Symbolischer Interaktionismus: Symbolischer Interaktionismus

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Symbolischer Interaktionismus: Symbolischer Interaktionismus
Birgit Griese: Vorlesung im Rahmen des Moduls Theorien und Methoden Sozialer Arbeit
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Symbolischer Interaktionismus: Interaktion,
Interaktion, Sozialisation und
Identität – ein Blick auf Mead
von Birgit Griese
„Der Einzelne tritt in seine eigene Erfahrung nur als Objekt, nicht aber als
Subjekt ein. (…) Die Existenz privater oder ‚subjektiver‘ Erfahrungsinhalte
[zuvor war vom Muskelsinn, von kinästhetischen Erfahrungen die Rede,
B.G.] schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß Bewußtsein voraussetzt,
daß der Einzelne sich selbst zum Objekt wird, indem er die Haltung der anderen Individuen ihm gegenüber in einem organisierten Rahmen gesellschaftlicher Beziehungen einnimmt, und daß der Einzelne sich seiner nicht
bewußt werden noch eine Identität haben könnte, wenn er nicht derart zum
Objekt für sich selbst werden könnte. Getrennt von seinen gesellschaftlichen Kontakten zu anderen Individuen, würde er die privaten oder ‚subjektiven‘ Erfahrungen nicht zu sich in Beziehung setzen und könnte sich seiner
selbst nicht durch diese Erfahrungen bewußt werden, nämlich als ein Individuum, als Person. Um sich nämlich seiner selbst bewußt zu werden, muß
er sich selbst zum Objekt werden oder in seine eigene Erfahrung als Objekt
treten, und nur durch die gesellschaftlichen Mittel – indem er die Haltung
der anderen sich selbst gegenüber einnimmt – kann er sich selbst zum Objekt werden“ (Mead 1988: 270).
1. Einleitung
Erfahrung und Identität bilden das Zentrum des heutigen Eingangszitats, das wie üblich als Motto fungiert.1 Ich hoffe, am Ende
der Vorlesung die Grundlagen geklärt zu haben, die Mead zu den
hier eingangs zitierten Aussagen veranlassen. Anhand der Abhandlung Geist, Identität und Gesellschaft Meads (1988), der als
Begründer des Symbolischen Interaktionismus (Graumann/Mètraux/Schneider 1995: 71; Helle 2001: 64) gilt, sollen identitätstheoretische Grundlagen dezidiert ausgearbeitet werden, wenngleich einschränkend anzumerken ist, dass die Schulenbildung
Differenzen in den Auffassungen einzelner Autoren nivelliert (vgl.
z.B. Wagner 1981: 227). Grundsätzlich ist darauf hinzuweisen,
dass Mead eine Handlungs- bzw. Kommunikationstheorie entwirft
(vgl. Abels 2007: 117), jedoch keineswegs von Interaktion spricht:
Die schulenbildende Bezeichnung Symbolischer Interaktionismus
wurde später von Blumer eingeführt (vgl. ders. 2004: 321). Das
Konzept des Symbolischen fundiert indessen die Mead’sche Hand1 Entgegen der Ankündigung im Fahrplan geht es heute noch einmal um Grundlagen des Symbolischen Interaktionismus. Zudem ist entschuldigend anzumerken, dass es chronologisch
und inhaltlich sinnvoll gewesen wäre, Mead vor Goffman zu präsentieren.
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lungs-, Sozialisations- und Identitätstheorie, deren Einfluss sich
beispielsweise bis zur Arbeit Berger/Luckmann verfolgen lässt
(vgl. dies. 2001: u.a. 50ff. 139ff.). Nicht zuletzt ist ein Blick auf die
Arbeit von Mead (der sich im Verlauf seines Studiums mit Sozialarbeit beschäftigte, doch dies nur am Rande, vgl. Abels 2001: 13)
für Pädagoginnen interessant, da er eine Skizze menschlicher Sozialisation vorlegte, die heute noch diskutiert wird. Ausgehend
vom thematischen Komplex Handlung bzw. Interaktion, der notwendig auf Konzepte wie Geist, Denken bzw. Bewusstsein Bezug
nimmt (3.), werde ich die Sozialisationsidee vorstellen und gemeinsam mit der Identitätskonzeption verhandeln (4.). Vorderhand sind allerdings der theoretische Ort sowie die Gegenstände
Meads zu betrachten (2.). Was die Operationalisierung in Richtung
sozialarbeiterischen Handelns oder Forschungspraxis betrifft, sei
erwähnt, dass die Theorie Meads zu allgemein, gelegentlich zu
unsystematisch ausfällt, um direkt in Forschung übersetzt zu werden (vgl. Geulen 1982: 16). Nichtsdestotrotz aber sind die handlungstheoretischen Annahmen sowohl für eine Forschungspraxis
konstitutiv, da grundlegende theoretische Annahmen übernommen werden können, als auch für eine pädagogische Haltung der
Wirklichkeit gegenüber relevant. Ich werde gleich auf diese Aspekte zurückkommen.
