Siegfried Kracauer und die Frage der Realität in
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Siegfried Kracauer und die Frage der Realität in
Johann Wolfgang Goethe – Universität Frankfurt am Main Institut für Theater-, Film-, und Medienwissenschaft V: Einführung in die Filmwissenschaft WS 2012/13 Dozent: Prof. Dr. Vinzenz Hediger Siegfried Kracauers Filmtheorie und die Realitätsdarstellung in Emir Kusturicas „Time of the Gypsies“ (1988) Vorgelegt von Tomislav Polic Matr. Nr. 02 577 298 Theater-, Film-, Medienwissenschaft (Hauptfach, 1.FS), Germanistik (Nebenfach, 1.FS) Rothschildallee 7 60389 Frankfurt am Main Tel.: 069-49 08 50 34 E-Mail: [email protected] 0 1. Einleitung………………………………………………………………………………….2 2. Kracauers Thesen in Bezug auf den Film „Time of the Gypsies“ von Emir Kusturica…..3 2.1 „Time of the Gypsies“(1988), ein Liebesfilm von Emir Kusturica…………………3 2.2 Phantastisch-magische und filmische Realität der Roma……………………………4 2.3 Kracauers filmische Gegenstände, registrierende und enthüllende Funktionen der Kamera und „Time of the Gypsies“………………………………………………………….5 2.3.1 Masse und der Einzelne in dem EderlezRitual………………………………….6. 2.3.2 Hochzeit, Tanz, Familienrituale, Musik………………………………………...6 2.3.3 Leblose Gegenstände leben auf…………………………………………………7 2.3.4 Laien- und Kinderdarsteller als Werkzeuge des „phantastischen Realismus“ Kusturicas……………………………………………………………………………………...9 3.Schlusswort…………………………………………………………………………………10 Literatur……………………………………………………………………………………….11 1 1. Einleitung Im Mittelpunkt der Siegfried Kracauers Filmtheorie steht die Frage der Darstellung der Realität. Er warnt vor zu viel Gestaltung und zu großer Nähe zur Kunst, denn der Film soll sich nicht an den klassischen Kunstgattungen, wie der Malerei oder an den Theaterinszenierungen orientieren.1 Vielmehr soll ein Film die Realität reproduzieren2. Die Fähigkeit eines Films (wie auch einer Photographie) die physische Realität wiederzugeben und aufzudecken3 sei für die Ermittlung seines ästhetischen Wertes entscheidend.4 Filme, denen das gelingt, nennt er „filmisch“.5 Bei der Auswahl des Films an dem ich Kracauers Thesen veranschaulichen konnte, entschied ich mich für den Film „Time of the Gypsies“ von Emir Kusturica aus dem Jahr 1989. Einer der Gründe dafür war die Tatsache, dass sich in diesem Film die Träume, phantastische Visionen mit der Realität vermischen, sodass sie oft voneinander kaum zu unterscheiden sind. Sie gehen ineinander, die Vermischung spiegelt die Gefühlswelt wieder, die innere Welt der Figuren. Die, von Kracauer geförderte, Entdeckung des Verborgenen in der Realität, spielt, ähnlich wie bei seinen Vorbildern Louis Bunuel oder Federico Fellini, in der filmischen Ästhetik Kusturicas, eine besondere Rolle. In meiner Hausarbeit werde ich versuchen herauszufinden, inwiefern sich der „phantastische Realismus“ Kusturicas, mit dem Kracauers Realitätsanspruch an die Filmkunst, deckt. 1 Kracauer, 68. Kracauer, 69. 3 Kracauer, 71. Kracauer zitiert hier die Bunuels Aussage, dass er in den Filmen etwas „aufzudecken“ vermag. 4 Kracauer, 65. 5 Kracauer, 66. 