Netzwerk Spitzenmedizin - Techniker Krankenkasse

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Netzwerk Spitzenmedizin | 1
Grußwort
In der vorliegenden Broschüre stellt die
Techniker Krankenkasse Beispiele medizinisch
herausragender Versorgung in Baden-Württemberg vor.
Wir können zu Recht stolz sein auf die derzeitige medizinische Versorgung in unserem
Bundesland. Dennoch müssen auch wir
uns den Anforderungen der Zukunft stellen.
Dies sind insbesondere der medizinische
Fortschritt mit zunehmender Spezialisierung
und die Herausforderungen der demografischen Entwicklung. Fragen nach der Qualität
und der Angemessenheit diagnostischer
und therapeutischer Maßnahmen werden
breit diskutiert.
Aus gesundheitspolitischer Sicht ist zur bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung
die Sicherung der flächendeckenden stationären Grundversorgung maßgeblich, trotz
zunehmend notwendiger Konzentration der
Hochleistungsmedizin. Das Land gestaltet
dabei den Strukturwandel mittels aktiver Krankenhausplanung und gezielter Krankenhausinvestitionsförderung. Ziele sind ein gestuftes
System mit fachlicher Spezialisierung und
eine regionale Netzwerkbildung. Mehr als
früher sind Kooperationen nötig, um eine
hochwertige und wirtschaftliche Patientenversorgung zu sichern. Künftig ist insbesondere die grundsätzliche Frage zu prüfen,
wie die Krankenhausplanung in der Praxis
stärker an Qualitätskriterien ausgerichtet
werden kann.
Angesichts der Herausforderungen der Zukunft ist es umso wichtiger, dass sämtliche an
der Patientenversorgung Beteiligte in BadenWürttemberg gemeinsame Anstrengungen
zum Erhalt einer hochwertigen medizinischen
Versorgung an der Spitze und in der Fläche
unternehmen und im Interesse der Patienten
konstruktiv zusammenarbeiten.
Ich hoffe, dass das vorgestellte Netzwerk ein
weithin sichtbares Signal hinsichtlich Schwerpunktbildung und Kooperation aussendet.
Katrin Altpeter | Ministerin für Arbeit und
Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren
des Landes Baden-Württemberg
2 | Netzwerk Spitzenmedizin
Inhalt
Das TK-Netzwerk Spitzenmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Standorte, Kliniken und Angebote in Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . 5
Kopf und Hals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Wenn das Gehirn Umleitungen ausbildet
Dr. Constantin Roder, Universitätsklinikum Tübingen,
und PD Dr. Nadia Khan, Kinderspital Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Gewitter im Gehirn
Prof. Dr. Andreas Schulze-Bonhage, Universitätsklinikum Freiburg . . . . . . . . . 10
Damit Babys schlucken können
Prof. Dr. Steffan Loff, Klinikum Stuttgart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Brust und Kreislauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Wieder am sozialen Leben teilnehmen
Prof. Dr. Felix Herth, Thoraxklinik Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Ein Segen für Risikopatienten
Dr. Philip Raake, Universitätsklinikum Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Mehr Lebensqualität in späteren Jahren
Prof. Dr. Gerald Illerhaus, Klinikum Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Bauch und Becken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Kontrolle bringt mehr Freiheit
PD Dr. Przemyslaw Pisarski, Universitätskinikum Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . 24
Die Erfolgsquote beträgt 100 Prozent
Prof. Dr. Sara Brucker, Universitätsklinikum Tübingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Nach zwei Tagen wieder auf den Beinen
Dr. Jörg Baral, Städtisches Klinikum Karlsruhe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Muskeln, Blut und Nerven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Häufig ist es wie Detektivarbeit
Prof. Dr. Peter Hahn und Prof. Dr. Frank Unglaub,
Vulpiusklinik Bad Rappenau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Problem punktgenau lokalisiert
Prof. Dr. Martin Bendszus, Universitätsklinikum Heidelberg . . . . . . . . . . . . . .
Ziel ist die maßgeschneiderte Therapie
PD Dr. Mathias Witzens-Harig, Universitätsklinikum Heidelberg . . . . . . . . . .
Mit der Pipeline zur Heilung
Prof. Dr. Dr. Hans Henkes, Klinikum Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Netzwerk Spitzenmedizin | 3
Das TK-Netzwerk Spitzenmedizin
In der Medizin ist heute vieles möglich, was
noch vor wenigen Jahrzehnten als Science
Fiction betrachtet wurde. Insbesondere im
Kampf gegen den Krebs oder in der Transplantationsmedizin wurden hochtechnisierte Methoden entwickelt. Die Diagnosemöglichkeiten
bei seltenen Erkrankungen haben sich vervielfältigt, und es wird zunehmend interdisziplinär
behandelt. Früher unheilbar erkrankten Menschen kann damit heute eine Perspektive für
viele weitere Lebensjahre bei guter Lebensqualität eröffnet werden.
Leider wird dies bei der Beurteilung unserer
Gesundheitsversorgung oft übersehen – und
ganz besonders, wenn über die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung
geurteilt wird. Eine Forsa-Umfrage im Auftrag
der TK hat gezeigt: Knapp die Hälfte der Bevölkerung erwartet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung in Zukunft eher sinken
wird. Nur gut ein Fünftel glaubt an eine Verbesserung. Insgesamt sind in den letzten zehn
Jahren unbestreitbar höhere finanzielle Belastungen für die Versicherten entstanden.
Dem stehen jedoch auch neue Leistungen
und bessere Methoden gegenüber, die für
die Gesundheitsversorgung jedes einzelnen
Betroffenen große Vorteile bringen.
Viele Kliniken in Baden-Württemberg bieten
Spitzenmedizin, die so nur an wenigen anderen Standorten oder im Ausland zu bekommen
ist. Und diese ist für jeden zugänglich, egal ob
gesetzlich oder privat versichert. Medizinische
Zentren in Baden-Württemberg genießen bundesweit einen guten Ruf. Dafür spricht auch,
dass sich jährlich mehr als 100.000 Patienten
aus anderen Bundesländern hier behandeln
lassen.
Im TK-Netzwerk Spitzenmedizin Baden-Württemberg sollen TK-versicherte Patienten die
ständige Verbesserung unseres Gesundheitssystems ganz konkret erleben und vom medizinischen Fortschritt unmittelbar profitieren
können. Mit unseren Partnern haben wir deshalb vereinbart, dass TK-Patienten die in dieser
Broschüre vorgestellten Methoden modernster Medizin unmittelbar in Anspruch nehmen
können, wenn sie diese benötigen.
Vier Universitätskliniken und fünf weitere
Krankenhäuser in Baden-Württemberg präsentieren derzeit ihre Leistungen im TK-Netzwerk
Spitzenmedizin. Das Netzwerk steht jederzeit
weiteren Partnern offen, die mit uns gemeinsam ihre herausragenden Methoden der medizinischen Versorgung zum Wohle der Patienten
in Baden-Württemberg vorstellen möchten.
Sprechen Sie uns an!
Stuttgart, im August 2014
TK-Landesvertretung Baden-Württemberg
Tanja Frary
Presselstr. 10, 70191 Stuttgart
Tel. 07 11 - 250 95-400, Fax 07 11 - 250 95-444
[email protected]
Netzwerk Spitzenmedizin: Medizinische Höchstleistung in Baden-Württemberg – herausgegeben von der Techniker Krankenkasse,
Landesvertretung Baden-Württemberg, Presselstr. 10, 70191 Stuttgart, Telefon: 0711 - 250 95-400, Fax: 0711 - 250 95-444,
E-Mail: [email protected]; verantwortlich: Andreas Vogt; Redaktion: Nicole Battenfeld; Interviews: Petra Mostbacher-Dix;
Fotos: Joachim E. Röttgers, Dr. Peter-Michael Petsch, Andreas Friese, Corbis, Getty Images, Fotolia, Universitätsklinikum Heidelberg,
Universitätsklinikum Freiburg; Gestaltung und Litho: deutsch_design, Ulm; Druck: frey + mareis – druck +medien GmbH, Ulm;
Statistische Angaben: Stand 08/2014.
© Techniker Krankenkasse. Alle Rechte vorbehalten.
4 | Netzwerk Spitzenmedizin
Standorte, Kliniken und Angebote
in Baden-Württemberg
Bad Rappenau – Vulpiusklinik
ű OP bei eingeschränkter Beweglichkeit
der Finger
Freiburg – Universitätsklinikum
ű Minimalinvasive OP bei Verletzung der
Augenhöhle
ű Minimalinvasive OP bei Bruch des
Kiefergelenks
ű Cochlea-Implantate für taub geborene
Kinder
ű Epilepsiechirurgie
ű Telemedizin für Nierentransplantierte
Heidelberg – Thoraxklinik
ű Korrektur der Trichterbrust nach
Donald Nuss
ű Lungenvolumenreduktion durch Einlage
von Coils
Heidelberg – Universitätsklinikum
ű Ionenstrahltherapie bei komplizierten
Tumoren
ű Herzschrittmacher für Kinder
ű Fachübergreifende Behandlung bei
Amyloidose
ű Herzinsuffizienz-Wachstation
ű MR-Neurographie von peripheren Nerven
ű Autologe Stammzelltransplantation bei
malignen Lymphomen
ű Internationales Pankreaszentrum
Karlsruhe – Städtisches Klinikum
ű Gewebeerhaltende Leberkrebstherapie
ű Mastdarm-Adenom-OP mit Wasserstrahltechnik
Mannheim – Universitätsmedizin
ű Lungenersatztherapie für Neugeborene
ű Extremitätenperfusion bei Weichgewebetumoren
ű Intraoperative Strahlenbehandlung bei
Wirbelsäulenmetastasen
Stuttgart – Klinikum Stuttgart
ű Organerhaltende Nierentumorchirurgie
ű Mitwachsende Nägel bei Glasknochenkrankheit
ű OP von Speiseröhrenfehlbildung bei Kindern
ű Flusswirksame Implantate bei Aneurysmen
ű Interdisziplinäres Geriatriekonzept
Onkologie
Stuttgart – Marienhospital
ű Brustrekonstruktion mit Oberschenkelgewebe
Tübingen – Universitätsklinikum
ű Stammzelltransplantation für Kinder
mit Leukämie
ű Nierentransplantation bei Kindern
ű Transplantation von Leber und Darm
bei Kindern
ű Korrektur von genitaler Fehlbildung
ű Mikrochirurgischer Bypass bei Moyamoya
Standorte der Spitzenmedizin in Baden-Württemberg
Mannheim
Heidelberg
Bad Rappenau
Karlsruhe
Stuttgart
Tübingen
Freiburg
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Röntgen bei der Augenoperation
schützt den Sehnerv
Am Universitätsklinikum Freiburg kommt bei
Eingriffen an den Gesichtsschädelknochen
modernste Navigationstechnik zum Einsatz.
Denn insbesondere im Bereich des Auges
sind minimalinvasive Operationen eine große
medizinische Herausforderung. Bei einem
Bruch der Augenhöhle werden dreidimensional
vorgeformte künstliche Augenhöhlen aus Titan
verwendet. Diese werden mit Hilfe hoch
technisierter Verfahren wie computergestützter
Planung, Navigation und intraoperativem 3-DRöntgen eingesetzt. Der empfindliche Sehnerv
wird so optimal geschützt, und Spätfolgen
wie Doppelbilder oder andere Sehstörungen
werden vermieden.
6 | Netzwerk Spitzenmedizin
KOPF UND HALS
Kindern wieder mehr Gehör schenken
Wird ein Kind taub geboren oder verliert sein
Gehör vor dem siebten Lebensjahr, dann kann
es auch keinen Sprachschatz aufbauen beziehungsweise dieser geht meistens wieder
verloren. Um das zu verhindern, werden am
Universitätsklinikum Freiburg sogenannte
Cochlea-Implantate eingesetzt. Das sind elektronische Innenohrprothesen, die die Funktion
der Hörsinneszellen ersetzen können. Kinder,
die um das erste Lebensjahr herum mit einem
oder zwei Cochlea-Implantaten versorgt werden, haben eine etwa 80- bis 90-prozentige
Chance, später eine Regelschule zu besuchen.
Kameragestützte Operation
statt Drähten im Kiefer
Bei einem Kieferbruch stellten die Ärzte früher
den Unterkiefer ruhig, indem sie ihn mit Drahtschlaufen am Oberkiefer fixierten. Dabei konnte der Patient für die Dauer der Knochenheilung den Mund nicht öffnen und nur Flüssiges
zu sich nehmen. Die neue Methode der Experten am Universitätsklinikum Freiburg macht
die Prozedur um einiges erträglicher: Über
einen kleinen Schnitt in der Mundhöhle und
mit speziellen kameragestützten Operationsinstrumenten wird das gebrochene Gelenk
angepeilt, in die richtige Position gebracht und
mit Platten dort gehalten. Eine Verschnürung
des Kiefers ist dann meist nicht nötig, und es
kommt zu weniger Komplikationen.
Tumoren zielgenau zerstören
Am Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum
(HIT) kommt eine hochmoderne Schwerionentherapie-Anlage zum Einsatz, die mit einer
beweglichen Bestrahlungsquelle ausgestattet
ist. Diese rotiert 360 Grad um den Patienten,
so dass der Tumor aus allen Richtungen bestrahlt werden kann. Die Position des Therapiestrahls wird 100.000-mal pro Sekunde am
Computer überprüft, wodurch größtmögliche
Sicherheit gewährleistet wird. Von dem Verfahren profitieren vor allem Patienten mit Tumoren an Auge, Sehnerv oder Darm sowie solche
mit tiefliegenden und besonders widerstandsfähigen Tumoren.
