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L e i b n i z | n AT i O n A L S O z i A L i S M U S Foto: Dokumentation Obersalzberg; Baumann-Schicht, Bad Reichenhall „Wallfahrt“ zum Berghof (vermutlich 1934): Der Personenkult um Hitler zog Tausende auch auf den Obersalzberg. 10 3/2012 L e i b n i z | n AT i O n A L S O z i A L i S M U S Obersalzberg. Ein Ort wird entzaubert Seit Jahrzehnten zieht der Obersalzberg Touristen an. Seit Jahren wird hier versucht, Bayern, Berge und politische Bildung unter einen Hut zu bringen. Das gelingt weit besser als erwartet — deshalb soll das vom Institut für Zeitgeschichte geführte Dokumentationszentrum auf dem Obersalzberg erweitert werden. 3/2012 Zunächst war der Obersalzberg vor allem eines: schön. Jahrhundertelang leben Bauern in dem Ort, bis im 19. Jahrhundert Städter ländlichen Frieden suchen. Der Industrielle Carl von Linde siedelt sich in der oberbayerischen Idylle an, die Pianistin Clara Schumann und andere folgen ihm. Immer mehr Bauern vermieten Zimmer oder verkaufen ihre Häuser. Dann aber, 1923, kommt ein Mann, der von nun an häufiger kommen wird: „Herr Wolf“ nennt er sich, ein Gast unter vielen, noch. Wer er wirklich ist, wird später klar, als er 1925 zurückkehrt, nach der Haft in Landsberg, um den zweiten Teil seines Buches „Mein Kampf“ zu schreiben: ein Drahtzieher des Putschversuches von 1923, Adolf Hitler. Fast 90 Jahre später, ein sonniger Tag im Oktober. Eineinhalb Stunden hat sich eine Besuchergruppe in der „Dokumentation Obersalzberg“ umgesehen und gemerkt: Der Obersalzberg ist nicht zum Lachen. Aber am Ende machen sie es doch. Die Gruppe steht vor einem Schacht. Es ist dunkel und riecht muffig. „Da geht’s zum unteren Bunker“, sagt der junge Mann, der die Besucher führt. „Ist das sein Bunker?“ fragt einer. „Vielleicht ist er noch drin“, sagt ein anderer, „eingemauert.“ Die Gruppe kichert, verlegen, doch befreit. Alle wissen, wer „er“ ist und bei all der Anspannung tut ein Lachen gut, erst recht, wenn es um Adolf Hitler geht. Die Gruppe hat sich Bilder von Konzentrationslagern, von Vertreibung und Krieg angesehen. Damit unterscheidet sie sich von den meisten Touristen am Berg, denn die sitzen einige Dutzend Höhenmeter weiter oben und genießen mit einem Weißbier auf der Terrasse des Kehlsteinhauses die letzten Sonnenstunden des Jahres. 1923 kommt ein Mann, der von nun an häufiger kommen wird: „Herr Wolf“ Der Obersalzberg ist zweiter Regierungssitz Der Obersalzberg – jenes über 100 Hektar umfassende Berggelände im Berchtesgadener Land, mit Bushaltestellen und Souvenirläden, Gasthäusern und Luxushotel zieht seit Jahrzehnten Besucher an. Längst ist der Ort legendär, Gerüchte gibt es zuhauf und über jedem 11 L e i b n i z | n AT i O n A L S O z i A L i S M U S 1933 kauft Adolf Hitler das Haus Wachenfeld. Mit dem „Führer“ kommen seine Ge- folgsleute, kleine in Form von HJ-Gruppen, die die Dorfbewohner „Wallfahrer“ nennen, große wie Martin Bormann, Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP, der sich 1935 selbst ein Haus kauft. Um seine Vision eines „Führersperrgebietes“ umzusetzen, mit Kindergarten, Gewächshaus und Kaserne, werden Ortsbewohnern ihre Häuser abgekauft, teils zu lächerlichen Preisen und unter Bedrohung. Am Ende entsteht ein Gelände, auf dem bis zu 6.000 Menschen leben und arbeiten. Angriffsbefehl im Alpenidyll Widersprüchlicher könnte die Entwicklung nicht sein: Einerseits wird das Gelände abgeschottet, Zäune gegen Besucher errichtet, Wachen aufgestellt – andererseits nimmt die Bedeutung als Propagandaort zu, wo Adolf Hitler Ruhe hat und Ideen entwickelt. In dieser Zeit entstehen Bilder, die den Obersalzberg zum Synonym für den Ort, „wo der Führer Ferien macht“, werden lassen: Adolf Hitler spielt mit Kindern, Adolf Hitler geht spazieren, Adolf Hitler blickt ins Tal. Damals nicht zu sehen, heute selten gezeigt und trotzdem wichtig: Adolf Hitler schläft bei seinen Monologen ein, Adolf Hitler braucht eine Lesebrille, Adolf Hitler beratschlagt das Parteienverbot und plant den Angriff auf Europas Osten. Im August 1939 informiert er auf dem Berghof die Spitzen der Wehrmacht über den bevorstehenden Angriff auf Polen, der den Zweiten Weltkrieg auslöst. Im Dezember 1940 erteilt er hier den Befehl, den Angriffs- und Vernichtungs- Fotos: Dokumentation Obersalzberg; Bundesarchiv Bild 183-H12478 / CC-BY-SA (oben) / Bundesarchiv-Bild 183-2004-1202-502 Im Berg: Teile der alten Bunkersysteme wurden in die Ausstellung integriert. Fleck Gras scheint die Frage zu schweben: „Hat er hier seinen Fuß hingesetzt?“ „Er“ ist immer Adolf Hitler, der selten beim Namen genannt wird, als sei ohnehin klar, um wen es geht. Es ist eine Orts- und PersonenMystifizierung, die die Nazis in Gang gesetzt haben und die bei allen Brechungen bis heute nachwirkt. Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) spricht von „schrägen Gestalten“, die hier auf Hitlers Spuren wandeln wollen. Im „schroffen Gegensatz“ dazu stehe die Aufklärungsarbeit der vom IfZ betriebenen Dokumentation Obersalzberg. Sie zeigt wie der Ort wurde, was er ist. Und was aus dem folgte, was hier geschah. 12 L e i b n i z | n AT i O n A L S O z i A L i S M U S krieg gegen die Sowjetunion vorzubereiten, der am 22. Juni 1941 unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ beginnt. Der Obersalzberg ist zweiter Regierungssitz: insgesamt vier der zwölf Machtjahre verbringt der Diktator hier. Es ist diese Bedeutung des Ortes, die bedingt, was mit dem Obersalzberg im April 1945 geschieht. Mehrere Tausend Tonnen Bomben lassen die Briten auf das Gelände hageln. Von den meisten Häusern bleiben Ruinen, Ausnahmen sind das Kehlstein-Haus, ein Geschenk der NSDAP zu Adolf Hitlers 50. Geburtstag, und Reste vom Hotel Platterhof. Auf den Ruinen beginnt der Umbau. Ein Golfplatz und Skilifte werden gebaut, fortan verbringen amerikanische Soldaten dort im „Armed Forces Recreation Center“ freie Tage. Auch der Hitler-Tourismus geht weiter, unter neuen Vorzeichen. Neugierige besichtigen die Ruinen, Bildbände sind am Bahnhof Berchtesgaden zu haben. Mehrere Jahrzehnte besteht das Durcheinander von GIs und Hitler-Pilgern. 1996 aber verlassen die Amerikaner ihr Erholungsheim auf dem Obersalzberg. Der Freistaat Bayern, Geländeeigentümer, steht damit vor vielen Fragen: Wie verhindern, dass Hitler-Pilger sich den Berg zu eigen machen? Wie die Anlage nutzen? Das Ergebnis der hochkontrovers geführten Debatte: Einerseits soll ein Hotel entstehen. Andererseits ein Lernort unter Leitung des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Dieser Widerspruch – große Bedeutung bei nur wenigen sichtbaren Spuren – war von Anfang an Vorzeichen der Ausstellung. „Geplant war die Verbindung von Ortsgeschichte und Zeitgeschichte mit dem Ziel der Entmystifizierung“, fasst es der heutige DokumentationsLeiter