2 2 2. Kracauers Thesen in Bezug auf den Film „Time of the Gypsies“ von Emir Kusturica 2.1 „Time of the Gypsies“(1988), ein Liebesfilm von Emir Kusturica „Time of the Gypsies“(1988) ist der dritte Kino-Spielfilm des bosnisch-serbischen Regisseurs Emir Kusturica. Erzählt wird die Geschichte einer Roma-Familie. Der Junge Perhan lebt zusammen mit seiner Großmutter Kadhiza, seinem Onkel und der kleinen, gehbehinderten Schwester in einer Roma-Siedlung oberhalb von Sarajevo. Durch einige Zufälle, die Krankheit der kleinen Schwester, die finanzielle Not, die ihn daran hindert, das Mädchen Azra zu heiraten und schließlich durch die schicksalhafte Bekanntschaft mit dem Kriminellen, in Italien operierenden, Ahmed, steigt er in das Geschäft mit dem Kinderhandel. Dies führt dazu, dass er seine ursprüngliche Leichtigkeit, kindliche Lebensfreude und Unschuld verliert. „Ein Liebesfilm“, so lautet der Zusatz zum Originaltitel „Dom za vjesanje“, den man ins Deutsche als „Heim zum Aufhängen“ übersetzen kann. Der Originaltitel bezieht sich direkt auf zwei Szenen. In der ersten hängt sich der unglücklich verliebter Perhan an einer Kirchenglocke auf (und wird gerettet)6, während in der zweiten, Perhans Onkel sich in einer kleinen Baracke, mit Hilfe eines Autos und gespannter Fäden in der Luft aufhängt.7 Der englische und deutsche Titel, „Time of the Gypsies“ bzw. „Zeit der Zigeuner“ klingen verallgemeinernd und symbolgeladen, opulent und romantisierend, im Sinne Kracauers sicherlich „künstlich“. Die anscheinend völlig unschuldige, naive, fast kindische Liebe zwischen Perhan und Azra, ist nicht die einzige Liebesbeziehung, die im Film thematisiert wird. Da ist noch die wertvolle, offenherzige und wahrhafte, von keinem Nutzen getriebene, zärtliche und liebevolle Sorge der Großmutter für den Perhan und seine Schwester sowie (etwas weniger) für ihren Sohn, Perhans Onkel (der seinerseits von Deutschland schwärmt und in diese Der misslungene Selbstmord durchs Aufhängen ist eines der Lieblingsmotive Kusturicas. Im „Vater auf der Dienstreise“ versuchte die Geliebte des Vaters während der Hochzeitfeier sich auf der Toilette das Leben zu nehmen. Den Strich durch die Rechnung macht die Klospüle. Sie überlebt und wird dadurch doppelt bestraft. 7 Das Haus bleibt in der Luft hängen. Die Szene erinnert an die surrealistische Sequenz aus dem Chaplins Film „Goldrausch“ (1925) in der die Tramps Hütte eine Zeit lang halb über einem Abgrund weht. 6 3 Richtung die „Liebesgefühle“ entwickelt!). Der Familie fehlt der Vater und er wird in Ahmed, dem kriminellen „Paten“ gefunden. 2.2 Phantastisch-magische und filmische Realität der Roma Kusturicas Film steht in der Tradition der berühmten Roma-Filme, den romantisierenden „Wenn die Zigeuner ziehen“ („Tabor uhodit v nebo“, Emil Loteanu, 1976) und vielleicht mehr noch, den düster-realistischen „Ich traf sogar glückliche Zigeuner“ („Sakupljaci Perja“, Aleksandar Petrovic, 1967). Der humorvolle Umgang mit dem sensiblen Thema unterscheidet Kusturica von seinen Vorgängern. Die Geschichte um Perhan scheint universeller zu sein. Die klassischen großen Themen eines griechischen Dramas, die sich in der Familie abspielen, kommen hier zu Vorschein: die Macht und Liebe, Treue und Verrat. Auch andere Regisseure suchen in der Welt der Roma weiterhin die Inspiration, mit unterschiedlichen Erfolg..8 Gleich in der ersten Szene, die mit wenigen Schnitten in langen Einstellungen, mit Kamerafahrten in das Geschehen einführt, macht