Wir reisen nach Pearl Jam
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Wir reisen nach Pearl Jam
8 Magazin Bieler Tagblatt, Samstag, 28. Juni 2014 Magazin Music-Scene Wir reisen nach Pearl Jam Tournee-Tourismus Die Grunge-Band Pearl Jam ist derzeit auf Europatour. Unsere Autorin ist der Band nachgereist – so wie viele, viele andere Fans dies tun. Das Protokoll einer ganz persönlichen Geschichte von Musik und Liebe. Das Lieblingslied von Pearl Jam fehlt noch, aber insgesamt habe ich mittlerweile 98 von 140 Songs live erlebt (Aufnahme eines Konzerts Ende 2013). Milano, Triest, Wien und Berlin. Das ist der Teil der Pearl Jam Tour «Lightning Bolt 2014», in dem wir der Band nachreisen. Vier Städte, vier Konzerte, zwölf Stunden Pearl Jam live innerhalb von sechs Tagen und geschätzten 3000 Kilometern Reiseroute. Verrückt? Vielleicht ein bisschen. Verglichen mit anderen sind wir aber harmlos. Die reisen über Kontinente, um Pearl Jam während der ganzen Tour weltweit zu begleiten. So treffen wir Australier, Amerikaner, Finnen, Schotten und auch viele Schweizer auf dieser Tournee. Warum diese Faszination? Aber wer ist diese Band, die es vermag, Fans aus aller Welt zu mobilisieren und Konzerthäuser wie auch Stadien innert kürzester Zeit auszuverkaufen? Bekannt geworden sind Pearl Jam in den frühen 90erJahren. Wie auch Nirvana und Soundgarden stammen sie aus Seattle (Washington), der Geburtsstätte des Grunge. Doch anders als Nirvana, deren Musik es sowohl in die Hitparade wie auch ins Radio geschafft hatte, landeten Pearl Jam nie die wirklich ganz grossen Hits. Mit «Alive» schufen sie sich zwar ein Denkmal, das aber zumindest in Europa nie oben in die Charts oder ins Radio-Airplay gekommen ist. Dass sich Pearl Jam quasi als Underdog und einzig überlebende Band der Grungezeit gehalten hat, ist wohl ihrem überlegten Umgang mit externen Einflüssen zuzuschreiben. Pearl Jam haben sich bewusst vom GrungeHype zurückgenommen. Ab Mitte der 90er-Jahre veröffentlichten sie keine Musikvideos mehr und gaben kaum noch Interviews. Sie wollten ihre Fans mit Konzerten erreichen, mit ihrer Musik. Pearl Jam passte zu dieser Zeit so einiges am Musikbusiness nicht. So haben sie eine Zeitlang in den USA ihre Kon- zerte selber organisiert, weil sie Ticketmaster, dem grössten amerikanischen Konzertveranstalter, vorwarfen, seine Stellung auszunutzen. Zudem liessen sie ab Mitte der 90er-Jahre oft bei Konzerten ihre grössten Hits wie «Alive» und «Jeremy» weg – als Trotzreaktion, da sie zum damaligen Zeitpunkt befürchteten, in den Mainstream abzudriften. Heute haben sich Pearl Jam mit ihren damaligen Hits versöhnt, und sie arbeiten auch mit Ticketmaster wieder zusammen, jedoch zu ihren Bedingungen. Was die Konzerte von Pearl Jam so einzigartig macht, sind die Setlists. Kein Konzert gleicht dem anderen. Liedgut von zehn Studioalben, unzählige Coverversionen und andere Überraschungen wie Disneylieder machen jedes Konzert musikalisch zum unverwechselbaren Erlebnis. Soundtrack meines Lebens Dass ich mal wie ein Groupie einer Band hinterherreisen würde, habe ich mir bis vor drei Jahren auch nicht vorstellen können. Zwar gehörten Lieder wie «I Am Mine» und eben «Alive» schon immer zum Soundtrack meines Lebens. Und als Pearl Jam 