2. Versuch einer einordnenden Betrachtung
Der theoretische Rahmen Meads ist schwer zu bestimmen; es
stellt sich beim Lesen der Eindruck her, Mead bevorzuge ein
eklektizistisches Vorgehen: Verschiedene philosophische Richtungen und disziplinäre Ansätze bilden den Hintergrund seines Theorieentwurfs. Helle lokalisiert drei Wurzeln des Symbolischen Interaktionismus (die bei Mead zu finden sind): a) Sozialbehaviorismus (Psychologie, Biologie, Soziologie)/Pragmatismus (Philosophie), b) Phänomenologie (Philosophie) und c) Romantik (Helle
2001: 49f., ‚romantisch‘ ist die Theorie, da Identität einen Fokus
bildet). Zudem finden sich im Text Passagen, die einzelnen Richtungen, z.B. der Gestaltpsychologie (Mead 1988: 76), zuzuordnen
wären. Dennoch ist es sicher nicht verkehrt, dem Pragmatismus
herausragende Bedeutung zu bescheinigen (vgl. Abels 2007: 117).
Der Pragmatismus vereint „jene Ansätze, welche dem Praktischen, insbes. dem Handeln, eine theoretische Bedeutung zu-
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sprechen und sie (…) zum Ausgangspunkt des Philosophierens
machen“ (Pape 1999: 1297). Diese Richtung ist dem Ansatz von
Mead gewiss inhärent. Obwohl Mead Handlung philosophisch erörtert, finden sich seine grundlegenden Annahmen in Forschungsrichtungen wieder, so beispielsweise in der Grounded Theory, die
vom amerikanischen Pragmatismus inspiriert ist. Alheit beschäftigt sich mit Grounded Theory und Pragmatismus unter der Fragestellung, welche Gewinne sich hier für die Pädagogik im Allgemeinen und die Soziale Arbeit im Besonderen abzeichnen.
Ausgehend von der These der „Trivialisierung“ des Schülers bzw.
des Unterrichts, illustriert er, dass (nicht nur) Unterrichtshandeln
nach dem Schema Frage-Antwort funktioniert, wobei oft nur eine
Entgegnung, eine Form des Wissens Geltung und Richtigkeit beanspruchen kann:
„Ein festgefügter Wissenskanon wird sozusagen ‚1 zu 1‘ vermittelt, und
der Schüler/Student wird unreflektiert wie eine ‚triviale Maschine‘ betrachtet, bei der ein kalkulierter Input den erwartbaren Output produziert
(…) – Natürlich fühlt sich hier zunächst niemand angesprochen. Aber die
Tücke auch der sanfteren Varianten einer solchen Trivialisierung liegt gerade darin, dass der konventionelle Pädagoge eben ‚weiß‘, oder doch zu
wissen vorgibt, worum es geht, und dass er außerdem ‚weiß‘ oder eben
zu wissen vorgibt, wie dass, was er lehrt, bei seinen Schülerinnen ankommt. Und genau diese Haltung ist fragwürdig. Sie bezieht sich aber
keineswegs nur auf die Unterrichtssituation, sondern auf die gesamte
Einstellung zum pädagogischen Feld, ja, in allen Bereichen verantwortlichen sozialen Handelns“ (Alheit 2004: 28f.).
Diese In- und Output-Idee, die Alheit nicht nur für Lehrer in Rechnung stellt, sondern auch in der Sozialarbeit wirken sieht, stellt
sich dem Verstehen des anderen in der Situation entgegen (ebd.:
u.a. 29). Das philosophische Handlungskonzept des Pragmatismus’ kann dieser Sichtweise etwas entgegensetzen. Möglich ist
dies, da eine kritische Distanz zum klassischen Reiz-Reaktionsschema des Behaviorismus hergestellt wird, das Alheit graphisch
folgendermaßen darstellt:
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REIZ
REIZVERARBEITUNG
REAKTION
„REFLEXBOGEN“
Alheit 2004: 32
Das Handlungsmodell Meads wird unter 3. dargestellt. Vorab ist
festzuhalten, dass Handlungen komplexer ablaufen als im ReizReaktionsschema angelegt (Alheit 2004: 32ff.) und dass sich im
Handeln simultan auch Identität dokumentiert. In diesem Passus
soll es jedoch zunächst um den behavioristischen Anteil in der
Theorie Meads gehen.