Kusturica den Zuschauer mit dem Mikrokosmos der Roma vertraulich. In einer Nahaufnahme spricht ein älterer Zigeuner direkt in die Kamera über seiner verrissenen Seele. Er vertraut sich dem Gott und dem Zuschauer an und macht ihn zum Komplizen. Während er von seiner „verrissenen Seele“ spricht, hält er einen schwarzen, kaputten, offenen Regenschirm über die Schulter. Auf dieser Weise wird seine Klage in die Bildsprache übersetzt. Wenn man weiß, dass die Reparatur von Regenschirmen eine der wichtigsten Beschäftigungen der Zigeuner in Jugoslawien in den Titos Zeiten war9, dann erkennt man nicht nur die metaphorische Kraft dieser Szene, sondern gleichzeitig ihren eindeutigen Realitätsbezug. Obwohl man hier nicht von einem klassischen Roadmovie sprechen kann, spielen im Film der ständige Ortwechsel und die Bewegung eine wichtige Rolle. Denn die Orte an denen sich die Handlung abspielt (Sarajevo, Ljubljana, Mailand, Rom) unterscheiden sich räumlich, optisch sowie atmosphärisch. In der Roma - Vorstadtsiedlung in der Nähe von Sarajevo in der die Familie lebt sowie in den Baracken der Roma bei Mailand gehören die phantastischen Momente zum Alltag und zum Leben dazu. Dort funktionieren auch die übernatürlichen, Z.B. „Gadjo djilo“ (1997) von T.Gatlif, „Borat“ (2006) von S. B. Cohen, „Schwarze Katze, weißer Kater“ (1998) von E. Kusturica, „Shutka, Book of Records“ (2007) von Taskovski 9 Die wandelnden Roma-Handwerker zogen damals vom Haus zu Haus, von Siedlung zu Siedlung und boten 8 lautstark ihre Dienste an. 4 telekinetischen Fähigkeiten Perhans. In Mailand, in der „zivilisierten“ Umgebung der Großstadt sowie in dem slowenischen Krankenhaus in dem Perhans Schwester behandelt werden soll, verschwindet alles Magische. Für die Magie ist dort kein Platz, man wird mit einer völlig anderen, „normalen“, unpoetischen Realität konfrontiert. Dort herrschen die Gesetze des Kapitalismus, des Geldes. Die Straßen in Mailand sind, trotzt ihrer, von vielen Menschen bewunderten Schönheit, für die Protagonisten nichts anderes als ein unangenehmer, harter, hässlicher Arbeitsplatz. Die Straße dagegen, die irgendwo Dazwischen, im Niemandsland zwischen Sarajevo und Mailand liegt, scheint genauso mystisch zu sein wie die Siedlungen der Roma. Die Ärzte in dem slowenischen Krankenhaus machen einen netten und hilfsbereiten Eindruck, die Behandlung kann aber doch nicht durchgeführt werden, denn sie muss bezahlt werden. 2.3 Kracauers filmische Gegenstände, registrierende und enthüllende Funktionen der Kamera und „Time of the Gypsies“ Kracauer unterscheidet die registrierenden Funktionen der Kamera, die dazu dienen, die spezifisch filmischen Bewegungen und Gegenstände, die an der Oberfläche erscheinen, zu registrieren, von den enthüllenden Funktionen, die der Entdeckung und dem Sichtbarmachen der scheinbar „unsichtbaren“ Gegenstände, dienen.10 Zu den registrierenden Funktionen zählt er das Filmen von spezifisch „filmischen“ Bewegungen. Er erwähnt in diesem Zusammenhang die Verfolgungsjagden, den Tanz, die Standbilder, die zu einer Bewegung werden, sowie das Filmen von leblosen Gegenständen, die dadurch zum Träger der Handlung werden können11. Die „enthüllenden“ Funktionen seien für das Zeigen von gewöhnlich sichtbaren Dingen, die so alltäglich sind, dass man sie