Behrens – 1 Wahnsinn und Gesellschaft

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Behrens – 1 Wahnsinn und Gesellschaft
Behrens – 1
Wahnsinn und Gesellschaft
Reflexionen aus dem verrückten Leben
Roger Behrens
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Telegrafie und die Entdeckung des Unbewussten durch die
Psychoanalyse – das »nervöse Zeitalter«: die Wirklichkeit scheint
buchstäblich verrückt geworden, die Gesellschaft nachgerade dem
Wahnsinn anheim gefallen zu sein. Roosevelt soll in dieser Zeit den
Ausdruck ›lunatic fringe‹ als Schmähwort eingeführt haben: als
Diffamierung der Anarchisten in den USA.
»›Der Mensch‹ … – halbtolle Kreatur in verrückter Welt.« Ronald D.
Laing, ›Phänomenologie der Erfahrung‹
»Gebiete urbar zu machen, auf denen bisher nur der Wahnsinn
wuchert. Vordringen mit der geschliffenen Axt der Vernunft …« Walter
Benjamin, ›Das Passagen-Werk‹, [N 1, 4]
»Macht verrückt, was euch verrückt macht.« Blumfeld, ›Eine eigene
Geschichte‹ (›L’Etat et Moi‹, 1994)
Die Geschichte des Wahnsinns, die Michel Foucault geschrieben hat,
endet mit dem 19. Jahrhundert, als die Geschichte selber dem Wahnsinn
verfällt. Foucaults These: Es gibt keinen Wahnsinn an sich; vielmehr
existiere der Wahnsinn nur innerhalb einer Gesellschaft und wird von
dieser definiert. Es handelt sich dabei um eine Geschichte der
Ausgrenzung, in deren Verlauf erst um 1800 der Wahnsinn zum
Gegenstand der Medizin wird und als Geisteskrankheit bestimmt wird.
Sofern der Geist sich in der Vernunft manifestiert, wird sie zum
eigentlichen Gegensatz des Wahnsinns. Als Nerven- und
Gehirnkrankheit gilt der Wahnsinn paradox gleichzeitig als Schwäche
der psychischen Tätigkeit und Hypersensibilität des Nervensystems:
»Das Wesen« des Wahnsinns besteht »in einer krankhaft gesteigerten
Einbildungskraft mit den daraus hervorgehenden ausschweifenden
Wahnvorstellungen«, wie ein Konversationslexikon 1885 definiert. Doch
schon damals steckt der Wahnsinn weitaus tiefer in der Dialektik der
Aufklärung fest, als Foucault es mit seiner Studie darzustellen vermag:
Die Vernunft selber wird zur Wahnidee, schlägt in Unvernunft um. Und
zwar nicht nur als klinischer Diskurs, sondern als soziales Verhältnis.
Ende des 19. Jahrhunderts kann man sich auf die Sinne nicht mehr
verlassen und in der Unterscheidung zwischen Wahn und Wirklichkeit
nicht mehr allein dem ›gesunden Menschenverstand‹ vertrauen.
Okkultismus, Aurafotografie, Film, Röntgenstrahlen, Elektrizität,
Mit der Inkriminierung der verrückten Spinner am Rande der Gesellschaft
geht es um eine andere Form des Ausschlusses als die, die Foucault
beschrieben hat: Der Wahnsinn erscheint jetzt als Extremismus – im
Verhältnis zu einer Normalität, die nicht allein einem, wie Foucault es
nennt, Diskurs der Normierungsmächte unterworfen ist. Die Normalität
als das Zentrum der Extreme ergibt sich aus der Logik der
kapitalistischen Produktionsordnung: als Standardisierung. Solche
Standards entwickeln sich für sämtliche Maßverhältnisse – von der
Konfektionsgröße bis zur Türgriffhöhe, von der Eisenbahnspurbreite
bis zum Schulmöbel, vom Filmformat bis zur Verkehrsregelung etc.; von
den industriellen Schlachthöfen (Cincinnati, Chicago) bis zur modernen
Waffentechnik im Ersten Weltkrieg; von der Fließbandproduktion in
Fords Automobilwerken seit 1913 bis zur Einführung der DIN-Normen
1917: Die technologische Rationalität, die sich hier durchsetzt, kann ihren
irrationalen Charakter kaum verbergen.
