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Forum A
Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe
– Diskussionsbeitrag Nr. 16/2011 –
15.07.2011
Leistungspflicht der Rentenversicherung bei eingeschränkter Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt (§ 428 SGB III)
BSG, Urt. v. 02.11.2010, Az. B 1 KR 9/10 R
von Assessor Dennis Bunge, Kiel
Gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 4a SGB VI hat der
Rentenversicherungsträger an Versicherte, die eine Leistung beziehen, die regelmäßig bis zum Beginn einer Rente wegen
Alters gezahlt wird, keine Leistungen zur
Teilhabe mehr zu erbringen. Im vorliegenden Fall hatte das Bundessozialgericht zu entscheiden, ob diese Ausschlussregelung den Fall erfasst, dass
ein älterer Arbeitnehmer „Arbeitslosengeld unter erleichterten Voraussetzungen“ nach § 428 SGB III bezieht.
I.
Wesentliche Aussagen des Urteils
1.
2.
„Arbeitslosengeld unter erleichterten
Voraussetzungen“ nach § 428 SGB III
schließt Leistungen zur Teilhabe
durch den Rentenversicherungsträger nach § 12 Abs. 1 Nr. 4a SGB VI
nicht aus.
Der Bezug von Arbeitslosengeld nach
§ 428 SGB III eröffnet einem Rentenversicherungsträger keinen privilegierten Erstattungsanspruch gegenüber der Krankenkasse bei einer Anschlussheilbehandlung als Leistung
zur medizinischen Rehabilitation.
II.
Der Fall
Unsere Thesen
1.
2.
Der Bezug von Arbeitslosengeld unter den Voraussetzungen des § 428
SGB III führt nicht dazu, dass der ältere Arbeitslose rechtlich dauerhaft
aus dem Erwerbsleben ausscheidet,
selbst wenn man annimmt, dass eine
erneute Arbeitsaufnahme tatsächlich
unwahrscheinlich ist.
§ 12 SGB VI ist nicht eng auszulegen.
Die klagende Deutsche Rentenversicherung
Bund (DRV Bund) und die beklagte Ersatzkasse streiten um die Kostenerstattung für
eine stationäre Leistung zur medizinischen
Rehabilitation in Form einer Anschlussheilbehandlung (AHB).
Der Versicherte ist bei der DRV Bund renten- und bei der Ersatzkasse krankenversi1
Bunge, Leistungspflicht der Rentenversicherung bei eingeschränkter
Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt (§ 428 SGB III)
Forum A – Nr. 16/2011
nachrangig verpflichteter Leistungsträger
Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 vorliegen,
ist der Leistungsträger erstattungspflichtig,
gegen den der Berechtigte vorrangig einen
Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat,
bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat“. Die DRV
Bund sei nachrangig zuständig. Sie habe
den Antrag auf Rehabilitation nicht nach § 14
Abs. 1 S. 2 SGB IX innerhalb von zwei Wochen nach Eingang weitergeleitet, weil sie
aufgrund des Antrags ihre Zuständigkeit geprüft und zunächst bejaht habe. In solchen
Fällen begründe § 14 Abs. 1 S. 1 i. V. m.
Abs. 2 S. 1 und 2 SGB IX für das Erstattungsverhältnis zwischen den Trägern eine
nachrangige Zuständigkeit des erstangegangenen Trägers, wenn er nach den Zuständigkeitsregelungen außerhalb von § 14
SGB IX unzuständig, ein anderer Träger
aber zuständig gewesen wäre. Dies ermögliche es, dass sich der erstangegangene Rehabilitationsträger im Rahmen eines Erstattungsstreits die Kosten nach § 104 SGB X
vom vorrangig zuständigen Rehabilitationsträger erstatten lassen könne. Danach könne
die nach § 14 Abs. 2 S. 1 SGB IX im Außenverhältnis zum Versicherten zuständige, klagende DRV Bund im Erstattungswege ein
Anspruch wegen nachrangiger Verpflichtung
zur "nachträglichen Korrektur" der irrtümlichen Bejahung ihrer Zuständigkeit nach den
Regeln außerhalb des Regimes des § 14
SGB IX aus § 104 SGB X zustehen. Der Anspruch entfalle auch nicht nachträglich nach
§ 103 SGB X. Im Gegensatz zu einem
zweitangegangenen
Rehabilitationsträger
habe die klagende DRV Bund grundsätzlich
keinen (entsprechend § 102 Abs. 2 SGB X
„privilegierten“) Erstattungsanspruch aus
§ 14 Abs. 4 S. 1 SGB IX. Bei ihr habe keine
sogenannte „aufgedrängte Zuständigkeit“
vorgelegen. Zwar seien Konstellationen
denkbar, in denen erstangegangene Rehabi-
chert. Er beantragte während des Bezugs
von Arbeitslosengeld (Alg) unter den erleichterten Voraussetzungen des § 428 SGB III
(sogenannte "58er Regelung") im November
2006 bei der DRV Bund eine medizinische
Rehabilitation in Form von Anschlussheilbehandlung. Die DRV Bund erfuhr im Dezember 2006, dass der Versicherte seit Januar
2006 Alg nach § 428 SGB III bezog. Sie bewilligte die Leistung wegen des Ablaufs der
Zwei-Wochen-Frist zur Weiterleitung des
Reha-Antrags des § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX.
