raum der angst - chilli:freiburg:stadtmagazin

Transcription

raum der angst - chilli:freiburg:stadtmagazin
Raum
der Angst
Spurensuche in
der kriminellsten Stadt
des Landes
Foto: © Steve Przybilla
von Steve Przybilla
Titel Freiburg
S
eit Jahren steht Freiburg in
der baden-württembergischen
Kriminalitätsstatistik auf Platz
eins. Dem Wohlfühlfaktor hat das bisher keinen Abbruch getan. Seit sich
aber in jüngster Zeit Überfälle und
Einbrüche häufen, kippt das Sicherheitsempfinden. Berechtigte Sorge
oder reine Panikmache?
Den Kopf gesenkt, die Arme mit
Handschellen fixiert: So hockt der junge Randalierer vorm „Elpi“. Daneben,
sichtlich außer Atem, drei Türsteher,
die den Mann vor die Studenten-Disko
gezerrt haben. Einen Augenblick wirkt
die Szene wie eingefroren. Dann gerät
mit einsetzendem Regen alles in Bewegung: die Jugendlichen, die ihren
angetrunkenen Kumpel verteidigen
wollen, die Türsteher, deren Geduld am
Ende ist. Und die Blutstropfen, die sich
auf den Pflastersteinen mit dem Regen vermischen.
Es ist kurz nach 1 Uhr nachts in Freiburg. Für Partygänger aus der ganzen
Region beginnt das Wochenende – für
die Polizei der ganz normale Wahnsinn. Als die Beamten vorm Elpi eintreffen, streckt ihnen der Türsteher seine
blutige Hand entgegen: „Gebissen hat
er mich! Durch den Handschuh!“ Der
Kumpel des Delinquenten lallt: „Die
haben doch angefangen. Wir wollen
sie anzeigen. Alle. Und zwar sofort.“
Fälle wie dieser sind noch harmlos
gegen das, was die Polizei in anderen
Nächten erlebt. Hauptkommissar Peter Wagner, Einsatzleiter an diesem
Abend, erinnert sich an eine „Mega-Schlägerei“ im Nachtbus: „Es war
wie im Film. Wir mussten die Bundespolizei und die Hundestaffel zur
Verstärkung rufen, bevor wir die Streithähne rausziehen konnten. Während
wir Handschellen anlegten, wurden
die anderen Leute – locker über 200 –
schon unruhig, weil sie mit dem Bus
nach Hause wollten.“
Dass in einer Großstadt schon mal
die Fäuste fliegen, ist nichts Besonderes. Die Situation in der Freiburger
Innenstadt hatte sich seit Mitte der
Nuller Jahre aber so zugespitzt, dass
die Polizei 2007 die „Gewa City“ ins Leben rief, eine Spezialeinheit, die an den
Wochenendnächten im Bermudadreieck patrouilliert, um alkoholbedingte
Gewalt einzudämmen.
Laut offizieller Statistik ist Freiburg,
gemessen an der Einwohnerzahl, die
kriminellste Stadt in Baden-Württemberg. Im Jahr 2013 registrierte die Polizei im Stadtgebiet 26.462 Straftaten –
ein leichter Anstieg um 0,8 Prozent im
Vergleich zum Vorjahr. Bei den Wohnungseinbrüchen gab es einen rasanten Anstieg um 46,7 Prozent auf 496
Fälle. Stark zugenommen haben Raubüberfälle (+ 18,4%), Gewaltverbrechen
(+ 8,2%) und Drogendelikte (+ 6,6%).
Auch in diesem Jahr haben Langfinger
Hochkonjunktur: Bis Anfang Mai registrierte die Polizei 259 Taschendiebstähle in der Innenstadt – ein rapider Anstieg um 60 Prozent im Vergleich zum
Vorjahreszeitraum.