Der Wahnsinn umkreist die Normalität, wie es in der Alltagskultur der
zwanziger Jahre deutlich zum Ausdruck kommt: Die Welt spielt verrückt
– die Tillergirls und Josephine Baker, Buster Keaton und Hugo Ball,
Emma Goldman und Mickey Mouse, die Neue Sachlichkeit und der
Surrealismus, die Oktoberrevolution und der weiße Sozialismus in
Amerika … Insgesamt ist dies eine Verrücktheit, die als ein ZurechtRücken erscheint, ein In-Ordnung-Bringen. Inwiefern die Normalität
nicht nur den Wahnsinn erzeugt, sondern eben umgekehrt der
Wahnsinn die Normalität, ist eindrucksvoll in der Literatur – man denke
an Kafka – beschrieben worden; auch, dass diese Dialektik von Wahn
und Norm zunächst in der Krise mündet, und dann im blanken Terror
kulminiert. Und dennoch ist die verrückte Welt nicht auseinander
gefallen,
sondern
verdichtete
sich
zum
universellen
Verblendungszusammenhang. Adorno und Horkheimer haben das in
der ›Dialektik der Aufklärung‹ (1944/47) mit dem Begriff der
Kulturindustrie beschrieben. Zugleich haben sie in materialistischer
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Fassung kritisch antizipiert, was Foucault später in ›Wahnsinn und
Gesellschaft‹ (1961) fröhlich-positivistisch diagnostizierte: der Umschlag
von Mythos in Rationalität und vice v e r s a als geschichtslogische
Verschränkung von Wahnsinn und Vernunft.
Zwar findet die Dialektik der Aufklärung als menschenverachtender
Wahn instrumenteller Vernunft in Auschwitz seinen bisherigen
Höhepunkt, aber keineswegs sein Ende. Das Verhältnis von Wahnsinn
und Gesellschaft nimmt nach fünfundvierzig lediglich (und auch nur
tendenziell) demokratische Formen an; und das lässt sich auch nur unter
Absehung der Zustände im stalinistischen und maoistischen
Realsozialismus und im militär-faschistischen Realkapitalismus der 50er
bis 70er Jahre behaupten. Eine gleichwohl schöne Allegorese über
Wahnsinn und Gesellschaft, nämlich science-fiktionale Adaption von
Shakespeares ›The Tempest‹ kommt 1956 als ›Forbidden Planet‹ in die
Kinos: auf dem Planeten Altair finden sich Überreste einer bereits vor
mehreren hunderttausend Jahren untergegangenen, allerdings
technologisch dem Menschen weit überlegen gewesenen Zivilisation, die
Krell. Zurückgelassen haben sie Zeugnisse ihrer Vernunft: Gewaltige
unterirdische Maschinen der reinen Vernunft. Ausgegrenzt wurden hier
die Gefühle – sie geistern nunmehr als Wahnsinn über den Planeten: ein
riesiges Energiemonster, eine Art elektrischer Werwolf, der sich – ganz
im Gegensatz zur Krell-Zivilisation – überhaupt nicht unter Kontrolle hat.
Indes sind es die Menschen (Kapitän Adams & Crew) und Robby the
Robot, die mit Witz und Verstand die Einheit von Wahnsinn und
Vernunft wieder herstellen.