Behavioristen gehen von der Annahme aus, dass der Mensch
ein „biologisches Geschöpf“ ist, welches auf „seine Umwelt“ reagiere, ein Ausgangspunkt, den auch Mead vertritt (Abels 2001:
15; 2007: 118). Das oben vorgestellte naturwissenschaftlich inspirierte Reiz-Reaktionsschema zeigt ein lineares Handlungsmodell. Physikalische Handlungsdeterminanten rücken in den Fokus
einer naturwissenschaftlich orientierten Psychologie, die nach
den Abläufen im Zentralnervensystem, nach physikalischen Zusammenhängen von Reiz und Reaktion (und Mitteln der Kontrolle)
fragt. Für Mead greift eine derartige Ausrichtung zu kurz: „Wir
können weder das Zentralnervensystem noch die physischen Objekte isoliert nehmen. Der ganze Prozeß beginnt mit dem Reiz
und schließt alle weiteren Vorgänge in sich ein“ (1988: 77). Ein
einfaches Ablaufmuster ist unangemessen, da das denkende,
sich erinnernde, vernunftbegabte Individuum vernachlässigt wird,
kurz: weil Fragen des Bewusstseins vernachlässigt werden (ebd.:
71, zusammenfassend Garz 2006: 42). Erinnerung und Bewusstsein werden von Mead an lebensgeschichtliche und gesellschaftliche Parameter geknüpft (Mead 1988: 71f., 152f.), doch geht es
ihm weder um Biographie- noch um Psychoanalyse, sondern um
das, „was der Erfahrung aller gemeinsam ist“ (72), um eine universelle Theorie. Prinzipiell ‚verliert‘ sich Mead nicht in Spekulati-
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onen hinsichtlich der im Inneren des Individuums ablaufenden
kognitiven Prozesse: Er nimmt vielmehr an, dass sich ein Großteil
des Gedachten in den sozialen (kommunikativen) Handlungen (im
Nachhinein) veröffentlicht, sprich: zu erkennen gibt (79). Im folgenden Sinne versteht er sich als Sozialbehaviorist: Die gesellschaftlichen Grundlagen des Denkens, die nicht im Gehirn lokalisiert werden können (wenngleich der physiologische Prozess hier
lokalisiert werden muss), werden in die Theorie integriert. Das Verhalten der Individuen, das wiederum verstanden werden muss,
aber bildet den Bezugspunkt seiner Theorie (153; Schneider
2008: 181), und in dieser Position spiegeln sich neben pragmatistischen auch phänomenologische Traditionen:
„Zu einer (…) ausgeprägten Verwendung des Ausdrucks ‚Ph.‘[änomenologie, B.G.] kam es, als die Psychologie nach wissenschaftlicher Eigenständigkeit strebte und intensive Reflexionen auf ihr Forschungsgebiet
wie auf ihre Methodik verlangte. Durch die Einteilung F. Brentanos in
kausal erklärende und deskriptive oder phänomenologische Psychologie
erhielt der Begriff der Ph. neue Bedeutung: In der Zergliederung und Beschreibung der ‚psychischen Phänomene‘ als der in sog. innerer Wahrnehmung zweifelsfrei gegebene Bewußtseinsvorgänge sollte die Psychologie ihre empirische Grundlage erhalten“ (Ströker 1999: 1013).
Führwahr liefert Mead, dessen Abhandlung zwischen Beschreibung und Erklärung changiert, Vorstellungen über innere Bewusstseinsvorgänge, „der Mensch muss aufgrund seiner Handlungen
studiert werden, und zwar sowohl aufgrund der offen ausgeführten als auch der unsichtbar bleibenden, weil nur gedachten“, so
Helle angesichts des Mead’schen Programms (2001: 49).
Um das Thema (Sozial-)Behaviorismus abzuschließen, ist kurz
auf evolutionstheoretische Implikationen einzugehen. Das darwinistische Prinzip ‚Survival of the Fittest‘, das mit der Idee der natürlichen Selektion und dem Überleben der bestmöglich angepassten Individuen verbunden ist, dürfte hinlänglich bekannt sein.
Einheitlich fällt die Position Meads zu derartigen Annahmen nicht
aus: Die klassische Denkfigur findet sich beispielsweise in seinen
Ausführungen zum Überlegenheitsdenken von Gruppen in Kriegssituationen (1988: 252), auch wird die Entwicklung von der einfachen zur sprachlichen Geste (s.u.) entwicklungstheoretisch erörtert (115f.). Explizit aber bezieht Mead angesichts der (modernen)
Gesellschaft eine Position, die von biologistischen Argumentatio-
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nen weit entfernt ist: „Die Kontrolle der eigenen Evolution ist das
Entwicklungsziel der menschlichen Gesellschaft“ (297) heißt es.
Menschliche Evolution bezieht sich nicht auf physiologische Entwicklung, sondern verfolgt ein bislang nicht erreichtes „Endziel“,
welches sich die Menschen selbst setzen: Sie wollen soweit wie
möglich die „physische Umwelt in ihrem Verhältnis zur Gattung
bestimm(en)“ (298f.). Anders ausgedrückt: Nicht der Mensch
passt sich der Umwelt, sondern der Mensch passt die Umwelt seinen Bedürfnissen an.
Neben Sozialbehaviorismus, Pragmatismus und Phänomenologie sind weitere theoretische Richtungen zu nennen. In diesem
Zusammenhang dürfen gestaltpsychologische Ideen nicht vergessen werden, wenngleich Mead diesbezüglich weder Autoren zitiert
noch ausgearbeitete Definitionen anbietet. Ohne gestalttheoretische Annahmen aber ließe sich ein wichtiger Teil der Handlungskonzeption nicht verstehen. Vergegenwärtigen wir uns die Idee
der Gestalt mithilfe der narrativen Psychologie, auch wenn hier
der Begriff der Kohärenz bevorzugt wird. Straub definiert Kohärenz
im Kontext „Identität als kommunikatives Konstrukt“ wie folgt:
„Der Begriff der Kohärenz besagt zunächst nur vage, daß unter ‚Identität‘
ein in sich stimmiger Zusammenhang zu verstehen ist, eine Struktur, die
aus miteinander verträglichen, zueinander passenden Teilen oder Elementen gebildet wird, wie auch immer diese Struktur etwas Eigenständiges verkörpert, eine Gestalt nämlich, die – ganz im Sinne der berühmten Formel – etwas anderes ist als die bloße Summe ihrer Teile“ (Straub
1994/95: 15, Hervorhebungen im Original).
