Bionik, Biomimetik - Naturwissenschaftliche Rundschau
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Bionik, Biomimetik - Naturwissenschaftliche Rundschau
ÜBERSICHT. Thomas Speck, Freiburg, Christoph Neinhuis, Dresden Bionik, Biomimetik Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential An der Schnittstelle zwischen Biologie und Technik hat sich seit den 60er Jahren eine neue Wissenschaft etabliert, die an uralte Traditionen anknüpfen kann und mit Leonardo da Vinci, Galileo Galilei und D’Arcy Thompson berühmte Vorgänger hat. Heute befinden wir uns in der Phase der „High-Tech-Bionik“, zu der die Material- und Ingenieurwissenschaften, die Physik und die Biologie Entscheidendes beitragen. Anhand von Beispielen wird die Bandbreite aktueller bionischer Forschung vorgestellt. B ionik ist eine junge Wissenschaft an der Schnittstelle zwischen Biologie und Technik, die unsere Erkenntnisse über die funktionellen Leistungen der Organismen und das technologische Wissen zusammenführt. Die Grundidee ist, vom „Einfallsreichtum“ der Natur zu lernen und sie als Vorbild für die Technik zu nutzen. Bei der Bionik, einem Begriff, der 1960 erstmals auftauchte, steht das „Lernen der Technik von der Natur“ im Vordergrund. Daneben existiert aber auch eine andere Zielrichtung – nämlich biologische Strukturen und Leistungen aus einer ingenieurmäßigen Perspektive besser zu verstehen. Dies veranlasste Werner Nachtigall, den Nestor dieser Wissenschaft in Deutschland, zwischen Bionik und Technischer Biologie zu unterscheiden [1,2]. Im internationalen Sprachgebrauch wird hingegen zunehmend von „Biomimetik“ gesprochen (siehe Kasten). Mit dem Begriff „Bionik“ wurde bewusst gemacht, was intuitiv längst Praxis war: Erfindungen des Menschen wurden sicherlich von Anfang an durch die Natur angeregt. Vom Beginn des ersten Werkzeuggebrauchs in der Altsteinzeit durch frühe Vertreter der Gattung Homo (H. rudolfensis, H. habilis) vor über 2 Millionen Jahren bis zum Einsetzen der technischen Evolution vor ca. 10 000 Jahren lebten die Menschen in starker Abhängigkeit von ihrer Umwelt. Während dieser Phase nutzten die Menschen wenig veränderte und prozesstechnisch kaum bearbeitete natürliche Materialien und Strukturen wie Stein, Holz, Knochen, Geweihe und Zähne. Dieser Zeitraum kann als eine Phase der „Low-Tech-Bionik“ bezeichnet werden. Mit den verbesserten Bearbeitungs- und Produktionsmethoden, die den Beginn des technischen Zeitalters charakterisieren, kam es zu einer immer stärkeren Abkoppelung technischer Entwicklungen von der Natur. Gerade Linien und Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 a b Abb. 1. Wiesenbocksbart (Tragopogon pratensis) als Vorbild für die Konstruktion eines Fallschirms. – a. Makroaufnahme des Fruchtstandes. [Photo P. Leins]. – b. Skizzen von Sir G. Cayley. Aus [1] 177 Übersicht rechte Winkel begannen, die in der Natur vorherrschenden abgerundeten, gebogenen Strukturen abzulösen, da es durch sie einfacher wurde, bestimmte Gegenstände und Bauten mit gewünschten, möglichst identischen Eigenschaften herzustellen. Zudem ermöglichten sie es später, relativ einfache Berechnungen im Bau- und Konstruktionsbereich vorzunehmen. Anstelle der in der Natur weit verbreiteten flexiblen und weichen Gebilde schuf die Technik steife und starre Konstruktionen. Mit der Erfindung des Rades schließlich, das kein Vorbild in der Natur hatte (die Bakteriengeißel als rotierende Radstruktur wurde erst im 20. Jhdt. entdeckt), eröffneten sich nie dagewesene Möglichkeiten für die Fortbewegung und den Transport [3]. Ein entscheidender Technologiesprung war die Gewinnung und Nutzung von Metallen. Metalle, die in natürlichen Konstrukten fast nicht vorkommen, wurden aufgrund ihrer leichten Bearbeitbarkeit zu den wichtigsten technischen Materialien, die in der Bronzezeit (in Mitteleuropa ca. 2200– 800 v. Chr.) und Eisenzeit (ca. 800 v. Chr. bis Zeitenwende) die kulturelle und technische Entwicklung des Menschen wesentlich beeinflussten. In der Phase der Industrialisierung wurde die Kenntnis der Metallverarbeitung eine Schlüsseltechnologie für die Entwicklung