pdf-Download - Leibniz Gemeinschaft

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L e i b n i z | n AT i O n A L S O z i A L i S M U S
Foto: Dokumentation Obersalzberg; Baumann-Schicht, Bad Reichenhall
„Wallfahrt“ zum Berghof (vermutlich 1934):
Der Personenkult um Hitler zog Tausende auch
auf den Obersalzberg.
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Obersalzberg.
Ein Ort wird entzaubert
Seit Jahrzehnten zieht der Obersalzberg Touristen
an. Seit Jahren wird hier versucht, Bayern, Berge
und politische Bildung unter einen Hut zu bringen.
Das gelingt weit besser als erwartet —
deshalb soll das vom Institut für Zeitgeschichte
geführte Dokumentationszentrum auf dem
Obersalzberg erweitert werden.
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Zunächst war der Obersalzberg
vor allem eines: schön. Jahrhundertelang leben Bauern in
dem Ort, bis im 19. Jahrhundert Städter ländlichen Frieden
suchen. Der Industrielle Carl
von Linde siedelt sich in der
oberbayerischen Idylle an, die
Pianistin Clara Schumann und
andere folgen ihm. Immer mehr
Bauern vermieten Zimmer oder
verkaufen ihre Häuser. Dann
aber, 1923, kommt ein Mann,
der von nun an häufiger kommen wird: „Herr Wolf“ nennt er
sich, ein Gast unter vielen, noch.
Wer er wirklich ist, wird später
klar, als er 1925 zurückkehrt,
nach der Haft in Landsberg, um
den zweiten Teil seines Buches
„Mein Kampf“ zu schreiben: ein
Drahtzieher des Putschversuches von 1923, Adolf Hitler.
Fast 90 Jahre später, ein sonniger Tag im Oktober. Eineinhalb
Stunden hat sich eine Besuchergruppe in der „Dokumentation
Obersalzberg“ umgesehen und
gemerkt: Der Obersalzberg ist
nicht zum Lachen. Aber am
Ende machen sie es doch. Die
Gruppe steht vor einem Schacht.
Es ist dunkel und riecht muffig.
„Da geht’s zum unteren Bunker“, sagt der junge Mann, der
die Besucher führt. „Ist das sein
Bunker?“ fragt einer. „Vielleicht
ist er noch drin“, sagt ein anderer, „eingemauert.“ Die Gruppe
kichert, verlegen, doch befreit.
Alle wissen, wer „er“ ist und
bei all der Anspannung tut ein
Lachen gut, erst recht, wenn es
um Adolf Hitler geht. Die Gruppe hat sich Bilder von Konzentrationslagern, von Vertreibung
und Krieg angesehen. Damit
unterscheidet sie sich von den
meisten Touristen am Berg,
denn die sitzen einige Dutzend
Höhenmeter weiter oben und
genießen mit einem Weißbier
auf der Terrasse des Kehlsteinhauses die letzten Sonnenstunden des Jahres.
1923 kommt ein
Mann, der von
nun an häufiger
kommen wird:
„Herr Wolf“
Der Obersalzberg ist
zweiter Regierungssitz
Der Obersalzberg – jenes über
100 Hektar umfassende Berggelände im Berchtesgadener
Land, mit Bushaltestellen und
Souvenirläden,
Gasthäusern
und Luxushotel zieht seit Jahrzehnten Besucher an. Längst
ist der Ort legendär, Gerüchte
gibt es zuhauf und über jedem
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1933 kauft Adolf Hitler das
Haus Wachenfeld. Mit dem
„Führer“ kommen seine Ge-
folgsleute, kleine in Form von
HJ-Gruppen, die die Dorfbewohner „Wallfahrer“ nennen, große
wie Martin Bormann, Leiter der
Partei-Kanzlei der NSDAP, der
sich 1935 selbst ein Haus kauft.
Um seine Vision eines „Führersperrgebietes“ umzusetzen, mit
Kindergarten,
Gewächshaus
und Kaserne, werden Ortsbewohnern ihre Häuser abgekauft, teils zu lächerlichen Preisen und unter Bedrohung. Am
Ende entsteht ein Gelände, auf
dem bis zu 6.000 Menschen leben und arbeiten.