Dieses Prinzip gilt im Großen (Identität, verstanden als biographisches Konstrukt) wie im Kleinen (die einzelne Erfahrung). Nach
Mead sendet der Handelnde nicht einfach nur einen Reiz und/
oder reagiert auf ihn – die „Erfahrung, selbst die des Einzelnen,
muß mit einem Ganzen beginnen. Es muß ein Ganzes gegeben
sein, damit wir die gesuchten Elemente erfassen können“ (Mead
1988: 76). Das Ende einer Handlung, die Reaktion des anderen
auf einen Reiz ist Teil einer Handlungskette, unsere Reaktionen
auf ein physisches Objekt in unserer Umwelt umfassen die nahe
oder entfernte Zukunft, die jedoch im Handeln bzw. im Erfahren
immer schon angelegt ist (vgl. u.a. 224, 228, 327). Exemplarisch
formuliert: Ich will ein Bild aufhängen. Wenn ich einen Hammer
sehe, ihn in die Hand nehme, weiß ich, dass ich damit den Nagel
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in die Wand schlagen kann. Ist kein Hammer zur Hand, prüfe ich,
ob andere Objekte die erforderliche Eigenschaft besitzen (z.B. einen Kochtopf). Ein Stuhl ist etwas, worauf ich mich setzen kann.2
Nur aus dieser Warte geraten die mich umgebenden Objekte der
Umwelt in meinen Blick, sie ‚existieren‘ nicht an sich, sondern nur
mit Bezug auf den Sinn, den sie für mich ergeben, und der sich
grundsätzlich in den Reaktionen – in diesem Fall sind es meine
eigenen – zeigt (in Anlehnung an Mead 1988: 144). Besitzen
‚Dinge‘ diese Eigenschaften nicht, sind sie bedeutungslos. Gleiches gilt für mit anderen ausgeführte Handlungen: „Da jedes Individuum an einer Folge gemeinsamer Aktivitäten zusammen mit
anderen beteiligt ist, ist es zweckmäßig, seine Handlungen als
Segmente größerer Handlungszusammenhänge zu studieren“, so
Helle (2001: 49), der meines Erachtens die Idee einer Betrachtung der Handlungen bzw. Erfahrungen von ihren Resultaten her,
die als Antizipationen in Form von Gestalten vorliegen, nur teilweise aufgreift. Dies aber ist keinesfalls verwunderlich, liegt die Idee
doch auch unvollständig vor. Dass Mead Handlungen von ihren
Resultaten her betrachtet (u.a. 1988: 188), ist indessen eine Einschätzung, die von vielen Autoren geteilt wird (vgl. auch Abels
2001: 73). Eine Handlung ist telelogisch, auf ein Ziel hin gerichtet:
Nur auf Basis dieser Annahme ergeben Begriffe wie „‚impulse‘,
‚perception‘, ‚manipulation‘ und ‚consummation‘“ Sinn (ebd.).
Ein Konglomerat von Theorien, teilweise von theoretischen
Fragmenten zeichnet die Arbeit Meads aus. Dessen ungeachtet
wird Mead dem interpretativen Paradigma zugeordnet, wenngleich Miebach seine „‚Schlagseite‘ zur Gesellschaft“ unterstreicht
(2006: 63, vermutlich aus diesem Grund ordnet Miebach Mead
sowohl dem normativen als auch dem interpretativen Paradigma
zurechnet, vgl. ebd.: 33). In diesem Spannungsfeld ist wohl ebenfalls die Debatte anzusiedeln, ob Meads kritische Positionierung
zum klassischen Behaviorismus das Individuum als Akteur und
(Welt-)Gestalter wieder in Geltung setzt (positiv Abels 2001, kritisch Wittpoth 1994), eine Frage, die später noch einmal aufgegriffen wird. Eine Zuordnung zum interpretativen Paradigma
scheint insofern gerechtfertigt, als dass dem Symbolischen ein
2
Der Stuhl als Option sich zu setzen, ist nur ein, vermutlich der allgemeinste Deutungshorizont. Er kann auch als Erbstück, als Nachlass meiner Großmutter, mein Lieblingsmöbel etc.
betrachtet werden. Doch auch diese Variationen entziehen sich dem Verstehen nicht, sind
kulturell – bzw. in der Sprache Meads: gesellschaftlich – kodiert.
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zentraler theoretischer Stellenwert bescheinigt werden muss: Die
soziale Wirklichkeit ist immer interpretierte Wirklichkeit (gleich
mehr dazu). Meiner Ansicht nach gestaltet sich eine Zuordnung zu
praxeologischen, metalistischen oder textualistischen Theoriebeständen nicht nur kompliziert, sie scheint ausgeschlossen: Aussagen zum Denken, zum Geist, zur Kommunikation, zum Symbolischen sowie zum sozialen bzw. gesellschaftlichen Handeln sind
etwa gleich gewichtet, verschränken sich in den Argumentationen
(was vielleicht mit dem diagnostizierten Eklektizismus zusammenhängt). Reckwitz, Experte auf diesem Gebiet, kommentiert
leider nur in einer Fußnote, dass die Theorien der amerikanischen
Pragmatisten, zu denen er Mead zählt, bislang hinsichtlich ihres
Beitrages zu praxeologischen Theoriebeständen ungeprüft sind
(2003: 283).
3. Gesellschaftliche Handlung/Interaktion
Handlung/Interaktion
„Die Umwandlung des biologischen Organismus in einen mit Geist begabten Organismus oder eine Identität findet laut Mead durch das Werkzeug der Sprache statt, während die Sprache wiederum der Existenz einer bestimmten Gesellschaft (…) bedarf“ (Morris 1988: 23).
