Heidegger und die antike Kunst, in: Hans Christian Günther

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Heidegger und die antike Kunst, in: Hans Christian Günther
Heidegger und die antike Kunst
Bernd Irlenborn/Günter Seubold
Gliederung
Einleitung
I. Heideggers Philosophie der Kunst
1. Die Besinnung auf die Kunst: Skizzen eines Denkwegs
2. Ein unerörtertes Thema: die römische Kunst
II. Die griechische Kunst im Denken Heideggers
1. Die griechische Kunst war prÒmoj, „fromm“
2. Die griechische Kunst entstammte nicht dem Artistischen
3. Die griechische Kunst wurde nicht ästhetisch genossen
4. Die griechische Kunst war nicht Sektor eines Kunstschaffens
III. Ausblick: Die Provence als Erbe Griechenlands?
1
Einleitung
„Wir suchen das Griechische weder um der Griechen willen, noch wegen einer
Verbesserung der Wissenschaft“,1 so Heideggers grundsätzlicher Ausgangspunkt
seiner Auseinandersetzung mit den Griechen. Diese grenzt sich einerseits ab von
einer romantischen Bezugnahme auf eine längst vergangene Epoche, deren Größe
gerade vor dem Hintergrund einer finsteren Gegenwart blendet. Andererseits geht es
aber auch nicht um ein mit philologischem bzw. kunsthistorischem Fachwissen
gesichertes, möglichst genaues Bild einer Vergangenheit. Beide Betrachtungsweisen
kommen tendenziell darin überein, das Griechische aus der Geschichte herauslösen
und es für sich selbst betrachten zu wollen. Heideggers Beschäftigung mit den
Griechen bezieht sich dagegen allein auf ein diese Epoche mit der Moderne
verbindendes geschichtliches Moment, auf „jenes Selbe, das die Griechen und uns in
verschiedener Weise geschicklich angeht.“2
In diesen Zusammenhang muß sich eine Untersuchung mit dem Thema
„Heidegger und die antike Kunst“ einlassen. Zur Klärung der gestellten Frage sind
mehrere Schritte erforderlich: Zunächst sind einige grundsätzliche Hinweise auf die
Beziehung des Heideggerschen Denkens zur Kunst notwendig, angefangen vom
Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks bis hin zu seinen späten Äußerungen. Dadurch
wird deutlich, daß Heideggers Besinnung der antiken Kunst nicht herausgelöst
werden kann aus einer geschichtlichen Betrachtung der Kunst, die mit ihrer ersten
Ausprägung in Griechenland einsetzt und an deren Ende die Frage nach den
Potentialen der modernen Kunst steht. Das heißt: Der von den Griechen gestiftete
Anfang der Kunst und ihre in der Moderne möglicherweise zu Ende gehende
Tragweite gehören für Heidegger zusammen; beide Epochen sind in bezug auf das
sie verbindende „Selbe“ nicht getrennt zu betrachten. Im Hinblick auf Heideggers
geschichtliche Betrachtung der Kunst wird auch erkennbar, warum die zur antiken
Kunst notwendig zugehörige römische Kunst nicht eigens von ihm gewürdigt wird.
Erst vor dem Hintergrund dieser prinzipiellen Klärungen kann die spezifische Frage
nach der Bedeutung der griechischen Kunst für das Heideggersche Denken
untersucht werden.
Nach dieser Problemskizze richtet sich auch die Gliederung der vorliegenden
Abhandlung. Zunächst wird im ersten Kapitel die Bedeutung der Kunst in Heideggers Denken beschrieben. Dabei soll in einem ersten Abschnitt Heideggers
Denkweg in dieser Frage in Grundzügen dargestellt werden; im zweiten Abschnitt
wird geklärt, warum die römische Kunst in Heideggers geschichtlicher Betrachtung
nicht eigens thematisiert wird. Das zweite Kapitel widmet sich der Frage nach der
1
2
GA 5, 336.
Ebd.
2
spezifischen Bedeutung der griechischen Kunst für Heidegger. An einer für diese
Thematik entscheidenden Stellen nennt Heidegger vier Eigenschaften derselben, die
hier aufgegriffen und in einzelnen Abschnitten untersucht werden: die griechische
Kunst war Heidegger zufolge erstens fromm und fügsam, sie entstammte zweitens
nicht dem Artistischen, sie wurde drittens nicht ästhetisch genossen und war viertens
nicht Sektor eines Kulturbetriebs. Im dritten und letzten Kapitel wird die These
vertreten, daß Heidegger in seinen späten Jahren das in der griechischen Kunst
Ungedachte in den Werken Cézannes gefunden hat.
I. Heideggers Philosophie der Kunst
Allgemein gesprochen, liegt die Bedeutung der Kunst für Heidegger darin, daß sie
eine „Welt“ öffnet, daß im Kunstwerk ein Zusammenhang gestiftet wird, der eine
bestimmte Sinngebung des menschlichen Daseins ermöglicht. Diese Sinngebung hat
ihre erste Eigenart darin, daß sie geschichtlich ist: Im Kunstwerk kommt eine
Erfahrung zur Geltung, die aus einem spezifischen Zeitalter erwächst und doch,
wenn es sich um ein wesentliches Werk handelt, darüber hinausweist und so den
Raum für eine neue Welt stiftet.3 Die zweite Eigenart dieser Sinngebung besteht, daß
sie nicht nur eine formale Deutungsleistung umfaßt, sondern ein tiefer greifendes
„Wohnen“ des menschlichen Lebens eröffnet, das in einen Einklang kommt mit der
eigenen Endlichkeit und des vom Menschen unveränderbaren Erscheinungscharakters alles Wirklichen.
Heidegger beschreibt dies zusammenfassend in seinem späten Aufsatz Die Kunst
und der Raum am Künstlerischen der Plastik:
„Die Plastik wäre die Verkörperung von Orten, die, eine Gegend öffnend und sie verwahrend, ein
Freies um sich versammelt halten, das ein Verweilen gewährt den jeweiligen Dingen und ein
Wohnen dem Menschen inmitten der Dinge.“4
Die Kunst steht hier für das „Stiften von Orten“;5 sie ist  wie Heidegger weiter
bemerkt  das „Ins-Werk-bringen der Wahrheit, der „Unverborgenheit des Seins“.6
Diese Formulierung aus Die Kunst und der Raum erinnert an die bekannte und oft
„Das Bisherige wird in seiner ausschließlichen Wirklichkeit durch das Werk widerlegt“ (GA 5,
63).
4
GA 15, 208.
5
Ebd., 209.
6
Ebd., 206.
3
3
zitierte Wendung aus Heideggers Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks von 1935/36,
die Kunst sei das „Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“.7 Diese
offenkundige Anknüpfung zeigt jedoch bei näherer Betrachtung gewichtige Unterschiede zwischen der frühen und der späten Position Heideggers; im folgenden soll
in aller Kürze sein Denkweg im Hinblick auf die Kunst und ihre Bedeutung
dargestellt werden.
1. Heideggers Besinnung auf die Kunst: Skizzen eines Denkwegs
Heideggers Kunstwerkaufsatz aus den dreißiger Jahren ist die erste Station seiner
Besinnung auf das Wesen der Kunst. Da dieser Aufsatz bereits in zahlreichen
Untersuchungen zum Thema gemacht wurde,8 sind hier nur einige Hinweise zu
Aspekten nötig, die Heidegger später selbst kritisiert und verändert hat und die für
das Verständnis seiner Auseinandersetzung mit der griechischen Kunst von Bedeutung sind.9
Die Kunst wird in diesem Aufsatz gefaßt als eine „ausgezeichnete Weise, wie
Wahrheit seiend, d. h. geschichtlich wird.“10 So wird Heidegger zufolge in den
Werken der Kunst nicht eine an sich bestehende Wirklichkeit nachgeahmt, sondern
eine geschichtliche Weise der Wahrheit des Seienden gestiftet. Beispielsweise wird
im griechischen Tempel eine „Welt“ eröffnet, die entscheidenden Bezugsweisen, die
das Leben des griechischen Volkes prägten, werden in ihm deutlich. Darin geschieht
eine „Unverborgenheit des Seienden“, die Heidegger hier als „Sein“ bezeichnet.11 Im
Tempelwerk, aber auch im gotischen Dom oder in Van Goghs Bild, wird das
Seiende im ganzen in eine Offenheit gebracht; das Sein setzt sich selbst „ins-Werk“
und kann auch nur dadurch als solches erfahren werden.12 Die Geschichtlichkeit
dieser Stiftung zeigt sich in den unterschiedlichen Epochen der Kunst. In jeder
GA 5, 25.