Angriffsbefehl
im Alpenidyll
Widersprüchlicher könnte die
Entwicklung nicht sein: Einerseits wird das Gelände abgeschottet, Zäune gegen Besucher
errichtet, Wachen aufgestellt
– andererseits nimmt die Bedeutung als Propagandaort zu,
wo Adolf Hitler Ruhe hat und
Ideen entwickelt. In dieser
Zeit entstehen Bilder, die den
Obersalzberg zum Synonym für
den Ort, „wo der Führer Ferien
macht“, werden lassen: Adolf
Hitler spielt mit Kindern, Adolf
Hitler geht spazieren, Adolf Hitler blickt ins Tal. Damals nicht
zu sehen, heute selten gezeigt
und trotzdem wichtig: Adolf
Hitler schläft bei seinen Monologen ein, Adolf Hitler braucht
eine Lesebrille, Adolf Hitler beratschlagt das Parteienverbot
und plant den Angriff auf Europas Osten. Im August 1939
informiert er auf dem Berghof
die Spitzen der Wehrmacht
über den bevorstehenden Angriff auf Polen, der den Zweiten
Weltkrieg auslöst. Im Dezember
1940 erteilt er hier den Befehl,
den Angriffs- und Vernichtungs-
Fotos: Dokumentation Obersalzberg; Bundesarchiv Bild 183-H12478 / CC-BY-SA (oben) / Bundesarchiv-Bild 183-2004-1202-502
Im Berg: Teile
der alten Bunkersysteme wurden
in die Ausstellung
integriert.
Fleck Gras scheint die Frage zu
schweben: „Hat er hier seinen
Fuß hingesetzt?“ „Er“ ist immer
Adolf Hitler, der selten beim
Namen genannt wird, als sei
ohnehin klar, um wen es geht.
Es ist eine Orts- und PersonenMystifizierung, die die Nazis
in Gang gesetzt haben und die
bei allen Brechungen bis heute
nachwirkt. Andreas Wirsching
vom Institut für Zeitgeschichte
(IfZ) spricht von „schrägen Gestalten“, die hier auf Hitlers Spuren wandeln wollen. Im „schroffen Gegensatz“ dazu stehe die
Aufklärungsarbeit der vom IfZ
betriebenen
Dokumentation
Obersalzberg. Sie zeigt wie der
Ort wurde, was er ist. Und was
aus dem folgte, was hier geschah.
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krieg gegen die Sowjetunion
vorzubereiten, der am 22. Juni
1941 unter dem Decknamen
„Unternehmen
Barbarossa“
beginnt. Der Obersalzberg ist
zweiter Regierungssitz: insgesamt vier der zwölf Machtjahre
verbringt der Diktator hier.
Es ist diese Bedeutung des Ortes, die bedingt, was mit dem
Obersalzberg im April 1945
geschieht. Mehrere Tausend
Tonnen Bomben lassen die Briten auf das Gelände hageln. Von
den meisten Häusern bleiben
Ruinen, Ausnahmen sind das
Kehlstein-Haus, ein Geschenk
der NSDAP zu Adolf Hitlers 50.
Geburtstag, und Reste vom Hotel Platterhof.
Auf den Ruinen beginnt der
Umbau. Ein Golfplatz und Skilifte werden gebaut, fortan
verbringen amerikanische Soldaten dort im „Armed Forces
Recreation Center“ freie Tage.
Auch der Hitler-Tourismus geht
weiter, unter neuen Vorzeichen.
Neugierige besichtigen die Ruinen, Bildbände sind am Bahnhof Berchtesgaden zu haben.
Mehrere Jahrzehnte besteht das
Durcheinander von GIs und Hitler-Pilgern.
1996 aber verlassen die Amerikaner ihr Erholungsheim auf
dem Obersalzberg. Der Freistaat Bayern, Geländeeigentümer, steht damit vor vielen
Fragen: Wie verhindern, dass
Hitler-Pilger sich den Berg zu
eigen machen? Wie die Anlage
nutzen? Das Ergebnis der hochkontrovers geführten Debatte:
Einerseits soll ein Hotel entstehen. Andererseits ein Lernort
unter Leitung des Münchner Instituts für Zeitgeschichte.
Dieser Widerspruch – große
Bedeutung bei nur wenigen
sichtbaren Spuren – war von
Anfang an Vorzeichen der Ausstellung. „Geplant war die Verbindung von Ortsgeschichte
und Zeitgeschichte mit dem Ziel
der Entmystifizierung“, fasst es
der heutige DokumentationsLeiter Axel Drecoll zusammen.