Mehr Informationen zu diesen Leistungen erhalten Sie unter www.tk.de,
Webcode 410308, oder montags bis
donnerstags von 8 bis 18 Uhr sowie
freitags von 8 bis 16 Uhr bei der TKPatientenberatung unter
Tel. 0800 - 285 00 85
(gebührenfrei innerhalb Deutschlands).
Netzwerk Spitzenmedizin | 7
KOPF UND HALS
Wenn das Gehirn Umleitungen ausbildet
„Moyamoya“ nennen Japaner nebel- oder rauchartige
Erscheinungen. Die Moyamoya-Angiopathie bezeichnet
eine seltene Gefäßkrankheit des Gehirns, die Erwachsene
und Kinder betreffen kann.
TK | Herr Dr. Roder, was bedeutet MoyamoyaAngiopathie?
Dr. Roder | Bei dieser Krankheit hat der Patient
Engstellen oder Verschlüsse der arteriellen
Hauptgefäße des Gehirns, der Hirnschlagadern.
Das Gehirn versucht dies zu kompensieren
und bildet feine Kollateralgefäße aus, die diese
Engstellen – wie bei einer Umleitung – umgehen. Sie erscheinen bei der Darstellung der
Gehirngefäße, also bei der Angiographie, als
diffuses Nebelbild, daher der Name. Diese
seltene Erkrankung kommt vor allem in Asien
vor, insbesondere in Japan und Korea. In
Europa tritt sie vermutlich häufiger auf als gedacht, wird jedoch oft nicht erkannt, weil sie
so selten vorkommt. Weltweite Forschung
zeigt, dass genetische Faktoren für die Entstehung verantwortlich sein könnten. Auslöser sind jedoch auch Umweltbelastungen,
etwa Bestrahlung, oder Hirnhautentzündungen.
TK | Wer ist betroffen?
Dr. Roder | Frauen doppelt so häufig wie
Männer. Moyamoya tritt im Alter unter zehn
Jahren sowie zwischen dem 30. und 40.
Lebensjahr auf. Bei Kindern kann es sich rasch
verschlimmern, Erwachsene haben häufig
ein stabileres Krankheitsbild. Zu den Symptomen gehören häufige Kopfschmerzen.
Wenn Kinder diese fast chronisch haben,
sollte man hellhörig werden. Bei Moyamoya
können auch Sprachstörungen auftreten,
Müdigkeit, Schwindel, vorübergehende oder
bleibende neurologische Ausfälle wie plötzliche Halbseitenlähmung, Koordinations- und
Gefühlsstörungen oder epileptische Anfälle.
TK | Frau Dr. Kahn, ist Moyamoya schwer zu
diagnostizieren?
Dr. Khan | Eine sorgfältige und umfassende
Diagnostik ist ausschlaggebend, um Symptome von Moyamoya von denen anderer Krankheiten abzugrenzen, etwa einer Migräne. Der
erste Schritt ist die MR-Angiographie: Per Magnetresonanztomographie, also MRT, werden
Bilder der Gehirngefäße gemacht. Bestätigt
sich dabei der Verdacht, folgt eine Perfusionsbildgebung: Um die Durchblutungsreserven gut
messen und abbilden zu können, bekommen
die Patienten eine gefäßerweiternde Substanz.
8 | Netzwerk Spitzenmedizin
TK | Wie wird behandelt?
Dr. Khan | In leichteren Fällen, wenn genug
Blut fließt, reicht die Gabe blutverdünnender
Medikamente wie 100 Milligramm Acetylsalicylsäure täglich – diese Dosis bekommen
auch Kinder. Wichtig ist, viel zu trinken und
den Blutdruck gut einzustellen. Eine OP ist
notwendig, wenn das Gehirn unterversorgt
ist: Wir legen einen sogenannten extrakraniellen-intrakraniellen Bypass, das ist der Goldstandard. Dabei wird ein oberflächliches,
außerhalb des Schädels liegendes Gefäß mit
einem oberflächlichen Hirngefäß mikrochirurgisch verbunden. Einen halben bis einen
Millimeter dünne Gefäße werden mit Fäden,
die dünner sind als ein Haar, unter dem
Operationsmikroskop aneinandergenäht. Dank
der Fluoreszenz eines eingespritzten Farbstoffs können wir prüfen, ob der Bypass gut
funktioniert. Gewebe, das durch Ischämien,
also Minderdurchblutung, abgestorben ist,
können wir allerdings nicht mehr retten.
TK | Ist diese Behandlung erfolgreich?
Universitätsklinikum Tübingen
Am Universitätsklinikum Tübingen behandeln Spezialisten kleine und große
Patienten mit Gefäßengstellen im Gehirn
auf wegweisende Art. Die Experten
der Neurochirurgischen Universitätsklinik
sowie des universitären Kinderspitals
Zürich sind bei der Behandlung der Moyamoya-Angiopathie führend. Bei Diagnose,
Therapie und bei der Moyamoya-Sprechstunde in Tübingen arbeiten die beiden
Institute zusammen.
Betroffenen Versicherten vermittelt die
TK einen direkten Kontakt zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen
Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort
„TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere
Service-Nummer:
Tel. 0800 - 285 00 85.
ZUR PERSON
Dr. Roder | Die oft abgeschlagenen, müden
Patienten sind in der Regel wenige Tage nach
einer OP deutlich fitter – nach drei bis sechs
Monaten strahlen sie aufgrund der neu gewonnenen Lebensenergie. Die komplexe OP wird
insgesamt sehr gut vertragen, wir bleiben ja an
der Gehirnoberfläche. Geforscht wird an den
Ursachen der Erkrankung, insbesondere der
Genetik. Vielversprechende Ansätze gibt es
beim gemeinsamen Auftreten von Moyamoya
und anderen Erbkrankheiten, etwa der Neurofibromatose oder der Trisomie 21.
TK | Was bringt Ihre monatliche MoyamoyaSprechstunde?
PD Dr. Nadia Khan |
Leitende Ärztin im Moyamoya Center des Kinderspitals Zürich sowie
Leiterin der Sektion
Moyamoya-Angiopathie
und Bypasschirurgie
am Universitätsklinikum
Tübingen
Dr. Constantin Roder |
Assistenzarzt in der
Sektion MoyamoyaAngiopathie und Bypasschirurgie am Universitätsklinikum Tübingen
Dr. Roder | Eine enge Arzt-Patienten-Beziehung und einen vertrauensvollen Kontakt
zu den Eltern betroffener Kinder. Beides ist
für eine erfolgreiche Therapie unerlässlich.
Dr. Khan, die mehrmals im Jahr extra aus
Zürich anreist, und ich machen das gemeinsam. Durch diese intensive Zusammenarbeit
und unsere enge Kooperation mit der Neuroradiologie und Neurologie in Tübingen sowie
Experten aus aller Welt ist garantiert, dass
wir das gesamte Spektrum zur Diagnostik und
Behandlung aller Patienten mit dieser Krankheit auf dem höchstmöglichen Niveau anbieten können.
Netzwerk Spitzenmedizin | 9
Gewitter im Gehirn
An das Epilepsiezentrum des Universitätsklinikums
Freiburg pilgern Patienten aus aller Welt.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Andreas
Schulze-Bonhage |
Sektionsleiter des
Epilepsiezentrums am
Neurozentrum des
Universitätsklinikums
Freiburg
TK | Herr Prof. Dr. Schulze-Bonhage, ein epileptischer Anfall wird oft als „Gewitter im
Gehirn“ bezeichnet. Was passiert dabei?
Prof. Schulze-Bonhage | Normalerweise
arbeiten Milliarden von Nervenzellen im
Gehirn weitgehend unabhängig voneinander
Prozesse ab und erfüllen ihre Aufgaben. Bei
einem epileptischen Anfall entladen sich
große Nervenzellverbände zeitweise abnorm
synchron und können daher ihre Funktion
nicht mehr erfüllen. Je nach betroffenem
Hirnareal äußert sich das unterschiedlich,
etwa in geistiger Abwesenheit, Sehstörungen
wie der Wahrnehmung farbiger Lichtblitze
oder dem Hören von Stimmen und Geräuschen. Wenn das motorische System im Gehirn beteiligt ist, kommt es zu Versteifungen
oder Zuckungen und in der Folge zu Stürzen.
Bei manchen Anfällen, den sogenannten
Grand-mal-Anfällen, können sich die synchronen Entladungen der Nervenzellen über
das gesamte Gehirn ausbreiten. Gefährlich
ist für den Patienten weniger die Nervenzellaktivität als das Risiko, sich im Anfall zu
verletzen.
10 | Netzwerk Spitzenmedizin
TK | Haben denn manche Menschen schon
leichtere Anfälle erlitten, ohne es zu wissen?
Prof. Schulze-Bonhage | Gerade bei der
leichteren Anfallsform wird die Krankheit oft
lange verkannt. Klarheit bringt dann häufig
erst ein EEG, also ein Elektroenzephalogramm,
bei dem die Gehirnströme gemessen werden.
Hohe und steile Ausschläge können die abnorme Synchronisation bei Epilepsien zeigen.
Von dem Vorliegen einer Epilepsie spricht
man dann, wenn Anfälle wiederholt und ohne
ersichtlichen Auslöser auftreten.
TK | Wie viele Menschen leiden unter
Epilepsie?
Prof. Schulze-Bonhage | Etwa 0,8 Prozent
der Bevölkerung, also rund 700.000 Menschen
in Deutschland. Epilepsie ist so häufig wie
Diabetes, nach der Migräne die zweithäufigste neurologische Erkrankung. Epilepsie kann
in jedem Alter auftreten, statistisch sind indes
zwei Erkrankungsgipfel auszumachen: in den
ersten Lebensjahren und im Alter ab 65.
Ursache für frühkindliche epileptische Störungen ist oft eine fehlerhaft aufgebaute Hirnrinde.
KOPF UND HALS
Im späteren Lebensalter können aber auch
Schädel-Hirn-Traumata, Tumoren oder Durchblutungsstörungen Auslöser für epileptische
Anfälle werden. In 40 Prozent der Fälle liegen
genetische Ursachen vor, etwa veränderte
Eigenschaften der Nervenzellmembran.
TK | Wie werden Epilepsien behandelt?
Prof. Schulze-Bonhage | Hauptsächlich prophylaktisch, die Patienten nehmen dauerhaft
ein Medikament ein, das einen Anfall zuverlässig verhindern soll. Zwei Drittel der Betroffenen hilft das, bei einem Drittel müssen wir
andere Verfahren anwenden.
TK | Können Sie diese Verfahren beschreiben?
Prof. Schulze-Bonhage | Bei epilepsiechirurgischem Vorgehen entfernen wir das Gehirnareal, das den Anfall auslöst, oder diskonnektieren ihn, trennen ihn also ab, damit er den
Rest des Gehirns nicht mehr stört. Durch diese zwei- bis vierstündigen Operationen werden 60 bis 80 Prozent der Patienten anfallfrei.
Wichtig ist, dass zunächst genauestens diagnostiziert wird, wo im Gehirn die Ursache
liegt. Das geschieht mit verschiedenen bildgebenden Verfahren – Kernspintomographie,
Positronen-Emissions-Tomographie, also PET,
oder Einzelphotonen-Emissionscomputertomographie, kurz SPECT. So können wir auch
Veränderungen des Hirnstoffwechsels oder
der Durchblutung messen.
Universitätsklinikum Freiburg
Das Epilepsiezentrum des Universitätsklinikums Freiburg bietet das derzeit
größte universitäre epilepsiechirurgische
Programm in Deutschland. Als Teil des
Exzellenzclusters BrainLinks-BrainTools
der Exzellenzinitiative des Bundes und
der Länder erforschen die Experten das
menschliche Gehirn und seine Funktionen. Sie waren zudem federführend
beim europäischen Forschungsprojekt
EPILEPSIAE und etablierten die derzeit
weltweit umfassendste Datenbank für
EEGs, also Messungen der Gehirnströme, von Epilepsiepatienten.
Betroffenen Versicherten vermittelt die
TK einen direkten Kontakt zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen
Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort
„TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
Tel. 0800 - 285 00 85.
TK | Wann ist Epilepsiechirurgie angezeigt?
Prof. Schulze-Bonhage | Epilepsiechirurgie
kommt infrage bei allen Patienten mit fokaler
Epilepsie, also einer Form, die sich in einem
abgegrenzten Hirnareal abspielt. Wenn es
Überlappungen möglicherweise epileptogener Areale mit wichtigen Hirnfunktionen gibt,
ist zusätzliche Diagnostik nötig, um sicher
zu sein, dass die OP dem Patienten nur Nutzen bringt. Sonst können unerwünschte
Folgen wie Lähmungen oder Sprachstörungen
entstehen. Um intaktes Gewebe zu erhalten,
wählt zudem der Operateur den schonendsten
Zugangsweg zur betroffenen Stelle. Wir führen diese Operationen bei drei Monate alten
Babys genauso erfolgreich durch wie bei über
70-Jährigen. Bei Personen, bei denen wegen
möglicher Spätfolgen eine Operation nicht
infrage kommt, forschen wir im Rahmen eines
sogenannen Exzellenzclusters an Möglichkeiten der Hirnstimulation. Hier werden die
Stellen, von denen ein Anfall ausgeht, oder
zentrale Schaltstellen des Gehirns elektrisch
gereizt. Zudem arbeiten wir an noch besseren
Diagnoseverfahren, damit wir die betroffenen
Hirnareale präziser eingrenzen und damit
schonender operieren können.
