Materialmappe zur Inszenierung ULRIKE MARIA STUART
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Materialmappe zur Inszenierung ULRIKE MARIA STUART
0 Materialmappe zur Inszenierung ULRIKE MARIA STUART von Elfriede Jelinek Premiere: 29.09.2007 Regie: Fanny Brunner Raum: Hans Poll Kostüme: Angela C. Schuett Dramaturgie: Michael Sommer Keinen Frieden gebe ich euch! (Gudrun) Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected] 1 Inhalt Einleitung S. 2 Die Autorin S. 3 ICH MÖCHTE SEICHT SEIN von Elfriede Jelinek S. 4 STATIONEN DER RAF BIS ZUM „DEUTSCHEN HERBST“ S. 5 Versuch einer „Inhaltsangabe“ des Stückes ULRIKE MARIA STUART S. 7 Premierenkritik aus der Neu-Ulmer Zeitung S. 9 Gesprächsanlässe S. 10 Literaturhinweis S. 10 Filmhinweise S. 10 Internetquellen S. 10 Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected] 2 Liebe Lehrerinnen und Lehrer, wir glauben, dass das Erlebnis Theater erst dann richtig beginnt, wenn man begreift. Schüler sollten auf den Theaterbesuch vorbereitet werden, damit sie ihn genießen können. Die kleinen Materialsammlungen zu den Inszenierungen am Theater Ulm sollen Ihnen zur Vorbereitung des Theaterbesuchs mit Ihrer Klasse dienen. Neben Hintergrundinformationen zu Autor und Werk enthalten sie Materialien, die für den Zugriff des jeweiligen Regisseurs von Bedeutung sind. Zu ULRIKE MARIA STUART gibt es, anders als zu den meisten anderen Stücken, deren Besuch ich mit Schülern empfehle, keine theaterpädagogischen Spielanlässe. Sicher: die Schauspieler spielen hervorragend und animieren vielleicht den einen oder anderen, selbst auf die Bühne zu wollen, selbst zu schauspielern, selbst seine Energie in ein solches Projekt zu stecken. Aber: Das Stück von Elfriede Jelinek erfordert meiner Meinung nach eine vorherige Auseinandersetzung mit seinen Inhalten. Also: RAF, Zusammenhang von RAF und Nationalsozialismus, die Radikalität des Terrorismus als Entwicklung etc. Wichtig finde ich, dass den Schülern ein Grundwissen vermittelt wird, dass als Argumentationsgrundlage für Auseinandersetzung mit dem Thema dienen kann. Die Gratwanderung, die das Stück unternimmt, ist es, keine „Entscheidung“ im Sinne eines konkreten „Das ist gut“ und „Das ist böse“ zu treffen. Das Stück fordert damit, dass man sich als Zuschauer zu ihm verhält. Das kann man aber nur als mündiger Zuschauer, der zudem zumindest über Basiswissen zum Thema verfügt. Aus diesen Gründen empfehle ich das Stück auch frühestens ab Jahrgangsstufe 11, ggf. später, diese Einschätzung müssen Sie für Ihre konkrete Gruppe treffen. Sie können sich aus diesen Materialien einzelne Dinge herausgreifen, sie abwandeln oder das gesamte Material verwenden. Viel Freude beim Ausprobieren und dem Theaterbesuch wünscht Nele Neitzke Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected] 3 ULRIKE MARIA STUART Schillers Maria Stuart und Elisabeth I. treffen als Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin in Jelineks Stück neu aufeinander. Vereint nur noch im Widerspruch, zweifelnd die eine (Ulrike/Maria), von der Notwendigkeit des eigenen Tuns unbeugsam überzeugt die andere (Gudrun/Elisabeth), rufen sie noch einmal die Geschichte der RAF auf, die 1977, also vor 30 Jahren, im Deutschen Herbst ihren blutigen Höhepunkt fand. Was trieb sie damals in den Untergrund? Wohin hat der bewaffnete Kampf geführt? Und geht es um Macht, konkret, um weibliche Macht? Während die Königinnen von Geblüt diese besitzen, benötigen die RAFlerinnen Gewalt, um sie zu erringen. Sie maßen sich an, nicht bloß an der eigenen Geschichte schreiben zu wollen - im Glauben freilich, das Volk verpflichte sie hierzu. Im Begehren, zu Protagonistinnen dieser Geschichten