2006 in der nahen Bern Arena spielten, war ich natürlich mit von der Partie. Das Konzert blieb mir aber in schlechter Erinnerung, nicht wegen Pearl Jam, sondern weil die Organisation und vor allem die Halle ein Desaster waren. Doch dann lernte ich vor drei Jahren Marcel kennen. Und zwar durch Pearl Jam. Er gestaltete damals mit einem gemeinsamen Bekannten eine Radio-Sendung auf dem solothurnischen Jugendradio Radiologisch mit den Bands Pearl Jam und Pavement. Ich wünschte mir während der Sendung mein Lieblingslied «I Am Mine», und so nahm die Geschichte ihren Lauf. Der Song ist wenig bekannt, das weckte Marcels Neugier: Er wollte mich ken- Dass ich mal wie ein Groupie einer Band nachreisen würde, habe ich mir bis vor drei Jahren auch nicht vorstellen können. Doch dann lernte ich Marcel kennen. nenlernen. Wir trafen uns an einem Konzert von Monster Magnet in Solothurn, und es stellte sich heraus, dass wir eine grosse Leidenschaft, nämlich Musik und Konzertbesuche, teilen. So reisten wir schon vor zwei Jahren nach Pearl Jam, damals standen Amsterdam (NL), Werchter (B) und Arras (F) auf der Reiseroute. Ich fand Gefallen an dieser Art von Road-Trip, weil man neben der ausgesprochen guten Musik so einiges auf einer PearlJam-Reise erlebt. Der Ten Club Die fünf besten Alben • «VS»: Das zweite und das kompakteste Album. Verhält sich zum Debüt «Ten» wie der zweite Teil von «Der Pate» zum ersten. • «Vitalogy»: Die Songs auf dem Album gehören heute zum Gerüst der Konzerte. Die roheste Platte, enthält aber mit «Betterman» einen der gefühlvollsten Pearl-Jam-Songs. • «Backspacer»: So wichtig für Pearl Jam wie für U2 «All That You Can’t Leave Behind». Ein Alterswerk, das musikalische Relevanz enthält und das Pearl Jam wieder ins Bewusstsein vieler katapultierte. • «No Code»: Die folkigste Platte, aber mit dem punkigsten und kürzesten Song («Lukin»). «Smile» und «Off He Goes» schweben über allem. • «Ten»: Das Debütalbum gehört einfach in die Top-5-Liste. «Once», «Even Flow» und «Alive» sprechen für sich. Marcel Frey Denn wir sind bei weitem nicht die Einzigen, die Pearl Jam nachreisen. Es gibt eine grosse Gemeinde, den Ten Club (nach dem Album «Ten» benannt), der von Pearl Jam unterhalten wird. Als Mitglied des Ten Clubs erhält man einmal pro Jahr Post von Pearl Jam: Ein Päckchen mit einer besonderen Überraschung, es kann Vinyl, Stickers, Buttons oder Bücher enthalten. Und was für die eingefleischten Konzertgänger besonders wichtig ist: Mit der Ten-Club-Mitgliedschaft erhält man Vorkaufsrecht und spezielle Einlasstickets für die Konzerte. So dürfen Ten-Club-Members in den «Inner Circle» gehen, also direkt vor die Bühne, um die Band hautnah zu erleben. Die TenClub-Gemeinde ist riesig, und man trifft auf der ganzen Reise immer in etwa dieselben Nerds. San Siro, Milano So stehen wir am letzten Freitagabend zum ersten Mal im Fussballstadion San Siro. Es war innert kürzester Zeit ausverkauft, 68 000 Fans aus aller Welt pilgern hierher. Vor dem Konzert läuft noch der Fussballmatch Italiens auf den Screens. Für einmal bin ich sogar für die Azzurri, aber leider verlieren sie an diesem Abend. Dann endlich der Auftritt von Pearl Jam. Sänger Eddie Vedder versucht sich in Italienisch, zvg schafft so eine persönliche