normalerweise übersieht, „zuständig“. Kracauer versteht darunter die Dinge, die entweder zu klein oder zu groß seien, oder zu flüchtig, unbeständig. Dazu kommen die „Ausfallserscheinungen“, die halbabstrakte, „ungewöhnliche Komplexe“12, die Abfälle, das Vertraute und die „Phänomene, die das Bewusstsein überwältigen“13 und die verschiedenen „Sonderformen der Realität“14. Die „unsichtbaren“ Gegenstände werden in der Nahaufnahme gezeigt und somit mit einer Funktion belegt. Sie werden sichtbar und sie 10 Kracauer, 71. Kracauer, 73-76. 12 Kracauer, 86. 13 Kracauer, 91. 14 Kracauer, 94. 11 5 bedeuten plötzlich etwas.15 Beim Filmen von großen Gegenständen, wie von einer Masse von Menschen entsteht ein Muster, das aus kleinen, untereinander ähnlich aussehenden Teilen besteht. In den Nahaufnahmen werden die einzelnen Bestandsteile des Musters als eigenständig gezeigt.16 In der Kombination mit benachbarten Einstellungen bilden die Großund Nahaufnahmen eine Montage-Einheit in der so der Sinn entsteht. Auf diese Weise werden in der psychischen Realität, so Kracauer in der Anlehnung an Eisenstein, neue Aspekte entdeckt.17 2.3.1 Masse und der Einzelne in dem Ederlezi-Ritual Als Beispiel für das Kombinieren von Großaufnahmen und den Totalen in „Time of the Gypsies“ kann man die opulent-feierliche Flussszene der Ederlezi-Feier 18 nehmen. In den Totalen werden die Feiernden gezeigt, während die Nahaufnahmen Perhan und Azra zeigen. Hier werden die Bilder des Flussrituals und der frisch Verliebten zusammengeschnitten, sie werden als Teil des Rituals und gleichzeitig als eigenständige Personen, bzw. als Liebespaar dargestellt. Als Teil des säubernden Wasserrituals kommt der feierliche und keusche Charakter der Liebe von Perhan und Azra zur Vorschein. 2.3.2 Hochzeit, Tanz, Familienrituale, Musik Wie in fast allen Filmen von Emir Kusturica, spielen auch in „Time of the Gypsies“ die Familienrituale und vor allen die Hochzeiten, als die energiegeladenen, überemotionalen, kitschigen und feierlichsten, verrücktesten und absurden Rituale eine besondere Rolle. Der Zuschauer bekommt gleich drei Hochzeitsfeier19 und eine „Abschiedsfeier“ (Ahmed verabschiedet sich und geht zurück nach Italien) zu sehen. Kusturicas Hochzeiten sind durchaus filmische Hochzeiten, in denen laute Musik gespielt wird, viel getrunken und getanzt wird. Er zeigt die Hochzeit als eine Familienfeier mit viel Konfliktpotential, eine laute und bunte Feier, als ein fröhlich-bedrohliches Durcheinander die für die verspätete Rache und das Begleichen von offenen Rechnungen ideal zu sein scheint. 15 Kracauer, 78. Kracauer, 82. 17 Kracauer, 79. 18 „Ederlezi“-Tag des Heiligen Georg. 19 Die erste Hochzeit wird gleich am Anfang des Films gezeigt. Hier wird nicht getanzt, denn der Bräutigam liegt bereits betrunken am Boden schon bevor der Tanz eröffnet wurde. 16 6 Während um einen herum wild getanzt, gefeiert und getrunken wird, werden im Vollrausch die Rachengefühle ausgelebt.20 Wenn sich das Wetter ändert, wenn plötzlich ein starker Wind weht, oder es fängt an zu regen, wird signalisiert, dass etwas Ungewöhnliches passieren werde. Es sind innere Zustände der Figuren, die auf diese Weise dargestellt werden. Es wird gestritten oder Menschen oder Tiere kommen zu Schaden, jemand stirbt oder ein Baby kommt auf die Welt. Dies wird von passender Musik begleitet. Die Musik bei Kusturica „fördert die Handlung psychologisch.