Netzwerk Spitzenmedizin | 11
Damit Babys schlucken können
Sie tritt bei einem von 4.000 Föten sporadisch auf, bei
Jungen häufiger als bei Mädchen, bei Zwillingen zwei- bis
dreimal so oft: die Ösophagus-Atresie.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Steffan Loff |
Ärztlicher Direktor der
Kinderchirurgischen
Klinik am Olgahospital
Stuttgart
TK | Herr Prof. Dr. Loff, was ist eine Ösophagus-Atresie?
entstehen, etwa wenn die Kinder aus Versehen Putzmittel trinken und so ihre Speiseröhre verätzen.
Prof. Loff | Atresie bedeutet Verschluss, es
ist eine angeborene Anomalie der Speiseröhre,
bei der die Passage vom Mund zum Magen
unterbrochen ist. Die häufigste Form dieser
Speiseröhrenfehlbildung ist – bei über 80 Prozent der Kinder – der Typ III b. Dabei verbindet eine Fistel, ein röhrenartiger Auswuchs,
das untere Segment der Speiseröhre mit der
Trachea, der Luftröhre, während das obere
Segment blind endet. Bei Typ II sind beide
Enden blind verschlossen und dazwischen
besteht oft ein langer Abstand.
Prof. Loff | Typisch ist, dass die Neugeborenen sich beim ersten Versuch, Flüssigkeiten
zu sich zu nehmen, verschlucken und husten.
Es kann keine Sonde in den Magen geschoben werden. Wenn die Kinder gefüttert werden, gelangt die Nahrung über den Rachen in
das Bronchialsystem oder gar in die Lunge.
Das kann eine Lungenentzündung auslösen.
TK | Warum entstehen Ösophagus-Atresien?
TK | Was geschieht nach der Geburt?
Prof. Loff | Genetische Faktoren sind nicht auszuschließen, allerdings kann die Fehlbildung
keinem Gen zugeordnet werden. Sie entsteht
in der dritten Schwangerschaftswoche, wenn
sich Speise- und Luftröhre trennen. Manchmal
kann die Diagnose noch während der Schwangerschaft durch Ultraschall gestellt werden.
Verschlüsse können übrigens auch später
Prof. Loff | Die Speiseröhre muss in der Regel zügig operiert werden. Bei der Hälfte der
Kinder liegen weitere Fehlbildungen innerer
Organe vor, die zuvor abgeklärt werden müssen. Die Art der OP hängt vom Typ der Atresie ab. Beim häufigsten Typ III b werden der
untere Teil der Speiseröhre und die Luftröhre
durchtrennt und geschlossen, danach wird der
12 | Netzwerk Spitzenmedizin
TK | Welche Symptome haben die Neugeborenen?
KOPF UND HALS
untere Abschnitt mit dem blind verschlossenen oberen Abschnitt verbunden. Wenn ein
Frühchen zu klein für diesen Eingriff ist, trennt
man erst die Fistel und verbindet die beiden
Enden später. Wichtig ist, dass das Kind atmen
kann. Ernährt wird es zunächst über einen
Schlauch, der direkt von außen in den Magen
führt.
TK | Wie überbrückt man größere Lücken?
Prof. Loff | Beim Typ II, der durch sehr große
Abstände gekennzeichnet ist, gibt es verschiedene Methoden, die Blindsäcke zu verlängern, etwa die Kimura-Methode oder die
Foker-Methode. Bei der Kimura-Methode wird
der obere Blindsack am Hals nach außen
geholt und über mehrere Monate gestreckt,
bis er lang genug ist, um ihn mit dem unteren
Blindsack zu verbinden. Dafür muss er natürlich wieder nach innen verlagert werden. Das
ist eine langwierige Prozedur! Alternativ wenden wir ab einer Lücke von etwa drei Zentimetern erfolgreich die Foker-Methode an: Die
beiden blind verschlossenen Stümpfe werden
im Brustkorb mit Haltefäden versehen und
über Kreuz nach außen geleitet. Die Fäden
werden sieben bis zehn Tage lang angespannt.
Dadurch dehnen sich die Stümpfe und wachsen. Wenn sie sich fast berühren, können
wir eine Anastomose durchführen, also beide
Röhren verbinden. Der Vorteil dieser beiden
Methoden ist: Es entsteht ein Ösophagus aus
Speiseröhrengewebe. Man kann auch die
fehlende Speiseröhre durch Magen oder Darm
ersetzen. Bei allen Anastomosen kann es
indes zu Undichtigkeiten oder Verengungen
kommen.
TK | Haben die Kinder Spätfolgen?
Prof. Loff | Bei den meisten Kindern fließt
der Magensaft in die Speiseröhre zurück, das
nennt man Reflux. Verengungen werden in
Narkose mittels Ballonkatheter dilatiert, das
heißt aufgedehnt. Wegen des Refluxes, der
häufigen Verengungen und der Propulsion,
also Bewegungsstörung der Speiseröhre, verschlucken sich die Kinder oft, so kann sich
eine Bronchitis oder Lungenentzündung bilden. Diese Kinder müssen lernen, sehr gut
zu kauen, damit nichts steckenbleibt. In der
Regel normalisiert sich alles, bis sie erwachsen sind. Wir beobachten unsere kleinen
Patienten über Jahre, jeden Dienstag haben
wir eine Ösophagus-Sprechstunde. Menschliche Zuwendung ist für Kinder und Eltern
essenziell. Wir arbeiten deshalb sehr eng mit
der Elterninitiative „Kreis für Eltern von Kindern mit Speiseröhrenmissbildungen“ zusammen, die äußerst kompetent Familien berät.
Klinikum Stuttgart
Fehlbildungen der Speiseröhre bei
Säuglingen zu diagnostizieren und zu
operieren – darauf ist man in der als
„Olgäle“ bekannten Kinderklinik des
Klinikums Stuttgart besonders eingerichtet. Weitere darauf spezialisierte Kinderkliniken in Baden-Württemberg können
diese Fehlbildung ebenfalls qualifiziert
behandeln.
Betroffenen Versicherten vermittelt die
TK einen direkten Kontakt zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen
Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort
„TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
Tel. 0800 - 285 00 85.
Netzwerk Spitzenmedizin | 13
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Metall bringt Brust in Form
Damit das Herz im Takt bleibt
Etwa einer von 1.000 Menschen leidet unter
der häufigsten Fehlbildung im Bereich des
Brustkorbs: der Trichterbrust. Für die Betroffenen ist sie nicht nur psychisch sehr belastend, auch die Atmung oder andere Körperfunktionen können durch die Deformität eingeschränkt sein. Die Thoraxklinik Heidelberg
setzt bei der Korrektur auf ein neues, besonders schonendes Verfahren, die sogenannte
Operation nach Donald Nuss. Dabei wird
die Brustwand durch den Druck eines Metallimplantats in eine normale Form gedrückt.
Weniger Schmerzen, ein kürzerer Klinikaufenthalt und ein besseres optisches Ergebnis
sind die Vorteile für die Patienten. In der
Regel wird der Eingriff zwischen dem 13.
und 16. Lebensjahr vorgenommen.
Genetisch bedingte Ionenkanalerkrankungen
erhöhen das Risiko für einen plötzlichen
Herztod. Die Kalium- und Natrium-Kanäle der
Herzmuskelzellen sind verändert. Dadurch
ist die Erregungsleitung im Herzen gestört.
Oft bleibt die Krankheit bis zum ersten „Ereignis“ mit Bewusstlosigkeit, Brustbeschwerden,
Unwohlsein und Schweißausbrüchen unerkannt. Kommt es zum gefürchteten Kammerflimmern, kann in letzter Konsequenz der
plötzliche Herztod die Folge sein. Da es bisher
keine rein medikamentöse Therapie gibt, muss
ein automatischer Defibrillator implantiert
werden, der im Ernstfall eingreift. Im Universitätsklinikum Heidelberg kann diese bei
Kindern komplizierte Operation schon ab dem
ersten Lebensjahr vorgenommen werden.
14 | Netzwerk Spitzenmedizin
BRUST UND KREISLAUF
Künstliche Lunge für Neugeborene
Neue Hoffnung für Kinder mit Leukämie
Babys, die nach der 34. Schwangerschaftswoche mit einer eingeschränkten Lungenfunktion auf die Welt kommen, können in
der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der
Universitätsmedizin Mannheim mit einer
Lungenersatztherapie behandelt werden. Die
extrakorporale Membranoxygenierung – kurz
ECMO – soll die lebenswichtige Funktion der
Lunge durch den Einsatz eines medizintechnischen Geräts unterstützen oder ersetzen.
Immerhin 70 Prozent der rund 40 behandelten
Kinder im Jahr überleben dank der ECMO –
90 Prozent dieser Kinder können danach ein
völlig normales Leben führen.
Bei Leukämiepatienten gelangen auch unreife
weiße Blutkörperchen in den Blutkreislauf
und vermehren sich dort unkontrolliert. Diese
bösartigen Zellen sind funktionslos und verdrängen die gesunden Knochenmarkszellen.
Die Folgen sind Müdigkeit, gehäuft auftretende Infektionen, Blutarmut und Blutungsneigung. Eine Stammzelltransplantation ist
dann häufig unabdingbar. Falls kein passender
Stammzellspender gefunden wird, kann das
am Universitätsklinikum Tübingen angewandte
Verfahren lebensrettend sein. Damit es nicht zu
einer Abstoßungsreaktion kommt, werden die
sogenannten T-Lymphozyten aus dem Blut
des Spenders entfernt. Dadurch müssen die
Patienten auch nach der Transplantation keine
Medikamente einnehmen, die das Immunsystem unterdrücken.
Auf natürlichem Weg die Brust wieder
aufbauen
Brustkrebspatientinnen entscheiden sich
nach einer Operation häufig dafür, die fehlende
Brust wieder aufbauen zu lassen. Während
dafür meist Gewebe aus der Rückenmuskulatur oder den Bauchmuskeln entnommen wird,
bedienen sich die Experten im Marienhospital
Stuttgart der Muskulatur des inneren Oberschenkels. So können die möglichen Folgen
einer Gewebeentnahme am Bauch, wie Durchblutungsstörungen oder auch eine Schwächung der Bauchwand, verhindert werden.
Besonders geeignet ist dieses Verfahren für
Patientinnen, die schlank sind oder stark abgenommen haben. Vorteile sind ein versteckter
Narbenverlauf und eine schnellere Rehabilitation. Oft können sogar beide Brüste in einem
einzigen Eingriff wiederaufgebaut werden.
Mehr Informationen zu diesen Leistungen erhalten Sie unter www.tk.de,
Webcode 410308, oder montags bis
donnerstags von 8 bis 18 Uhr sowie
freitags von 8 bis 16 Uhr bei der TKPatientenberatung unter
Tel. 0800 - 285 00 85
(gebührenfrei innerhalb Deutschlands).
Netzwerk Spitzenmedizin | 15
Wieder am sozialen Leben teilnehmen
Kleiner Eingriff, große Wirkung: Dank kleinster Spiralen
können viele Patienten mit überblähter Lunge besser
atmen.
TK | Herr Prof. Dr. Herth, im Englischen
bezeichnet „Coil“ eine Spirale oder Spule.
Was bedeutet es in der Thoraxmedizin?
Prof. Herth | Coils sind winzige Spiralen
aus Nitinol, einer Nickel-Titan-Legierung.
Sie können Patienten mit Lungenemphysem,
also einer Lungenüberblähung, helfen, wieder
besser zu atmen. Bei einem Lungenemphysem sind die Lungenbläschen, die für den
Gasaustausch zuständig sind, unumkehrbar
erweitert.
TK | Wie entwickelt sich eine solche Überblähung?
Prof. Herth | Durch unterschiedliche chronische Lungenkrankheiten, beispielsweise
durch COPD, die chronisch obstruktive Lungenerkrankung. Die Krankheitszahlen nehmen
zu – gerade bei Frauen. Das liegt unter anderem daran, dass die Frauen es den Männern
seit Mitte der 1960er Jahre gleichtun und
rauchen. Freilich spielen auch Umweltfaktoren, Schadstoffe in der Atemluft sowie der
demografische Wandel eine Rolle.
16 | Netzwerk Spitzenmedizin
TK | Wie helfen hier Coils?
Prof. Herth | Eine überblähte Lunge sollte
nicht weiter belastet werden. Die Nitinoldrähte der Coils haben einen Durchmesser von
gerade mal 100 bis 150 Millimetern. Sie werden in gestrecktem Zustand über einen Katheter endoskopisch in die mit Luft gefüllten
Bronchien eingesetzt – in der Regel 20 Stück,
10 links und 10 rechts. Wenn sie dort dann
wieder ihre Spiralform einnehmen, sorgen sie
dafür, dass sich das umgebende Lungengewebe wieder zusammenzieht. Die Folge: Das
Lungenvolumen wird reduziert, was den Patienten das Atmen erleichtert. So können wir
verhindern, dass weiteres gesundes Lungengewebe verdrängt wird, die Elastizität der
Lunge kann sich verbessern und die Beweglichkeit der Atemmuskulatur ansteigen.
TK | Sie sagen „kann“ – sind Coils nicht für
jeden Patienten geeignet?
Prof. Herth | Wir sprechen hier noch von
einem experimentellen Verfahren. Sind sie für
einen Patienten geeignet, bedeuten Coils einen
BRUST UND KREISLAUF
Universitätsklinikum Heidelberg
Die Thoraxklinik am Universitätsklinikum
Heidelberg ist ein spezialisiertes Zentrum,
an dem Erkrankungen der Atemorgane
aller Art behandelt werden. In der Spezialambulanz für Asthma und chronisch
obstruktive Lungenerkrankungen (COPD)
betreut ein interdisziplinäres Ärzteteam
hauptsächlich Patienten mit fortgeschrittenen und schwer zu behandelnden
Stadien beider Erkrankungen. Mit ihren
Eingriffen verhelfen die Spezialisten jährlich rund 200 Patienten zu besserem
Atmen und damit zu mehr Lebensqualität. Das Verfahren ist noch keine Standardtherapie; langfristige Studienergebnisse gibt es nicht. Für wen das Verfahren geeignet ist, entscheidet der Arzt.