Unterm Dach des Zentrums, das
auf den Ruinen des ehemaligen
Gästehauses „Hoher Göll“ errichtet wurde, hat deshalb die
Ortsgeschichte Platz. Die Zeit
vor Adolf Hitler wird durch Fotos illustriert, seine „Übernahme“ durch Verkaufsunterlagen
von Häusern. Im mittleren Teil
im Erdgeschoss geht es um das
Regime: Wie der Einzelne in die
„Volksgemeinschaft“ eingebunden wurde, zeigen „Kraft durch
Freude“-Plakate, der Volksempfänger steht symbolhaft für das
System aus Propaganda und
Belohnung, Karten von Konzentrationslagern zeigen die Dimensionen des Schreckens. Im
Keller ist der Zweite Weltkrieg
dargestellt, im Bunker finden
Wechselausstellungen statt.
Der britische Außenminister Neville
Chamberlain im Vorfeld des Münchner
Abkommens auf dem Obersalzberg
(15.9.1938).
Regierungsgeschäfte auf dem Berghof:
Hitler und Hermann Göring 1933. Später
werden hier die Überfälle auf Europas
Osten geplant.
Das Besucherzentrum
Dokumentation Obersalzberg
Salzbergstr. 41
83471 berchtesgaden
Tel.: 08652 / 947960
Fax: 08652 / 947969
e-Mail: [email protected]
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Öffnungszeiten
Montag bis Sonntag
9:00 Uhr - 17:00 Uhr
letzter einlass 16:00 Uhr
www.obersalzberg.de
Foto: Lea Hampel
Die Dokumentation Obersalzberg dient als Lern- und Erinnerungsort. Die Besucher haben
die Möglichkeit, sich mit der Geschichte des Obersalzbergs und der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Die Dokumentation wird vom Institut für Zeitgeschichte
München — Berlin konzipiert und betreut. Sie dient der historischen Aufarbeitung der
NS-Vergangenheit.
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L EIBNIZ | Nat i o n also z i al i smus
„Es gibt 1999 eröffnet die Ausstellung, Die Neugier sieht Leiter Drecoll
und seitdem strömen die Besu-
nicht als Problem. Skeptisch be-
einem Ort, an dem man kaum
lich sei das noch immer keine
kaum einen cher. 160.000 im Jahr statt der trachtet er ein Phänomen, das
erwarteten 30.000. „Man konn-
er „Historisierung des Natio-
NS-Themen­ te sich nicht vorstellen, dass zu nalsozialismus“ nennt. Natür-
bereich, der noch etwas sieht, so viele Men- Epoche wie jede andere, aber
schen kommen, die sich wirk-
der Umgang damit werde nor-
nicht mit dem lich für die Vergangenheit inte- maler, so der Historiker. „Die
ressieren“, erklärt Axel Drecoll
­Obersalzberg die ursprüngliche Planung.
in Verbindung In den Kontext
steht.“ einordnen
Axel Drecoll Vor allem Schüler, Studenten
Dokumentation
Obersalzberg
sowie ausländische Touristen
kommen. Im Kopf haben sie das
Bild von Adolf Hitler, wie er sich
über die Brüstung beugt, und
sie stellen Fragen nach seinem
Frühstück. Die Aufgabe derMuseumsmitarbeiter ist eine
Gratwanderung: „Die Menschen
erwarten sich einen Blick durch
das Schlüsselloch. Den geben
wir aber nicht, sondern versuchen, das in den Kontext einzuordnen“, erklärt Nina Riess, leitende Museumspädagogin der
Dokumentation Obersalzberg.
Leute denken eher als früher:
Och, guck ich mal wo Hitler so
gewohnt hat.“ Drecoll sieht das
als Herausforderung. „Man sollte die Geschichte des Obersalzbergs nicht erzählen, ohne die
Folgen des Befehls Barbarossa,
des Vernichtungskriegs im Osten, zu erzählen. Es gibt kaum
einen NS-Themenbereich, der
nicht mit dem Obersalzberg in
Verbindung steht“, sagt er. Weil
die Zeitzeugen weniger werden
und die Bedeutung von Orten
zunimmt, sei es wichtig, diese
einzuordnen.