Vgl. dazu insbesondere Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Heideggers Philosophie der Kunst. Frankfurt/M. 21994; Gottfried Boehm, Im Horizont der Zeit. Heideggers Werkbegriff und die Kunst der
Moderne, in: Kunst und Technik, hg. von Walter Biemel/Friedrich-Willhelm von Herrmann.
Frankfurt/M. 1989, 255-285.
9
Daß hier überhaupt ein Denkweg in bezug auf die Kunst vorliegt, wird in der Forschung
kontrovers diskutiert. Vgl. zu dieser Diskussion zwischen Friedrich-Wilhelm von Herrmann und
Otto Pöggeler: Günter Seubold, Kunst als Enteignis. Heideggers Weg zu einer nicht mehr metaphysischen
Kunst. Bonn 1996, 41-47.
10 GA 5, 66.
11 GA 5, 39.
12 Das Kunstwerk ist eine Weise, wie dieses Wahrheitsgeschehen sich aktualisieren kann; andere
Weisen sind für Heidegger die Staatsgründung, das Opfer und das Denken (vgl. GA 5, 49).
7
8
4
dieser Epochen hat sich das Seiende im ganzen anders erfahrbar gemacht: bei den
Griechen als fÚsij, als „eigenwüchsig aufgehendes Seiendes“, im Mittelalter als ens
creatum und in der Neuzeit als beherrschbare Gegenständlichkeit. Die Kunst hat also
nicht nur eine Geschichte, sie gründet selbst Geschichte, indem sie, wie oben schon
angedeutet, die bisherige Welt in Frage stellt.13
In seinen später angefügten Randbemerkungen zu diesem Aufsatz, aber auch
schon in den Beiträgen zur Philosophie von 1936-38 hat Heidegger diese Auffassung
von Kunst kritisiert. Ohne hier in Einzelheiten zu gehen, kann man festhalten:
Generell geht es Heidegger bei seiner Selbstkritik am Kunstwerkaufsatz um das dort
noch nicht in befriedigender Weise geklärte Verhältnis von Unverborgenheit,
Wahrheit und Sein. So heißt es in Heideggers Randbemerkungen zu seinem
Exemplar des Kunstwerkaufsatzes: „Der Versuch (1935/37) unzureichend zufolge
des ungemäßen Gebrauchs des Namens ‘Wahrheit’ für die noch zurückgehaltene
Lichtung und das Gelichtete“.14 Das bedeutet: Das in der frühen Schrift dargestellte
Wahrheitsgeschehen muß Heidegger zufolge ursprünglicher, aus dem „Ereignis“,
gedacht werden. Damit will er das im Kunstwerkaufsatz noch vorausgesetzte
metaphysische Konzept der ontologischen Differenz überwinden,15 durch die das
Sein allein in bezug auf das Seiende und eben nicht als „Gabe“, d. h. als unverfügbares Anwesenlassen aus dem „Ereignis“ verstanden wird.16 Dies bedeutet für
seine Bestimmung der Kunst: Die Kunst muß aus dem „Ereignis“ gedacht werden;
sie ist noch unzureichend gedacht, wenn sie als „Ins-Werk-Setzen der Wahrheit des
Seienden“ verstanden wird. In ihr geht es  wie es in Die Kunst und der Raum hieß 
um ein „Ins-Werk-Bringen der Wahrheit“, der Unverborgenheit des Seins.17
Vereinfacht gesagt, heißt das: Der im Kunstwerk erfahrbar gewordene Bereich der
Offenheit des Seienden setzt selbst wieder eine  sich stets auch entziehende 
Vgl. dazu GA 5, 63 ff.
GA 5, 1.
15 Vgl. zur (Selbst-)Kritik an der ontologischen Differenz GA 5, 73.
16 Vgl. dazu Zur Sache des Denkens weiterhin: ZSD. Tübingen 31988, 5 ff., 36.
17 Dies kann man sich an folgender Selbstkritik Heideggers verdeutlichen: Im Kunstwerkaufsatz
hieß es noch, die „Wirkung“ eines Werkes bestehe in einem Wandel der Unverborgenheit des
Seienden (GA 5, 60), d. h., durch das Werk wird im Seienden eine „offene Stelle“ aufgeschlagen, in
der „alles anders ist als sonst“ (GA 5, 59). Diese Ansicht kritisiert Heidegger in seinen Randbemerkungen als „unzureichend“ (GA 5, 60), denn das Werk setzt selbst schon eine „Gabe“, eine
Unverborgenheit des Seins voraus. So läßt sich auch ansatzweise Heideggers späte Beschreibung
von Kunst verstehen: „Kunst: Das im Ereignis gebrauchte Her-vor-bringen der Lichtung des
Sichverbergens  Bergens ins Ge-Bild“ (GA 5, 1).
13
14
5
Offenheit des Seins voraus, und gerade dieses ursprünglichere Wahrheitsgeschehen
ist es, das im Werk „entborgen“ wird.18
Damit einher geht auch eine Selbstkritik Heideggers an seiner Fassung der
griechischen Kunst im frühen Aufsatz: Der dort beschriebene Tempel hatte „lediglich exemplarischen Charakter“,19 die angeführten Eigenschaften seines Werkseins
galten im Grunde auch für Van Goghs Bauernschuhe oder Conrad F. Meyers
Gedicht. Dem eigenen Anspruch, das Wesen des Kunstwerkes zu zeigen,20 wird der
Aufsatz gemäß Heideggers später geübten Selbstkritik nicht gerecht. So heißt es in
Beiträgen zur Philosophie in bezug auf die „Besinnung auf den ‘Ursprung des Kunstwerkes’“, daß zwar „zur Veranschaulichung am ehesten das Frühe des ersten
Anfangs gewählt werden [kann], aber zugleich ist zu wissen, daß das Wesende der
griechischen Kunst niemals getroffen werden kann und will durch Solches, was wir
als Wesenswissen über ‘die’ Kunst zu entfalten haben.“21
Dies ist ein wichtiger und später weiter zu entfaltender Hinweis Heideggers auf
den Anfang der Kunst in Griechenland. Die Bedeutung dieses Anfangs kann aber
erst dann zureichend verstanden werden, wenn er aus dem Blickwinkel der
modernen „Kunstlosigkeit“ gesehen wird, von der Heidegger an derselben Stelle
spricht. Dieser Gedanke, daß die gegenwärtige Kunst die Potentiale, die noch für die
Epochen der griechischen und mittelalterlichen Kunst maßgebend waren, erschöpft
habe, ist ein entscheidendes Kennzeichen von Heideggers Besinnung über die
Kunst. Diese Anfrage, ob die heutige Kunst vor dem Hintergrund der vergangenen
Epochen noch einen Werkcharakter besitze, setzt ein insbesondere in den Beiträgen
zur Philosophie und in der Abhandlung Besinnung,22 die beide Ende der dreißiger Jahre
geschrieben wurden; sie begleitet Heideggers Reflexionen noch bis zum Schluß
seines Denkweges.23 Die Kunst wird stärker in den Zusammenhang der Metaphysikgeschichte einbezogen: Mit der Vollendung der Metaphysik sei auch die Kunst in ein
So heißt es in den Beiträgen zur Philosophie: „Was darüber über die „Wahrheit“; B. I. gelegentlich
der Vorträge über das Kunstwerk angedeutet wurde und als ‘Einrichtung’ begriffen wurde, ist
bereits die Folge der Bergung, die eigentlich das Gelichtet-Verborgene verwahrt (GA 65, 71).“
19 von Herrmann, Heideggers Philosophie der Kunst [s. Anm. X], 25; siehe auch David Sobrevilla,
Offene Probleme in Heideggers Philosophie der Kunst, in: Zur philosophischen Aktualität Heideggers,
Bd. 3, hg. von Dietrich Papenfuss/Otto Pöggeler. Frankfurt/M. 1992, 73-86, hier 77.
20 Vgl. GA 5, 1.
21 GA 65, 504.
22 Vgl. GA 65, 503-508; GA 66, 30-42; siehe auch GA 67, 107-109.
23 Vgl. dazu Heinrich W. Petzet, Auf einen Stern zugehen. Begegnungen und Gespräche mit Martin Heidegger
1929-1976. Frankfurt/M. 1983, 141-174.
18
6
Endstadium gekommen.24 Dabei wird die Kunst selbst von Heidegger verdächtigt,
metaphysischen Wesens zu sein, Anteil an der Seinsvergessenheit zu haben.25
Wie sich dies auf das Verhältnis von griechischer und moderner Kunst auswirkt,
wird der zweite Teil zeigen, denn von den vier Kriterien für die Kunst der Griechen
waren allein drei negativen Charakters: für die Kunst der Griechen gilt gerade das
nicht, was für die moderne Kunst gilt.