zu werden, opfern sie ihre Weiblichkeit. Und zerbrechen daran. Der Wahn, der aus der Selbstüberschätzung des antibürgerlichen, revolutionären Subjekts resultiert, macht sie blind für die allgemeinen Bedürfnisse, und für die eigenen. Die Autorin Elfriede Jelinek wurde am 20.10.1946 in Mürzzuschlag in der Steiermark geboren. Als Schülerin begann sie 1960 Orgel, Blockflöte und später auch Komposition am Wiener Konservatorium zu studieren. Ihr Vater Friedrich Jelinek (der zwar jüdischer Herkunft war, aber als Chemiker in kriegswichtiger Forschung tätig und daher im Nationalsozialismus der Verfolgung entging) litt seit den frühen fünfziger Jahren an einer psychischen Krankheit. Jelinek studierte ab 1964 Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Wien, musste ihr Studium jedoch nach einigen Semestern wegen einer kritischen psychischen Verfassung abbrechen. Mitte der Sechziger verfasste sie erste Gedichte. Für das gesamte Jahr 1968 verließ Elfriede Jelinek ihr Elternhaus nicht mehr, freiwillig isoliert. Ihr Vater verstarb im darauf folgenden Jahr in einer psychiatrischen Klinik. Sie engagierte sich seit 1969 in der Studentenbewegung und absolvierte 1971 ihre Orgelabschlussprüfung am Wiener Konservatorium. In den Siebzigern schrieb sie erste Hörspiele, z.B. WENN DIE SONNE SINKT IST FÜR MANCHE SCHON BÜROSCHLUSS, das 1974 von der Zeitung "Die Presse" zum erfolgreichsten Hörspiel des Jahres erklärt wurde. 1972 Aufenthalt in Berlin, 1973 Aufenthalt in Rom. Seit 1974 verheiratet mit Gottfried Hüngsberg, der in den sechziger Jahren dem Kreis um Rainer Werner Fassbinder angehörte. 1974 Eintritt in die Kommunistische Partei Österreichs. Sie verfasste Hörspiele und machte Übersetzungen aus dem Englischen. 1991 Austritt aus der KPÖ gemeinsam mit den beiden Parteivorsitzenden Susanne Sohn und Walter Silbermayer. Als Reaktion auf die öffentliche Wahrnehmung ihres Romans LUST und des Theaterstücks RASTSTÄTTE und auf Grund von persönlichen Angriffen zieht sich die Autorin 1995 aus der österreichischen Öffentlichkeit zurück. Sie erlässt ein Aufführungsverbot ihrer Stücke für die Staatstheater. Dieser Rückzug dauert bis 1998, als Einar Schleef am Burgtheater EIN SPORTSTÜCK Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected] 4 inszeniert. Zwei Jahre später jedoch erlässt sie wiederum ein Aufführungsverbot nachdem die FPÖ Teil der österreichischen Bundesregierung wird. Elfriede Jelinek nimmt in Texten konkret auf aktuelle Tagespolitik Bezug, kritisiert etwa Haider und den Umgang mit Asylbewerbern. Im Jahr 2003 wird das zweite Aufführungsverbot mit Nicolas Stemanns Inszenierung von DAS WERK beendet; im gleichen Jahr inszeniert Christoph Schlingensief am Burgtheater BAMBILAND und LOST HIGHWAY, ein Musiktheaterstück zu dem Elfriede Jelinek das Libretto geschrieben hatte, wird uraufgeführt. 2005 findet im Wiener Burgtheater die Uraufführung von BABEL statt, einer monumentalen Meditation über den Irakkrieg und den Folterskandal in Abu Ghraib, wieder in der Regie von Nicolas Stemann, der im Herbst 2006 auch das neueste und vorerst letzte Stück Jelineks ULRIKE MARIA STUART inszenieren wird. Im Frühjahr 2007 veröffentlicht sie auf ihrer Website nacheinander die ersten Kapitel ihres „Privatromans“ NEID. ICH MÖCHTE SEICHT SEIN von Elfriede Jelinek Ich will nicht spielen und auch nicht anderen dabei zuschauen. Ich will auch nicht andere dazu bringen zu spielen. Leute sollen nicht etwas sagen und so tun, als ob sie lebten. Ich möchte nicht sehen, wie sich in Schauspielergesichtern eine falsche Einheit spiegelt: die des Lebens. Ich will nicht das Kräftespiel dieses "gut gefetteten Muskels" (Roland Barthes) aus Sprache und