“21 Es sind meistens traditionelle Lieder und Tänze der Roma, die hier gespielt werden. Diese Musik, die ein wichtiger Teil des Alltags der Roma ist, kommt als Begleitmusik sowie als Teil der Handlung im Film vor. Sie erfüllt die Förderungen Kracauers „die Bilder zu beleben“ und somit „die materiellen Aspekte der Realität hervorzulocken.“22 2.3.3 Leblose Gegenstände leben auf Kracauer schreibt, dass Filme in denen „die unbelebte Welt nur als Hintergrundkulisse“23 diene, unfilmisch seien. Er macht auch auf eine der wichtigsten Unterschiede zwischen der Bühne und Leinwand, in der Hinsicht auf die Rolle des Schauspielers und der Hintergrundkulisse aufmerksam. Während auf der Bühne die eindeutige Hierarchie herrscht und die Schauspieler die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen und die leblosen Gegenstände zweitrangig seien, sei auf der Leinwand eine gewisse Anarchie möglich. Im Film besteht die Möglichkeit den Gegenständen eine wichtige Rolle zuzuordnen, in dem man z. B. mit Hilfe der Großaufnahmen die Bedeutung von einzelnen Gegenständen verändert oder erhöht.24 In „Dom za vjesanje“ gibt es unzählige Beispiele in denen sich die alltäglichen und scheinbar dekorativen Elemente in die bedeutsamen und sinnerfüllten Gegenstände „verwandeln“. Manche erlangen in gewisser Weise den Rang von Hauptrollen, von denen Kracauer spricht.25 20 Die Darstellung vom Vollrausch gilt bei Kracauer als besonders filmisch. Kracauer, 92. Kurt London Zitat in: Kracauer, 197. 22 Kracauer, 198. 23 Kracauer, 77. 24 Kracauer, 76. 25 Kracauer, 78. 21 7 Im ersten Teil des Films wird ein Löffel mit Hilfe von Perhans „übernatürlichen Kräften“, in die tanzähnliche Bewegung gebracht. Auf wundersame, poetische Weise, unterstützt von der Musik, weist die Szene mit dem tanzenden Löffel in der erste Linie auf die geweckten Liebesgefühle zwischen ihm und Azra auf. Gleichzeitig ist der Löffel ein Symbol für die Ernährung und weist direkt auf die Armut hin, die sich ein wenig später im Film als wichtigster Hindernis für die Heirat der Beiden zeigen werde. Am Ende des Films wird der zweite Teil des Bestecks, nämlich die Gabel (und nicht etwa das Messer) zu Todeswaffe, stellvertretend für den Träger der Hauptrolle im Film, den Perhan, in einem spektakulären „Vatermord“. Die „mörderische Gabel“ trifft den Ahmed in den Hals, so dass Perhan selbst seine Hände nicht schmutzig machen muss. Bei diesem Mord wird, im Sinne Kracauers, auch das sichtbar gemacht, dass was sonst im realen Leben verzerrt dargestellt wird und „in innerer Erregung untergehen würde“ 26, also ein Mord. Als dem Perhan die tote Mutter wie ein Schutzengel erscheint, um ihn und seine kranke Schwester auf dem Weg nach Italien zu begleiten, ist sie in einem Gegenstand, das zum Leben aufgeweckt wird, präsent: in einem weißen Schleier, der durch die Luft, und dem in Richtung Italien fahrenden Auto hinterher fliegt. In der Szene der Geburt des Azras Sohnes wird der Schleier der Mutter noch einmal eingesetzt, als der Todesschleier seiner Frau Azra, die nach der Geburt des Kindes stirbt. So symbolisiert der Schleier die Unschuld der beiden Frauen. Perhan verkauft anschließend das