2. Ein unerörtertes Thema: die römische Kunst
Wichtig für den vorliegenden Kontext ist nun, daß diese Diagnose der Seinsvergessenheit nicht allein für die moderne Kunst gilt, sondern ebenfalls, wenn auch
in unterschiedlicher Weise, für die Kunst der Griechen. Denn für Heidegger beginnt
die Geschichte des Seins schon im griechischen Denken mit der Seinsvergessenheit,
d. h. mit der Vergessenheit des Unterschieds zwischen dem Anwesen und dem
Anwesenden.26 Das Seiende wird stets in bezug zur Seiendheit gesetzt  so wird z. B.
das im platonischen Sinne Seiende, das e‡dwlon, aus seiner Idee, dem e•doj,
verstanden ; dabei bleibt die ursprünglichere Offenheit des Seins vergessen. Die
frühen Denker und Dichter haben zwar „an dieses Geheimnis gerührt“, aber
Heidegger zufolge blieb es ihnen als solches verborgen.27 Entscheidend ist nun, daß
das nachfolgende Denken der Metaphysik diese Grundbestimmung des Anwesens
weiter vergessen und durch die immer genauer ausgearbeitete Gründung alles
Seienden in einem höchsten Sein das unverfügbare Geschehen der 'Al»qeia aus
dem Blick verloren hat.28 Diese geschichtlich verschiedenen Arten der metaphysischen Gründung des Seienden sind verbunden durch jenes „Selbe“, von dem
zu Anfang die Rede war: Das Sein schickt sich zu, indem es sich verbirgt, es wird je
nach Epoche als Logos, als Substanzialität, als Wille zur Macht usw. erfahren.29 Wo
Vgl. GA 67, 107 f.
Vgl. GA 53, 19; vgl. auch Heideggers Aufzeichnungen zu Klee aus dem Nachlaß, abgedruckt in:
Günter Seubold, Heideggers nachgelassene Klee-Notizen, in: Heidegger-Studies 9 (1993), 5-12.
26 Vgl. GA 5, 364 f.
27 Vgl. Denkerfahrungen 1910-1976 weiterhin: DE. Frankfurt/M. 1983, 139; vgl. auch Was heißt
Denken? weiterhin: WhD. Tübingen 41984, 143 ff.
28 Vgl. dazu GA 5, 364 f.; WhD, 143 ff. Vgl. zur „Seinsvergessenheit“ und der sich daraus ergebenden Folgen: Bernd Irlenborn, Der Ingrimm des Aufruhrs. Heidegger und das Problem des Bösen. Wien
2000, 21-54.
29 Vgl. zu diesem Konzept u. a.: Der Satz vom Grund weiterhin: SvG. Tübingen 71992, 110; ZSD,
44.
24
25
7
schließlich in der Neuzeit alle Verbergung des Seins schwindet, ist die Metaphysik
und die von ihr beherrschte Kunst für Heidegger in ein Endstadium gelangt.30
Das heißt: Auf der einen Seite sind die verschiedenen Epochen durch die
„seinsgeschickliche“ Prägung verbunden. Auf der anderen Seite zeigt sich jedoch die
größte Gegensätzlichkeit zwischen der frühen Epoche der Griechen und den
nachfolgenden Geschichtsperioden im Hinblick auf die Radikalität der Seinsvergessenheit. Heidegger will zwar vermeiden, von einer Verfallsgeschichte zu sprechen,31
trotzdem drängt sich angesichts seiner Schilderungen dieser Eindruck zunächst auf.
Genau an dieser Stelle ist der Ort für die Frage nach dem Römischen, genauer:
nach Heideggers Bezug zur Kunst der Römer. Thesenartig formuliert: Heidegger hat
die Epoche des römischen Denkens und der römischen Kunst als deutlichen Abfall
von der Größe der griechischen Erfahrung der fÚsij, des Aufgehens alles
Anwesenden, verstanden.32 Diese Auffassung, die noch  wie es oben hieß  an das
Geheimnis der Entbergung rührt, wurde Heidegger zufolge durch die Übersetzung
von fÚsij mit dem lateinischen „natura“ verschüttet: natura ist für Heidegger vom
Seienden her gedacht, das im Hinblick auf eine Gemeinsamkeit, auf einen das
Einzelne verbindenden Grund hin, gedacht wird.33 Allgemein folgt für Heidegger
daraus: „Das Griechische wird verschüttet und erscheint bis in unsere Tage nur
noch in der römischen Prägung.“34 Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, daß
sich Heidegger nicht eigens mit der Kunst der Römer auseinandergesetzt hat. Als
Ergebnis einer Verschmelzung italischer und griechisch-hellenistischer Formen
stand die römische Kunst für Heidegger wohl nur in Abhängigkeit der griechischen
Vorbilder, ohne daß deren Erfahrung der fÚsij noch tragend für die römischen
Werke wurde. Es findet sich in Heideggers Werk keine Bezugnahme auf einzelne
SvG, 114.
Vgl. GA 16, 704.  In Besinnung spricht Heidegger im Hinblick auf die Seinsgeschichte von
einem „untergehenden Anfang“ (GA 66, 223).
32 Vgl. zu Heideggers Bestimmung der fÚsij: GA 66, 366-371; GA 75, 260; Wegmarken
weiterhin: WM. Frankfurt/M. 21978, 237-299.
33 „Das römische Denken übernimmt die griechischen Wörter ohne die entsprechende gleichursprüngliche Erfahrung
dessen, was sie sagen, ohne das griechische Wort. Die Bodenlosigkeit des abendländischen Denkens beginnt mit diesem Übersetzen“ (GA 5, 9). Vgl. weiterhin zu Heideggers Distanzierung des römischen Denkens: Vorträge und Aufsätze weiterhin: VA. Pfullingen 61990, 168; WhD, 66, 134; SvG,
166-168; WM, 284; GA 16, 624; DE, 138.
34 GA 5, 371.
30
31
8
römische Kunstwerke, selbst Vergil oder Ovid werden nur insofern erwähnt, als sie
von der Dichtung Hölderlins abgegrenzt werden.35
Insofern beschränkt sich das Thema „Heidegger und die antike Kunst“ auf die
Untersuchung „Heidegger und die griechische Kunst“. Wie sich seine Besinnung
dieser Epoche im Zusammenhang des seinsgeschichtlichen Spannungsverhältnisses
mit der „Kunstlosigkeit“ der Moderne entfaltet hat, wird sich im zweiten Kapitel
zeigen.
II. Die griechische Kunst im Denken Heideggers
Vorweg muß man sich über folgendes im klaren sein: Es findet sich keine längere
Auseinandersetzung Heideggers mit der griechischen Kunst in seinem Werk. Dies
hängt mit einem Sachverhalt zusammen, der direkt am Anfang der vorliegenden
Abhandlung angesprochen wurde: Heidegger sucht das Griechische nicht um der
Griechen willen, sondern  formal gesprochen  um die Gegenwart im Rückblick
auf die sie bestimmenden geschichtlichen Faktoren und im Vorblick auf die darin
liegenden Potentiale tiefer zu verstehen. Aus diesem Grund finden sich einzelne
Hinweise zu einer generellen Bestimmung der griechischen Kunst in seinem Werk
allein im Kontext nichtgriechischer Epochen, vor allem in der Kontrastierung mit
der von der Technik beherrschten Moderne. Diese Beziehung der Kunst zur
Technik ist entscheidend für die drei wichtigsten Textbelege in Heideggers Schriften
zum Thema der griechischen Kunst: Erstens in seinem berühmten Aufsatz Die Frage
nach der Technik von 1953,36 zweitens in dem Vortrag Die Herkunft der Kunst und die
Bestimmung des Denkens, den Heidegger 1967 in Athen vor der griechischen Akademie
der Wissenschaften und Künste gehalten hat,37 und drittens in den Aufzeichungen
zu seinen Griechenlandreisen.38 Ausgangspunkt der folgenden Kapitel soll die entsprechende Passage im Technikaufsatz werden; dazu ergänzend werden die relevan-
GA 4, 33, 70.  Vgl. zum Verhältnis zwischen griechischer und römischer Kunst aus kunsthistorischer Sichtweise die Angaben in: Gerhard Faden, Der Schein der Kunst. Zu Heideggers Kritik der
Ästhetik. Würzburg 1986, 38 f.