Mit Bescheid vom 14. Dezember 2006 wies
sie jedoch darauf hin, dass sie die Leistung
wegen Fehlens der gesetzlichen Voraussetzungen nach dem SGB VI nur im Auftrag der
Krankenkasse durchführe. Nach Abschluss
der Leistung forderte sie von der Krankenkasse die Erstattung der durch die Leistung
entstandenen Kosten. Nach ihrer Auffassung
fehlte es an der eigenen Leistungspflicht,
weil der Bezug von Alg nach § 428 SGB III
eine Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers nach § 12 Abs. 1 Nr. 4a
SGB VI ausschließe. Die beklagte Krankenkasse lehnte eine Zahlung ab.
III. Die Entscheidung
Die Revision der klagenden DRV Bund ist
ohne Erfolg geblieben. Das Bundessozialgericht entschied, dass das LSG zu Recht die
Berufung gegen das klageabweisende SGUrteil zurückgewiesen habe, da kein Anspruch auf Kostenerstattung durch die beklagte Krankenkasse bestehe.
Die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs gegen die beklagte Krankenkasse
nach § 104 SGB X oder § 6 der ab 1. April
1998 geltenden AHB-Vereinbarung der Beteiligten seien nicht erfüllt, da die Klägerin
materiell-rechtlich originär zuständig zur
Leistungserbringung gewesen sei. Insbesondere greife der Leistungsausschluss
nach § 12 Abs. 1 Nr. 4a SGB VI nicht ein.
§ 104 Abs. 1 S. 1 SGB X bestimmt: „Hat ein
2
Bunge, Leistungspflicht der Rentenversicherung bei eingeschränkter
Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt (§ 428 SGB III)
Forum A – Nr. 16/2011
Begriff der Regelmäßigkeit mache deutlich,
dass es nicht auf den Bezug der Leistung
bis zum Beginn der Altersrente im Einzelfall ankomme, sondern eine typisierende
Beurteilung anzustellen sei 1. Die Vorschrift
solle sicherstellen, dass Rehabilitationsleistungen des Rentenversicherungsträgers dazu eingesetzt werden, die Wiedereingliederung des Versicherten in das Erwerbsleben
zu erreichen und erfasse demnach nur Leistungen, mit denen regelmäßig das endgültige Ausscheiden des Versicherten aus dem
Erwerbsleben verbunden sei 2. Arbeitslosengeld nach § 428 SGB III, welches trotz
fehlender Arbeitsbereitschaft gewährt
werde, stelle keine solche Leistung dar.
Es handele sich eben nicht um eine auf die
Altersrente hinführende Leistung für Personen, die „dauerhaft“ aus dem Erwerbsleben
ausgeschieden seien. Der Wortlaut des
§ 428 Abs. 1 S. 1 lautet: „Anspruch auf Arbeitslosengeld […] haben auch Arbeitnehmer, die das 58. Lebensjahr vollendet haben
und die Regelvoraussetzungen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld allein deshalb
nicht erfüllen, weil sie nicht arbeitsbereit sind
und nicht alle Möglichkeiten nutzen und nutzen wollen, um ihre Beschäftigungslosigkeit
zu beenden“.