Axel Drecoll zusammen. Unterm Dach des Zentrums, das auf den Ruinen des ehemaligen Gästehauses „Hoher Göll“ errichtet wurde, hat deshalb die Ortsgeschichte Platz. Die Zeit vor Adolf Hitler wird durch Fotos illustriert, seine „Übernahme“ durch Verkaufsunterlagen von Häusern. Im mittleren Teil im Erdgeschoss geht es um das Regime: Wie der Einzelne in die „Volksgemeinschaft“ eingebunden wurde, zeigen „Kraft durch Freude“-Plakate, der Volksempfänger steht symbolhaft für das System aus Propaganda und Belohnung, Karten von Konzentrationslagern zeigen die Dimensionen des Schreckens. Im Keller ist der Zweite Weltkrieg dargestellt, im Bunker finden Wechselausstellungen statt. Der britische Außenminister Neville Chamberlain im Vorfeld des Münchner Abkommens auf dem Obersalzberg (15.9.1938). Regierungsgeschäfte auf dem Berghof: Hitler und Hermann Göring 1933. Später werden hier die Überfälle auf Europas Osten geplant. Das Besucherzentrum Dokumentation Obersalzberg Salzbergstr. 41 83471 berchtesgaden Tel.: 08652 / 947960 Fax: 08652 / 947969 e-Mail: [email protected] 3/2012 Öffnungszeiten Montag bis Sonntag 9:00 Uhr - 17:00 Uhr letzter einlass 16:00 Uhr www.obersalzberg.de Foto: Lea Hampel Die Dokumentation Obersalzberg dient als Lern- und Erinnerungsort. Die Besucher haben die Möglichkeit, sich mit der Geschichte des Obersalzbergs und der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Die Dokumentation wird vom Institut für Zeitgeschichte München — Berlin konzipiert und betreut. Sie dient der historischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. 13 L EIBNIZ | Nat i o n also z i al i smus „Es gibt 1999 eröffnet die Ausstellung, Die Neugier sieht Leiter Drecoll und seitdem strömen die Besu- nicht als Problem. Skeptisch be- einem Ort, an dem man kaum lich sei das noch immer keine kaum einen cher. 160.000 im Jahr statt der trachtet er ein Phänomen, das erwarteten 30.000. „Man konn- er „Historisierung des Natio- NS-Themen te sich nicht vorstellen, dass zu nalsozialismus“ nennt. Natür- bereich, der noch etwas sieht, so viele Men- Epoche wie jede andere, aber schen kommen, die sich wirk- der Umgang damit werde nor- nicht mit dem lich für die Vergangenheit inte- maler, so der Historiker. „Die ressieren“, erklärt Axel Drecoll Obersalzberg die ursprüngliche Planung. in Verbindung In den Kontext steht.“ einordnen Axel Drecoll Vor allem Schüler, Studenten Dokumentation Obersalzberg sowie ausländische Touristen kommen. Im Kopf haben sie das Bild von Adolf Hitler, wie er sich über die Brüstung beugt, und sie stellen Fragen nach seinem Frühstück. Die Aufgabe derMuseumsmitarbeiter ist eine Gratwanderung: „Die Menschen erwarten sich einen Blick durch das Schlüsselloch. Den geben wir aber nicht, sondern versuchen, das in den Kontext einzuordnen“, erklärt Nina Riess, leitende Museumspädagogin der Dokumentation Obersalzberg. Leute denken eher als früher: Och, guck ich mal wo Hitler so gewohnt hat.“ Drecoll sieht das als Herausforderung. „Man sollte die Geschichte des Obersalzbergs nicht erzählen, ohne die Folgen des Befehls Barbarossa, des Vernichtungskriegs im Osten, zu erzählen. Es gibt kaum einen NS-Themenbereich, der nicht mit dem Obersalzberg in Verbindung steht“, sagt er. Weil die Zeitzeugen weniger werden und die Bedeutung von Orten zunimmt, sei es wichtig, diese einzuordnen. „Die Nazis wollten Hitler als Familienmenschen inszenieren. Heute kommt er nur als Schreckensszenario vor. Ihn auch mal privat zu sehen, fasziniert die Leute. Damit geht man genau Der authentische Ort als Forschungsgege Die Konservierung historischer Spuren erfolgt über vielfältige Wege. Dabei wird stets um eine „authentische Vergangenheit“ gerungen. Dinge, Orte oder Bilder vermitteln eine vermeintliche historische Authentizität. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese authentische Erinnerung und Überlieferung eine Fiktion, aber eine mit hoher gesellschaftlicher Wirkungskraft. Geschichte erfährt eine lebensnahe, massen wirksame, ökonomische sowie politische Nutzung und Nutzbarmachung. Daraus erwächst für die Zukunft die Frage nach dem 14 Umgang mit der Vergangenheit. Was soll erhalten bleiben, was nicht? Was ist authentisch, echt oder original — und wer trifft die Entscheidung darüber? Im Zuge der strategischen Schwerpunktbildung hat die Leibniz-Gemeinschaft in den vergangenen Monaten neun Leibniz-Forschungsverbünde eingerichtet — einen davon zum Thema „Historische Authentizität“. 17 Leibniz-Einrichtungen aus drei Sektionen sowie drei externe Partner kooperieren dabei. „Hauptanliegen des Leibniz- Forschungsverbundes „Historische Authentizität“ ist es, die Prozesse und Kräfte des Erinnerns und des Vergessens auszuloten“, sagt Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und Sprecher des Forschungsverbundes. Sabrow selbst befasst sich in diesem Zusammenhang mit der Bedeutung historischer Authentizität am Beispiel des Begräbnisortes Friedrichs II. von Preußen. Die Aura des Authentischen, die nach der Überlieferung wohl zuerst Napoleon 1806 am Sarg des Preußenkönigs ge- 3/2012 L e i b n i z | n AT i O n A L S O z i A L i S M U S dem auf den Leim, was die Nationalsozialisten intendiert hatten, nämlich zu fragen: Wo ist er Gassi gegangen, wo hat er mit den Kindern gespielt?“ Kein Blick durch das Schlüsselloch: Die Ausstellung soll den Obersalzberg „entzaubern“. Diesem Reflex wollen die Museumsmacher entgegenwirken. In den kommenden Jahren wird das Dokumentationszentrum umgebaut. Noch steht kein offizieller Zeitplan, aber klar ist: umfangreicher soll es werden und moderner, etwa durch die Nutzung neuer Medien. Ziel ist es, das Leben der Bevölkerung enger mit der Weltgeschichte zu verknüpfen. Bei einem „Tag der Offenen Tür“ haben Anwohner Erinnerungsstücke und Fotoalben mitgebracht. Sie sollen künftig in die Ausstellung eingebunden werden und die Bedeutung des Ortes für das NS-Regime unterstreichen. Und dass das Dokumentationszentrum Zukunft hat, zeigt ein Eintrag ins Gästebuch: „Bin gespannt auf die Dokumentation. Bin zwar erst 12, aber Hitler interessiert mich schon!“ Wir verlosen fünf Exemplare des Bandes „Die tödliche Utopie“ der Dokumentation Obersalzberg. (▶ Seite 33) lea hampel Fotos: Lea Hampel (oben); Bundesarchiv, Bild 183-S38324 / CC-BY-SA nstand 3/2012 spürt haben wollte, wanderte im Laufe der Jahre auf die Potsdamer Garnisonkirche und schließlich die Stadt selbst über, um 1933 beim „Tag von Potsdam“ (bild rechts) zum politischen instrument in der Hand Hitlers zu werden. erst nach einem wechselvollen Verlegungsschicksal wurden Friedrichs Gebeine mit ihrer bestattung auf der Terrasse von Schloss Sanssouci 1991 zu einem postpolitischen erinnerungsort, dessen bedeutung nicht mehr wie einst in der von ihm tradierten botschaft besteht, sondern in seiner als authentisch verstandenen Materialiät. 15