36 VA, 9-40.
37 DE, 135-149.
38 Dazu zählen erstens die Aufzeichnungen mit dem Titel Aufenthalte von 1962 (GA 75, 213-245),
dann die Notizen Zu den Inseln der Ägäis aus dem Jahre 1967 (GA 75, 247-273). Dabei ging es
Heidegger nicht um systematische Überlegungen zur Bedeutung der griechischen Kunst, sondern
um Reiseaufzeichnungen anläßlich der Besichtigung griechischer Kunstwerke.
35
9
ten Äußerungen aus dem Vortrag von 1967 und den Griechenlandreisen, aber auch
aus anderen Schriften Heideggers angeführt.
Die entscheidende Stelle in Die Frage nach der Technik lautet:
„Am Beginn des abendländischen Geschickes stiegen in Griechenland die Künste in die höchste
Höhe des ihnen gewährten Entbergens. (. . .) Und die Kunst hieß nur tšcnh. Sie war ein einziges,
vielfältiges Entbergen. Sie war fromm, prÒmoj, d. h. fügsam dem Walten und Verwahren der
Wahrheit. Die Künste entstammten nicht dem Artistischen. Die Kunstwerke wurden nicht
ästhetisch genossen. Die Kunst war nicht Sektor eines Kulturschaffens.“39
Im weiteren Verlauf geht es darum, die vier von Heidegger aufgezeigten und nicht
weiter erläuterten Eigenschaften der griechischen Kunst genauer zu untersuchen.
1. Die griechische Kunst war prÒmoj, „fromm“
Was meint Heidegger, wenn er von der Frömmigkeit der griechischen Kunst
spricht? Um dies zu verstehen, muß man zugleich klären, was der Satz bedeutet, „die
Kunst hieß nur tšcnh“. Heidegger deutet die tšcnh als eine „Weise des Entbergens“,
durch die etwas hervorgebracht wird, was nicht von selbst entstanden wäre. Als
Beispiele dafür führt er die Anfertigung eines Hauses oder einer Opferschale an.40
Aber auch die moderne Technik ist für Heidegger eine Weise dieses Entbergens.
Der Unterschied zum „Her-vor-bringen“ füherer Zeiten liegt in der Gewaltsamkeit,
in der das Entbergen geschieht. Heidegger spricht in bezug auf die moderne
Variante von einer „Herausforderung“, so daß das Entborgene nur mehr den Status
eines austauschbaren „Bestandes“ besitzt, jedoch nicht mehr als „Gegenstand“ dem
Menschen in einer gewissen Unverfügbarkeit „gegenüber“ steht.41 Diesen herausfordernden Anspruch nennt Heidegger bekanntlich „Ge-stell“.42
Das heißt, auch in diesen Bestimmungen Heideggers ist das schon angesprochene
Konzept von „Selbigkeit“ zu finden: Einerseits besteht das Verbindende zwischen
den „seinsgeschicklichen“ Epochen im Charakter ihres Entbergens; ob es sich um
eine Opferschale oder ein Kernkraftwerk handelt, beide Hervorbringungen sind
Weisen der tšcnh. Andererseits findet sich eine größte Differenz zwischen den
Epochen, insofern Heidegger zufolge die frühe Art des Entbergens noch „fügsam“
39
40
41
42
VA, 38.
VA, 17. Vgl. zu Heideggers Verständnis von po…hsij: GA 50, 112 ff.
Ebd., 20.
Ebd., 23.
10
war, ohne die Gewalt und die Vernutzung des modernen „kosmophagischen“ Verhaltens.43
Auch die griechische Kunst war eine solche tšcnh: Im Zitat hieß es, sie sei „ein
einziges, vielfältiges Entbergen“ gewesen. Vor dem Hintergrund wird deutlich, was
Heidegger mit „fromm“ meint: „fügsam dem Walten und Verwahren der Wahrheit“.
Gerade diese Frömmigkeit bzw. Fügsamkeit ist nun das Kriterium dafür, warum
Heidegger zu der Überzeugung gelangt, die griechische Kunst sei „in die höchste
Höhe“ des den Künsten gewährten Entbergens gelangt. Diese Ansicht der einzigarten Frömmigkeit der Griechen begegnete bereits in Heideggers seinsgeschichtlichem Entwurf. Nicht nur die Kunst, auch das Denken der Griechen hat, wie es
oben hieß, noch an das Geheimnis der 'Al»qeia gerührt;44 insofern war dieses
Entbergen, im Gegensatz zu dem späterer Epochen, noch „fügsam“ in bezug auf
den Erscheinungscharakter alles Anwesenden. Allerdings betont Heidegger auch in
diesem Zusammenhang, daß die Griechen in ihrem Kunstschaffen zwar an dieses
Geheimnis gerührt, es selbst aber nicht als Dimension der Offenbarkeit erfahren
haben:
„FÚsij und tšcnh gehören auf eine geheimnisvolle Weise zusammen. Aber das Element, worin
fÚsij und tšcnh zusammengehören, und der Bereich, auf den sich die Kunst einlassen muß, um
als Kunst das zu werden, was sie ist, blieb verborgen.“45
Ein weiterer Aspekt der griechischen Frömmigkeit kommt in Heideggers Vortrag
Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens zum Ausdruck. Zunächst geht es
Heidegger hier wie schon im Technikaufsatz darum, „in den Bereich zu blicken, der
vor aller Kunst schon waltet und der Kunst erst das ihr Eigene gewährt.“46 Auch in
dem Vortrag von 1967 wird die griechische Kunst als tšcnh bezeichnet, als ein
„Wissen“, das Heidegger vom „Machen“ und „Verfertigen“ abgrenzt.47 Über die
Bestimmungen des Technikaufsatzes hinaus geht Heidegger, wenn er betont, daß für
die Art des Entergens der griechischen Kunst eine einzigartige Gegenwart der
Götter maßgeblich war. So sieht er in seinem Vortrag die Göttin Athene in einer
Leitfunktion für die Kunst in Hellas: Sie walte überall da, wo etwas ins Werk
gebracht werde. Weil die Künstler sich in ihrem Tun an Rat und Weisung der Göttin
Ein Ausdruck des afrikanischen Anthropologen Harris Memel-Fote; zit. in: Carlo Maria
Martini/Umberto Eco, Woran glaubt, wer nicht glaubt? München 1998, 39.
44 „Schon im frühen Griechentum haben Dichter und Denker an dieses Geheimnis gerührt“ (DE,
139). Vgl. weiterhin zur Bedeutung der 'Al»qeia in bezug auf die griechische Kunst die Aufzeichnungen von Heideggers erster Reise nach Griechenland (GA 75, 232 ff.).
45 DE, 139. Vgl. auch GA 75, 232.
46 DE, 136.
47 Ebd., 137.
43
11
halten, kommt die fÚsij im Werk zum Scheinen. Zu dieser von Athene gewährten
„Erleuchtung“ heißt es:
„Weil die Kunst als tšcnh in einem Wissen beruht, weil solches Wissen vorblickt in das Gestaltweisende, Maß-gebende, aber noch Unsichtbare, das erst in die Sichtbarkeit und Vernehmbarkeit
des Werkes gebracht werden soll, deshalb bedarf ein solches Vorblicken in das bislang noch nicht
Gesichtete auf eine ausgezeichnete Weise der Sicht und der Helle.“48
Heidegger versteht die Kunst der Griechen ganz aus dem Bezug der Künstler zu den
ihnen „Helle“ schenkenden Göttern. Im Technikaufsatz hieß es in dem oben
angeführten Zitat, die griechische Kunst habe die „Gegenwart der Götter“, die
„Zwiesprache des göttlichen und menschlichen Geschickes zum Leuchten“ gebracht.49 Anläßlich seiner ersten Griechenlandreise fragt Heidegger, ob ein im
Museum in Olympia aufgestelltes Giebelfeld „nicht als Weihegabe dem Blick des
unsichtbaren Gottes“ galt.50 Diese „Zwiesprache“ zwischen Göttern und Menschen
sei einzig in der griechischen Kunst gewesen; deshalb ist der von den Griechen
gestiftete Anfang „das Größte“:
„Nur hier in Hellas, wo das Ganze der Welt sich als die fÚsij dem Menschen zugesprochen hat
und ihn in ihren Anspruch nahm, konnte und mußte menschliches Vernehmen und Tun diesem
Anspruch entsprechen, sobald es davon bedrängt war, selbst, aus eigenem Vermögen, solches in
die Anwesenheit zu bringen, was als Werk eine bis dahin noch nicht erschienene Welt erscheinen
lassen sollte.“51
In diesem Wechselverhältnis zwischen dem Anspruch der fÚsij und dem eigenem
Entsprechen des Künstlers gründet Heidegger zufolge die Größe des griechischen
Anfangs im Hinblick auf die Kunst.