ZUR PERSON
Betroffenen Versicherten vermittelt die
TK einen direkten Kontakt zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen
Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort
„TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
Tel. 0800 - 285 00 85.
großen Segen, auch weil sie den Körper nicht
belasten. Früher wurde das Lungenvolumen
mit einer komplizierten, nicht ungefährlichen
Operation reduziert. Aber Coils sind leider nicht
für jeden Patienten geeignet. Die Crux: Sind
diese Spiralen einmal in der Lunge, dann können sie nicht mehr entfernt werden. Das ist mit
Lungenventilen anders, die ebenfalls bei einer
Lungenüberblähung zum Einsatz kommen. Deswegen müssen wir genau erforschen, bei
welcher Krankheitsform Coils helfen und wann
sie eher schaden. Derzeit läuft eine große weltweite Studie, an der wir teilnehmen, um herauszufinden, wer von der Methode profitiert.
TK | Seit wann wird mit Coils gearbeitet?
Prof. Herth | Wir haben die ersten Patienten
bereits im Jahr 2008 erfolgreich damit behandelt und auch das Design der Coils mit- sowie
weiterentwickelt. Mit den Coils können wir
nicht nur das Leben verlängern, sondern haben
bei vier von fünf Patienten auch eine deutliche
Steigerung der Lebensqualität festgestellt.
Insgesamt verbessert sich messbar die Lungenfunktion, der Patient wird wesentlich belast-
Prof. Dr. Felix Herth |
Stellvertretender Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Abteilung Innere
Medizin, Pneumologie
und Beatmungsmedizin
am Universitätsklinikum
Heidelberg
barer, kann den Muskelapparat trainieren
und wieder am sozialen Leben teilnehmen.
Voraussetzung für diese Erfolgsquote ist freilich, dass die richtigen Kandidaten für diese
Form der Therapie ausgewählt werden. Zu
uns kommen auch Menschen, die aufgrund
von Unwissen falsch behandelt wurden.
TK | Wie sieht die Zukunft in der Thoraxheilkunde aus?
Prof. Herth | Das Ziel ist die individualisierte
Therapie. Zum einen wird an Stammzellen
geforscht, aus denen sich irgendwann einmal
beim jeweiligen Patienten das für ihn passende neue Lungengewebe bilden kann. Zum
zweiten versuchen wir genetisch zu verstehen,
warum der eine bestimmte Krankheiten bekommt, der andere aber nicht – bei gleicher
Lebensweise. Wenn wir diese Signalwege verstehen, können wir besser reagieren. Schließlich forschen wir auch im regenerativen Bereich. Wir können diagnostizieren, aber nur das
wenigste reparieren. Es gibt Krebstypen, die
mit Hilfe der molekularen Genetik geheilt werden können. Das sind aber bisher nur wenige.
Netzwerk Spitzenmedizin | 17
Ein Segen für Risikopatienten
Im Jahr 2012 wurden in deutschen Krankenhäusern
380.000 Menschen mit der Diagnose „schwere Herzinsuffizienz“ behandelt. Für sie hat das Universitätsklinikum Heidelberg als erste Klinik Deutschlands eine
Herzinsuffizienz-Wachstation eingerichtet.
TK | Herr Dr. Raake, was ist eine Herzinsuffizienz?
Dr. Raake | Sie bedeutet, dass der Herzmuskel, der täglich etwa 7.000 Liter Blut durch
den Körperkreislauf pumpt, schwach ist.
Bei der systolischen Form ist die Pumpfunktion selbst geschwächt, bei der diastolischen
ist die Füllung des Herzens gestört, der
Muskel kann nicht ausreichend gedehnt werden. Atemnot ist die Folge, aufgrund eines
Rückstaus des Bluts in die Lunge. Symptome
von Herzinsuffizienz können Wassereinlagerungen sein, also dicke Beine, oder Müdigkeit
und eingeschränkte Leistungsfähigkeit, weil
nicht genug Blut im Gehirn ankommt.
18 | Netzwerk Spitzenmedizin
TK | Warum ist Herzinsuffizienz mittlerweile
die zweithäufigste Diagnose in Krankenhäusern?
Dr. Raake | Wir werden älter – mit dem Alter
nimmt deren Wahrscheinlichkeit zu. Durch
unsere bessere Akutversorgung überleben
mehr Menschen einen Herzinfarkt, dank exzellenter Operationsverfahren mehr Betroffene
angeborene Herzfehler. Zurückbleiben kann
eine Herzinsuffizienz. Die schwere Form beeinflusst viele Organe. Aufgrund dieser Multiorganbeteiligung stößt ein allgemeiner Kardiologe hier an seine Grenzen. Also haben wir an
der Universitätsklinik Heidelberg die europaweit erste Herzinsuffizienz-Wachstation oder
„Advanced Heart Failure Unit“ eingerichtet.
BRUST UND KREISLAUF
TK | Was unterscheidet diese von üblichen
Herzstationen?
Dr. Raake | Auf unserer Wachstation arbeitet
ein fachübergreifendes Team samt Infrastruktur, das speziell auf die Diagnostik und Behandlung der schweren Herzinsuffizienz ausgerichtet ist. Wir sind Überwachungs- und Intensivstation in einem: Chronische wie akute Fälle
werden rund um die Uhr betreut. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt circa 13 Tage.
Wenn Patienten auf Spenderherzen warten,
können es über 100 Tage sein. Zu uns kommen Menschen aus ganz Baden-Württemberg,
dem Saarland und Rheinland-Pfalz.
TK | Können Sie das fachübergreifende Konzept beschreiben?
Dr. Raake | In unserem integrierten Versorgungskonzept halten wir alle Maßnahmen vor,
von kreislaufunterstützenden Methoden bis
hin zum Kunstherz für den Notfall. Wir bereiten auch Patienten auf eine Herztransplantation vor. Daher ist die Station in der Kardiologie
angesiedelt. Aber mit im Boot sind Psychosomatiker, Ernährungswissenschaftler, Sportmediziner, Nierenfachärzte und Kinderärzte.
Eine schwere Herzinsuffizienz beeinflusst die
Psyche sowie die Nierenfunktion, und das
Skelett baut sich ab, wenn die Patienten sich
nicht bewegen können. Wir entwickeln mit
den Kollegen für jeden eine individuelle Therapiestrategie. Mancher muss auch auf dem
Fahrrad strampeln, wir müssen die Patienten
bei Kräften halten.
TK | Welche besonderen Methoden wenden
Sie an?
Dr. Raake | Neben allgemeinkardiologischen
Verfahren nutzen wir zur Diagnostik sogenannte invasive Hämodynamikmessungen:
Im Intensivüberwachungsbereich wird der
Blutfluss gemessen, so bekommen wir ein
genaues Bild der Schwere der Herzinsuffizienz sowie ihrer Ursachen und Auswirkungen auf den gesamten Kreislauf. Anhand
dieser Daten planen wir die Therapie, die von
Medikamenten über minimalinvasive Herzkathetereingriffe bis hin zur Herztransplantation
reichen kann. Wir sind außerdem eines der
großen, führenden Zentren, das Mitra-Clips
implantiert – im vergangenen Jahr 73 Stück.
Mit diesem winzigen Clip kann eine Undichte
der Mitralklappe minimalinvasiv geschlossen werden. Die Mitralinsuffizienz ist häufig
Folge der Herzinsuffizienz und kann diese
noch verstärken.
ZUR PERSON
Universitätsklinikum Heidelberg
Die europaweit erste „Advanced Heart
Failure Unit“, wie sie im Englischen
genannt wird, wurde im Jahr 2012 am
Universitätsklinikum Heidelberg speziell
für Menschen mit einer akuten oder
schweren chronischen Herzschwäche
eingerichtet. Sie verfügt über acht Plätze,
die Patienten sind in Zweitbettzimmern
untergebracht. In der HerzinsuffizienzWachstation werden die Vitalparameter
der Patienten, also Puls, Blutdruck,
EKG, wenn nötig auch der Venendruck,
rund um die Uhr per Monitor aufgezeichnet. Ziel ist es, eine optimale Therapie
für den Patienten zu entwickeln und zu
steuern.
Dr. Philip Raake |
Oberarzt und Leiter
der HerzinsuffizienzWachstation am
Universitätsklinikum
Heidelberg
Betroffenen Versicherten vermittelt
die TK einen direkten Kontakt zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen
Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort
„TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
Tel. 0800 - 285 00 85.
TK | Für wen ist der Clip geeignet?
Dr. Raake | In der Regel wird Mitralinsuffizienz chirurgisch behandelt, Undichtigkeiten
werden operativ verschlossen. Das technisch
hochkomplexe, aber den Patienten schonende
Mitra-Clip-Verfahren ist gerade für jene ein
Segen, für die eine solche OP ein Risiko wäre.
Der Clip wird mit einem Katheter – per Ultraschall kontrolliert – über das Venensystem an
der richtigen Stelle platziert. Hierfür ist nur ein
1-Zentimeter-Schnitt in der Leiste nötig. In
Sachen Lebensqualität zeigen sich bereits
nach sechs Monaten Verbesserungen, ein Jahr
danach deutliche Effekte.
TK | Wird es zukünftig in der Kardiologie
stärker minimalinvasiv zugehen?
Dr. Raake | Wo es möglich ist, gehen wir minimalinvasiv vor, nutzen Katheter im Blutgefäßsystem, statt zu operieren. Zunehmend spielen
auch Darstellungsverfahren wie die Magnetresonanztomographie eine Rolle bei der Diagnostik. Wenn wir die Ursachen verstehen, können
wir gezielter und schonender behandeln.
Netzwerk Spitzenmedizin | 19
BRUST UND KREISLAUF
Mehr Lebensqualität in späteren Jahren
Dass in einer älter werdenden Gesellschaft die Zahl der
Krebserkrankungen zunimmt, ist bekannt. Doch Krebs
ist nicht gleich Krebs. Senioren müssen anders behandelt
werden als junge Patienten.
TK | Herr Prof. Dr. Illerhaus, was ist ein „interdisziplinäres geriatrisches Therapiekonzept in
der Onkologie“?
Prof. Illerhaus | Dahinter steckt ein auf ältere
Krebspatienten zugeschnittenes Therapiekonzept. Weil es für Ältere kaum Krebsstudien
gibt, werden sie meist aus Rücksicht auf das
Alter nicht effektiv genug behandelt, was eine
schlechte Prognose zur Folge hat. Mit den
Kollegen aus Geriatrie und Onkologie bestimmen wir daher in diesem Konzept die Therapiefähigkeit und das individuelle Risikoprofil,
um Älteren eine persönlich angepasste und
damit effektivere Therapie zu empfehlen.
TK | Warum müssen ältere Patienten anders
behandelt werden?
Prof. Illerhaus | Deren Allgemeinzustand ist
sehr verschieden. Die einen sind täglich aktiv,
wandern, betreiben noch intensiven Ausdauersport. Die anderen leiden bereits seit Jahren
unter Diabetes, Bluthochdruck, Demenz oder
anderen Komorbiditäten, also Begleiterkrankungen. Das muss bei der Therapie bedacht
20 | Netzwerk Spitzenmedizin
werden. Gerade bei älteren Patienten mit
reduzierter Lebenserwartung muss das Therapieziel individuell definiert werden. Es muss
gefragt werden: Bestimmt die Krebserkrankung die Prognose? Beeinflusst sie die Lebensqualität maßgeblich? Kann der Patient die
Therapie ohne erhöhte Toxizität, also schwere
Nebenwirkungen, ertragen? Das Krebsrisiko
steigt mit zunehmendem Alter an. Typische
Alterskrebserkrankungen sind das Prostatakarzinom und das myelodysplastische Syndrom, eine krankhafte Blutbildung, die oft in
Leukämie übergeht. Es gibt Altersleukämien
sowie Krebserkrankungen der Lunge, Brustdrüse, Harnblase oder des Magen-Darm-Trakts,
die bei älteren Patienten deutlich häufiger
vorkommen.
TK | Wie funktioniert ein geriatrisches Assessment, also die altersgerechte Beurteilung?
Prof. Illerhaus | Die Entscheidung für oder
gegen eine Therapie richtet sich nicht nach
dem tatsächlichen, sondern nach dem funktionellen beziehungsweise biologischen Alter.
Dieses wird im geriatrischen Assessment
Klinikum Stuttgart
Das Stuttgart Cancer Center / Tumorzentrum Eva Mayr-Stihl des Klinikums
Stuttgart bietet ein interdisziplinäres
geriatrisches Therapiekonzept in der
Onkologie an, bei dem jeder ältere Patient eine eigens auf ihn zugeschnittene
Behandlung erhält.
Betroffenen Versicherten vermittelt
die TK einen direkten Kontakt zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen
Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort
„TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
Tel. 0800 - 285 00 85.
erhoben. Dafür werden Mobilität, Selbstständigkeit, Komorbiditäten, geistiger Zustand,
Stimmungslage, Ernährung, soziale Situation
sowie der „ECOG“, das heißt der formelle
Allgemeinzustand, untersucht. Mit standardisierten Tests überprüfen wir die Aktivitäten des
täglichen Lebens und schauen nach kognitiven Einschränkungen. Zudem ermitteln wir
das Sturzrisiko in Steh-, Geh- und Laufproben.