gemeinsame Kind, weil er glaubt, dass es nicht von ihm sei. Am Ende des Films holt er ihn aber doch von der Straße ab, nimmt ihn zu sich und vermeidet so den Fehler seines slowenischen Vaters 27 zu wiederholen. In naiver Manier gemaltes Bildnis des Josip Broz Tito, des ehemaligen jugoslawischen Herrschers, auf dem er hinter einem Rednerpult zu sehen ist, und das auf der Roma- Hochzeit zu der feierlichen Dekoration gehört, ist mit einer ähnlichen Funktion belegt. Heute könnte man denken, dass es sich hier um den Hinweis auf die Allgegenwärtigkeit eines kommunistischen Tyrans handeln könnte. Dies wäre falsch, denn Tito galt zu dem Zeitpunkt, als der Film gedreht wurde, 19 Jahren nach seinem Tod (1980), immer noch als einer der wichtigsten Beschützer aller jugoslawischen Roma. Hier also funktioniert sein Porträt eher als 26 Kracauer, 92. Ausgerechnet ein Slowene, gleichzeitig ein Soldat der Jugoslawischen Volksarmee soll der unbekannte Vater Perhans Vater sein. Dies sei als eine bewusste Provokation des Regisseurs zu deuten. Die Slowenen sehen sich selbst und werden teilweise von den anderen als „europäischere“, als „bessere“ Südslawen angesehen. Nicht ein Angehöriger der „weniger zivilisierten“ Balkan-Völker hat hier die Affäre mit einer Roma-Frau, die er dann schwängert und mit einem Kind sitzen lässt, sondern, sozusagen, ein „edler Wilde“. 27 8 eine Ikone eines Schutzheiligen als eines kommunistischen Diktators. Die Sakralisierung des toten Präsidenten und der verstorbenen Mutter scheinen mir eine Art Kompensierung für die Abwesenheit Gottes, bzw. seine Abneigung den Zigeunern gegenüber, die am Anfang des Films von dem Mann mit dem kaputten Regenschirm beklagt wird, zu sein. Die Werbetafel in der Roma-Siedlung in Mailand, die man in mehreren Szenen im Hintergrund sieht, auf der ein leicht, energisch und selbstsicher, über einen unsichtbaren Gegenstand, springender Mann zu sehen ist, der mit den Worten „der Mann, der es schafft“ begleitet wird, deutet auf die Gegenwart und das große Versprechen der Konsumwelt hin. Auf einem anderen Werbeplakat steht geschrieben: „Iss gut, damit du dich in guter Form fühlst“. Das Streben nach Geld und Eigentum und die Habsucht seien auch die wichtigsten Gründe für die Misere, die im italienischen Roma-Lager herrschen. Die Pappkartons in die sich die Kinder verstecken und sie beleben kann man als Hinweis auf das Bewegungslust des Roma-Volkes, das nur schwer sesshaft wird und ein Zuhause finden kann. Einer dieser Pappkartons rettete Perhan nach dem Mord an Ahmed und spielte damit eine Schlüsselrolle in der Handlung des Films. Auch die vielen Tiere, Gänse, Pferde, Schweine, Ziegen, Truthahne von denen der letztere eine der Rollen, nämlich die des besten Freundes Perhans, übernahm, weisen auf das Leben hin, auf das Wunder des Lebens, auf das Wunder der Schöpfung hin. 2.3.4 Laien- und Kinderdarsteller als Werkzeuge des „phantastischen Realismus“ Kusturicas Kusturica drehte teilweise an authentischen Schauplätzen und mit wenigen Ausnahmen mit Laiendarstellern statt mit professionellen Schauspielern.28 Seine Entscheidung, bei der Besetzung von Kinderrollen auf ganz liebe und süße Kinder zu verzichten und die Rollen der Kinder mit eher gewöhnlich, alltäglich aussehenden Kinder zu besetzen, kann man als