Dies muß man sich in aller Deutlichkeit vor Augen halten, um die Zäsur zu verstehen, die die griechische Kunst für Heidegger von allen nachfolgenden Epochen
abgrenzt. So heißt es in dem Athener Vortrag nach den Schilderungen des einzigartigen Anfangs der Griechen jäh: „Und heute? Die alten Götter sind entflohen.“52
Ebd., 137.
Dieser als „Erleuchtung“ verstandene Bezug zum Göttlichen in der griechischen Kunst kam
schon in aller Deutlichkeit im Kunstwerkaufsatz zum Ausdruck. Dort hieß bei der Beschreibung
des griechischen Tempels: „Das Bauwerk umschließt die Gestalt des Gottes und läßt sie in dieser
Verbergung durch die offene Säulenhalle hinausstehen in den heiligen Bezirk. Durch den Tempel
west der Gott im Tempel an. Dieses Anwesen des Gottes ist in sich die Ausbreitung und
Ausgrenzung des Bezirkes als eines heiligen“ (GA 5, 27 f.).
50 GA 75, 223.
51 DE, 138 f.
52 Ebd., 140. Dies ist auch schon im Kunstwerkaufsatz zu sehen: „Der Tempel gibt in seinem
Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst. Diese
48
49
12
Grundsätzlich ist festzuhalten: Dieses Motiv der Götterflucht, das Heidegger seit der
Beschäftigung mit Hölderlin auf seinem Denkweg begleitet hat,53 ist gewissermaßen
die Linse, durch die er vor dem Hintergrund der modernen „Kunstlosigkeit“ die
noch fügsame und fromme Kunst der Griechen betrachtet. Auch hier muß man
wieder betonen: Diese Rückschau beschreibt keinen verklärten Romantizismus: Die
Welt der griechischen Werke ist zwar für Heidegger historisch „vergangen“,
trotzdem „bleibt sie immer noch und wird sie immer neu Gegenwart“;54 und zwar
für denjenigen, der den Anfang der Griechen aus seinsgeschichtlicher Perspektive
betrachtet.
Heideggers Aufzeichnungen anläßlich seiner Reisen nach Griechenland dokumentieren dieses schwierige Gegenwärtigwerden der griechischen Kunst in einem
für Heidegger gottlosen und technikbeherrschten Zeitalter. Bezeichnend sind schon
die Leitworte aus Hölderlins Hymne Brot und Wein, die Heidegger an den Anfang
seiner Reisenotizen stellt:55
„Aber die Thronen, wo? die Tempel, und wo die Gefäße,
Wo mit Nectar gefüllt, Göttern zu Lust der Gesang?
Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche?
Delphi schlummert und wo tönet das große Geschick?“
Dieses „Wo?“ begleitet Heideggers Suche nach dem Eigenen der griechischen Kunst
ohne Unterlaß bei seinen Begegnungen mit den Überbleibseln aus dieser Zeit.
Odysseehaft seine Suche auf den verschiedenen Inseln: „Immer neu regt sich die
Frage: wo sollen wir dies Eigenste suchen?“ Statt auf mit Nektar gefüllte Gefäße
trifft Heidegger, wo er auch hinkommt, auf „amerikanische Touristenhotels“,
„schmucklose Dörfer“, „geschmacklose Neubauten“, „überall photographierende
Leute“, kurz gefaßt: auf „Machenschaft des Industriezeitalters“. Selten nur, in
kurzen Augenblicken, gelingt es, die Größe der damaligen Welt zu ahnen, „den
Sicht bleibt so lange offen, als das Werk ein Werk ist, so lange als der Gott nicht aus ihm geflohen“
(GA 5, 29).
53 Vgl. DE, 140.
54 Ebd., 135.  Vgl. dazu die kritische Anfrage von Otto Pöggeler, „an welchem Ort der
griechischen Geschichte dieser Anfang überhaupt anzusiedeln ist. (. . .) Gibt es überhaupt ein
Einfaches und Anfängliches in dieser Geschichte, an das man sich halten kann und das auch uns
noch Orientierung gibt?“ (Otto Pöggeler, Wächst das Rettende auch? Heideggers letzte Wege, in:
Kunst und Technik s. Anm. X, 18 f.). In Heideggers Sinne müßte man wohl entgegnen, daß diese
Kritik historisch, aber nicht (seins)geschichtlich denkt. Allerdings setzt diese Replik eine Klärung
des problematischen Bezugs von historischem und geschichtlichem Denkem voraus.
55 Vgl. GA 75, 215.
13
gesuchten Einblick in das Eigene der griechischen Welt“ zu erfahren. Heideggers
Resümee seiner Reisen:
„Das Griechische blieb ein Erwartetes, aus der Dichtung der Alten Geahntes, durch Hölderlins
Elegien und Hymnen Genahtes, auf langen eigenen Denkwegen Gedachtes.“56
Dieses Erwartete, einen Anklang an die Frömmigkeit der griechischen Kunst zu
erfahren, blieb Heidegger im großen und ganzen verwehrt. Angesichts seiner von
Hölderlin und Nietzsche beeinflussten Diagnose der Neuzeit ist das nicht
erstaunlich: Die Welt der griechischen Götter, aber auch die Welt des christlichen
Gottes ist für Heidegger eine „gewesene“.57 Zwar mögen einzelne noch eine solche
Erfahrung für sich reklamieren, trotzdem fehlt ihr nach der Erschöpfung der
metaphysischen Deutungsmöglichkeiten der tragende Grund; der Bereich des
Göttlichen und des Heiligen ist in der Neuzeit verwaist.58
Wichtig ist nun im Hinblick auf die Spannung zwischen griechischer und
moderner Kunst: Diese Gottlosigkeit des gegenwärtigen Zeitalters ist in eins auch
eine Weltlosigkeit, in der der neuzeitliche Mensch für Heidegger lebt. So heißt es:
„Solange der Mensch gott-los ist, muß er auch welt-los sein.“59 Daraus wird deutlich,
daß es der modernen Kunst gar nicht gelingen kann, was die griechische noch
vermochte, was in enger Verbindung zwischen Göttern und Menschen  wie es
oben hieß  „nur hier in Hellas“ möglich war: eine neue, „bis dahin noch nicht
erschienene Welt erscheinen zu lassen“. Dies wird im folgenden noch deutlicher.
2. Die griechische Kunst entstammte nicht dem Artistischen
Auffallend ist, daß von den vier Eigenschaften, die Heidegger in seinem Kunstwerkaufsatz der griechischen Kunst zusprach, drei negativen Charakter besitzen: Sie
bestimmen, was diese Kunst ist, indem sie sagen, was sie nicht ist. Nachdem der
erste, affirmative Punkt, die Frömmigkeit der griechischen Kunst, geklärt wurde, gilt
es nun die Spannung herauszuarbeiten, die zwischen ihr und der Kunst der Moderne
besteht.
GA 75, 224.
Vgl. Irlenborn, Der Ingrimm des Aufruhrs. Heidegger und das Problem des Bösen (s. Anm. X), 27-45.
58 Vgl. WM, 335 f.  Vgl. dazu die Ausführungen von Günter Figal, Heidegger zu Einführung,
Hamburg 31999, 135: „Daß die Götter gewesen sind, heißt nicht, daß es sie zu einer historisch
bestimmbaren Zeit einmal gegeben hat, sondern daß man sich noch nicht einmal atheistisch
verstehen kann, ohne von ihnen zu sprechen; die Rede von den Göttern bildet ein integrales
Moment des Selbstverstehens auch dann, wenn man nicht mehr an sie glaubt.“
59 GA 50, 115.
56
57
14
Im Athener Vortrag heißt es, der griechische Künstler, der tecn…thj, sei von
einem Verstehen, einem Wissen geleitet, der tšcnh. Was ist maßgeblich für diese Art
des künstlerischen Wissens? Wie oben schon dargestellt, impliziert es einerseits eine
Orientierung an dem Rat der Götter; es schöpft nicht aus sich selbst, sondern ist 
in Heideggers Beispiel  geleitet von der auf die fÚsij hinweisenden Athene.