Klärt Morris im Zitat noch einmal, was sozialbehavioristisch bedeuten kann, ist zunächst zu klären, was denn Handlung bzw. Verhalten ist. Mead unterstreicht, dass
„das Verhalten des Individuums (…) nur in Verbindung mit dem Verhalten
der ganzen gesellschaftlichen Gruppe verstanden werden kann, dessen
Mitglied es ist, denn seine individuellen Handlungen sind in größeren,
gesellschaftlichen Handlungen eingeschlossen (…) Die gesellschaftliche
Handlung ist nicht schon dadurch erklärt, daß sie man sie aus Reiz und
Reaktion aufbaut; sie muß als dynamisches Ganzes – als etwas im Fluß
Befindliches – angesehen werden“ (1988: 45f.).
Es bedarf des anderen, der Gruppe, der Gesellschaft, der Sprache
bzw. signifikanter Symbole damit es zu gesellschaftlichem Handeln – im Gegensatz zu tierischem Verhalten – kommen kann.
Bewusstsein – oder Geist, wie es bei Mead auch heißt – ist fundamental von der Gesellschaft abhängig und wird, in Form einer
Abrechnung mit dem Behavioristen Watson (40ff.), als Konstituente gesellschaftlichen (sozial ließe sich synonym verwenden)
Handelns eingeführt. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen
bildet die Geste, die einen Reiz setzt. Am Beispiel von Hunden
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veranschaulicht Mead, dass ein knurrender Hund sein tierisches
Gegenüber zu einer Reaktion veranlasst, ihn in seinem Verhalten
beeinflusst. Die Reaktion des Letzteren führt zu einer veränderten
Haltung des Ersteren: Die Hunde tauschen Gesten aus (81f.). Gesten führen zur gegenseitigen Anpassung der Reaktion, des Verhaltens, in ihnen spiegeln sich Haltungen, die konstitutiv für eine gegebene Situation sind. Die Menschen hingegen laden Gesten mit
Bedeutungen auf: Sie sehen vielleicht in dem ersten Tier einen
aggressiven Hund, im anderen ein furchtsames Geschöpf: Hunde
sehen dies nicht, auch legen sie ihren Gesten keine reflektierte
Absicht bei (84). Obschon auch Menschen gelegentlich nur reagieren, können sie sich im Unterschied zu Tieren ihrer Handlungen
bewusst sein: Mit der Geste verbindet sich in diesen Fällen eine
Idee, die in der Geste zum Ausdruck kommt. Den Übergang von
der Geste zum signifikanten Symbol beschreibt Mead wie folgt:
„Wenn nun eine solche Geste die dahinterstehende Idee ausdrückt und diese Idee im anderen Menschen auslöst, so haben wir
ein signifikantes Symbol“ (85). Die erhobene Faust ist insofern ein
signifikantes Symbol, als sie auf ähnliche oder identische Erfahrungsbestände und Ideen Bezug nimmt, dieselbe Bedeutung in
zwei Menschen hervorruft (zunächst unabhängig davon, wie sich
der weitere Handlungsablauf gestaltet: dazu bedarf es einer Replik, die strukturiert, aber nicht determiniert ist). Gerade die Sprache vermag dererlei zu realisieren:
„Die vokale Geste wird zum signifikanten Symbol (…), wenn sie auf das
ausführende Individuum die gleiche Wirkung ausübt wie auf das Individuum, an das sie gereichtet ist oder das ausdrücklich auf sie reagiert,
und somit einen Hinweis auf die Identität des Individuums enthält, das
die Geste ausführt. Die Geste im allgemeinen und die vokale Geste im
besonderen weist auf das ein oder andere Objekt innerhalb des gesellschaftlichen Verhaltensbereichs hin, ein Objekt von gemeinsamen Interesse für alle in einer gesellschaftlichen Handlung tätigen Individuen“
(Mead 1988: 85).