Bewegung - den sogenannten "Ausdruck" eines gelernten Schauspielers sehen. Bewegung und Stimme möchte ich nicht zusammenpassen lassen. Beim Theater Heute wird etwas enthüllt, wie, sieht man nicht, denn es werden im Hintergrund die Bühnenfäden dafür gezogen. Die Maschine also ist verborgen, der Schauspieler wird mit Geräten umbaut. angestrahlt und geht umher. Spricht. Der Schauspieler ahmt sinnlos den Menschen nach, er differenziert im Ausdruck und zerrt eine andere Person dabei aus seinem Mund hervor, die ein Schicksal hat, welches ausgebreitet wird. Ich will keine fremden Leute vor den Zuschauern zum Leben erwecken. Ich weiß auch nicht, aber ich will keinen sakralen Geschmack von göttlichem zum Leben Erwecken auf der Bühne haben. Ich will kein Theater. Vielleicht will ich einmal nur Tätigkeiten ausstellen, die man ausüben kann, um etwas darzustellen, aber ohne höheren Sinn. Die Schauspieler sollen sagen, was sonst kein Mensch sagt, denn es ist ja nicht Leben. Sie sollen Arbeit zeigen. Sie sollen sagen, was los ist, aber niemals soll von ihnen behauptet werden können, in ihnen gehe etwas ganz anderes vor, das man indirekt von ihrem Gesicht und ihrem Körper ablesen könne. Zivilisten sollen etwas auf einer Bühne sprechen! Vielleicht eine Modeschau, bei der die Frauen in ihren Kleidern Sätze sprechen. Ich möchte seicht sein! (...) Wer kann schon sagen, welche Figuren im Theater ein Sprechen vollziehen sollen? Ich lasse beliebig viele gegeneinander antreten, aber wer ist wer? Ich kenne diese Leute ja nicht! Jeder kann ein anderer sein und von einem Dritten dargestellt werden, der mit einem Vierten identisch ist, ohne daß es jemandem auffiele. Sagt ein Mann. Sagt die Frau. Kommt ein Pferd zum Zahnarzt und erzählt einen Witz. Ich will Sie nicht kennenlernen. Auf Wiedersehn. Die Schauspieler haben die Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected] 5 Tendenz, falsch zu sein, während ihre Zuschauer echt sind. Wir Zuseher sind nämlich nötig, die Schauspieler nicht. Daher können die Leute auf der Bühne vage bleiben, unscharf. Accessoires des Lebens, ohne die wir wieder hinausgingen, die Handtaschen in die schlaffen Armbeugen geklebt. Die Darsteller sind unnötig wie diese Tascheln, enthalten, gleich schmutzigen Taschentüchern, Bonbondosen, Zigarettenschachteln, die Dichtung! die in sie abgefüllt wurde. Verschwommene Gespenster! (...) Belästigen Sie uns nicht mit Ihrer Substanz! Oder womit immer Sie Substanz vorzutäuschen versuchen, wie Hunde, die sich mit aufgeregtem Getön umkreisen. Wer ist der Chef? Maßen Sie sich nichts an! Verschwinden Sie! Theater hat den Sinn, ohne Inhalt zu sein, aber die Macht der Spielleiter vorzuführen, die die Maschine in Gang halten. Nur mit seiner Bedeutung kann der Regisseur die leeren Einkaufstüten zum Leuchten bringen, diese schlappen undichten Sackeln mit mehr oder weniger Dichtung drin. Und plötzlich bedeutet das Bedeutungslose was! Wenn der Herr Regisseur in die Ewigkeit hineingreift und etwas Zappelndes herausholt. (...) STATIONEN DER RAF BIS ZUM „DEUTSCHEN HERBST“ von Michael Sommer 14. Mai 1970 Andreas Baader wird durch Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin u.a. aus der Haft befreit. Dabei wird ein Angestellter des Instituts für Soziale Fragen angeschossen und erliegt später seinen Verletzungen. Sommer 1970 Baader, Ensslin, Meinhof und andere lassen sich in einem Trainingslager der palästinensischen Fatah in Jordanien im Umgang mit Waffen und im Nahkampf ausbilden. 1970-1971 Zahlreiche Banküberfälle, „Beschaffungskriminalität“ der Gruppe. Autodiebstähle, und andere 15.07.1971 Das RAF-Mitglied Petra Schelm wird beim Versuch, sie zu verhaften, erschossen - die erste tote Terroristin. 