Andererseits ist sein Entsprechen auf diesen Anspruch nicht ein handwerkliches
„Machen“ und „Verfertigen“: „Wissen aber heißt: Jenes zuvor im Blick haben,
worauf es im Hervorbringen eines Gebildes und Werkes ankommt.“60 Dieses
zirkelhafte Verhältnis zwischen Anspruch und Entsprechen ist für Heidegger
entscheidend für das Schaffen des griechischen Künstlers. Dabei kommt es gerade
nicht auf seine Leistung an, auf das Großartige des Werkes, das auf ihn als seinen
Urheber zurückverweist. Schon im Kunstwerkaufsatz heißt es dazu:
„Das Geschaffene soll nicht als Leistung eines Könners bezeugt und dadurch der Leistende in das
öffentliche Ansehen gehoben werden. Nicht das N.N. fecit soll bekanntgegeben, sondern das
einfache ‘factum est’ soll ins Offene gehalten werden (. . .). Dort, wo der Künstler und der Vorgang
und die Umstände der Entstehung des Werkes unbekannt bleiben, tritt . . . dieses ‘Daß’ des
Geschaffenseins am reinsten aus dem Werk hervor.“61
Das Sich-Zurücknehmen des Künstlers gegenüber der Selbständigkeit des Geschaffenen ist für Heidegger ein Kennzeichen der „großen Kunst“. Im Zusammenhang
mit der These aus dem Technikaufsatz, daß die Kunst in Griechenland in die
„höchste Höhe“ des ihr gewährten Entbergens gelangt sei, ist die Heideggersche
Hervorhebung des „N.N. fecit“ nicht erstaunlich:62 „Gerade in der großen Kunst . . .
bleibt der Künstler gegenüber dem Werk etwas Gleichgültiges, fast wie ein im
Schaffen sich selbst vernichtender Durchgang für den Hervorgang des Werkes.“63
Diese Eigenschaft der griechischen Kunst grenzt Heidegger radikal ab von der
neuzeitlichen Genieästhetik und allen Vorstellungen des Artistischen, das sich im
Künstlers vereine. Die Kunst der Griechen entstammt nicht dem Artistischen, weil
dieses allein das künstlerische Können als Maßgabe und Quelle des Werkes erachtet.
DE, 137.
GA 5, 52 f.
62 Allerdings findet sich schon bei Aristoteles folgender Hinweis, der Vorbehalte weckt gegen die
von Heidegger herausgestellte „Selbstlosigkeit“ griechischer Künstler: „Dasselbe gibt es auch bei
den Künstlern. Denn jeder liebt sein eigenes Werk mehr, als dieses ihn lieben würde, wenn es eine
Seele bekäme. Am meisten geschieht dies wohl bei den Dichtern. Denn diese lieben ihre
Dichtungen über alle Maßen, so wie sie ihre Kinder lieben würden“, in: Nikomachische Ethik IX 7,
1167b 33-35 (hg. und übers. von Olof Gigon. München 1972, 268).
63 Ebd., 26. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß bereits die frühromanische Kunst mit dem
„N.N. fecit“ gebrochen hat; am berühmten Tympanon des Hauptportals der Kathedrale SaintLazare in Autun steht die Signatur des Künstlers: „Gislebertus hoc fecit“.
60
61
15
Für Heidegger vermittelte dagegen das vom griechischen tecn…thj hervorgebrachte
Werk vom Anspruch her „nicht ein Neues“, sondern „das immer Ältere des Alten“,
also das, was oben als fÚsij beschrieben worden war. In der griechischen Kunst
finde sich „nichts von der ‘Aktion’ des schöpferischen Geistes, aber auch nichts von
der ‘Passion’ eines berauschten Überfallenwerdens“.64
In Heideggers seinsgeschichtlichem Konzept ist der Geniekult des 18. und 19.
Jahrhunderts ein bezeichender Ausdruck neuzeitlicher Anthropologie, nach der der
Mensch sich als subiectum, als „Bezugsmitte des Seienden als solchen“ versteht.65
„Subjektivität“ bedeutet für Heidegger in diesem Kontext: der Mensch stellt sich
ausschließlich auf sich selbst.66 Bezogen auf den Bereich der Kunst und die Genieästhetik bedeutet das eine „Subjektivierung“ der Kunst mit dem primären Fokus auf
das Schöpferische des Künstlers und das Artistische seiner Leistung. Dazu heißt es
in den Beiträgen zur Philosophie: „Neuzeitliche Auffasung des Herausstellens der
Tätigkeit, das Leistungshafte des Werkes, ‘Genie’, und entsprechend ‘Werk’ als Leistung.“67 Diese Betonung des Leistungshaften ist Heidegger zufolge eine radikale
Verengung des Wechselspiels von Anspruch und Entsprechen, von fÚsij und
tšcnh, das noch die Kunst der Griechen prägte. Zugespitzt könnte man sagen:
Spätestens im ausgeprägten Geniekult des 19. Jahrhunderts wird die Frömmigkeit
des Künstlers zur Selbstanbetung, zur Apotheose seiner Leistung.68 Dadurch verliert
sich das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen im Kunstwerk, denn das „factum est“,
der Anstoß der vom Werk und seiner Entbergung ausgeht, schrumpft zum „N.N.
fecit“ und dessen subjektiver Leistung.
Kant nannte das Genie in seiner Kritik der Urteilskraft bekanntlich einen
„Günstling der Natur“, gleichwohl betonte er, daß dieser Günstling selbst nicht
wisse, welchem „genius“ er sein Genie verdanke.69 Auch wenn diese Art des Verdankens in Heideggers Sinne bereits eine Tendenz zur Subjektivierung impliziert, so
nimmt Kant damit noch, wie Hans Georg Gadamer betont hat, eine „vermittelnde
Stellung“ ein:70 „Mit dem Schwinden dieses Horizontes mußte eine solche
Grundlegung der Ästhetik zu einer radikalen Subjektivierung führen, in Fortbildung
Vgl. auch zum vorigen Zitat GA 50, 113.
GA 5, 88.
66 Vgl. DE, 144.
67 GA 65, 507.
68 Vgl. dazu Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie
und Politik 1750-1945. Darmstadt 21988.
69 Kritik der Urteilskraft § 38 (hg. von Karl Vorländer. Hamburg 71990, 161).
70 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Tübingen 61990, 63.
64
65
16
der Lehre von der Regellosigkeit des Genies.“71 Heideggers Kritik an dieser Subjektivierung steht in engem Zusammenhang mit seiner Kritik an der Ästhetik. Geht es
jener um den Künstler und das Hochschätzen seiner eigenen Leistung, so betrifft
diese die spezifische Art der Rezeption der Kunst in ihrer Epoche: Die Stilisierung
des Künstlers steht in Wechselwirkung mit der ästhetischen Betrachtung und dem
Genießen des Werkes. Auch darin unterscheidet sich die Kunst der Griechen von
der der Neuzeit.
3. Die griechische Kunst wurde nicht ästhetisch genossen
Heideggers Kritik der Ästhetik wurde in der Literatur schon eingehend untersucht,72
insofern kann man sich hier auf einige wesentliche Punkte beschränken.
Unter „Ästhetik“ versteht Heidegger eine Erfahrungsweise der Kunst, für die
nicht mehr der ursprüngliche Wahrheitsanspruch des Kunstwerkes, sondern die
Empfindung des Künstlers und des Betrachters seiner Werke maßgeblich ist.
Heidegger spricht hier von einem „fühlenden Verhältnis zur Kunst“, das „des
Erzeugens oder das des Genießens und des Empfangens.“73 Insofern verschränkt
sich Heideggers Kritik des Artistischen mit der der Ästhetik: Das fühlende Verhältnis zur Kunst betrifft den schöpferischen Künstler und den genießenden Betrachter
gleichermaßen.74 Entscheidend ist dabei, daß durch dieses Verhältnis das Kunstwerk
als Objekt verstanden und einem Subjekt entgegengestellt wird:
Ders., Die Wahrheit des Kunstwerks, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3. Tübingen 1987, 254.
Weiterhin heißt es da: „Die Kunst, die nicht mehr auf das umfassende Ganze der Seinsordung
zurückbezogen ist, wird der Wirklichkeit, der rauhen Prosa des Lebens, entgegengesetzt, der in
ihrem ästhetischen Reiche die Versöhnung von Idee und Wirklichkeit gelingt.“
72 Vgl. dazu insbesondere: Faden, Der Schein der Kunst (s. Anm. X); Peter Trawny, Über die
ontologische Differenz in der Kunst. Ein Rekonstruktionsversuch der „Überwindung der Aestethik“ bei Martin Heidegger, in: Heidegger-Studies 10 (1994), 207 ff.; Seubold, Kunst als Enteignis (s.
Anm. X), 26 ff.; weitere Literaturangaben bei von Herrmann, Heideggers Philosophie der Kunst (s. Anm.