Gesten ermöglichen aufgrund ihres Aufforderungscharakters Anpassung, Handlungskoordination, Vorausschau und Planung (Helle 2001: 77f.), zugleich zeigen sie Identität an. Es darf aber nicht
vergessen werden, dass Reaktionen keine einfache Wiederholung
der in eine Situation eingebrachten signifikanten Geste darstellen
(zumindest meist nicht). Denken Sie an den Ausruf ‚Feuer‘ in ei-
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nem Theater. Vielleicht mag der ein oder andere den Ruf aufnehmen – falls dies nicht nötig ist, wird er aus der Gefahrenzone
flüchten, ggf. seinen schwerhörigen Nachbarn auffordern mitzukommen. Die Ruferin zeigt sich als verantwortungsvolles Individuum (ebenso der 2. Akteur, von dem die Rede war). Dass es in
derartigen Situationen zu einem ‚kopflosen Drunter und Drüber‘
kommen kann, schließt die Annahme von sozialen Handelungen
keineswegs aus. Wichtig ist, dass die (vokalen) Gesten im Ausführenden und im Gegenüber dieselben Ideen, Reaktionen auslösen,
auch wenn sich unterschiedliche Handlungen anschließen. Bitte
ich z.B. jemanden erfolgreich, mir einen Kaffee zu holen, muss ich
seine Reaktionen im Vorfeld antizipieren. Im Gegensatz zu mir,
die ich auf meinem Sessel hocken bleibe, setzt sich der Angesprochene in Bewegung. Indessen muss er dieselbe Idee, dasselbe Handlungsresultat (wie immer er es herstellen mag) mit der
auffordernden Geste verbinden: Erst nach Abschluss der Handlung
lässt sich ihr Sinn erkennen: Jemanden einen Gefallen tun (dies
setzt den erfolgreichen Ablauf voraus, der eine hinreichende, aber
keine notwendige Bedingung darstellt). Eine symbolische Geste ist
also Teil einer Handlung (Mead 1988: 90ff.), sie ist sowohl Aufforderung als auch „Anleitung für die Vollendung einer Handlung“
(Morris 1988: 23; Schneider 2008: 183) – nur in diesem Fall ist
sie kein „Signal, sondern signifikantes Symbol“ (Garz 2006: 44;
Nolda 2003: 758f.). Doch Sprache allein reicht für diesen Vorgang
nicht aus, das Denken muss hinzutreten:
„(J)ede Geste (steht) innerhalb der jeweiligen Gruppe oder Gemeinschaft
für eine bestimmte Handlung oder Reaktion, nämlich jene Handlung
oder Reaktion, die sie explizit im angesprochenen und implizit im sie
ausführenden Individuum auslösen. In dieser besonderen Handlung oder
Reaktion, für die sie steht, liegt ihre Bedeutung als signifikantes Symbol.
Nur durch Gesten qua signifikante Symbole wird Geist oder Intelligenz
möglich, denn nur durch Gesten, die signifikante Symbole sind, kann
Denken stattfinden, das einfach ein nach innen verlegtes oder implizites
Gespräch des Einzelnen mit sich selbst mit Hilfe solcher Gesten ist. Dieses Hereinnehmen-in-unsere-Erfahrung dieser äußerlichen Übermittlung
von Gesten, die wir mit anderen in den gesellschaftlichen Prozeß eingeschalteten Menschen ausführen, macht das Wesen des Denkens aus“
(Mead 1988: 86, Hervorhebungen B.G.).
Ganz glücklich scheint Mead angesichts der Kopplung Sprache,
Denken, Vernunft/Intelligenz nicht zu sein: Sprache allein ist kein
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Denken, das laut Mead im ZNS abläuft, sie ist ‚nur‘ Übermittlerin
signifikanter Gesten. „Obwohl aber der Prozeß der Vernunft als im
Rahmen des Sprachprozesses abläuft und gesehen wird – d.h. im
Rahmen von Wörtern– wird er nicht einfach durch diesen gebildet“ (113). Was hinzukommen muss, ist die Reflexion. Gegeben
sei eine problematische Situation X, im vorliegende Fall eine Kluft,
die den Weg abschneidet:
„Dieser Konflikt macht ihn sozusagen frei, eine andere Anzahl anderer
Dinge zu sehen [zuvor achtete er nur auf den Weg, dachte an nichts,
B.G.], die unter den gegebenen Umständen verschiedene Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Der Mensch erfaßt diese verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten im Rahmen der von ihnen dargebotenen verschiedenen Reize [eine Möglichkeit der Überquerung in Sichtweite, ein Brett zur
Überwindung des Hindernisses … B.G.], und es ist seine Fähigkeit, sie
festzuhalten, was seinen Geist ausmacht“ (165).
Die verzögerte Reaktion (301) sowie die Option, Handlungsalternativen abzuwägen – in der Terminologie Meads: „Reize herausarbeiten und isolieren“ (173) – liegen nicht in der Sprache, sondern werden dem biologischen Organismus zugeschrieben. Die
Möglichkeit, sich oder anderen alternative Bedeutungen aufzuzeigen, ist eine typisch menschliche Eigenschaft (174). Angezeigte
Deutungs- bzw. Handlungsalternativen sind indessen nicht beliebig, sondern von Symbolisierungen abhängig, von Bedeutungen,
die Dingen oder Menschen (verstanden als Objekte der Wahrnehmung) denkend zugeschrieben werden. Bedeutungen befinden sich indessen keinesfalls im Besitz eines Einzelnen. Mit Mead
gesprochen: „Es wäre absurd, Geist einfach aus der Sicht des einzelnen menschlichen Organismus zu sehen. Denn obwohl sein Sitz
dort ist, handelt es sich um ein wesentlich gesellschaftliches
Phänomen“ (174). Wie der Mensch in seinen Besitz gelangt und
was Persönlichkeit oder Individualität in diesem Zusammenhang
bedeuten, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.
4. Sozialisation und Ident
Identität
Dass sich die Themen Sozialisation/Identität bei Mead verschränken, betont auch Abels: „Persönlichkeit und soziales Handeln sind
durch Symbole geprägt, die im Prozess der Sozialisation erworben
und im Prozess der Interaktion von den Handelnden wechselseitig
bestätigt oder verändert werden“ (2001: 17). Für Mead ist das
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„Selbst keine mentale Kategorie“ schlechthin (etwas, das ich ausschließlich mir selber bin), sondern, wie der Geist, Ausdruck „sozialer und kognitiver Prozesse, die in der sich wandelnden sozialen
Welt verankert sind“ (Denzin 2007: 143). Mead schließt Zweifel
aus: Identität liegt weder bei der Geburt vor noch lässt sie sich in
anderer Form am Körper fixieren (den wir oft genug als Objekt
wahrnehmen) – sie entwickelt sich im gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozess (1988: 177f.). Um eine Identität
auszubilden, muss ich für mich selbst zum Objekt werden, muss
eine „Tätigkeit der Erinnerung und Vorstellungskraft“ ausführen,
„in der Identität das primäre Objekt ist“ (179):
„Wo man (…) auf das reagiert, was man an einen anderen adressiert,
und wo diese Reaktion Teil des eigenen Verhaltens wird, wo man nicht
nur sich selbst zuhört, sondern sich selbst antwortet, zu sich selbst genau so wie zu einer anderen Person spricht, haben wir ein Verhalten, in
dem der Einzelne sich selbst zum Objekt wird“ (181).
