkeit, die
dem Leser und Publikum in ULRIKE MARIA STUART präsentiert wird. Immer
komplex, immer differenziert, wahrscheinlich eine Überforderung des
Publikums, ein Text, mit dem man nicht fertig wird – und im besten Falle höchst
unterhaltsam!
Figuren
Ulrike – Karen Köhler
Gudrun – Aglaja Stadelmann
Die Prinzen im Tower/“Nachgeborene“ – Johanna Paschinger, Andreas Uhse
Chor der Greise – Karl Heinz Glaser, Gunther Nickles
Baader/Ein versprengter Engel – Christian Taubenheim
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Premierenkritik aus der Neu-Ulmer Zeitung
Die blutige Schuld bleibt
Theater Ulm: Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“
Erst vor knapp einem Jahr uraufgeführt, ist Elfriede Jelineks RAF-Drama „Ulrike
Maria Stuart“ drei Jahrzehnte nach dem „Deutschen Herbst“ 1977 schnell auf
zahlreichen Bühnen vertreten. Im Podium des Theaters Ulm entschied sich jetzt
Regisseurin Fanny Brunner, die Wortkaskaden der österreichischen
Nobelpreisträgerin derart zu entflechten, dass aus ihnen konkret erkennbare
Figuren von beeindruckender Kenntlichkeit entstehen.
Gartenzwerg-Idylle deutscher Vorstadtsiedlung: darin mit überquellendem
Einkaufswagen zwei Vertreter jener Vätergeneration (Karl Heinz Glaser,
Gunther Nickles), die – einst NS-Profiteure – ihre Karrieren nach 1945 nahtlos
fortsetzen konnten. Darin aber auch, und vom Überfluss überfüttert, die
hilflosen Kinder Ulrike Meinhofs.
Der Kapitalismus frisst seine Kinder wie die Revolution es tut: Die Sprachartistin
Elfriede Jelinek seziert das Innenleben der RAF und die Konsumgesellschaft
der 70er Jahre mit dem Skalpell; sie lässt die intellektuelle Journalistin Ulrike
Meinhof an der Gesellschaft verzweifeln und weiß doch, dass blutige Schuld
bleibt.
Messerscharfe Sätze über die Macht der Wirtschaft und über die
Anstrengung, ein Mensch zu sein; entlarvende Wort-Doppeldeutungen:
Szenen, die haften bleiben wie jene letzten Lebensminuten der Ulrike Meinhof,
die Karen Köhler mit ungeheurer Intensität spielt. Die Ulmer Inszenierung wirkt
durch starke Bilder, vor allem aber durch expressive Mimik und eine extrem
dichte schauspielerische Leistung. Karen Köhler gelingt als verzweifelter Ulrike
Meinhof eine dramatische wie stimmliche Meisterleistung. Sie erkennt, dass
sich ihre Gruppe immer weiter von ihrem Ziel entfernt. Ihrer Gegenspielerin
Gudrun Ensslin, die die Schwelle zum Töten überschritten hat, verleiht Aglaja
Stadelmann
kompromisslose
Facetten
einer
rauen,
lustvollen
Selbstüberschätzung, die in der Umkehrung ihrer religiösen Erziehung durch
das Elternhaus mit den Worten gipfelt: „Keinen Frieden gebe ich euch!“
Ihr zu Füßen, kindlich-bedürftig, egoman und sich selbst überhöhend: Andreas
Baader (Christian Taubenheim). Die junge Johanna Paschinger und Andreas
Uhse überzeugen als Kinder Ulrike Meinhofs. Langer Beifall.
Von: Dagmar Königsdorfer
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Gesprächsanlässe:
Zur Inszenierung am Theater Ulm:
Gefällt euch das Stück?
Wie hat euch das Bühnenbild gefallen?
Welche Figur hat euch am besten gefallen? Und warum?
Welche Figur hat euch nicht so gut gefallen? Und warum?
Welche Szene hat Euch am besten gefallen und warum?
Welche Szene hat euch nicht gefallen und warum?
Literaturhinweis
- Stefan Aust. Der Baader Meinhof Komplex. München: Goldmann, 1998.
Erstausgabe 1985.
Filmhinweise
- Reinhard Hauff. Stammheim. D, 1986. Nach dem Buch von Stefan Aust.
- Christopher Roth. Baader. D, 2002. (läuft am 21.10.2007, 18 Uhr, im MEPHISTOKino)
- Jan Tilman Schade. Black Box BRD. D, 2002.
Internet
http://www.elfriedejelinek.com/ - Homepage von Elfriede Jelinek mit vielen
Texten und Informationen zur Autorin
http://www.rafinfo.de - Allgemeine Informationen zur RAF
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