X), 24.
73 GA 43, 90.
74 So heißt es auch: „Das Erlebnis ist nicht nur für den Kunstgenuß, sondern ebenso für das
Kunstschaffen die maßgebende Quelle“ (GA 5, 67). Hans Georg Gadamer spricht in diesem
Zusammenhang von „Erlebniskunst“: „Erlebniskunst meint offenbar ursprünglich, daß die Kunst
aus dem Erlebnis stammt und Ausdruck des Erlebnisses ist. In einem abgeleiteten Sinne wird der
Begriff der Erlebniskunst dann aber auch für solche Kunst gebraucht, die für das ästhetische
Erlebnis bestimmt ist. Beides hängt offenbar zusammen“ (Wahrheit und Methode s. Anm. X, 76).
Als Beispiel zitiert Gadamer eine Äußerung Goethes (ebd., 68): „Fragt Euch nur bei jedem
Gedicht, ob es ein Erlebtes enthalte“.
71
17
„Die Ästhetik nimmt das Kunstwerk als einen Gegenstand und zwar als den Gegenstand der
a‡sqhsij, des sinnlichen Vernehmens im weiten Sinne. Heute nennt man dieses Vernehmen das
Erleben.“75
Diese Ästhetisierung der Kunst und der damit einhergehende vergegenständlichende
Bezug zu ihren Werken steht im Kontext von Heideggers Kritik an der Metaphysik.
Denn in dem ästhetischen Verhältnis zum Kunstwerk zeigt sich eine bestimmte
Auffassung des Seienden: Das Werk ist ein Seiendes, das als Objekt aus der Subjektivität eines sinnlichen Vernehmens zu verstehen ist. So heißt es in den Beiträgen
zur Philosophie:
„Die Überwindung der Aesthetik wiederum ergibt sich als notwendig aus der geschichtlichen
Auseinandersetzung mit der Metaphysik als solcher. Diese enthält die abendländische Grundstellung zum Seienden und somit auch den Grund zum bisherigen Wesen der abendländischen
Kunst und ihrer Werke.“76
Mit dem Ende der Metaphysik, d. h. der Erschöpfung ihrer Potentiale, scheint für
Heidegger auch die ästhetisch verstandene Kunst zu Ende zu gehen: Die „Kunstlosigkeit“ der Moderne wäre dann ein Ausdruck der sich vollendenden Metaphysik.
Heideggers Besinungen zur Kunst thematisieren immer wieder diesen Gedanken:
Da, wo die Kunst als Erlebnis verstanden wird, ist sie an ein Ende gekommen, sind
ihre schöpferischen Potentiale im Hinblick auf das sich in ihnen entbergende
Wahrheitsgeschehen nicht mehr vorhanden.77 Dies gilt aus Heideggers Sicht für
einen Großteil der modernen Kunst; jedoch gibt es ihm zufolge  wie sich im dritten
Teil zeigen wird  auch Ausnahmen, d. h. moderne Kunst, die nicht ästhetisch
verstanden werden darf.
In der Vorlesung Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst von 1936/37 setzt sich
Heidegger intensiv mit dem Wesen der Ästhetik und ihrem Bezug zur abendländischen Geschichte der Kunst auseinander.78 Ausgangspunkt ist dabei für ihn,
daß die große griechische Kunst ohne eine „denkerisch-begriffliche Besinnung auf
sie“ blieb.79 Dies ist in Heideggers Sinne keineswegs ein Mangel, sondern im
Gegenteil ein Anzeichen ihrer ursprünglichen „Frömmigkeit“ und „Fügsamkeit“.
Heidegger betont, daß die Griechen „zum Glück keine Erlebnisse“ und damit kein
fühlendes Verhältnis zu ihren Werken hatten. Insofern geht es gleichsam um einen
GA 5, 67. Vgl. zu Heideggers Kritik am „Erlebnis“: GA 65, 127-135.
GA 65, 503 f.
77 Vgl. z. B. GA 5, 67; GA 66, 31 f.; vgl. auch Heideggers Aufzeichnung aus dem Nachlaß
„Technik und Kunst  Ge-stell“, in: Technik und Kunst (s. Anm. X), XIII-XIV.
78 GA 43, 93-108.
79 Ebd., 93.
75
76
18
Zustand vor der Entstehung der Ästhetik, die für Heidegger erst mit dem Ende der
großen Kunst, im Zeitalter Platons und Aristoteles, aufgekommen ist. Deren Philosophie war Heidegger zufolge maßgeblich für die Entwicklung der Ästhetik: Insbesondere das Begriffspaar Ûlh-morf», übersetzt materia-forma, Stoff-Form, bildet
fortan eine ästhetische Grundkategorie schlechthin; die Materie gilt als das „passive
Substrat“, dem der Schaffende die entsprechende Form verleiht.80 Das heißt, als
Disziplin mag die Ästhetik erst im 18. Jahrhundert entstanden sein, in ihrer
begrifflichen Grundlegung wurzelt sie für Heidegger bei Platon und Aristoteles. In
der Neuzeit schließlich wird die Kunst zu einer „Kulturerscheinung“: Wo das
Kunstwerk als Gegenstand begriffen wird, wird es „ausstellungs- und museumsfähig“.81 Dadurch ergibt sich ein weiteres Kennzeichen, das ausdrücklich nicht für
die griechische, wohl aber für die moderne Kunst gilt: Sie ist integriert in den
Kulturbetrieb.
4. Die griechische Kunst war nicht Sektor eines Kunstschaffens
Die Vergegenständlichung der Kunstwerke macht diese zu Objekten in Ausstellungen. Schon im Kunstwerkaufsatz heißt es:
„So stehen und hängen denn die Werke selbst in den Sammlungen und Ausstellungen. Aber sind
sie hier an sich als die Werke, die sie selbst sind, oder sind sie hier nicht eher als die Gegenstände
des Kunstbetriebes? Die Werke werden dem öffentlichen und vereinzelten Kunstgenuß zugänglich
gemacht. Amtliche Stellen übernehmen die Pflege und Erhaltung der Werke. (. . .) Der Kunsthandel sorgt für den Markt.“82
Es ist unverkennbar, daß dieser „Kulturbetrieb“ in engem Zusammenhang steht mit
den beiden vorher behandelten Eigenschaften der modernen Kunst. Auch wenn die
Kunst sich für Heidegger in einer Epoche der „Kunstlosigkeit“, des Verlustes ihrer
Wesensmöglichkeiten befindet, bleiben ihr nach außen hin noch zahlreiche
Aufgaben: Die Kunst übernimmt in der technisch und ökonomisch geprägten Zeit
die kompensative Funktion, einen „Genuß“ zu vermitteln, „Affekte“ zu entfesseln
und einen „Gefühlsrausch“ zu bewirken.83 Ein eigener, kulturpolitisch bestimmter
„Sektor“ hat sich dadurch gebildet, der für die Ausstellung und Vermarktung der
Kunstwerke zuständig. Ähnlich wie Horkheimer/Adorno Mitte des letzten Jahrhunderts in ihrer Dialektik der Aufklärung von einer durch „technische Rationalität“
80
81
82
83
Faden, Der Schein der Kunst (s. Anm. X), 41.
Unterwegs zur Sprache weiterhin: USpr. Pfullingen 91990, 139.
GA 5, 26.
Vgl. dazu GA 39, 5; N I, 105; GA 66, 36 f.
19
geprägten „Kulturindustrie“ sprechen,84 die die „denkende Aktivität“ in bezug auf
das Kunst-werk geradezu verbiete, setzt Heidegger der Genußattitude des im
„Kulturbetriebs“ verhafteten Kunst-Rezipienten die denkende Besinnung gegenüber, die außerhalb aller Ästhetik und Kunsttheorie stehe.85
Man muß sich prinzipiell darüber im klaren sein, daß diese Äußerungen
Heideggers weniger eine Kritik als vielmehr eine Diagnose darstellen, denn der
„Kunstbetrieb“ hat in der Industriegesellschaft für ihn durchaus eine „legitime
Begründung“.86 Diese Legitimität weist wiederum hin auf den größeren Kontext, in
dem Heideggers Kunstdenken steht: auf sein Konzept der Metaphysikgeschichte.
Daß die modernen Kunstwerke in der Industriegesellschaft Elemente eines „Kulturbetriebs“ sind, ist gemäß diesem Konzept im Grunde nicht erstaunlich, sondern
höchst konsequent. Genauso ist offensichtlich, daß im Zusammenhang von
Heideggers seinsgeschichtlichem Denken die Kunst der Griechen gerade nicht
„Sektor eines Kulturschaffens“ sein konnte.