TK | Welche Therapieansätze gibt es?
Prof. Illerhaus | Die Therapieansätze für „GoGo“- Patienten, also altersentsprechend fitten
Personen, unterscheiden sich kaum von
denen für jüngere Patienten. Gemäß Behandlungsziel wählen wir sehr intensive Therapien.
Gerade bei hämatologischen Erkrankungen
wie Lymphomen oder Leukämien kann hier
auch ein kuratives Konzept, also die Heilung,
verfolgt werden. Bei den „No-Go“- Patienten
indes muss man auf Symptomkontrolle und
Lebensqualität achten: Die Therapie sollte sehr
gut verträglich sein. Dazwischen ist die heterogene Gruppe der „Slow-Go“- Patienten. Hier
gilt es, individuelle Therapien sorgfältig zu
wählen und an eingeschränkte Organfunktionen anzupassen, um Toxizität zu reduzieren
und Komplikationen zu vermeiden.
deutlich weiterentwickelt. Dank den im
Assessment formulierten Maßnahmen
wurden Toxizität und Todesfälle durch die
Therapie gesenkt und die Lebensqualität,
die im Mittelpunkt steht, verbessert. Die
Formel „Mehr Leben in mehr Jahren“ ist
schwer quantifizierbar und je Erkrankung
unterschiedlich. Bei den „Go-Go“- Patienten
wie den „Slow-Go“- Patienten wird indes
klar die Lebenszeit verlängert und die Lebensqualität verbessert.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Gerald
Illerhaus | Leiter des
Cancer Centers und
Ärztlicher Direktor der
Klinik für Hämatologie,
Onkologie und Palliativmedizin am Klinikum
Stuttgart
TK | Wie sieht die Zukunft aus?
Prof. Illerhaus | An größeren Zentren werden
Einheiten für geriatrische Hämatologie und
Onkologie (GHO) geschaffen – stationär wie
auch als Spezialambulanzen zur Nachbetreuung, um Komplikationen früh zu erkennen.
Dies sollte in Studien evaluiert werden. Auch
weiterentwickelte Medikamente sind ein
Segen: Für einige Blutkrebserkrankungen gibt
es nun milde Therapien, teils in Tablettenform,
die Krankheiten in Schach halten. Ähnliches
soll bei soliden Tumoren, etwa bestimmten
Lungen-, Darm- oder möglicherweise auch
Pankreaskarzinomen, folgen. Mit zielgerichteten Therapeutika können wir vermehrt Patienten individualisiert und nebenwirkungsarm
behandeln.
TK | Und die Erfolge?
Prof. Illerhaus | Die erst in den vergangenen
Jahren publizierten Studien zur Therapie
älterer Patienten zeigen: Bei Lymphomen und
Leukämien sind altersangepasste Therapien
oft erfolgreich – Krebstherapien haben sich
Netzwerk Spitzenmedizin | 21
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Intervie
Sie wieder in
Hightech-Medizin überlistet Immunsystem
In Baden-Württemberg werden jährlich etwa
20 Nieren bei Kindern und Jugendlichen transplantiert. Medikamente unterdrücken die
Immunabwehr des Körpers und verhindern so,
dass das Organ abgestoßen wird. Wenn die
Medikamente versagen oder nicht vertragen
werden, kommt am Universitätsklinikum
Tübingen die extrakorporale Photopherese
(ECP) zum Einsatz. Bei diesem Verfahren
werden weiße Blutzellen über eine Zentrifuge
vom Vollblut getrennt und mit einem Medikament versehen, das sie lichtempfindlich
macht. Nach Bestrahlung mit UVA-Licht gelangen die veränderten Blutkörperchen per Infusion wieder zurück in den Körper. Ihre negative
Wirkung auf das fremde Organ wird durch die
Behandlung entscheidend abgeschwächt.
Eine zweite Möglichkeit besteht darin, gleichzeitig mit der Niere auch Stammzellen des
22 | Netzwerk Spitzenmedizin
Spenders zu übertragen. Dadurch wird das
fremde Organ angenommen, ohne dass Immunreaktionen unterdrückt werden müssen.
Damit der neue Darm nicht
abgestoßen wird
Kinder mit Darmversagen leiden meist unter
einem angeborenen Darmdefekt oder haben
als Früh- oder Neugeborenes große Teile ihres
Darms durch eine Entzündung oder Missbildung verloren. Damit sie nicht dauerhaft über
eine Infusion ernährt werden müssen, was
große Risiken mit sich bringt, wird am Universitätsklinikum Tübingen schon kleinsten Patienten mit einer Darmtransplantation geholfen.
Wenn trotz des Einsatzes moderner Medikamente die Abstoßung des neuen Organs
droht, wird auch hier die oben beschriebene
maschinelle extrakorporale Photopherese
(ECP) angewendet.
BAUCH UND BECKEN
Gemeinsam im Kampf gegen
feindliches Eiweiß
Die Amyloidose gehört zu den sogenannten
seltenen Erkrankungen. Von 100.000 Einwohnern erkrankt jedes Jahr einer. Bei der
Krankheit werden Eiweiße – in der Fachsprache als Amyloide bezeichnet – in verschiedenen Organen abgelagert. Ist das periphere Nervensystem betroffen, entwickeln sich
Wahrnehmungsstörungen; setzen sich die
Eiweißgeflechte an den Gelenken fest, kommt
es dagegen zu Symptomen wie bei entzündlichen Gelenkerkrankungen. Da sich die Amyloidose so unterschiedlich präsentieren kann,
profitieren die Betroffenen vom Wissen der
Experten verschiedener Fachrichtungen am
Heidelberger Amyloidose-Zentrum, das sich
ganz auf diese facettenreiche Krankheit spezialisiert hat. Mit seinem Betreuungsangebot
ist es in Deutschland einzigartig.
Rettung für das Zentrallabor
Wenn sich Krebszellen in der Leber eingenistet haben, kann sie ihre wichtige Funktion nicht mehr erfüllen. Da der Mensch
seine Leber zwingend zum Überleben braucht,
versuchen Tumorexperten bei einer Leberkrebstherapie alle Tumorherde zu entfernen
und trotzdem so viel gesundes Gewebe wie
möglich zu erhalten. Am Städtischen Klinikum
Karlsruhe geschieht dies in zwei Schritten:
Zunächst wird versucht, mit der selektiven
internen Radiotherapie (SIRT) – einer Art
Bestrahlung von innen – die Tumorherde zu
verkleinern, danach werden diese auf minimalinvasivem Weg entfernt. Den Patienten
wird dadurch ein sogenannter großer Bauchschnitt erspart. Sie haben in der Regel weniger
Schmerzen, können sich schneller wieder
bewegen und erholen sich in kürzerer Zeit.
Mit intaktem Filter besser leben
Die Niere muss zwei Hauptaufgaben erfüllen,
die so umfangreich sind, dass sich unser
Körper gleich zwei Exemplare leistet: Sie befreien den Körper von im Blut gelösten Stoffwechselprodukten und regeln den Flüssigkeitsund Salzhaushalt. Kommt es zu Störungen,
reichern sich Stoffwechselgifte an – das Blut
verunreinigt. Dann hilft nur noch die Blutwäsche außerhalb des Körpers: die Dialyse.
Diese zu verhindern, ist das Ziel der organerhaltenden Nierentumorchirurgie. Muss erkranktes Nierengewebe entfernt werden,
wird am Klinikum Stuttgart so operiert, dass
die gesunde übrige Niere geschont wird und
leistungsfähig bleibt.
Mehr Informationen zu diesen Leistungen erhalten Sie unter www.tk.de,
Webcode 410308, oder montags bis
donnerstags von 8 bis 18 Uhr sowie
freitags von 8 bis 16 Uhr bei der TKPatientenberatung unter
Tel. 0800 - 285 00 85
(gebührenfrei innerhalb Deutschlands).
Netzwerk Spitzenmedizin | 23
BAUCH UND BECKEN
Kontrolle bringt mehr Freiheit
An der Uniklinik Freiburg werden Patienten nach einer
Nierentransplantation per Telemedizin überwacht.
Mit Erfolg: Es gibt immer weniger Komplikationen und
unnötige Krankenhausaufenthalte.
TK | Herr Dr. Pisarski, können Sie den Begriff
Telemedizin definieren?
Dr. Pisarski | Telemedizin ist ein Teilbereich der
Telematik, einer Technik, die Telekommunikation und Informatik verknüpft. Im Gesundheitswesen kann sie helfen, die Distanz zwischen
Patient und Arzt oder auch zwischen Arzt und
Arzt zu überbrücken. Die Beratungen oder
Behandlungen finden nicht vor Ort, sondern
ferngesteuert über Datenmeldungen und Monitore statt.
TK | Sie überwachen Nierentransplantierte
zusätzlich zur Regelnachsorge per Telemedizin. In welchen Fällen?
Dr. Pisarski | In unserem derzeit laufenden und
wissenschaftlich evaluierten Projekt nutzen wir
diese Technik für die Nachsorge von Patienten,
die Nieren von lebenden Spendern erhalten
haben. Die Patienten bekommen einen interaktiven, webbasierten Computer mit Touchscreen, Mikrofon und Videokamera nach Hause
und halten so per Internet mit uns Kontakt.
TK | Wie funktioniert das im Detail?
Dr. Pisarski | Auf dem Server befindet sich
ein Katalog mit Multiple-Choice-Fragen, den die
Patienten täglich beantworten müssen. Das
dauert rund 15 Minuten. Am anderen Ende
des Terminals sitzt Frau Schmid oder eine andere speziell geschulte Bezugsperson. Diese
kann anhand der Eingaben die Vitalzeichen
und den Gesundheitszustand einschätzen. Das
geht nach dem Ampelprinzip: Leuchtet es
nach Anklicken der Antworten grün, ist alles
o. k. Steht die Ampel auf Rot, nehmen wir
oder der behandelnde Arzt sofort Kontakt mit
dem Patienten auf, entweder per Videokonferenz oder per Mail.
TK | Was wird abgefragt?
Dr. Pisarski | Das Spektrum enthält einfache
Fragen, etwa wie hoch der Blutdruck war oder
wie sich der Patient allgemein fühlt. Wir fragen freilich auch, wie viel Harn er ausgeschieden hat und Ähnliches.
Universitätsklinikum Freiburg
Das Transplantationszentrum der Chirurgischen Universität
Freiburg ist nicht nur spezialisiert auf die Verpflanzung von
Lebendnieren, sondern gehört auch zu den Vorreitern auf diesem
Gebiet der Medizin. Ein medizinischer Meilenstein wurde dort
beispielsweise im Jahr 2004 gesetzt: Damals fand am Transplantationszentrum Freiburg die erste Lebendnierentransplantation
in Deutschland statt, bei der die Blutgruppen nicht kompatibel
waren.
Im Jahr 2010 startete das im Interview beschriebene interdisziplinär angelegte Projekt, bei dem nierentransplantierte Patienten
per Telemedizin überwacht werden.
Betroffenen Versicherten vermittelt die TK einen direkten Kontakt
zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort „TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
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24 | Netzwerk Spitzenmedizin
TK | Welche Vorteile hat diese teleassistierte
Nachsorge?
Dr. Pisarski | Transplantierte Patienten müssen regelmäßig und pünktlich Medikamente
einnehmen, die das Immunsystem unterdrücken, damit das Transplantat, also in diesem
Fall die Niere, nicht abgestoßen wird. Der Patient trägt hier viel Eigenverantwortung. Wir
fragen daher nicht nur nach, ob er schon seine
Medikamente genommen hat, wir können
ihn auch an die Einnahme erinnern, etwa mit
einem akustischen Signal. Über die Telemedizin
können wir aber zudem banale Harnwegsinfektionen, die auch nach einer Transplantation
mitunter auftreten, und womöglich lebensbedrohliche Komplikationen unterscheiden
und unklare Symptome abklären. Der Patient
hat die Sicherheit, dass er immer Antwort
bekommt, sogar am Wochenende, wenn der
Hausarzt keinen Dienst hat: Er ist mit unserem
Zentrum verbunden.
TK | Im demografischen Wandel werden
die Patienten immer älter. Welches technische Verständnis müssen sie mitbringen?
Dr. Pisarski | Die Technik ist einfach. Nach
dem Plug-and-play-System erscheint sofort auf
dem Bildschirm das Formular. Die Patienten
werden im Umgang damit schon während ihres
drei bis vier Wochen langen Aufenthaltes bei
uns geschult. Fast alle kommen sofort damit
zurecht, nur wenige empfinden die tägliche
Dateneingabe als lästig. Letztlich müssen die
Teilnehmer nur Deutsch sprechen können
und einen Internetzugang zu Hause haben.
ZUR PERSON
TK | Bedeutet das Kosten für das System
oder gar Einsparungen?
Dr. Pisarski | Zunächst: Ohne die klassische
regelmäßige Nachsorge beim Nephrologen,
dem Nierenfacharzt, geht es bei Transplantierten nicht. Doch diese generiert durch häufige Blutabnahmen oder Laboruntersuchungen
hohe Kosten. Hier bietet die Telemedizin als
sinnvolles Zusatzinstrument Potenzial und
ökonomische Vorteile. Die Therapietreue und
Disziplin nimmt zu, die Zahl ungeplanter
Krankenhauseinweisungen deutlich ab. Auch
werden die Krankenhausaufenthalte kürzer.
Die Patienten empfinden weniger Stress bei
der Wahrnehmung von körperlichen Symptomen, denn gerade in den ersten drei Monaten nach der Transplantation gibt es die meisten Komplikationen. Wir hatten etwa eine
Patientin in Nordrhein-Westfalen, die uns ihre
Wunde über die Kamera zeigte. Wir rieten ihr,
sofort nach Freiburg zu kommen: Es war
ein Abszess, sie war schnell wieder auf dem
Damm. Telepräsenz gibt Transplantierten mehr
persönliche Freiheit, sie können wieder im
sozialen Umfeld und im Beruf agieren, müssen
nur zum Arzt, wenn es nötig ist. Das senkt insgesamt die Kosten im Gesundheitssystem.
PD Dr. Przemyslaw
Pisarski | Oberarzt sowie
Leiter des Sektors für
Transplantationschirurgie
an der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie der Uniklinik Freiburg
Netzwerk Spitzenmedizin | 25
Die Erfolgsquote beträgt 100 Prozent
Der Begriff Vaginalaplasie beschreibt die unvollständige
Ausbildung der weiblichen Scheide. Mit einer eigenen
Operationsmethode helfen Gynäkologen am Universitätsklinikum Tübingen betroffenen Patientinnen, ganz Frau
zu sein.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Sara Brucker |
Ärztliche Direktorin
am Forschungsinstitut
Frauengesundheit,
Universitäts-Frauenklinik Tübingen
TK | Frau Prof. Dr. Brucker, was ist das
Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom?
Prof. Brucker | Der Name geht auf Anatomen
und Frauenärzte zurück, die im 18. und 19.
Jahrhundert feststellten, dass es Frauen gibt,
die ohne Gebärmutter und Scheide geboren
werden. Sie besitzen aber normale Eierstöcke
und eine normale Genetik, also einen weiblichen Chromosomensatz. Diese Frauen bekommen keine Menstruation, können keine
eigenen Kinder austragen und – untherapiert –
keinen Geschlechtsverkehr haben.
TK | Wie häufig kommt das Syndrom vor?
Prof. Brucker | Das Syndrom zählt zu den
seltenen Krankheiten: Eins von 5.000 weiblichen Neugeborenen ist betroffen. In Deutschland leben derzeit rund 8.000 Frauen mit dieser angeborenen Fehlbildung. Die Ursache
ist noch unklar. Fehlverhalten während der
26 | Netzwerk Spitzenmedizin
Schwangerschaft oder genetische Gründe
spielen keine Rolle: Bei eineiigen Zwillingen
kann ein Mädchen das Syndrom aufweisen,
das andere völlig gesund sein. Allerdings
haben 30 bis 35 Prozent der Betroffenen nur
eine Niere. Nierenfehlbildungen können in
Familien vermehrt vorkommen.
TK | Wie wird in der Regel behandelt?
Prof. Brucker | Meist wird so vorgegangen:
Wo sich normalerweise die Scheide befinden
würde, haben die Patientinnen ein Grübchen
von etwa einem halben Zentimeter. Dieses
kann man mit einem Dildo, wir nennen ihn
Phantom, der exakt angepasst und sukzessive
vergrößert wird, dehnen. Die Patientinnen
müssen das täglich machen, die Prozedur ist
langwierig und ziemlich schmerzhaft. Der
Erfolg bleibt auf Dauer aus; wenn kein Geschlechtsverkehr stattfindet, schrumpft das
gedehnte Gewebe wieder.
BAUCH UND BECKEN
Universitätsklinikum Tübingen
Die Vaginalaplasie tritt als Symptom unterschiedlicher Krankheitsbilder auf, darunter das Androgen-Insensitivity-Syndrom, bei dem
Frauen ein weibliches und ein männliches Chromosom besitzen,
oder das Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKHS).
Eines der international renommierten Kompetenzzentren auf
diesem Gebiet ist an der Universitäts-Frauenklinik Tübingen beheimatet.
Prof. Dr. Sara Brucker ist Expertin für MRKHS und neue Operationstechniken, zudem leitet sie die NeoVagina-Sprechstunde
für betroffene Mädchen und Frauen und das Zentrum für gynäkologische Onkologie.
Betroffenen Versicherten vermittelt die TK einen direkten Kontakt
zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort „TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
Tel. 0800 - 285 00 85.
TK | Was ist das Besondere der Methode, die
an der Frauenklinik der Universität Tübingen
entwickelt wurde?
Prof. Brucker | Wir dehnen unter Narkose
das Gewebe operativ mit einem Spannapparat,
bis die Scheide nach etwa fünf Tagen circa
zehn Zentimeter lang ist. An der Stelle, an
der wir diese anlegen, entsteht als Reaktion
des Körpers zunächst weiches Gewebe. In
den nächsten Wochen tragen die Patientinnen
permanent ein Phantom mit hormonhaltiger
Creme, damit sich eine normale Scheidenschleimhaut bildet. Ein halbes Jahr lang sollten
sie regelmäßig das Phantom tragen. So entsteht eine Scheide, die stabil und flexibel zugleich ist. Sie unterscheidet sich nicht von
einer angeborenen, reagiert wie eine solche.
Die Frauen können normal leben und schon
nach vier Wochen befriedigenden Geschlechtsverkehr haben. Was unsere Methode von
allen unterscheidet: Wir nutzen das vorhandene Grübchen, brauchen kein Transplantationsgewebe aus der Haut oder dem Darm.
TK | Auf Ihrer Website neovagina.de gab es
eine Umfrage dazu. Wie sind die Ergebnisse?
Prof. Brucker | In Tübingen haben wir mit der
Methode 15 Jahre Erfahrung. Die Ergebnisse
sind sehr positiv, die Erfolgsquote liegt bei
100 Prozent. Von 300 Mädchen hat es nur bei
dreien nicht geklappt, weil sie das Phantom
nicht trugen. Unseren jährlich stattfindenden
Selbsthilfetag haben wir vor vier Jahren mit
15 Teilnehmerinnen gestartet, inzwischen
kommen rund 120 – mit Partnern oder Eltern.
Langsam erwacht ein Bewusstsein, früher
war das anders.
TK | Weil das Syndrom selten diagnostiziert
wurde?
Prof. Brucker | Ja, nach der Geburt bleibt
es unbemerkt. Die Mädchen sind völlig normal,
haben Jungfernhäutchen, Eisprung, Brüste,
Schambehaarung. Spätestens, wenn mit 16
die Regelblutung nicht kommt, gehen sie zum
Gynäkologen. Dann wird erst einmal allerlei
anderes abgeklärt. Die Fehldiagnoserate liegt
bei 40 Prozent. Bei unklarer Diagnose bleibt
oft nur eine Kernspin-Untersuchung, bei der
auch nach den Nieren geschaut wird. Dieser
lange Weg kann eine große psychische Belastung und Traumatisierung für die Betroffenen sein, die oft kein normales Sozialleben
führen. Aufklärung über Fach-, aber auch
andere Zeitschriften ist daher enorm wichtig.
Wir haben ein Kompetenzteam aufgebaut,
das aus Gynäkologen, Stations- und OPSchwestern, Anästhesisten und Psychosomatikern besteht. Wir sind europaweit die
Anlaufstelle für Betroffene, operieren bis zu
40 Patientinnen im Jahr ab einem Alter von
15 Jahren. Unsere älteste Patientin war 48
Jahre alt. Die Frauen werden genauso alt wie
andere auch, müssen nichts einnehmen und
haben keinerlei erhöhtes Risiko für andere
Erkrankungen.
Netzwerk Spitzenmedizin | 27
BAUCH UND BECKEN
artige Vorstufen von Darmkrebs, der zweithäufigsten Krebserkrankung in Deutschland.
Daher müssen sie frühzeitig erkannt und
entfernt werden. Dafür sind Vorsorgeuntersuchungen entscheidend.
TK | Wie werden Adenome normalerweise
behandelt?
Dr. Baral | Je nach Größe und Wachstumsform werden sie mit unterschiedlichen Techniken entfernt. Bei gestielten und kleineren
Adenomen gelingt die endoskopische Abtragung mit Polypenschlingen, die Methode heißt
Polypektomie. Bei sehr großen Geschwulsten
muss allerdings teilweise ein ganzer Darmabschnitt herausoperiert werden. Wenn der
Mastdarm betroffen ist, kann das aber dazu
führen, dass die Lebensqualität des Patienten erheblich eingeschränkt wird. In manchen
Fällen muss dann sogar ein künstlicher Darmausgang angelegt werden. Wenn man es rechtzeitig erkennt, kann man das aber verhindern
und das Krebsrisiko minimieren.
TK | Mit welchen Herausforderungen wird
der Chirurg konfrontiert?
Nach zwei Tagen
wieder auf den Beinen
ZUR PERSON
Dr. Jörg Baral |
Leitender Oberarzt der
Sektion Colorektale
Chirurgie und Proktologie am Städtischen
Klinikum Karlsruhe
Im Klinikum Karlsruhe
können mit einer speziellen
Methode auch größere
Geschwulste im Darm schonend entfernt werden.
TK | Herr Dr. Baral, was sind RektumAdenome?
Dr. Baral | Adenome sind gutartige Veränderungen der Schleimhaut im Darm. Es handelt
sich dabei um teils gestielte, teils flache rasenartige Geschwulste mit größerer Ausdehnung.
Ihre Entstehung ist zum Teil erblich bedingt
oder Folge von Mutationen, also spontanen
genetischen Veränderungen in der Darmschleimhaut im Laufe des Lebens. Die meisten
treten im mittleren Lebensalter auf, erbliche
Formen können aber bereits im frühen Erwachsenenalter vorkommen. Adenome sind gut-
28 | Netzwerk Spitzenmedizin
Dr. Baral | Ihm stehen unterschiedliche endoskopische Techniken zur Verfügung. Neben
der beschriebenen Polypektomie gibt es die
Mukosaresektion (EMR). Hier wird die Schleimhaut scheibchenweise abgetragen. Bei der
Submukosadissektion (ESD) hingegen wird
unter die Schleimhaut geschnitten. Im Mastdarm schließlich arbeiten wir mit der transanal
endoskopischen Mikrochirurgie (TEM). Entscheidend ist stets, dass die Adenome komplett entfernt werden: Wir wollen die Erkrankung heilen und verhindern, dass Krebs
entsteht. Wenn der Pathologe danach das entfernte Gewebe auf bösartige Anteile untersucht, achtet er auch darauf, dass es wirklich
vollständig abgetragen wurde. Je nach Adenom und anatomischen Gegebenheiten
des Patienten sollte die für ihn ideale Technik
angewandt werden.
TK | Sie haben die TEM angesprochen. In
Karlsruhe haben Sie daraus eine spezielle
Methode entwickelt.
Dr. Baral | Ja, wir haben in unserer „transanalendoskopischen mikrochirurgischen Exzision
mit Waterjet-Unterstützung“, kurz TEM-ESD,
mehrere bereits etablierte Verfahren kombiniert. So gelingt es uns, selbst größte Adenome komplett zu entfernen. Wir nutzen
dazu Chromoendoskopie, also einen gefärbten
Wasserstrahl: Die Ränder der erkrankten
Schleimhaut werden von der Muskelwand abgehoben, eingefärbt und sind so besser von
der normalen Darmschleimhaut zu unterscheiden. Das Adenom kann problemlos präzise
und unversehrt mit einem elektrischen Schneidegerät abgelöst und geborgen werden.
Bereits seit 2008 setzen wir diese Methode
ein und haben sie mit baden-württembergischen Medizintechnikherstellern stetig weiterentwickelt.
TK | Welche Vorteile bringt das dem
Patienten?
Dr. Baral | Wir können bei großen Adenomen
und frühen Krebsgeschwüren vermeiden,
dass der Mastdarm entfernt werden muss.
Dies bedeutet für die Patienten einen enormen
Gewinn an Lebensqualität – sie können in
der Regel nach zwei Tagen das Krankenhaus
wieder verlassen. Die neue TEM-ESD ist
eine komplikationsarme und präzise Methode,
Adenome komplett abzutragen. Der Anteil an
Rezidiven, also wiederkehrenden Geschwulsten, ist mit zwei Prozent ebenfalls unübertroffen niedrig. Bei den herkömmlichen endoskopischen Methoden beträgt dieses Risiko, wenn
große Veränderungen in Teilen entfernt werden, bis zu 30 Prozent. Das bedeutet erneute
Eingriffe, die wir so dem Patienten ersparen.
Städtisches Klinikum Karlsruhe
Sie ist ein Zentrum für minimalinvasive
Chirurgie: Die Klinik für Allgemeinund Viszeralchirurgie des Städtischen
Klinikums Karlsruhe wurde von der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie
als Kompetenzzentrum für chirurgische
Endoskopie zertifiziert.
Mittels schonender Schlüssellochchirurgie werden auch Erkrankungen
des Darms behandelt: Die Klinik ist mit
über 500 Eingriffen pro Jahr ein überregionales Zentrum für Darmchirurgie.
Betroffenen Versicherten vermittelt
die TK einen direkten Kontakt zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen
Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort
„TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
Tel. 0800 - 285 00 85.
TK | Geben Sie Ihr Wissen weiter?
Dr. Baral | Wir haben die Methode 2011 auf
dem Chirurgenkongress in den USA vorgestellt und ein Lehrvideo produziert. Viermal
jährlich schulen wir Chirurgen und Endoskopiker aus aller Welt in mehrtägigen Operationskursen.
Netzwerk Spitzenmedizin | 29
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Im Folgende
30 | Netzwerk Spitzenmedizin
MUSKELN, BLUT UND NERVEN
Gliedmaßen werden abgekoppelt
behandelt
Die isolierte Durchströmungstherapie, wie
sie an der Universitätsmedizin Mannheim
praktiziert wird, kann bei Weichgewebetumoren eine drohende Amputation verhindern.
Bei der Operation wird die betroffene Extremität vom übrigen Körperblutkreislauf getrennt
und separat über eine Herz-Lungen-Maschine
durchblutet und mit Sauerstoff versorgt.
Vom restlichen Körper abgekoppelt, kann der
Arm oder das Bein mit sehr hohen Dosen
der notwendigen Anti-Krebs-Medikamente
durchspült werden. Durch eine gleichzeitige
Wärmebehandlung wird die Wirkung der
Chemotherapeutika zusätzlich gesteigert. Nach
Ende der Therapie werden die Medikamente
aus den Gliedmaßen ausgewaschen und der
Arm oder das Bein an den Blutkreislauf angeschlossen.
Mehr Informationen zu diesen Leistungen erhalten Sie unter www.tk.de,
Webcode 410308, oder montags bis
donnerstags von 8 bis 18 Uhr sowie
freitags von 8 bis 16 Uhr bei der TKPatientenberatung unter
Tel. 0800 - 285 00 85
(gebührenfrei innerhalb Deutschlands).
Nägel stabilisieren gläserne Knochen
Die Glasknochenkrankheit ist eine angeborene Bindegewebserkrankung, die bei vier bis
sieben von 100.000 Neugeborenen auftritt.
Betroffene Kinder können bereits im Mutterleib Knochenbrüche erleiden. Später reicht
dafür schon eine ungeschickte Bewegung
oder ein leichtes Anschlagen. Außerdem
bewirkt die Erkrankung Missbildungen der
Knochen und Kleinwuchs. Die Experten am
Klinikum Stuttgart können die Krankheit zwar
nicht heilen, aber den Patienten ihr Leben
deutlich erleichtern. Spezielle Nägel werden
in die Knochen implantiert, um diese zu stabilisieren und Knochenbrüche zu verhindern.
Das Besondere daran: Die Nägel sind ausziehbar und wachsen praktisch mit.
Das Rückgrat stärken gegen Krebs
Tochtergeschwüre treten bei einer Krebserkrankung oft in der unteren Brustwirbelsäule
oder in der Lendenwirbelsäule auf. Diese
Knochenmetastasen bewirken sehr starke
Schmerzen und erhöhen die Bruchgefahr,
weil sie die Stabilität des Knochens beeinträchtigen. An der Universitätsmedizin Mannheim wird der tumorbefallene Wirbelkörper
minimalinvasiv – durch einen Schnitt von
wenigen Millimetern – bestrahlt. Gleichzeitig
werden über kleine Kanülen Ballons in den
gebrochenen Wirbel eingeführt. Durch Auffüllen der Ballons mit Kontrastmittel entsteht
eine Höhle, die mit Knochenzement gefüllt
wird. Dieser stabilisiert den gebrochenen
Wirbel.
Netzwerk Spitzenmedizin | 31
Häufig ist es wie Detektivarbeit
Kaum jemandem, der sie tagtäglich problemlos nutzt,
fällt auf, wie wichtig sie sind: Die Hände sind komplexe
Greif- und Tastorgane. Schon kleine Blessuren können
ihre Funktionen empfindlich stören.
TK | Herr Prof. Dr. Hahn, Sie sind ausschließlich auf Handchirurgie spezialisiert. Was ist
das Besondere an der Handchirurgie?
Prof. Hahn | Die Hand ist sehr komplex. Auf
einem sehr kleinen Raum liegen Knochen,
Sehnen, Muskeln, Nerven, Gefäße und Haut,
die sich gegenseitig beeinflussen. Bereits
kleinste Funktionsstörungen an einer dieser
Strukturen können weitreichende Funktionsausfälle der Hand nach sich ziehen. Erkrankungen der Hand zu erkennen, erfordert daher
genaueste Kenntnisse aller Strukturen und ihrer
Wechselwirkungen. Die Diagnosestellung
ist häufig wie Detektivarbeit. Wenn man den
Tatort genau benennen, also den Schmerz
lokalisieren kann, dann hat man schon einen
Hinweis auf den Täter, also auf die gestörte
Struktur.
32 | Netzwerk Spitzenmedizin
TK | Herr Prof. Dr. Unglaub, was sind die
häufigsten Erkrankungen der Hand?
Prof. Unglaub | Bei jungen Patienten haben
wir in der Regel Verletzungen zu versorgen,
beispielsweise Brüche, insbesondere am Handgelenk, zum Beispiel am Kahnbein. Offene
Verletzungen mit Durchtrennung von Beugesehnen oder Nerven und Arterien findet man
indes in allen Altersgruppen. Bei älteren Patienten stehen im Vordergrund die Arthrose, also
der Gelenkverschleiß, Erkrankungen wie der
Morbus Dupuytren, das ist eine Bindegewebserkrankung der Handinnenfläche, sowie
Einengungen der Nerven, etwa das Karpaltunnelsyndrom.
MUSKELN, BLUT UND NERVEN
TK | Zu den schwierigen Fällen gehören unter
anderem auch Beugesehnenverletzungen, die
die Bewegungsfähigkeit der Finger einschränken können. Welche Gefahren lauern hier, und
wie behandeln Sie diese?
Prof. Hahn | Die Beugesehnenchirurgie hat in
unserer Klinik eine große Bedeutung. Beugesehnen haben die Aufgabe, die Kraft des Muskels an die Gelenke weiterzuleiten. Nach Verletzungen von Beugesehnen kommt es häufig
zu Verklebungen im Gleitkanal der Beugesehnen. Die Finger lassen sich dann nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr bewegen. Um
diese verwachsenen Sehnen und Gelenke zu
lösen, ist sowohl eine korrekte Diagnosestellung als auch die richtige Wahl des Operationszeitpunktes wichtig. Die operative Durchführung der Sehnenlösung ist sehr anspruchsvoll.
Nach der Operation ist eine sofortige intensive
physiotherapeutische Behandlung durch erfahrene Physiotherapeuten notwendig, die mit
dem Operateur in ständigem Austausch stehen.
Teilweise muss diese Therapie von einer
gezielten Schmerztherapie begleitet werden.
TK | Wie sind die Erfolgschancen?
Prof. Hahn | Wenn alle Faktoren stimmen –
und dies gilt besonders für die korrekte Indikation, den richtigen Zeitpunkt der Operation und
die Erfahrung des Operateurs –, dann kann bei
zuverlässiger Mitarbeit des Patienten auch mit
guten Ergebnissen gerechnet werden.
TK | Lassen Sie uns in die Zukunft blicken:
Wie sieht diese in der Handchirurgie aus?
Prof. Hahn | Der Trend geht zur gezielten
minimalinvasiven Handchirurgie, bei der statt
großer Schnitte nur kleine Öffnungen nötig
sind, da mit Endoskopen gearbeitet wird. Das
sind dünne Röhren, mit denen wir ohne große
Schnitte mit Hilfe einer Kamera und eines
Bildschirms im Inneren der Hand oder des
Unterarms operieren können. Schon jetzt
werden bei uns viele Operationen am Handgelenk in dieser Schlüsselloch-Technik, also
arthroskopisch, vorgenommen. Den Ellennerv
entlasten wir in seiner engen Rinne hinter
dem Ellenbogen seit Jahren ebenfalls minimalinvasiv endoskopisch. Korrekturen nach falsch
verheilten Brüchen, zum Beispiel dem häufigen Speichenbruch, werden in Zukunft durch
individuelle, an den Patienten angepasste
Schablonen und Platten korrigiert werden. Der
Trend wird zudem immer weiter zu einer individualisierten Handchirurgie gehen. Wie in
kaum einem anderen Fach wird allerdings der
wesentliche Teil des Genesungsprozesses
die gezielte Untersuchung durch den erfahrenen Handchirurgen sein. Denn kein apparatives Verfahren kann im Moment die komplexen Veränderungen der Handfunktion erfassen, die sich aus der Vielzahl der auf engstem
Raum vereinten Strukturen der Hand ergeben.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Peter Hahn |
Chefarzt der Handchirurgie in der Vulpiusklinik
Bad Rappenau
Prof. Dr. Frank Unglaub |
Co-Chefarzt
Vulpiusklinik Bad Rappenau
Damit eine Handverletzung richtig
therapiert wird, sind Spezialisten erforderlich. In der Vulpiusklinik in Bad Rappenau
widmen sich fünf Ärzte ausschließlich
der Handchirurgie. Neben klassischen
Krankheitsbildern wie dem Karpaltunnelsyndrom, bei dem Nerven eingeengt
sind, haben sie sich vor allem auf die
Behandlung von problematischen Fällen
spezialisiert. Diese treten häufig als
Spätfolgen schwerer Unfälle oder missglückter Voroperationen auf.
Betroffenen Versicherten vermittelt
die TK einen direkten Kontakt zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen
Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort
„TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
Tel. 0800 - 285 00 85.
Netzwerk Spitzenmedizin | 33
MUSKELN, BLUT UND NERVEN
Das Problem punktgenau lokalisiert
Mit der Magnetresonanzneurographie können Funktion
und Stoffwechselvorgänge von Nervenbahnen im Gehirn
ohne Eingriffe in den Körper untersucht werden. Das ist
ein großer Fortschritt für die Patienten, aber auch für das
Gesundheitssystem.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Martin
Bendszus | Ärztlicher
Direktor der Abteilung
für Neuroradiologie
des Universitätsklinikums Heidelberg
TK | Herr Prof. Dr. Bendszus, was gehört zum
Krankheitsbild der Neuropathien?
Prof. Bendszus | Neuropathie ist ein Sammelbegriff für Erkrankungen des peripheren Nervensystems, also jener Nervenbahnen, die
sich außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks befinden. Neuropathien äußern sich
in Symptomen wie Lähmungen, Schmerzen,
Taubheitsgefühlen oder Missempfindungen
aller Art. Typische Ursachen sind Stoffwechselstörungen wie Diabetes, Entzündungen,
Alkoholmissbrauch, aber auch Nervenengpasssyndrome – sogenannte Kompressionssyndrome – peripherer Nerven, die oft an anatomischen Engstellen auftreten. Eine der wohl
bekanntesten Formen ist das Karpaltunnelsyndrom. Hier ist ein wichtiger Handnerv, der
Nervus medianus, im Bereich der Handwurzel
betroffen, der durch einen engen Kanal hindurchtreten muss.
TK | Wie werden Neuropathien diagnostiziert?
Prof. Bendszus | Das kann eine Herausforderung sein, da Symptome untypisch oder
Untersuchungsbefunde zweideutig sein
können. In der Regel werden Erkrankungen
des peripheren Nervensystems klassisch
diagnostiziert: Neben der klinischen Untersuchung reizt man den Nerv elektrisch mit einer
Nadelelektrode und misst die Leitgeschwindigkeit. Wir wissen dann, ob der Nerv funktioniert, also ob ein Reiz durchgeht oder nicht.
Aber so können wir noch nicht genau lokalisieren, wo das Problem liegt. Hier kommt die
Magnetresonanzneurographie, kurz MRNeurographie ins Spiel.
34 | Netzwerk Spitzenmedizin
TK | Das Universitätsklinikum Heidelberg ist
eines der weltweit führenden Zentren für dieses noch relativ junge bildgebende Verfahren.
Wie funktioniert es?
Prof. Bendszus | Mit der MR-Neurographie
können wir selbst feinste Nervenenden darstellen und damit punktgenau die Ursachen
lokalisieren. Das liegt an der spezialisierten
Aufnahmetechnik: Mit sogenannten Pulssequenzen werden die entsprechenden Körperregionen in einzelne Bestandteile zerlegt und
mittels hochauflösender Empfangsspulen als
präzises dreidimensionales Bild zusammengesetzt. Diese MR-Sequenzen haben einen
sehr guten Weichteilkontrast mit einer sehr
sensitiven Darstellung von Nervenschädigungen. Prinzipiell sind alle Bereiche des peripheren Nervensystems zugänglich. Und diese
neuen radiologischen Techniken entwickeln
sich stetig weiter: Seit zwei Jahren können
wir auch funktionelle Eigenschaften wie Nervendurchblutung und sogenannte gerichtete
Diffusion im Nerv darstellen.
TK | Was bedeutet die MR-Neurographie für
den Patienten?
Prof. Bendszus | Er hat keine Strahlenbelastung wie etwa bei einer Röntgenuntersuchung. Auch braucht er in der Regel kein
Kontrastmittel – er muss lediglich 20 bis
30 Minuten ruhig liegen, während nur die
betroffene Region, beispielsweise das Bein
oder der Arm, in der Röhre liegt. Vor Letzteren muss man keine Angst haben. Sie ist
kein enger Tunnel mehr, sondern viel geräumiger als früher.
TK | Die MR-Neurographie hilft also bei der
Diagnose. Hilft sie auch bei der Behandlung?
Prof. Bendszus | Absolut! Nach wie vor wird
bei Neuropathien wegen der schwierigen
Diagnose vermutlich zu viel und zu schnell
operiert. Wir können mit der MR-Neurographie
vor einer möglichen Operation punktgenau
sagen, ob ein Problem vorliegt oder nicht.
Neben der grundsätzlichen Entscheidung,
ob eine OP notwendig ist, kann diese unter
Umständen auch genauer geplant werden.
TK | Sollte die MR-Neurographie dann also
Usus bei der Abklärung von Neuropathien
werden?
Prof. Bendszus | Der Medizinische Dienst der
Krankenkassen, der MDK, hat die Methode
begutachtet und als sinnvoll erachtet, weil auf
dieser Grundlage viele sinnlose Behandlungen
nicht erfolgen, also an anderer Stelle viel
Geld eingespart wird. Die MR-Neurographie
ist bei uns eine Regelleistung.
Universitätsklinikum Heidelberg
Technische und methodische Entwicklungen haben enorme Fortschritte in
der Neuroradiologie möglich gemacht.
Führend auf diesem Gebiet der Diagnostik und Therapie von Erkrankungen
des Nervensystems einschließlich des
Gehirns, des Rückenmarks sowie der
peripheren Nerven ist die Neurologische
Klinik am Universitätsklinikum Heidelberg.
Betroffenen Versicherten vermittelt
die TK einen direkten Kontakt zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen
Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort
„TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
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Netzwerk Spitzenmedizin | 35
MUSKELN, BLUT UND NERVEN
Ziel ist die maßgeschneiderte Therapie
Ärzte des Universitätsklinikums Heidelberg führten vor
rund 30 Jahren die erste autologe Stammzelltransplantation weltweit durch. Inzwischen ist diese Methode bei
malignen Lymphomen Standard und wird in Heidelberg –
deutschlandweit einmalig – sogar ambulant durchgeführt.
TK | Herr Dr. Witzens-Harig, was gehört zum
Lymphsystem?
Dr. Witzens-Harig | Das lymphatische System
ist Teil unseres komplexen Immunsystems,
das für die Infektionsbekämpfung, also die
Abwehr von Erregern wie Viren, Bakterien
oder entarteten Zellen im Körper, zuständig ist.
Dazu gehören etwa Lymphgefäße, Lymphknoten, Milz, Knochenmark, Mandeln, Darmwand oder die B-Lymphozyten und T-Lymphozyten des Blutes. Das Problem: Wenn die
Zellen des lymphatischen Systems selbst
entartet sind, erkennt das Immunsystem sie
nicht mehr – Krebszellen können sich ohne
Gegenwehr ausbreiten.
TK | Welche malignen Lymphome gibt es?
Dr. Witzens-Harig | Die Weltgesundheitsorganisation klassifiziert rund 100 verschiedene
Unterformen. Die wichtigsten sind das HodgkinLymphom, die langsam wachsenden schmerzlosen Non-Hodgkin-Lymphome sowie schnell
wachsende aggressive Non-Hodgkin-Lymphome, die unbehandelt rasch zum Tod führen.
Typische Symptome bei den meisten Patienten
sind schmerzlose, derbe Lymphknotenschwellungen, oft am Hals. Bei vergrößerten Lymphknoten im Brustkorb kann Reizhusten dazukommen. Weitere Zeichen können Fieber,
Nachtschweiß oder Gewichtsverlust sein.
TK | Wie viele Menschen erkranken daran?
Dr. Witzens-Harig | Etwa drei Personen je
100.000 Einwohner erkranken im Jahr am Hodgkin-Lymphom, besonders im Alter zwischen
15 und 35 Jahren sowie zwischen 55 und 65
Jahren, Männer öfter als Frauen. Bei den NonHodgkin-Lymphomen sind es fünf bis zehn
Personen je 100.000 Einwohner. Die Häufigkeit nimmt in unserer älter werdenden Gesellschaft zu, denn über die Jahre wird unser
genetisches Material, also unsere DNA, geschädigt, was die Krebsentstehung begünstigt.
Wie und ob entartete Zellen entstehen, hängt
aber nicht nur mit den genetischen Anlagen,
sondern auch mit Umweltfaktoren zusammen.
36 | Netzwerk Spitzenmedizin
TK | Wie werden maligne Lymphome
behandelt?
Dr. Witzens-Harig | Das Hodgkin-Lymphom
reagiert sehr sensibel auf Chemo- und Strahlentherapie. Über 90 Prozent der Patienten
haben eine Chance auf Heilung. Allerdings
werden durch die Therapie auch gesunde
Zellen geschädigt. Sie kann sich auch auf die
Fruchtbarkeit auswirken. Patienten mit Kinderwunsch sollten ihren behandelnden Arzt
fragen, ob vor Therapiebeginn eine Konservierung von Sperma- oder Eizellen empfehlenswert ist.
TK | Wenn die konventionelle Therapie nicht
anschlägt, können Blutstammzellen oder
Knochenmark transplantiert werden. Darauf
sind Sie im Heidelberger Zentrum spezialisiert,
besonders auf die autologe Stammzelltransplantation.
Dr. Witzens-Harig | 2012 haben wir über 300
Blutstammzelltransplantationen durchgeführt,
mehr als andere deutsche Zentren. Bei der
autologen Stammzelltransplantation sammeln
wir vom Patienten eigene, sogenannte autologe Blutstammzellen und frieren sie ein,
bevor er sich einer aggressiven HochdosisChemotherapie unterzieht. Dabei wird das
gesamte Knochenmark, der Ort der Blutzell-
bildung, zerstört, um alle bösartigen Zellen zu
vernichten. Danach erhält der Patient seine
eigenen Stammzellen zurück. Sie ersetzen
das zerstörte Knochenmark und sichern eine
neue Blutbildung. Der Charme: Die autologen
Stammzellen passen, anders als fremde,
zu 100 Prozent, es gibt keine Abstoßungsreaktion. Aber: Die Indikation muss stimmen.
Außerdem sind 70 Jahre in der Regel das
Höchstalter für diese Therapie – und es darf
nicht zu viele Vor- und Begleiterkrankungen
geben.
TK | Wie geht es den Patienten langfristig?
Dr. Witzens-Harig | Viele Patienten mit malignen Lymphomen können heute dauerhaft
geheilt werden. Wenn das nicht möglich ist,
stehen die Lebensverlängerung und der Erhalt
der Lebensqualität im Zentrum der Therapie.
In Zukunft wird es zunehmend individualisierte
Therapien und genauere Diagnostik geben.
Ziel ist eine genaue, gegen den Tumor maßgeschneiderte Therapie unter Schonung
des gesunden Körpergewebes. Wir testen
in klinischen Studien zahlreiche dieser neuen
Medikamente. Dabei handelt es sich meist
um neuartige Antikörper oder sogenannte
kleine Moleküle, die im Inneren der Tumorzelle gezielt überlebenswichtige Signalwege
blockieren.
ZUR PERSON
PD Dr. Mathias WitzensHarig | Oberarzt und
Facharzt für innere Medizin mit Schwerpunkt
Hämatologie und internistische Onkologie
Universitätsklinikum Heidelberg
Das Universitätsklinikum Heidelberg ist bekannt für die Erforschung und Behandlung von Erkrankungen des Blutes, des
Knochenmarks und des Immunsystems. International renommiert
ist an der dortigen Medizinischen Klinik auch die Abteilung, in
der in den Bereichen Hämatologie, Onkologie, Rheumatologie
und Stammzellen geforscht wird.
Oberarzt Dr. Mathias Witzens-Harig ist Experte für maligne Lymphome, also bösartige Erkrankungen des Lymphgewebes. Seine
klinische Arbeit ist Teil nationaler und internationaler Therapiestudien. Die Stammzelltransplantation wird in Deutschland seit langem
erfolgreich angewendet, sollte aber nur in einem darauf spezialisierten Zentrum der Maximalversorgung erfolgen.
Betroffenen Versicherten vermittelt die TK einen direkten Kontakt
zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort „TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
Tel. 0800 - 285 00 85.
Netzwerk Spitzenmedizin | 37
Mit der Pipeline zur Heilung
Mit Hilfe des sogenannten Flow Diverters können
Hirnaneurysmen, also Erweiterungen der Hirngefäße,
schonend ausgetrocknet werden.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Dr. Hans Henkes |
Ärztlicher Direktor der
Klinik für Diagnostische
und Interventionelle
Neuroradiologie
am Klinikum Stuttgart
TK | Herr Prof. Dr. Dr. Henkes, bitte beschreiben Sie Ihr Tagesgeschäft!
Prof. Henkes | Wir führen neuroradiologische
Schnittbilddiagnostik durch. Das heißt, wir
nehmen Körperteile scheibchenweise Bild für
Bild auf, um Erkrankungen in Kopf, Gesicht,
Gehirn, Hals, Wirbelsäule und Rückenmark
festzustellen. Dazu nutzen wir bildgebende
Verfahren wie Computertomographie und
Kernspintomographie. Gefäßerkrankungen
untersuchen wir mit der digitalen Subtraktionsangiographie. Da sehen wir Gefäße ohne
störende Knochen. Wir sind spezialisiert auf
die Behandlung von Gefäßerkrankungen des
Gehirns, des Halses, der Wirbelsäule und
des Rückenmarks.
TK | Was sind das für Krankheiten?
Prof. Henkes | Es handelt sich um angeborene
oder erworbene Erkrankungen bei Säuglingen,
Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen jeden
Alters. Häufig sind angeborene Missbildungen
der Hirngefäße. Bei der zerebralen arteriovenösen Malformation etwa sind Arterien und
Venen kurzschlussartig direkt verbunden.
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Erworben sind Kurzschlussverbindungen in
der harten Hirnhaut wie durale arteriovenöse
Fisteln oder Gefäßerweiterungen, also Aneurysmen. Häufig sehen wir verengte hirnversorgende Arterien, sogenannte Stenosen.
Zu tun haben wir auch mit Schlaganfällen
durch Embolien, bei denen sich große hirnversorgende Arterien mit einem Pfropf verschließen, mit gefäßreichen Tumoren und
Gefäßverletzungen – und vielen weniger
häufigen Erkrankungen.
TK | Was genau sind Aneurysmen?
Prof. Henkes | Aneurysmen sind krankhafte
Erweiterungen von Gefäßen. Im Gehirn sind
sie an bestimmten Stellen besonders häufig,
etwa an der Teilungsstelle der mittleren Hirnarterie. Die Häufigkeit von Hirnaneurysmen
nimmt mit steigendem Lebensalter zu.
Geschätzt drei bis sechs Prozent aller Erwachsenen haben ein Aneurysma. Die Gefahr einer
Blutung in das Schädelinnere beträgt ein bis
drei Prozent pro Jahr. Die Wahrscheinlichkeit,
an der ersten Blutung zu sterben, liegt bei 50
Prozent. Große Aneurysmen können auch ohne
Blutung zu Symptomen führen, indem sie auf
MUSKELN, BLUT UND NERVEN
die Umgebung – das Hirngewebe oder die Nerven – drücken. Die Behandlung zielt darauf ab,
die Durchblutung des Aneurysmas zu unterbinden, ohne das Gefäß zu verschließen. Dazu
sind das mikrochirurgische Clipping in offener
Operation, die endovaskuläre Coil-Okklusion
und seit einigen Jahren auch die Überdeckung
mit einem Flow Diverter geeignet. Coils –
das sind kleinste Spiralen – und Flow Diverter
werden mit Kathetern unter Röntgenkontrolle
eingeführt.
TK | Wie funktioniert ein Flow Diverter?
Prof. Henkes | Dabei wird ein dünnwandiges
und sehr flexibles Geflecht in das Gefäßsegment implantiert, welches das Aneurysma
trägt. Das funktioniert gut, wenn die Erweiterungen sack- oder spindelförmig sind und
seitlich aufsitzen. Liegen die Aneurysmen da,
wo sich Gefäße aufzweigen, können sie auch
endovaskulär, also innerhalb des Gefäßes,
behandelt werden. Hier sind Flow Diverter
aber nicht die erste Wahl. Diese unterdrücken
den Bluteinstrom in das Aneurysma, das Blut
gerinnt – das Aneurysma verschwindet. Der
Prozess kann einige Wochen bis wenige
Monate dauern. Vor und nach der Behandlung
müssen die Patienten Medikamente wie Acetylsalicylsäure einnehmen, damit sich kein
Gerinnsel im Implantat bildet. Flow Diverter
sind daher in der Frühphase nach einer Blutung
nicht ideal. Mit ihnen können aber Aneurysmen
behandelt werden, für die bisher keine Therapie existierte. Zudem können Coil-Behandlungen und Aneurysma-OPs durch Flow Diverter ersetzt werden.
Klinikum Stuttgart
Die Klinik für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie
ist nicht nur Dienstleister für das Klinikum Stuttgart, zu dem
sie gehört. Sie ist auch für alle Kliniken der Stadt und der Region
zuständig. Eingebunden in das Neurozentrum kooperieren die
Mitarbeiter eng mit den Bereichen, die sich mit dem Kopf des
Menschen beschäftigen. Dazu gehören die Neurochirurgie und
die Neurologie sowie die Hals-Nasen-Ohren-, die Kiefer- und die
Augenklinik. Eine Spezialität ist die Behandlung mit dem Flow
Diverter. Das Verfahren ist noch keine Standardtherapie; langfristige Studienergebnisse gibt es nicht. Für wen das Verfahren
geeignet ist, entscheidet der Arzt.
Betroffenen Versicherten vermittelt die TK einen direkten Kontakt
zum Fachteam, das ihnen dann einen kurzfristigen Behandlungstermin ermöglicht. Interessierte wenden sich unter dem Stichwort „TK-Netzwerk Spitzenmedizin“ an unsere Service-Nummer:
Tel. 0800 - 285 00 85.
TK | Wie sehen Langzeitergebnisse und
Zukunft aus?
Prof. Henkes | Wir haben den ersten Flow
Diverter, die „Pipeline“, 2005 als Heilversuch
implantiert. Seit September 2009 wenden
wir das Verfahren regelmäßig an. Die Langzeitergebnisse sind insgesamt gut. Sehr viele
Aneurysmen können so dauerhaft beseitigt
werden. Zukünftig erwarten wir Implantate, die
noch wirksamer und sicherer sind als die heute
verfügbaren: Sie sind besser auf Röntgenaufnahmen zu sehen, zu entfernen und haben
eine Oberfläche, die eine Implantation ohne
begleitende Medikation erlaubt.
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