Wie kann dies zustande kommen? Außer dass es diesbezüglich
der Sprache bedarf (184) liefert die Idee vom Sozialisationsprozess Hinweise:
„Während der Spielperiode nützt das Kind seine eigenen Reaktionen auf
(…) Reize. Die Reaktion, zu der es neigt, organisiert die Reize, auf die es
reagiert. Es spielt zum Beispiel, daß es etwas anbietet, und kauft es; es
gibt sich selbst einen Brief und trägt ihn fort; es spricht sich selbst an –
als Elternteil, als Lehrer; es verhaftet sich selbst – als Polizist. Es hat in
sich selbst Reize, die in ihm selbst die gleichen Reaktionen auslösen wie
in anderen. Es nimmt diese Reaktionen und organisiert sie zu einem
Ganzen. Das ist die einfachste Art und Weise, wie man sich selbst gegenüber ein anderer sein kann. Sie impliziert eine zeitliche Situation.
Das Kind sagt etwas in einer Eigenschaft und reagiert in einer anderen,
worauf dann die zweite Eigenschaft ein Reiz für es selbst in der ersteren
Rolle ist, und so geht der Austausch weiter. So entwickelt sich in ihm und
in seiner anderen, antwortenden Identität eine organisierte Struktur.
Beide Identitäten pflegen einen Dialog mit Hilfe von Gesten“ (Mead
1988: 193).
Garz halt fest, dass es sich hier um den ersten Schritt im Sozialisationsprozess handelt: Das Kind kann aktuell nur „jeweils eine
Rolle übernehmen“, das Rollenrepertoire erschöpft sich im Hin-
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blick auf konkrete andere (Lehrer, Eltern etc.) (2006: 45).3 Ausgebaut werden diese Kompetenzen im Wettkampf:
„Das spielende Kind muss hier bereit sein, die Haltung aller am Spiel eingeschalteten Personen zu übernehmen, und diese verschiedenen Rollen
müssen eine definitive Beziehung zueinander haben. Nehmen wir ein so
einfach organisiertes Spiel wie das Verstecksteckspiel: alle mit der Ausnahme der einen sich versteckenden Person sind Jäger“ (Mead 1988:
193).
Versteckspielen liefert ein im Vergleich zu Baseball oder Fußball
einfaches Reglement und Rollenrepertoire, dürfte das Prinzip
aber veranschaulicht haben:
„Diese Organisation [Baseball, B.G.] ist in Form von Spielregeln niedergelegt. Kinder interessieren sich sehr für Regeln. Sie schaffen sich spontan
eigene Regeln, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Ein Teil der Freude am
Wettspiel besteht darin, diese Regeln zu begreifen. Die Regeln sind also
eine Gruppe von Reaktionen, die eine bestimmte Haltung auslösen. Man
kann eine bestimmte Reaktion von anderen fordern, wenn man selbst
eine bestimmte Haltung einnimmt. Alle diese Reaktionen sind auch in
einem selbst“ (Mead 1988: 194).
Im Wettkampf benötigt das Kind allgemeinere Vorstellungen von
den sozialen Rollen: Die Übernahme erfolgt im Modus des Verallgemeinerten, die schließlich für Mead zentral wird. Von der Idee
der Internalisierung sozialer Rollen und Handlungsrepertoires in
Form von Regeln bis hin zum Identitätskonzept öffnet sich bei genauerer Betrachtung eine Lücke, die von Miebach (2006: 62f.)
oder Garz (2006: 45ff.) thematisiert wird. Garz konstatiert, dass
Mead eine dritte Form der Rollenübernahme anspricht, die über
„tatsächlich bestehende(n) Bezugspersonen und Gruppen“ hinausgeht und „alle potenziell existierenden Subjekte umfasst“ (ebd.).
Gemeint ist die „‚ideale Kommunikation‘ bzw. der ‚universale Diskurs‘“, der „nur durch die Universalisierung der Fähigkeit, ‚sich in
andere hineinzuversetzen‘, d.h. deren Perspektiven zu übernehmen, erreicht werden“ kann (ebd.). Aus dieser Perspektive erhalten die Aussagen Meads Sinn: Sein unerschütterlicher Glaube an
die Logik, die ein Universalprinzip menschlichen Verstehens auszumachen scheint, bestätigt die von Garz vorgeschlagene Lesart.
Sprache, Logik und Ethik wirken wie die fundamentalen Grundla3 Das Argument scheint nicht ganz schlüssig: Muss jedes Kind einen Polizisten kennen, um die
Rolle zu spielen? Was ist mit den allgegenwärtigen Medien, die mit Rollen vertraut machen?