22.10.1971 Der Polizist Norbert Schmid wird erschossen - der erste tote Beamte. Mai 1972 Bombenattentate auf Einrichtungen des US-Militärs, der Polizei, auf den Wagen eines Bundesrichters und das Axel-Springer-Gebäude in Hamburg. 01.06.1972 Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe werden in Frankfurt verhaftet. 07.06.1972 Gudrun Ensslin wird in Hamburg beim Einkauf in der Boutique „Linette“ verhaftet. Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected] 6 14.06.1972 Ulrike Meinhof wird in Hannover verhaftet. 1973-1977 Zahlreiche Hungerstreiks der RAF-Gefangenen, um Verbesserungen der Haftbedingungen und Zulassung von Anwälten zu erreichen. Die Gefangenen werden immer wieder zwangsernährt. 09.11.1974 Holger Meins stirbt an den Folgen eines Hungerstreiks. 25.04.1975 Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm durch das „Kommando Holger Meins“, Forderung nach Freilassung der Gefangenen. Drei Tote. 21.05.1975 Der Prozess gegen Baader, Meinhof, Raspe und Ensslin beginnt in Stammheim. 09.05.1976 Ulrike Meinhof erhängt sich in ihrer Zelle in Stammheim. 07.04.1977 Generalbundesanwalt Siegfried Buback wird ermordet. 28.04.1977 Prozessende: Baader, Raspe und Ensslin werden zu lebenslanger Haft verurteilt. 30.07.1977 Dresdner Bank-Chef Jürgen Ponto wird erschossen. 05.09.1977 Der Arbeitgeberpräsident und Chef des BDI, Hanns Martin Schleyer wird entführt. Das „Kommando Siegfried Hausner“ forderte die Freilassung von Baader, Ensslin, Raspe u.a. 13.10.1977 Die Lufthansa-Maschine „Landshut“ wird von palästinensischen Terroristen entführt, die sich den Forderungen der Schleyer-Entführer anschließen. 18.10.1977 Nach einem Irrflug durch den Nahen Osten werden die Geiseln an Bord der „Landshut“ durch die GSG 9 befreit. Drei der vier Terroristen werden erschossen. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe begehen in Stammheim Selbstmord. Irmgard Möller überlebt schwer verletzt. 19.10.1977 Hanns Martin Schleyer wird erschossen. Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected] 7 Versuch einer „Inhaltsangabe“ des Stückes ULRIKE MARIA STUART: „DIE GÖTTER: SCHILLER, SHAKESPEARE, BÜCHNER, MARX“ von Michael Sommer Elfriede Jelinek beendet den Stücktext von ULRIKE MARIA STUART dankenswerterweise mit Quellenangaben – dem Titel dieses Abschnitts. Wenn auch kryptisch gehalten, sind diese Hinweise doch sehr hilfreich, weil sie Dramaturgen und Literaturwissenschaftlern das Suchen erleichtern... „Irgendwoher kenn ich doch diese Formulierung“. Der Produktionsprozess der Nobelpreisträgerin ist mit einem Fleischwolf verglichen worden, in den viele verschiedene Dinge eingefüllt werden, und aus dem am Ende eine gleichförmige Jelinekwurst herauskommt. Die Autorin hat auch in ULRIKE MARIA STUART eine Vielzahl unterschiedlichster Texte assimiliert – in diesem Fall den wichtigsten sogar schon in den Titel integriert, nämlich Schillers MARIA STUART. Die drei Teilstücke des Jelinekschen Stückes sind parallel zu Schiller gebaut: Der erste Akt gehört dort Maria Stuart, der eingekerkerten Königin der Schotten, im zweiten Akt wird ihre Kontrahentin Elisabeth I. aufgebaut, und im dritten Akt kommt es zur Begegnung und direkten Auseinandersetzung zwischen den beiden Königinnen. Entsprechend gehört Ulrike der erste Teil bei Jelinek, Gudrun der zweite, und im dritten findet der Showdown statt. Weiter gehende Parallelen, etwa zwischen Baader und Leicester und/oder Mortimer, klingen zwar an, sind aber nicht konsequent ausgeführt. So stand der „historische“ Baader einfach nicht zwischen den beiden RAFProtagonistinnen, auch hatte Ulrike Meinhof wohl keinen Vertrauten, der