Wesentlich dafür ist die oben besprochene Frömmigkeit der Griechen und ihrer
Kunst, wozu hier noch zwei Aspekte zu ergänzen sind: Zum einen entspringt diese
Kunst aus den „prägenden Grenzen einer Welt des Volkhaften“,87 zum anderen sind
ihre Werke einem bestimmten Ort notwendig zugehörig. Kontrastierend dazu
spricht Heidegger von der „Universalität der Weltzivilisation“ als Entstehungsbedingung moderner Kunst und, damit verbunden, von der Ortlosigkeit ihrer
Werke.88 Ein Kunstwerk, das von seinem ursprünglichen Ort entfernt wurde, „irrt
. . . in der Fremde“: „Das museale Vorstellen ebnet alles ein in das gleichförmige der
‚Ausstellung’. In dieser gibt es nur Stellen, keine Orte.“89 Dagegen können Kunstwerke der Griechen zwar heute in Museen betrachtet werden, sie sind jedoch nicht
„museumsfähig“ in dem Sinne, daß ihr Wahrheitsanspruch davon unberührt bliebe.
Wie Heidegger im Kunstwerkaufsatz exemplarisch am griechischen Tempel gezeigt
hat, gehören sie an einen bestimmten Ort.
Insofern wäre in Heideggers Sinne die Ortlosigkeit heutiger Werke ein bezeichnender Ausdruck für die „Heimatlosigkeit“ und Entwurzelung des in der Moderne
lebenden Menschen. Die Welt der griechischen Kunst ist zerfallen und es wäre naiv,
Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt 1988, 128 ff,
134.
85 GA 66, 36.
86 DE, 146. An einer anderen Stelle heißt es, daß das museale Vorstellen „seine eigene geschichtliche Notwendigkeit und sein Recht“ besitzt (ebd., 70).
87 Ebd., 140.
88 Ebd., 140.
89 Ebd., 70.
84
20
dies zu betrauern. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Griechischen geschah
nicht  wie es zu Anfang hieß  um der Griechen willen; es ging im Hinblick auf die
Kunst um das ihr geschichtlich mögliche Entbergungsgeschehen. Die Untersuchung
zeigte, daß für Heidegger dieses Hervorbringen der Kunst bei den Griechen einen
danach nie wieder erlangten Höhepunkt eingenommen hatte und schließlich, am
Ende der Metaphysik, in eine Epoche der Kunstlosigkeit mündet, bei der zweifelhaft
ist, ob die Werke noch Werke sind.
Daß damit keine reine Verfallsgeschichte beschrieben werden sollte, hat Heidegger immer wieder betont. Ein entscheidendes Indiz dafür ist seine Betonung, daß die
Kunst auch heute noch da, wo sie nicht in die Ästhetik und den Amüsierbetrieb
verstrickt ist, eine wegweisende Bedeutung haben könne für einen Ausweg aus dem
Zeitalter der Technik und des Nihilismus. Eine solche künstlerische Besinnung, die
das ursprüngliche Zeigen der Griechen aufgenommen und weitergeführt hat, hat
Heidegger in Cézanne gefunden.
III. Ausblick: Die Provence als Erbe Griechenlands?
Im Nachwort zum Kunstwerkaufsatz heißt es, daß das Erlebnis das Element sei, in
dem die Kunst heute möglicherweise sterben könnte. In einer Anmerkung dazu aus
Heideggers späten Jahren wird diese Äußerung präzisiert: „Das wäre nur der Fall,
wenn das Erlebnis das Element schlechthin für die Kunst bliebe.“90 Das bedeutet,
auch die heutige Kunst muß Heidegger zufolge nicht notwendig von dieser
Erlebnisdimension bestimmt sein. In einem Brief aus dem Jahre 1961 heißt es dazu:
„Zwar wird die Kunst heute mehr und mehr im Kulturbetrieb der modernen Industriegesellschaft
wie ein Bestandstück des Nutzbaren verbraucht. Gleichwohl bleibt die Frage, ob nicht gerade die
Kunst heute noch am ehesten bestimmt sein könnte, die Auseinandersetzung mit der technischen
Welt . . . aufzunehmen und einzuleiten.“91
Diese Erkenntnis findet sich noch nicht im Kunstwerkaufsatz; sie ist Heidegger erst
in der Begegnung mit modernen Kunstwerken aufgegangen, die sich nicht einfach
der Epoche der „Kunstlosigkeit“ und ihrer „Seinsver-gessenheit“ zuordnen lassen.
Thesenhaft kann man hier festhalten: Insbesondere die Begegnung mit der Kunst
Cézannes hat Heidegger diese Einsicht vermittelt. Weiterhin kann man behaupten,
daß der späte Heidegger in der Kunst Cézannes das gefunden hat, was die Griechen
90
91
GA 5, 67.
GA 16, 583; ähnlich schon in VA, 39 f.
21
 wie er sagt  zwar erblickt, jedoch nicht eigens bedacht haben: das Sein als
Geschehen der Entbergung und Verbergung.92 In einer Aufzeichnung Heideggers zu
Anfang der siebziger Jahre heißt es:93
„Im Spätwerk des Malers ist die Zwiefalt
von Anwesendem und Anwesenheit einfältig
geworden, ‚realisiert’ und verwunden zugleich,
verwandelt in eine geheimnisvolle Identität.“
Zusammengefaßt bedeutet das: In Cézannes Werk ist die metaphysische Differenz
zwischen Seiendem und Sein, zwischen „Anwesendem und Anwesenheit“ überwunden.94 In dessen Malerei geht es Heidegger zufolge nicht mehr um die
Darstellung von Anwesendem in seiner Anwesenheit, d. h. ein Seiendes wird nicht
mehr im Hinblick auf eine epochenspezifische Bestimmung von Seiendheit 
beispielsweise als ens creatum im Mittelalter  verstanden, sondern als Geschehen
eines sich gebenden und darin immer auch entziehenden Seins.
Entscheidend ist nun, daß in Heideggers Entwurf genau diese Art des Entbergens
auch für die „fügsame“ Kunst der Griechen galt. Allerdings haben die Griechen, wie
schon des öfteren erwähnt, diese Differenz zwischen Anwesenheit und Anwesendem nur angerührt, nicht jedoch als solche gedacht oder gar verwandelt.95 Diese
„Zwiefalt“ ist erst in der Kunst Cézannes verwunden. Heidegger sagt bei einem
Vortrag in Aix-en-Provence zur Heimat des Künstlers:
„Ich liebe Aix, Bibemus, das Gebirge Sainte-Victoire. Ich habe hier den Weg Paul Cézanne’s gefunden, dem, von seinem Beginn bis zu seinem Ende, mein eigener Weg des Denkens in gewisser
Dies kann hier nicht ausführlich begründet werden; vgl. dazu Seubold, Kunst als Enteignis (s.
Anm. X), 103-118.
93 DE, 163.
94 In einer Nachlaß-Aufzeichung Heideggers heißt es dazu: „Was Cézanne la réalisation nennt, ist
das Erscheinen des Anwesenden in der Lichtung des Anwesens  so zwar, daß die Zwiefalt beider
verwunden ist in der Einfalt des reinen Scheinens seiner Bilder. Für das Denken ist dies die Frage
nach der Überwindung der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem“, in: Jahresgabe der
Martin-Heidegger-Gesellschaft 1991.
95 Vgl. nochmals den Passus in Holzwege, der dies in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt: „Die
Geschichte des Seins beginnt mit der Seinsvergessenheit, damit, daß das Sein mit seinem Wesen,
mit dem Unterschied zum Seienden, an sich hält. (. . .) Erst das Unterschiedene, das Anwesende
und das Anwesen, entbirgt sich, aber nicht als das Unterschiedene“ (GA 5, 364 f.).
92
22
Weise entspricht. Ich liebe dieses Land mit seiner Meeresküste, weil sich darin die Nähe von
Griechenland ankündigt.“96
Heidegger hat diesen Weg erst spät gefunden. Cézannes Kunst hatte ihn und damit
die Provence eröffnet, eine Landschaft, wo sich für Heidegger noch die Nähe der
griechischen Kunstwerke „ankündigt“, die er auf seinen Reisen nach Griechenland
nur mehr in Trümmern und in Museen gefunden hat.
GA 16, 551. Vgl. auch die Äußerung Petzets, Auf einen Stern zugehen (s. Anm. X), 174: „Eher
könnte man fast sagen, daß die Provence ihn erneut mit dem Griechischen in Verbindung gebracht
habe“.
96
23