Dieser Film ist auch deshalb interessant, weil er – neben ›Blackboard
Jungle‹ – als erster kinografischer Einblick in eine neue Welt gesehen
werden kann: Wir sind im Pop angelangt, der sich Mitte der fünfziger
Jahre mit Rock ’n’ Roll und Soul, vor allem aber mit der Pop-Art
begründenden Ausstellung ›This is Tomorrow‹ (1956 in London)
etabliert. In gewisser Weise wird ab jetzt, zumindest ideell, der ›lunatic
fringe‹ wieder in das gesellschaftliche Zentrum zurückgeholt, der
Extremismus der Mitte setzt sich durch. In der perfektionierten
Normwelt der Fünfziger und frühen Sechziger, die im Stromliniendesign
ihren Ausdruck findet, sollen Emotionen nichts exklusives sein; die
Welt wird sichtbar (Farbfilm, Kino, Fernsehen), die Welt wird hörbar
(Plattenspieler, Radio, Musicbox) – aber sie wird auch fühlbar, sinnlicher,
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sinniger und eben wahnsinniger. Das heißt zum Beispiel: Die Ton- und
Bildwelt ist jetzt voller Liebe; und wenn die Liebe scheitert, dann führt
der Wahnsinn nicht wie dereinst bei Werther in den Tod oder bei
Hölderlin in den Turm, sondern in die Charts. Vor Liebe verrückt zu
sein, ›Crazy for Love‹ (Lionel Richie) und ›Crazy in Love‹ (Beyoncé) – das
gehört zu den gängigsten Stereotypen des Pop-Hits. Anders gesagt:
Nicht nur wird fortan der Wahnsinn konsumierbar, sondern die
Konsumgesellschaft selbst funktioniert in ihrer psychologischen
Rationalität als Zugeständnis an die Normalität des Wahns. Im Zeitalter
des Pop kehrt nun der Wahnsinn als das wieder, was er ursprünglich
einmal war: Ekstase, also ein Außer-sich-Sein, ein Aus-sich-Heraustreten,
eine Selbst-verrückt-Werdung, die aber kein Wegtreten ist, sondern
eben höchste Sensibilität, Wahnsinnlichkeit. Anders als in der
fordistischen Arbeitsgesellschaft ist der Wahnsinn in der
postfordistischen Konsumgesellschaft nicht Störung, sondern
Bedingung: gerade das, was den Wahnsinn dereinst als Geisteskrankheit
definierte, nämlich ein »Exaltationszustand« von »krankhaft gesteigerter
Einbildungskraft«, gilt nunmehr als notwendige Phantasie, sich dem
Spektakel der Normalität einzufügen. Im Geburtsjahr des Pop haben
Herbert Marcuse (in ›Triebstruktur und Gesellschaft‹, 1955) und Erich
Fromm (›Wege aus der kranken Gesellschaft‹, 1955) kritisch analysiert,
inwieweit wir es mit einer »Pathologie der Normalität« zu tun haben.
Pop erklärt den Wahnsinn zum Lebensstil; doch es bleibt dies ein
Lebensstil, dem nur als bloße Ideologie die Anpassung an die bestehende
Ordnung gelingt. Der wirklich gelebte crazy lifestyle lässt sich mit der
nivellierten Normalität eben doch nicht vereinbaren: Vorbehalten bleibt
deshalb eine wenigstens teilweise Einlösung dieses hoch-emotional
geladenen Glücksversprechens allein der Jugend. Sie wird nicht nur zum
Testobjekt um auszuprobieren, wie viel Wahnsinn notwendig ist, um die
Normalität auszuhalten, sondern auch zum Testsubjekt, das seine IchSchwäche solange mit allerhand Verrücktheiten kaschiert, bis ein
kontrolliertes, normales Exemplar herauskommt, das am anderen Ende
der Konsumgesellschaft, nämlich in die Produktion problemlos
eingespannt werden kann.