„Die Nazis wollten Hitler als Familienmenschen inszenieren.
Heute kommt er nur als Schreckensszenario vor. Ihn auch mal
privat zu sehen, fasziniert die
Leute. Damit geht man genau
Der authentische Ort als Forschungsgege
Die Konservierung historischer
Spuren erfolgt über vielfältige
Wege. Dabei wird stets um eine
„authentische
Vergangenheit“
gerungen. Dinge, Orte oder Bilder vermitteln eine vermeintliche historische Authentizität.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist
diese authentische Erinnerung
und Überlieferung eine ­
Fiktion,
aber eine mit hoher gesellschaftlicher Wirkungskraft. Geschichte
erfährt eine lebensnahe, massen­
wirksame, ökonomische sowie
politische Nutzung und Nutzbarmachung. Daraus erwächst für
die Zukunft die Frage nach dem
14 Umgang mit der Vergangenheit.
Was soll erhalten bleiben, was
nicht? Was ist authentisch, echt
oder original — und wer trifft die
Entscheidung darüber?
Im Zuge der strategischen
Schwerpunktbildung hat die
Leibniz-Gemeinschaft in den
vergangenen Monaten neun
Leibniz-Forschungsverbünde
ein­gerichtet — einen davon zum
Thema „Historische Authentizität“. 17 Leibniz-Einrichtungen
aus drei Sektionen sowie drei
externe Partner kooperieren
dabei.
„Hauptanliegen
des
Leibniz-­
Forschungsverbundes „Historische
Authentizität“ ist es, die Pro­zesse
und Kräfte des Erinnerns und
des Vergessens auszuloten“, sagt
­Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische ­Forschung
Potsdam und Sprecher des Forschungsverbundes. Sabrow selbst
befasst sich in diesem Zusammenhang mit der Bedeutung historischer Authentizität am Beispiel
des Begräbnisortes Friedrichs II.
von Preußen. Die Aura des Authentischen, die nach der Überlieferung wohl zuerst Napoleon 1806
am Sarg des ­
Preußenkönigs ge-
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dem auf den Leim, was die Nationalsozialisten intendiert hatten, nämlich zu fragen: Wo ist er
Gassi gegangen, wo hat er mit
den Kindern gespielt?“
Kein Blick durch
das Schlüsselloch:
Die Ausstellung soll
den Obersalzberg
„entzaubern“.
Diesem Reflex wollen die Museumsmacher entgegenwirken.
In den kommenden Jahren wird
das Dokumentationszentrum
umgebaut. Noch steht kein offizieller Zeitplan, aber klar ist:
umfangreicher soll es werden
und moderner, etwa durch die
Nutzung neuer Medien. Ziel ist
es, das Leben der Bevölkerung
enger mit der Weltgeschichte zu verknüpfen. Bei einem
„Tag der Offenen Tür“ haben
Anwohner Erinnerungsstücke
und Fotoalben mitgebracht. Sie
sollen künftig in die Ausstellung eingebunden werden und
die Bedeutung des Ortes für
das NS-Regime unterstreichen.
Und dass das Dokumentationszentrum Zukunft hat, zeigt ein
Eintrag ins Gästebuch: „Bin gespannt auf die Dokumentation.
Bin zwar erst 12, aber Hitler interessiert mich schon!“
Wir verlosen
fünf Exemplare
des Bandes „Die
tödliche Utopie“
der Dokumentation
Obersalzberg.
(▶ Seite 33)
lea hampel
Fotos: Lea Hampel (oben); Bundesarchiv, Bild 183-S38324 / CC-BY-SA
nstand
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spürt haben wollte, wanderte im
Laufe der Jahre auf die Potsdamer
Garnisonkirche und schließlich die
Stadt selbst über, um 1933 beim
„Tag von Potsdam“ (bild rechts)
zum politischen instrument in
der Hand Hitlers zu werden. erst
nach einem wechselvollen Verlegungsschicksal wurden Friedrichs
Gebeine mit ihrer bestattung auf
der Terrasse von Schloss Sanssouci
1991 zu einem postpolitischen erinnerungsort, dessen bedeutung
nicht mehr wie einst in der von
ihm tradierten botschaft besteht,
sondern in seiner als authentisch
verstandenen Materialiät.
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