Mittel betrachten, mit dem er die Wahrhaftigkeit und den realistischen Eindruck des Films verstärken möchte. Diese Entscheidung erscheint mir umso wichtiger, wenn man sie als Gegenpol zu der Besetzung der Hauptrollen bei den erwachsenen Figuren betrachtet. Sie sind 28 Perhan wird von Davor Janjic gespielt, Ahmed von Bora Todorovic. Beide sind professionelle Schauspieler. Bora Todorovic spielte schon ähnliche Charaktere, z.B. den jugoslawischen Gastarbeiter in „Ballad of Lucy Jordan“ ( Mr. Montenegro) von Dusan Makavejev. 9 alle nämlich mit charismatischen Schauspielern besetzt: Davor Dujmovic als Perhan, Ljubica Adzovic als Oma Khaditza, Bora Todorovic als Ahmed aber auch der Perhans Onkel. Die Perhans kranke Schwester, sowie andere Kinder in den Rollen der entführten und gekauften Kinder sind und bleiben blass. Das wirkt sich positiv auf die Glaubhaftigkeit des Films und zeigt sich im Vermeiden von der Überschreitung der „sensiblen“ Grenze zum Kitsch, als hilfreich. Die Kinder sowie anderen Laienschauspieler im Film bringen dazu bei, dass der Film trotz der phantastischen Momente, fast dokumentarisch wirkt. So kann man „Time of the Gypsies“ mit den von Kracauer erwähnten Milieu-Studien, mit dem De-Sicas „Fahrraddieben“ oder mit dem Bunuels „Die Vergessenen“, vergleichen. Denn Kracauer schreibt, dass „ihre Hauptpersonen weiniger besondere Individuen als Typen“ seien, als, dass sie „die ganze Bevölkerungsgruppen repräsentieren“29 .Das gilt durchaus auch für die meisten Figuren in „Time of the Gypsies“, vor allem aber für die Kinderdarsteller. 3. Schlusswort Kusturica gibt dem Zuschauer ein Einblick in das Leben der Roma, er gibt die „innere Zustände und Halluzinationen“ wieder, die aber dazu dienen „eine Geschichte aus dem Leben zu erzählen“.30 Das Besondere am Leben der Roma und an das Spezifische an der Geschichte über die Liebe und den kriminellen Kinderhandel nutzt Kusturica um eine universelle Geschichte zu erzählen ,in der die Familie im Mittelpunkt steht. Man kann diesen Film nicht als künstlerisch oder theatralisch31 bezeichnen obwohl das „übertriebene“ Ausleben von Gefühlen, das Theatralische oder gar das Operettenhafte im Film ihren Platz haben, denn sie sind Teile des Temperaments der Roma. Statt, „politisch und sozial“ engagierten Film, dreht Kusturica einen realistischen Film mit phantastischen Elementen und ich würde sagen, einen „filmischer“ Film, ganz nach Geschmack von Kracauer. Nicht zuletzt weil es ihm gelingt eine bei vielen Menschen nicht gerade beliebte Volksgruppe realistisch zu zeigen, die die meisten Menschen lieber übersehen. Der Zuschauer wird mit der Lebensweise der Roma konfrontiert, ihren überfüllten Zimmern, mit den Dingen also, die man in eigenem Alltag am liebsten aus dem Weg geht und entdeckt dabei viel Schönes und Wundervolles, das Leben selbst. 29 Kracauer, 142. Kracauer, 67. 31 Nach Kracauer soll ein Film, um als Kunstwerk zu gelten, „filmisch“ sein und nicht „künstlerisch“ oder „theatralisch“. Kracauer, 66-67. 30 10 Literatur: Kracauer, Siegfried (1985): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. suhrkamp, Frankfurt am Main (S. 9-112 u. 185-214) Time of the Gypsies (1988) – Filmdaten http://www.imdb.com/title/tt0097223/fullcredits?ref_=tt_ov_st_sm#cast (abgerufen am 05.03.13) 11