einem Mortimer gleich käme. Das zweite große Palimpsest, das Jelinek in ULRIKE MARIA STUART produziert, bezieht sich auf Shakespeares RICHARD III. Schon die erste Zeile des Stücks zitiert einen „Sohn“ aus dem Königsdrama, die Rollenbezeichnung „Die Prinzen im Tower“ für die Kinder der Ulrike weist ihnen eine ähnlich hilflose Spielballsituation zu, wie sie den rechtmäßigen Thronfolgern bei Shakespeare zukommen, die von ihrem Onkel Richard Gloucester im Tower gefangen gehalten und später ermordet werden. Sie wachsen in eine tödliche politische Situation herein, stellen naiv-kindliche Fragen und müssen sich orientieren. Im Gegensatz zu Shakespeare lässt Jelinek ihre Prinzen freilich nicht sterben, ihre Stimmen tauchen in der Ulmer Inszenierung in der Gestalt von heutigen Linken, attac-Aktivisten auf. Der dritte große literarische Bezugspunkt für Jelinek ist Büchners DANTONS TOD, das große Revolutionsdrama. „Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder“ ist das Thema, das in beiden Stücken eine große Rolle spielt. Mechanismen der Radikalisierung und Fraktionierung – bei Büchner die Robespierre-Fraktion gegen Dantons Fraktion, bei Jelinek Ulrike gegen Gudrun/Andreas – werden durch Zitate in Bezug zueinander gesetzt. Viele Originalzitate von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, aus ihren Briefen, Schriften der RAF, aus dem Info-System der RAFGefangenen und anderen Quellen sind ebenfalls in ULRIKE MARIA STUART eingeflossen. Überaschenderweise bezieht Jelinek auch Werke über die RAF wörtlich mit ein, so Stefan Austs bekanntes Buch „Der Baader-MeinhofKomplex“ und Butz Peters’ „Tödlicher Irrtum: Die Geschichte der RAF“. Für alle Texte, die Jelinek in ihr Stück miteinbezieht, gilt, dass sie nicht nur zitiert und verändert, sondern auch kommentiert, sich zu Text und Autor verhält. Ihr Text Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected] 8 ist immer auch eine Reflexion über Literatur und über das Schreiben, auch über ihre Rolle als Autorin. Oft hat man den Eindruck, dass die Stimme der Autorin durch die vielen fließend ineinander übergehenden Stimmen des Textes geistert. Ein Spezifikum des Textes ist es, dass Äußerungen unmittelbar wieder in Zweifel gezogen werden, dass sich die Figuren verfransen, vom eigentlichen Thema abkommen und ins Uneigentliche abgleiten: „Was wollt ich gleich noch sagen?“ – diese Formel findet sich überall im Text. Die Aufteilung des Jelinekschen Sprachflusses (der Nobelpreis wurde ihr verliehen für: „den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen“) – die Aufteilung des Sprachflusses auf Figuren scheint oft nur bedingt gültig zu sein. Schemen- oder besser schattenhaft werden die Konturen von Figuren erkennbar, viel stärker als deren Charakterisierung ist jedoch die charakteristische Schreibe der Autorin. Nimmt man die Reflexion ihrer Rolle als Autorin, die ständigen Zitate anderer Texte und diese Unschärfe der Figuren zusammen, so lässt sich argumentieren, dass ein Text wie ULRIKE MARIA STUART nur dann als dramatischer Text zu klassifizieren ist, wenn man ihn als Monolog der Autorin, als Selbstgespräch mit beliebig verteilten Rollen auffasst. Keinesfalls erhebt Elfriede Jelinek mit diesem Text Anspruch auf eine realistische, historisch oder politisch korrekte Repräsentationen von Wirklichkeit. Vielmehr leistet sie durch die sprachspielerische Zusammenschau von Texten, ihrer Geschichte und ihrer Wirkung eine assoziative Bewertung und Deutung von Geschichte. Gebrochen, uneigentlich, parodistisch ist die Sicht auf die Wirklichkeit, die dem Leser und Publikum in ULRIKE MARIA STUART präsentiert wird. Immer komplex, immer differenziert, wahrscheinlich