Dem Wohlfühlfaktor hat die hohe Kriminalitätsrate bisher keinen Abbruch
getan. Schließlich ist Papier geduldig
und – das darf nicht verschwiegen
werden – in Freiburg dominieren die
leichteren Übeltaten. In den vergange-
Nachtschwärmer
in angst und
Schrecken
nen Wochen jedoch geriet das Sicherheitsgefühl ins Kippen. Erst schlug sich
der Stühlinger Kirchplatz wegen dubioser Gestalten und Drogengeschäften
in die Schlagzeilen.
Dann wurden Nachtschwärmer durch
eine Überfallserie in der Innenstadt in
Angst und Schrecken versetzt. Kurzzeitig sah es sogar so aus, als würde sich
eine Bürgerwehr gründen: Türsteher des
„Cräsh“ dachten Mitte Mai laut darüber
nach, im Sedanviertel selbst für Ordnung zu sorgen. Obwohl sie nach einem
» Die Stadt muss Verantwortung tragen «
Landesinnenminister Reinhold Gall (SPD) über die Crime-City Freiburg
chilli: Herr Minister, Freiburg ist die
kriminellste Stadt des Landes. Woran
liegt das?
Reinhold Gall: Die Kriminalitätsbelastung in Freiburg ist tatsächlich seit Jahren
am höchsten, bezogen auf die Einwohnerzahlen. Allerdings muss man sich die
Statistik genau ansehen. Beispielsweise
wurden im vergangenen Jahr in Stuttgart 18.516 Diebstähle registriert, in Freiburg waren es 25.865.* Da stellt sich die
Frage: Ist es die Grenznähe oder woran
kann es noch liegen? Gehen Sie davon
aus, dass dies vom Polizeipräsidium Freiburg analysiert wird.
chilli: Was unternimmt Ihr Ministerium, um die Lage zu verbessern?
Gall: Das Polizeipräsidium hat einen
sehr kompetenten Präsidenten und genügend Spezialisten, die sich vor Ort um
die Probleme kümmern. Sie müssen bei
manchen Deliktformen den Beamtinnen und Beamten aber auch die Zeit
lassen, um diesen Phänomenen langfristig entgegenzusteuern.
Foto: © ZVG
chilli: Anfang Februar willigten Sie ein,
den beiden Freiburger Polizeirevieren
fünf zusätzliche Beamte zuzuweisen.
Ein Tropfen auf den heißen Stein? »
Juni 2014 CHILLI 9
Titel freiburg
Kriminalität in Freiburg
Statistik 2013: von 26.462 Straftaten entfallen auf...
Quelle: Polizei / Grafik: © chilli
Sonstige Straftatbestände
18,2 %
Strafrechtliche Nebengesetze
7,6 %
Vermögens- &
Fälschungsdelikte
19,5 %
Rohheit / persönliche Freiheit
14 %
Leichter Diebstahl
16,5 %
Schwerer Diebstahl
23,8 %
Gespräch mit der Polizei zurückruderten,
zeigt der Vorfall, dass mancherorts die
Nerven blank liegen.
Erschwerend hinzu kommt der Personalmangel bei der Polizei – ebenfalls
ein Problem, das nicht erst seit gestern
besteht. In einem Brief an Oberbürgermeister Dieter Salomon (Grüne) kündigte Innenminister Reinhold Gall (SPD)
zuletzt fünf zusätzliche Beamte für die
hiesigen Polizeireviere an – „enttäuschend“, wie Salomon urteilte. Wie viel
Personal tatsächlich notwendig wäre,
lässt eine Aussage des ehemaligen Polizeichefs Heiner Amann im Gemeinderat erahnen: „Mit 100 Leuten mehr ließe
sich etwas machen.“
Zusätzlich ist eine neue Tätergruppe
in Erscheinung getreten: unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge. Gegen 40
von ihnen ermittelt derzeit die Polizei,
15 sitzen in Untersuchungshaft. Sie werden mit 233 Straftaten in Verbindung gebracht (Stand: 3. Juni). Rechte Hetzblogs
wittern bereits Morgenluft und pöbeln
über „kriminelle Asylanten, sinnlose runde Tische und hilflose grüne Politiker“.