Der Senat lässt offen, ob das Alg nach § 428
SGB III schon deshalb – wie die beklagte
Ersatzkasse vorträgt – keine Leistung nach
§ 12 Abs. 1 Nr. 4a SGB VI sei, weil sie sich
nicht notwendig bis auf einen Zeitpunkt erstrecke, von dem an Rente wegen Alters beansprucht werden könne, wie es bei der Inanspruchnahme von Altersteilzeitentgelt der
Fall sei. Jedenfalls sei mit Alg nach § 428
SGB III – ähnlich wie bei der Altersteilzeit –
im Rechtssinne nicht typischerweise ein
litationsträger ausnahmsweise ähnliche Ersatzansprüche hätten. Dies sei etwa der Fall,
wenn seine Prüfung wegen der komplizierten
Rechtsproblematik innerhalb der ZweiWochen-Frist nicht zu einem greifbaren Ergebnis geführt und er im Interesse der Beschleunigung eine Weitergabe des Antrags
unterlassen habe. Dies sei hier jedoch nicht
der Fall.
Auch ein Anspruch nach § 6 der AHBVereinbarung scheide aus. Nach dieser würden die Kosten der Durchführung einer AHB,
die in den Zuständigkeitsbereich der Ersatzkasse fällt, von dem Rentenversicherungsträger mit der Rehabilitationseinrichtung abgerechnet; anschließend erstatte die Ersatzkasse dem Rentenversicherungsträger alle
im Zusammenhang mit der Leistung entstehenden Kosten. Die klagende DRV Bund sei
im Erstattungsrechtsverhältnis jedoch zuständig gewesen, da die Voraussetzungen
der §§ 9, 10 und 11 SGB VI für die Leistung
zur medizinischen Rehabilitation durch den
Rentenversicherungsträger erfüllt gewesen
seien. § 12 Abs. 1 Nr. 4a SGB VI schließe
ihre Zuständigkeit – entgegen der von der
DRV Bund vertretenen Ansicht – nicht aus.
Danach werden Leistungen zur Teilhabe
„nicht für Versicherte erbracht, die eine Leistung beziehen, die regelmäßig bis zum Beginn einer Rente wegen Alters gezahlt
wird“. Diese Voraussetzung war, so das
BSG, für den Versicherten, der Alg nach
§ 428 SGB III bezog, nicht erfüllt. Unter einer
Leistung, die „regelmäßig bis zum Beginn
einer Rente wegen Alters“ gezahlt werde, sei
nur eine solche zu verstehen, mit deren
Bezug regelmäßig das endgültige Ausscheiden des Versicherten aus dem Erwerbsleben verbunden sei. Dies folge aus
Wortlaut, Sinn und Zweck der Norm, ihrem
systematischen Zusammenhang sowie aus
ihrer Entstehungsgeschichte. Bereits der
Wortlaut der Vorschrift stelle den Bezug zum
Beginn der Altersrente und damit zum Ausscheiden aus dem Erwerbsleben her. Der
1
Vgl. dazu: Luthe in: jurisPK-SGB VI, Stand:
13.09.2010, § 12 RdNr 48; ders. in: jurisPR-SozR
5/2008 Anm. 4 – Anmerkung zum Urteil
BSGE 98, 267 = SozR 4–3250 § 14 Nr. 4.
2
Vgl. ferner den Gesetzentwurf zum RRG 1992,
BT-Drs. 11/4124, S. 154 und Gesetzentwurf zum
WFG, BT-Drs. 13/4610, S. 21.
3
Bunge, Leistungspflicht der Rentenversicherung bei eingeschränkter
Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt (§ 428 SGB III)
Forum A – Nr. 16/2011
unter den erleichterten Voraussetzungen des
§ 428 SGB III geschlossen werden, dass der
ältere Arbeitslose endgültig aus dem Erwerbsleben ausscheidet. Vielmehr wird bei
ihm lediglich eine der Tatbestandsvoraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld nicht mehr geprüft, ohne dass er rechtlich irgendwie gehindert wäre, wieder eine, in
der
Rentenversicherung
versicherungspflichtige,
Beschäftigung
aufzunehmen.
Dass es in der Praxis wenig Fälle gibt, in denen Arbeitslose ihre Erklärung nach § 428
SGB III widerrufen und sich den Vermittlungsbemühungen der Arbeitsagentur zur
Verfügung stellen, mag zutreffen, ändert an
der Beurteilung jedoch nichts. 3 Solange die
Möglichkeit besteht, dass die älteren Arbeitslosen wieder einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen könnten,
sind die Leistungen nach dem SGB III nicht
als solche im Sinne des § 12 Abs. 1 Nr. 4a
SGB VI anzusehen. 4
Aus dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum
und Beschäftigung in den Bereichen der
Rentenversicherung und Arbeitsförderung
(Wachstums- und Beschäftigungsfördrungsgesetz – WFG) 5 geht hervor, dass es bei
§ 12 Abs. 1 Nr. 4a SGB VI „sachgerecht erscheint, das Leistungsspektrum der Rehabilitation in der Rentenversicherung künftig
stärker als bisher auf Versicherte zu konzentrieren, die noch nicht dauerhaft aus dem
Erwerbsleben ausgeschieden sind, bei denen also der in der Wiedereingliederung in
das Erwerbsleben bestehende Rehabilitationserfolg tatsächlich erreicht werden kann“.