eine Überforderung des Publikums, ein Text, mit dem man nicht fertig wird – und im besten Falle höchst unterhaltsam! Figuren Ulrike – Karen Köhler Gudrun – Aglaja Stadelmann Die Prinzen im Tower/“Nachgeborene“ – Johanna Paschinger, Andreas Uhse Chor der Greise – Karl Heinz Glaser, Gunther Nickles Baader/Ein versprengter Engel – Christian Taubenheim Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected] 9 Premierenkritik aus der Neu-Ulmer Zeitung Die blutige Schuld bleibt Theater Ulm: Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“ Erst vor knapp einem Jahr uraufgeführt, ist Elfriede Jelineks RAF-Drama „Ulrike Maria Stuart“ drei Jahrzehnte nach dem „Deutschen Herbst“ 1977 schnell auf zahlreichen Bühnen vertreten. Im Podium des Theaters Ulm entschied sich jetzt Regisseurin Fanny Brunner, die Wortkaskaden der österreichischen Nobelpreisträgerin derart zu entflechten, dass aus ihnen konkret erkennbare Figuren von beeindruckender Kenntlichkeit entstehen. Gartenzwerg-Idylle deutscher Vorstadtsiedlung: darin mit überquellendem Einkaufswagen zwei Vertreter jener Vätergeneration (Karl Heinz Glaser, Gunther Nickles), die – einst NS-Profiteure – ihre Karrieren nach 1945 nahtlos fortsetzen konnten. Darin aber auch, und vom Überfluss überfüttert, die hilflosen Kinder Ulrike Meinhofs. Der Kapitalismus frisst seine Kinder wie die Revolution es tut: Die Sprachartistin Elfriede Jelinek seziert das Innenleben der RAF und die Konsumgesellschaft der 70er Jahre mit dem Skalpell; sie lässt die intellektuelle Journalistin Ulrike Meinhof an der Gesellschaft verzweifeln und weiß doch, dass blutige Schuld bleibt. Messerscharfe Sätze über die Macht der Wirtschaft und über die Anstrengung, ein Mensch zu sein; entlarvende Wort-Doppeldeutungen: Szenen, die haften bleiben wie jene letzten Lebensminuten der Ulrike Meinhof, die Karen Köhler mit ungeheurer Intensität spielt. Die Ulmer Inszenierung wirkt durch starke Bilder, vor allem aber durch expressive Mimik und eine extrem dichte schauspielerische Leistung. Karen Köhler gelingt als verzweifelter Ulrike Meinhof eine dramatische wie stimmliche Meisterleistung. Sie erkennt, dass sich ihre Gruppe immer weiter von ihrem Ziel entfernt. Ihrer Gegenspielerin Gudrun Ensslin, die die Schwelle zum Töten überschritten hat, verleiht Aglaja Stadelmann kompromisslose Facetten einer rauen, lustvollen Selbstüberschätzung, die in der Umkehrung ihrer religiösen Erziehung durch das Elternhaus mit den Worten gipfelt: „Keinen Frieden gebe ich euch!“ Ihr zu Füßen, kindlich-bedürftig, egoman und sich selbst überhöhend: Andreas Baader (Christian Taubenheim). Die junge Johanna Paschinger und Andreas Uhse überzeugen als Kinder Ulrike Meinhofs. Langer Beifall. Von: Dagmar Königsdorfer Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected] 10 Gesprächsanlässe: Zur Inszenierung am Theater Ulm: Gefällt euch das Stück? Wie hat euch das Bühnenbild gefallen? Welche Figur hat euch am besten gefallen? Und warum? Welche Figur hat euch nicht so gut gefallen? Und warum? Welche Szene hat Euch am besten gefallen und warum? Welche Szene hat euch nicht gefallen und warum? Literaturhinweis - Stefan Aust. Der Baader Meinhof Komplex. München: Goldmann, 1998. Erstausgabe 1985. Filmhinweise - Reinhard Hauff. Stammheim. D, 1986. Nach dem Buch von Stefan Aust. - Christopher Roth. Baader. D, 2002. (läuft am 21.10.2007, 18 Uhr, im MEPHISTOKino) - Jan Tilman Schade. Black Box BRD. D, 2002. Internet http://www.elfriedejelinek.com/ - Homepage von Elfriede Jelinek mit vielen Texten und Informationen zur Autorin http://www.rafinfo.de - Allgemeine Informationen zur RAF Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected]