ich glaube, dass nicht einmal der todesritt der leichten brigade
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ich glaube, dass nicht einmal der todesritt der leichten brigade
EINMAL DE NICHT ASS BRIGA ,D «ICH GLAUBE DER LEICHTEN ALS ESRITT NNEN D Ö K TO SEIN DER TTE Ä H ANGRIFF » MUTIGER IRRWITZIGER UNSER MASCHINENGEWEHRE IESE D AUF Mein Großvater George Hambley vertraute diese Worte am 12. Oktober 1918 seinem Tagebuch an, zwei Tage, nachdem er die vielleicht letzte Kavallerieattacke an der Westfront überlebt hatte. In den hin und her wogenden Kämpfen in der Umgebung von Cambrai erhielten mehrere Trupps des Canadian Light Horse Regiments am 10. Oktober den Befehl, ein Gehöft in Naves anzugreifen, um die dortige Geschützstellung auszunehmen. Die vier Maschinengewehre befanden sich am oberen Ende eines langen und ansteigenden offenen Feldes ohne jedwede Deckung. Zum Angriff sammelten sich Männer und Pferde in einem großen Graben, in dem die Infanterie vor dem tödlichen Feuer Schutz gesucht hatte. Mit großer Anstrengung mühten sich die Pferde den steilen Hang hinauf und über die Kuppe. George und sein Pferd Nix schafften es kaum fünfzig Meter, bis eine Kugel die Stirn des treuen Tiers zerschlug. Wie ein Stein fiel das Pferd zu Boden, seinen Reiter unter sich begrabend. Den Helm außer Griffweite, befreite sich George mühsam aus dem Gewirr von Sattelzeug und zerfetztem Fleisch und suchte hinter der Tierleiche Schutz, bis er es endlich wagte, zu einem nahe gelegenen Steinbruch zu kriechen. Von dort aus unternahmen er und andere Überlebende mehrere Expeditionen auf das Schlachtfeld zurück, um Verwundete zu bergen. Als George schließlich in Sicherheit zurückgelangte, wurde er wie ein von den Toten Auferstandener begrüßt. Alle, die Nix hatten zusammenbrechen sehen, hatten geglaubt, dass der Tod auch ihn ereilt haben müsste. Der Angriff war erfolgreich, doch zu einem furchtbaren Preis. Unbeirrbarer Tagebuchschreiber, der er war, verzeichnete George sorgfältig die Toten und Verwundeten, wobei er Pferde und Männer gleichermaßen beim Namen nannte.1 Auf den Tag drei Jahre vor dem Angriff in Naves war George am 10. Oktober 1915 eingerückt. Einige Monate später erreichte er Frankreich, gerade einmal zwanzig Jahre alt. Wie sich bald herausstellte, konnte es alles Mögliche bedeuten, Kavallerist an der Westfront zu sein, nur nicht, zu Pferd in die Schlacht zu reiten. George überbrachte Nachrichten, reparierte Fernmeldeverbindungen, grub Minen unter den deutschen Linien hindurch, bediente ein Maschinengewehr, und nur das Kriegsende verhinderte seinen Eintritt in das Fliegercorps, in das er im Herbst 1918 aufgenommen worden war. Was seine Rolle als berittener Soldat angeht, so drücken seine Tagebücher Enttäuschung aus und eine gewisse Verlegenheit darüber, dass Reiter und Pferde für gewöhnlich nur eingesetzt wurden, um bei besonderen Anläs- sen vor hohen Militärs zu paradieren. Doch scheint diese Demütigung durch den intensiven emotionalen Beistand, der von Nix ausging, kompensiert worden zu sein, denn jedes Mal, wenn der junge Kanadier von der Front zurückkehrte, schaute er als erstes nach seinem Pferd. Erst nachdem die deutsche Frühjahrsoffensive 1918 zurückgeschlagen worden war, erhöhte sich die Beweglichkeit an der Westfront, und mit dieser Mobilität bekam die Kavallerie ihre Nützlichkeit zurück. Freilich fand der große Durchbruch, auf den General Haig nicht zu hoffen aufhörte, nie statt. Damit erwies sich das Hauptargument, eine große britische Reiterei auch noch Jahre nach der Auflösung der gegnerischen Kavallerie im Westen durch das deutsche Oberkommando beizubehalten, letztlich als unbegründet. Dennoch spielte die Kavallerie an der Somme und während der Hunderttageoffensive, die schließlich zum Waffenstillstand führte, durchaus eine Rolle, angefangen von Aufklärungsritten und gelegentlichen Scharmützeln bis hin zu den wenigen denkwürdigen, wenn auch ausnahmslos äußerst verlustreichen Angriffen. Als George seine eigene Erfahrung mit dem Todesritt der Leichten Brigade gegen zwanzig Bataillone russischer Infanterie und Artillerie verglich, der während des Krimkriegs 1854 stattgefunden hatte, bezog er sich sowohl auf das Ereignis als auch auf dessen Verewigung in Alfred Tennysons Gedicht «Charge of the Light Brigade». Dessen berühmter Refrain «Ins Todestal / Reiten die Sechshundert» wurde innerhalb kürzester Zeit zur Ikone viktorianischer Vorstellungen von Heldentum und Opferwillen. In der Tat war das Gedicht, das Theodor Fontane 1898 frei ins Deutsche übertragen sollte, noch sechzig Jahre nach seiner Entstehung ein solch unmittelbarer Bezugspunkt, dass mein Großvater den Ausspruch eines Major Dawson über den kanadischen Angriff in Naves kolportieren konnte: «Verglichen damit, wirkt der Todesritt der Leichten Brigade in Balaklava wie ein Kinderspiel.» Ein Großteil der Literatur zur kulturellen und intellektuellen Wirkung des Ersten Weltkriegs betont den Zusammenbruch von konventioneller Rhetorik und überkommenen künstlerischen Darstellungsweisen. Klassische Werke wie Paul Fussells The Great War and Modern Memory (1975) oder Modris Eksteins Rites of Spring (1989) sehen die Westfront als nichts weniger denn als Geburtsort der Moderne. Aus solch einer Perspektive konnte ein Tennyson nur all das veranschaulichen, was falsch war, im Gegensatz zu der vom Irrtum befreiten Aufrichtigkeit und tragisch-ironischen Sensibilität, welche das Fronterlebnis geboren hatte. Dies mag richtig sein. Und doch muss dieses Bild einer kulturellen Zäsur gegen die Belege weitgehender mentaler, intellektueller und kultureller Kontinuitäten abgewogen werden. Viele Soldaten griffen nach wie vor auf Tradition und konventionelle Kulturgüter zurück, um die Schrecken des Krieges zu verarbeiten. Nicht alle diese kulturellen Hilfsmittel waren in ihrer Bedeutung monolithisch. Zweifellos monumentalisierte George mit der Anspielung auf die Leichte Brigade den Heroismus und den Opferwillen, den er gerade selbst bewiesen hatte. Doch indem er die todgeweihten Sechshundert herbeizitierte, evozierte er auch die ganze Ambiguität von Tennysons Gedicht. Schließlich sprechen die berühmtesten Verse des Gedichts von blindem Befehlsgehorsam: «Sie hatten nicht zu antworten, / Sie hatten nicht nach dem Warum zu fragen, / Sie hatten nichts als zu sterben.» Der unmittelbar vorhergehende Vers bestätigt, dass «jemand gepfuscht hatte», als er den Angriff befahl. 2 Während Tennysons Gedicht sicher keinen cri de coeur gegen den Krieg darstellt, schafft es doch eine Dissonanz zwischen der Bereitschaft der Menschen, sich für eine Idee zu opfern, und den bisweilen erbärmlichen und stupiden Umständen, unter denen sie zu Tode kommen. Georges Tagebuch belegt diese Dissonanz. So schrieb er noch am Tag des Tennysonzitats: «Der ruhmreiche Angriff, den das Canadian Light Horse-Regiment auszuführen und aus dem Schützengraben hinauszustürmen hatte, ist Wirklichkeit geworden – in jeder Hinsicht, nur nicht, was den Ruhm angeht. Und heute Morgen haben wir vom Vierten Trupp noch ein einziges Pferd an der Front übrig, das wir für den irrwitzigen Angriff vorweisen können.» In späteren Jahren verlor George nie seine Vorliebe für viktorianische Verherrlichungen des Heldentums wie T. B. Macauleys «Lays of Ancient Rome». Doch das «Kriegs»-Gedicht, das wir beide am häufigsten miteinander lasen, war das eines anderen Poeta Laureatus, Robert Southey. Sein Gedicht «The Battle of Blenheim» von 1843 spricht von einem kleinen Jungen, der auf dem Feld einen rundlichen weißen Gegenstand findet und seinen Großvater bittet, ihm diesen zu erklären. Es ist der Schädel eines gefallenen Soldaten, weiß der alte Mann, die der Pflug häufig ans Licht bringt auf den Feldern der großen Schlacht. Wofür sie denn gekämpft hätten, fragt der Junge, doch kann sich der Großvater nicht erinnern. «‹Aber was kam schließlich Gutes dabei heraus?› / Sprach das kleine Peterchen. / ‹Oh, das kann ich nicht erklären,› sagt‘ er, / ‹Doch´s war ein berühmter Sieg.›» Was schließlich Nix betrifft, so war er der einzige von Georges gefallenen Kameraden, dessen Andenken ihn immer zum Weinen brachte. Warren Breckman Aus dem Englischen von Sonja Asal Bildnachweis: Archiv des Verfassers 1 George Hambleys Kriegstagebücher bestehen aus etwa zwanzig Bänden und umfassen die Jahre von 1915 bis 1920; sie befinden sich im Archiv der Provinz Manitoba in Winnipeg, Kanada. • 2 Der Angriff der Leichten Brigade wurde zeitgenössisch weithin als Fehler und Misserfolg gesehen und als solcher erinnert. Eine Neubewertung dieser Frage findet sich bei Orlando Figes: Crimea: The Last Crusade, London 2011, S. 246–254. 126