Bindung zum Publikum. Witzelt, trinkt wie immer Rotwein aus der Flasche. Mein persönliches Highlight an diesem Abend ist «Alive»: Ein gefülltes Stadion, das gemeinsam mit Eddie «I’m still alive» singt, so was kann man nicht mit Worten beschreiben. In die einschlägigen Musikzeitschriften schafft es aber unverhofft ein anderes Lied. «Let it Go» aus dem Disneyfilm «Frozen», das Eddie Vedder für seine fünfjährige Tochter «vergrunged» hat. Dieser Abend steht auch sonst ganz im Zeichen der Familien der Band, die alle nach Milano mitgereist sind. So steht während des Lieds «Rockin in the Free World» Ray, der Sohn von Schlagzeuger Matt Cameron, an der Gitarre und lässt so Leadgitarrist Mike McCready etwas alt aussehen. Nereo Rocco, Trieste Neue Stadt, neues Fussballstadion. Das Stadio Nereo Rocco ist wesentlich kleiner als das San Siro, aber als einziges der vier Konzerte nicht ausverkauft. Man spürt das aber nicht, wiederum heizen Pearl Jam dem Publikum während drei Stunden ein. Alle Konzerte dieser Tour laufen unter dem Motto «An evening with…», also keine Vorbands, nur Pearl Jam. Ungefähr 35 Lieder. Musikalisch steht der Abend im Zeichen von Mother Love Bone. Mit Mitgliedern dieser Band haben sich einst Pearl Jam zusammengefunden. Im Stadion treffen wir zufällig einen Solothurner, der mit seinem Bruder nach Triest gefahren ist, um Pearl Jam zu sehen. Nach dem Konzert machen wir uns auf den Weg Richtung Wien, besuchen in Slowenien eine Höhle, Essen in Ljubljana und übernachten in Bled (SLO) und tags darauf in Graz (A). Stadthalle, Wien Das einzige Indoor-Konzert. 16 000 Zuschauer, etwas grösser als das Zürcher Hallenstadion. Hier haben wir mit zwei befreundeten Zürchern abgemacht, die für dieses Konzert angereist sind. «Gremu» ist selber Konzertveranstalter in Zürich und erklärt uns das Musikbusiness. Er schätzt, dass Pearl Jam mit mindestens zehn Millionen Franken wieder nach Hause fliegen werden und dass sie wohl wegen der strengen Lärmauflagen nicht mehr in der Schweiz spielen. Vielleicht aber auch, weil ihr letztes Konzert in Bern so katastrophal war. Pearl Jam spielen einige spezielle Lieder von Neil Young, weil dieser einen Monat später in der gleichen Halle auftreten wird. Eddie Vedder bittet die Wiener, Uncle Neil einen Gruss von seinem Nephew Eddie auszurichten. Die Setlist von diesem Abend wird in den Pearl-Jam-Facebook-Fangruppen als «epic» gelobt. Wuhlheide, Berlin Sportlich in sieben Stunden von Wien nach Berlin gefahren, an Prag vorbei. Hat nur für einen Kaffee in Tschechien gereicht. Pearl Jam spielen in Berlin in der Wuhlheide, eine Art Amphitheater. Die Stimmung ist grandios, gelöst, vergleichbar mit einem Festival. Auch hier finden Pearl Jam wieder einen speziellen Bezug zur Stadt, aufgrund des Ramones-Museums spielen sie «I Believe in Miracles». Auf meiner persönlichen Wunschliste stehen vier Lieder, die ich gerne mal live hören möchte, davon ist eines ebendieses. Von den insgesamt 140 gespielten Liedern habe ich mittlerweile 98 verschiedene Titel gehört. Mein Lieblingslied «I am Mine» fehlt noch, deshalb werde auch ich wieder einen Grund haben, nach Pearl Jam zu reisen. Vielleicht habe ich Glück, und sie werden es an meinem zehnten LiveKonzert spielen. Dominique Niklaus, Berlin