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gen, die Rollenwechsel bzw. Perspektivübernahmen sowie soziales Handeln hochabstrakt ermöglichen (vgl. Mead 1988: 320ff.).
Letztendlich sind wir hier auf Ebene der „‚verallgemeinerten gesellschaftlichen Haltungen‘“ angekommen, die durch Institutionen
wie Recht, Religion (im Sinne von Moral) oder Wirtschaft flankiert
werden (307ff.).
Doch was ist nun mit dem Individuellen, mit der Person? Diese
Frage ist im Dualismus von Ich (I) und ICH (Me) geborgen. Erwartungsvollen Hoffnungen soll vorab begegnet werden:
„Doch selbst in den modernsten und entwickeltsten Spielarten der
menschlichen Zivilisation nimmt der Einzelne, wie originell und schöpferisch er in seinem Denken oder Verhalten auch sein mag, immer und
notwendigerweise eine definitive Beziehung zum allgemein organisierten Verhaltens- und Tätigkeitsmuster ein und reflektiert es in der Struktur seiner eigenen Identität und Persönlichkeit, ein Muster, das den gesellschaftlichen Lebensprozeß manifestiert, in den er eingeschaltet ist
und dessen schöpferischer Ausdruck seine Identität oder Persönlichkeit
ist. Niemand hat einen Geist, der aus sich selbst heraus funktionierte,
isoliert vom gesellschaftlichen Lebensprozeß, aus dem er erwuchs oder
sich entwickelte und der ihn somit die organisierten gesellschaftlichen
Verhaltensweisen eingeprägt hat“ (Mead 1988: 266).
Wird diese Idee absolut gesetzt, ist keinerlei Veränderung möglich, sozialer Wandel ausgeschlossen. Doch Mead kennt ein Einfallstor für Veränderung. Zentral und oft diskutiert ist die Differenzierung Ich (I) und ICH (Me), wobei ICH (Me) für die gesellschaftlichen, für die vom Einzelnen internalisierten Haltungen, Erwartungen, Rollen, die mittels Sprache, Spiel, Wettkampf und Universalisierung erworben werden, steht. Das Ich hingegen steht für die
„spontane und kreative, mithin unberechenbare und nicht voraussagbare Seite des Subjekts“ (Garz 2006: 47), für das Ich, das sich
im je konkreten Handlungsablauf zeigt (Miebach 2006: 60):
„Der unterstellte Kern müßte sich im ‚I‘ finden lassen, da das ‚Me‘ ein
von Konventionen gelenktes Wesen ist. Dieses ‚I‘ ist aber eine responsive
Instanz, die unbestimmt bleibt und ihre Originalität darin erweist, daß
Reaktionen immer etwas anders ausfallen als erwartet. Es steht also
nicht für Konsistenz, Autonomie (im emphatischen Sinne) und Bei-sichselbst-sein, sondern repräsentiert als unkalkulierbarer ‚protoplasmischer‘ Bewußtseinszustand die Fremdheit im Selbst“ (Wittpoth 1994: 81,
Hervorhebungen im Original).
Birgit Griese: Vorlesung im Rahmen des Moduls Theorien und Methoden Sozialer Arbeit
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Im Fachdiskurs wird jedoch gestritten, wie viel ‚Autonomie‘ Mead
dem Einzelnen einräumt. Wittpoth bescheinigt dem ‚Ideal der Autonomie‘ in der Mead’schen Theorie geringe Bedeutung (1994),
eine Annahe, die mit dem Original korrespondiert:
„Die beiden Aspekte ‚Ich‘ und ‚ICH, sind für den vollen Ausdruck der
Identität absolut notwendig. Man muß die Haltung der anderen in einer
Gruppe einnehmen, um einer Gemeinschaft anzugehören; man muß
diese äußere gesellschaftliche Welt einsetzen, die man in sich selbst
hineingenommen hat, um Denken zu können. (…) Andererseits reagiert
der Einzelne ständig auf die gesellschaftlichen Haltungen und ändert in
diesem kooperativen Prozeß eben jene Gemeinschaft. Diese Veränderungen können trivial und bescheiden sein. Man hat vielleicht wenig zu
sagen, obwohl man sehr lange dafür braucht. Trotzdem findet eine gewisse Anpassung und eine neuerliche Anpassung statt“ (Mead 1988:
243f.).
Abweichung oder wahre Überlegenheit, Originalität und Genie sind
Wege, eine Persönlichkeit zu bilden (244ff.) und die Gesellschaft
zu verändern. Alltags- bzw. Jedermanns-tauglich scheinen diese
Ideen nicht zu sein. Und so wird über die Theorie Meads gestritten.
Doch nicht nur die Frage nach der Freiheit bzw. Autonomie des
Menschen, sondern auch die (sozial)behavioristischen Anteile sorgen für diverse Positionierungen (vgl. Wagner 1981: 227). Einige
Wissenschaftler beziehen sich positiv (Strauss in Legewie/Schervier-Legewie 2004; Oevermann 1981), andere abgrenzend oder
gar nicht auf Mead und bevorzugen stattdessen den Rekurs auf
Dewey, Pierce oder andere Pragmatisten, um den Symbolischen
Interaktionismus theoretisch zu fundieren (z.B. Goffman 1980:
9ff.). Vielleicht fanden Sie den Vortrag ja anregend und streiten
demnächst mit?! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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