von Dampfmaschinen und Verbrennungsmotoren, die bei hohen Temperaturen arbeiten. Auch dies war ein weiterer entscheidender Schritt einer „Emanzipation“ von der Natur, denn die hocheffizienten Energiegewinnungsprozesse der organismischen Welt laufen bei normaler Umgebungstemperatur ab. BIONIK, BIOMIMETIK, TECHNISCHE BIOLOGIE. Bionik, Biomimetik (zusammengesetzt aus „Biologie“ und „Technik“ bzw. „mimesis“ = Nachahmung): Umsetzung der Erkenntnisse aus der biologischen Forschung in technische Anwendungen. Der Begriff bionics wurde vermutlich 1960 von J. E. Steele geprägt, wobei bereits bei ihm das „Lernen der Technik von der Natur“ im Vordergrund stand. Der im internationalen Sprachgebrauch üblichere Begriff „Biomimetik“ (engl. biomimetics) entspricht im Wesentlichen dem deutschen Bionik (engl. bionics) und findet auch im deutschsprachigen Raum zunehmend Verbreitung. Bionik besteht in den seltensten Fällen darin, natürliche Funktionsstrukturen direkt in technische Konstruktionen zu übertragen. In aller Regel handelt es sich um ein über mehrere Abstraktions- und Modifikationsprozesse laufendes kreatives Umsetzen in die Technik, also um ein durch die Natur angeregtes „Neuerfinden“. Technische Biologie: Erforschung des Form-Struktur-FunktionsZusammenhangs lebender Organismen unter der Verwendung physikalischer und technischer Methoden. Dieser Begriff wurde von Werner Nachtigall als komplementärer Begriff zur Bionik eingeführt. Während es in der Bionik um einen (Erkenntnis-)Transfer von der Biologie in die Technik geht, findet in der Technischen Biologie ein (Methoden-)Transfer aus Physik und Technik in die biologische Forschung statt. Ursprünglich wurde anstelle von „Technischer Biologie“ teilweise auch der Begriff „Biotechnik“ verwendet. Dieser ist als „Biotechnologie“ heute jedoch eindeutig mit mikround molekularbiologischen sowie biochemischen Inhalten belegt und sollte nur noch in diesem Sinne verwendet werden. 178 Diese wenigen Meilensteine verdeutlichen, wie es zu einer fortschreitenden Entkopplung der technischen Entwicklung von der natürlichen Umwelt gekommen ist, was auch neue und andere Umweltbezüge einschließt. Da die Menschheit aber trotz aller Fortschritte in die Umwelt eingebunden bleibt, hat dies zu großen ökologischen Problemen geführt. Die in den letzten Jahren systematisch einsetzende bionische/biomimetische Forschung kann als „High-Tech-Bionik“ bezeichnet werden. Sie versucht gezielt, biologische Vorgänge, Strukturen und Funktionsweisen quantitativ zu erfassen und in technische Anwendungen umzusetzen. Es sei betont, dass auch die moderne „High-Tech-Bionik“ per se nicht zu umweltverträglichen Produkten führen muss und kein Allheilmittel für ökologische Probleme darstellt. Zumindest in einigen Bereichen vermag sie aber, Alternativen zu bieten und Produkte mit einer verbesserten Ökobilanz zu liefern. Vorläufer und Pioniere der Bionik Leonardo da Vinci (1452–1519) wird häufig als der historische Begründer der Bionik bezeichnet. In einer seiner bekanntesten Arbeiten hat er beispielsweise die Formveränderung von Vogelflügeln (Handschwingen beim Abschlag gespreizt, beim Aufschlag sich überdeckend zusammengelegt) funktionell analysiert [4, 5]. Ausgehend von diesen Beobachtungen und Analysen versuchte er, Schlagflügel für den menschlichen Flug zu konstruieren, die jedoch aufgrund biophysikalischer Randbedingungen nicht funktionieren konnten (die Masse eines Menschen ist im Bezug auf seine Muskelleistung viel zu groß). Erst eine Entkopplung der beim Vogelflügel vorhandenen Doppelfunktion, durch die mit einer Struktur Auf- und Vortrieb erzeugt wird, in starre, dem Auftrieb dienende Tragflächen und einen den Vortrieb erzeugenden Motor brachte vor nunmehr 100 Jahren den Durchbruch bei technischen Fluggeräten [6, 7]. Die große Zahl der erfolglosen Versuche, den Vogelflug zu kopieren, stellt einen eindrucksvollen Beleg dar für die Grenzen, die einer direkten Kopie von der Natur in die Technik gesetzt sind (dennoch scheint es prinzipiell möglich, einen menschlichen Schwingenflug zu realisieren; vgl. NR 2/2003, S. 65). Der