» Gall: Lassen Sie es mich deutlich sagen, die Vorgängerregierungen haben
mir die geringste Polizeidichte der gesamten Bundesrepublik hinterlassen.
2004 wurden 1000 Stellen bei der Polizei mit fadenscheinigen Begründungen abgebaut. Mit der Polizeireform
bringen wir wieder circa 650 Vollzugsbeamte an die Basis. Viel wichtiger ist,
dass durch die großen Präsidien wesentlich mehr Flexibilität möglich ist
und der Streifendienst entlastet wird.
chilli: Sie gelten als Befürworter eines Kommunalen Ordnungsdienstes.
Müssen die Gemeinden den Personalmangel der Polizei ausbaden?
Gall: Jede Stadt muss auch selbst Verantwortung für die Sicherheit tragen.
Primär geht es um Ordnungswidrigkeiten wie Ruhestörung oder Vermüllung der Parkanlagen. Die Stadt als
Ortspolizeibehörde kann doch nicht
nur verfügen, was wer wann und
wo darf, sie ist durchaus auch in der
10 CHILLI Juni 2014
Straftaten gegen sexuelle
Selbstbestimmung
0,5 %
Rechte
Hetzblogs
wittern
Morgenluft
„Die Situation taugt als Bedrohungsszenario, das vermeintlich einfache
Antworten liefert“, warnt Sabrina Ellebrecht vom Zentrum für Sicherheit
und Gesellschaft der Uni Freiburg.
Nämlich: Ordnung und Abschiebung.
Umgekehrt habe gerade das grüne Klientel oft Probleme damit, eine stärkere
Polizeipräsenz zu akzeptieren – eine
Zwickmühle.
„Panik sehe ich nicht“, sagt hingegen
Dietrich Oberwittler, Kriminalitätsexperte am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht.
Statt in Hysterie zu verfallen, hätten
die Freiburger besonnen reagiert, zum
Beispiel durch Bürgertreffen auf dem
Stühlinger Kirchplatz, um diesen „zurückzuerobern“. Dennoch: „Gewaltkriminalität“, sagt Oberwittler, „gab es bisher vor allem zu bestimmten Uhrzeiten
an bestimmten Orten.“ Wer Samstagnacht durchs Bermudadreieck schlendere, wisse das. Neu sei die Dimension
im Stühlinger: „Ich verstehe, dass das
ein Angstraum ist. Dort kann es inzwischen jeden treffen.“
Pflicht, diese Auflagen durchzusetzen.
Sobald es sich um keine geringfügigen
Delikte handelt, ist selbstverständlich
die Polizei zur Stelle.
* Gemeint ist nicht nur Freiburg, sondern
das Gebiet der Polizeidirektion, zu dem
auch die Landkreise Breisgau-Hochschwarzwald, Emmendingen, Lörrach
und Waldshut gehören.
Sparkassen-Finanzgruppe
Das Sparkassen-Girokonto:
das Konto, das einfach alles kann.
16.000 Geschäftsstellen, 25.000 kostenfreie Geldautomaten
und viele Service-Extras wie Mobile-Banking der neuesten Generation.*
Keine Umstände: Das Sparkassen-Girokonto bietet die meisten Geldautomaten in Deutschland, erstklassige Beratung und komfortables Mobile-Banking. Und mit der SparkassenCard mit girogo zahlen Sie bei teilnehmenden Händlern ganz einfach kontaktlos
– quasi im Vorbeigehen. Mehr Infos in Ihrer Geschäftsstelle oder unter www.sparkasse.de. Wenn’s um Geld geht – Sparkasse.
* Jeweils Gesamtzahl bezogen auf die Sparkassen-Finanzgruppe. Buchungsentgelte bleiben unberührt.