Zwar wird dort auch, worauf die klagende
DRV Bund zu Recht hinweist, auf die Vor-
dauerhaftes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verbunden. Der über 58-jährige Versicherte könne nämlich trotz dieser Möglichkeit einer vereinfachten Inanspruchnahme
von Arbeitslosengeld jederzeit allein durch
seine Entscheidung, sich erneut dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen oder eine die Arbeitslosigkeit ausschließende Beschäftigung anzunehmen, wieder aktiv am
Erwerbsleben teilnehmen. Die Sach- und
Rechtslage sei ähnlich derjenigen beim Bezug von aufgestocktem Altersteilzeitentgelt
in der Aktiv- oder Passivphase eines BlockAltersteilzeitmodells. Der Umstand, dass die
Gesetzesbegründung § 105c AFG – die im
Jahr 1986 eingeführte Vorgängervorschrift
des § 428 SGB III – als Leistung im Sinne
des § 12 Abs. 1 Nr. 4a SGB VI beispielhaft
nenne, führe zu keinem anderen Ergebnis.
IV. Würdigung/Kritik
Der Entscheidung ist zuzustimmen. Zu
Recht bestätigt der Senat die in den Vorinstanzen getroffene Entscheidung, dass Erstattungsansprüche nach § 104 SGB X und
nach § 14 Abs. 4 S. 1 SGB IX daran scheitern, dass die klagende DRV Bund nicht als
„unzuständige“ Rehabilitationsträgerin geleistet habe, sondern die Leistungen in eigener Zuständigkeit habe erbringen müssen.
Dem eindeutigen Wortlaut des § 12 Abs. 1
Nr. 4a SGB VI nach werden Leistungen zur
Teilhabe nicht für Versicherte erbracht, die
eine Leistung beziehen, die regelmäßig bis
zum Beginn der Rente wegen Alters gezahlt
wird. Der Bezug von Arbeitslosengeld nach
§ 428 SGB III bedeutet nicht zwangsläufig
ein dauerhaftes Ausscheiden aus dem
Arbeitsleben, weil der Versicherte rechtlich
nicht daran gehindert ist, wieder eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen. Dass der Bezug von Arbeitslosengeld
der Altersrente vorgeschaltet ist, ist jedenfalls rechtlich nicht die Regel. Es kann nicht
allein aus dem Bezug von Arbeitslosengeld
3
Vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v.
20.02.2009, Az. L 1 KR 100/08.
4
Siehe die vergleichbare Sach- und Rechtslage
beim Bezug von aufgestocktem Altersteilzeitentgelt in der Aktiv- oder Passivphase eines BlockAltersteilzeitmodells: BSGE 98, 267 = SozR 4–
3250 § 14 Nr. 4 (Rn. 36); BSG, Urteile vom
22.06.2010, Az. B 1 KR 32/09 R und 33/09 R.
5
BT-Drs. 13/4610 S. 21.
4
Bunge, Leistungspflicht der Rentenversicherung bei eingeschränkter
Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt (§ 428 SGB III)
Forum A – Nr. 16/2011
Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache,
dass die älteren Arbeitslosen nach § 428
SGB III rechtlich eben noch nicht dauerhaft
aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind.
gängerregelung des § 428 SGB III, nämlich
§ 105c Arbeitsförderungsgesetz (AFG), Bezug genommen, die fast einen identischen
Wortlaut aufwies. Letztere (sogenannte
„58er-Regelung“) wurde aber mit Wirkung
zum 1. Januar 1986 als Reaktion auf die Arbeitslosigkeit der 1980er Jahre eingeführt 6.
Grund hierfür war, dass die dort aufgeführten
Personen nicht mehr in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen werden mussten.
Ihre Meinung zu diesem Diskussionsbeitrag
ist von großem Interesse für uns. Wir freuen
uns auf Ihren Beitrag.
6
Vgl. Beschluss des BVerfG vom 07.12.2010,
Az. 1 BvR 2628/07.
5