Dass dies jedoch ein fragiles System ist, zeichnete sich schon in den
sechziger Jahren drastisch an. Die »crazy days« der wilden Sechziger
lassen sich einmal mehr mit Filmen allegorisch rahmen: 1960 kommt
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Hitchcocks ›Psycho‹ in die Kinos, 1969 wird die erste Folge von ›Monty
Python’s Flying Circus‹ im Fernsehen ausgestrahlt. Dazwischen
versuchten tausende von zumeist jugendlichen Wahnsinnigen die Welt
ein wenig zum Guten zu verrücken. Konterkariert wird diese verrückte
Geschichte durch den Wahnsinn selbst, Stichwort Vietnamkrieg. Als
kulturelles Strategie wird der Wahnsinn in seinen harmlos
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Schutz vor Ausgrenzung, Isolation, Abschiebung sein. Ohnehin werden
die Wahnsinnigen nicht mehr zu Patienten, also zu »Geduldigen«
gemacht; jetzt werden sie ausgestellt, vorgeführt: Freakshow im
Fernsehen. Auch dadurch normalisiert sich aber der Wahnsinn ein
weiteres Mal. Schließlich verflüchtigt sich der Wahnsinn in der
Beliebigkeit: Weil alles so wahnsinnig, irre und verrückt ist, hat man nun
konsumierbaren Varianten allerdings
gesellschaftlichen Mainstreams in den
des
der
keine Begriffe mehr, mit denen die Normalität als Wahnsinn erklärt
werden kann. Stattdessen kippt die Erklärung selbst in den Wahn um.
Wohlstandsgesellschaft, deren Krise sich bereits abzeichnet, wollen alle
ein wenig verrückt sein. Waren die Sechziger noch weitgehend grau,
sind die Siebziger bunt, das erste Jahrzehnt, in dem dann vollständig in
Farbe gesendet wird. Auch hier wird das Extreme wieder ins Zentrum
geholt. Und genau im Zentrum wird allerdings die Wirklichkeit wieder
verrückt und verrückt gemacht: Disco & Punk steigern den Wahnsinn
auf Fieber-Temperatur. Entscheidend an Disco & Punk ist die
So offenbart sich am Ende der verrückten Geschichte unseres Zeitalters
schließlich genau das Gegenteil von Foucaults These: Dass nicht die
Gesellschaft den Wahnsinn hervorbringt, sondern umgekehrt der
Wahnsinn die Gesellschaft.
zum Leitmotiv
Siebzigern: I n
Gewissheit, dass der wirkliche Wahnsinn da draußen ist. Doch auch dies
findet schnell seine Rückkopplung mit den sozialen Verhältnissen: Die
kulturelle Ideologie, dass alles ein bisschen verrückt ist, wird schließlich
in den achtziger Jahren postmodern überformt. Wahnsinn wird
gleichsam zur postmodernen Allegorie schlechthin, das plurale
Universalsymbol für alles.
Zum Beispiel 1983: Wolfgang Petry singt ›Wahnsinn‹, Rainald Goetz
schreibt ›Irre‹. Petry ist 1951 geboren, Goetz drei Jahre später; Petry hat
Fachabitur und eine Feinmechaniker-Lehre gemacht, Goetz hat Abitur,
studierte Geschichte, Theaterwissenschaft und Medizin. Wolfgang Petry
trägt Freundschaftsbänder (»Hobby: Mit Fans sprechen, Schwimmen«),
Rainald Goetz schneidet sich die Stirn auf (Promotion in Medizin über
Hirnfunktionsstörungen). – Die Zukunft, die der Punk für beendet
erklärt hatte, hat begonnen. Jeder ist jetzt auf sich selbst gestellt, die
Gesellschaft im Individualismus zersplittert. Alles dreht durch: New
Wave, die Mode ist schrill, das Make-Up bunt, die Jugend verkleidet
sich, der Hedonismus nimmt unkontrollierbare Formen an, Mtv,
Yuppies, ›Zelig‹, Friedensbewegung und Public Enemy, Madonna
bekennt ein ›Material Girl‹ zu sein, Lyotard kuratiert die Ausstellung
›Les Immatériaux‹: Ein Jahrzehnt im Rausch, ein Jahrzehnt der Ekstase.
Die Welt ist jetzt völlig verrückt geworden, der Kapitalismus endgültig
pop; mit den Neunzigern und dem Phyrrussieg des Kapitalismus wird
der Wahnsinn schließlich global. »Wahnsinnig sein« kann jetzt fast ein