italienische Arzt und Mathematiker Giovanni Alfonso Borelli (1608–1679) hat die technisch-experimentelle Analyse der Fortbewegungsvorgänge von Tieren begründet, während Sir George Cayley (1773–1857) biomimetische Methoden bei der Konstruktion sich selbst stabilisierender Flugmodelle und Fallschirme verwendete. Hierbei diente ihm die Federflugfrucht des Wiesenbocksbarts (Tragopogon pratensis) als Vorlage zur Konstruktion eines Fallschirms mit tief liegendem Schwerpunkt und nach außen hochgezogener Tragfläche (Abb. 1). Auch Galileo Galilei (1564–1642) hat sich in seinen Discorsi e dimonstrazioni matematiche von 1637 mit dem mechanischen Aufbau von Pflanzen im Vergleich zu technischen Konstruktionen beschäftigt [8, 9]; so zum Beispiel mit der unter Belastung durch das Eigengewicht erreichbaren Maximalhöhe von Bäumen und Bauwerken. Außerdem hat er am Beispiel des Getreidehalms und des Schafts der Vogelfeder beschrieben, dass eine erhöhte Biege- Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential steifigkeit durch periphere Materialanordnung erreicht wird. Im deutschsprachigen Raum war es vor allem Raoul Heinrich Francé (1874–1943), der zu Beginn des letzten Jahrhunderts den Gedanken des „Von der Natur lernen“ in einer Vielzahl populärwissenschaftlicher Schriften einer breiten Öffentlichkeit bekannt machte [10, 11]. Wie manch anderer seiner Zeitgenossen hielt er es für möglich, die Konstruktionsprinzipien der Natur naiv kopieren zu können. Bei seinen Betrachtungen zur Übertragung in technische Anwendungen fehlten in der Regel die Einbeziehung grundlegender funktioneller Überlegungen und Dimensionsanalysen sowie quantitative Untersuchungen von Struktur und Funktionsweise der „biologischen Modelle“. Auch Alf Gießler hat bereits in seinem 1939 erschienenen, leider von nationalsozialistischer Ideologie getrübten Buch Biotechnik die Natur auf mögliche Anregungen für technische Entwicklungen hin untersucht [12, 2]. Von den zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkenden Forschern muss vor allem D’Arcy Wentworth Thompson (1860– 1948) Erwähnung finden. Er war der wohl wichtigste Vertreter einer Forschungsrichtung, die man heute im Grenzgebiet zwischen mathematischer, technischer und theoretischer Biologie ansiedeln würde [13]. Thompson beschrieb in seinem 1917 erschienenen Werk On Growth and Form die physikalischen und mathematischen Aspekte einer Vielzahl von biologischen Strukturen und (Formbildungs-)Prozessen in geradezu genialer Weise [14]. Er vermied jedoch jegliche Kausalanalyse und verzichtete zudem auf experimentelle Untersuchungen. Neben Überlegungen zum Zusammenhang von Form, Struktur und mechanischer Effektivität bei Knochen, Skelettkonstruktionen und Pflanzenachsen, hat sich Thompson vor allem mit der mathematischen Beschreibung der Form(bildung) bei Pflanzen und Tieren auseinander gesetzt. Eine seiner bekanntesten Überlegungen zeigt, wie man durch Cartesische Transformationen Formen ineinander überführen und somit deren „Form-Verwandtschaft“ aufdecken kann (Abb. 2). Versuche, Lebewesen und ihre Funktionen mit physikalisch-technischen Methoden zu analysieren (Technische Biologie) und andererseits „Lösungsvorschläge“ der Natur in die Technik zu übertragen (Bionik/Biomimetik), blieben allerdings bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts auf vereinzelte Ansätze beschränkt und kamen nicht zu einer breiten Anwendung. Facetten der Bionik Werner Nachtigall hat 1992 eine Unterteilung der Bionik vorgeschlagen, die deutlich macht, wie viele Aspekte in diesem Forschungsfeld zusammentreffen [15]. Sämtliche Teilgebiete lassen sich problemlos an bereits etablierte Fachrichtungen der Biologie, der Ingenieurwissenschaften und Physik anschließen und können diese einerseits ergänzen, andererseits aber auch in neue Richtungen weiterführen [vgl. 1, 2, 16]. Zwischen einigen dieser Teilbereiche gibt es fließende Übergänge. 1. Historische Bionik: Geschichte und Entwicklung bionischer Forschung aus verschiedenen Teilgebieten der Technik und der Biologie. Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 Abb. 2. Beispiele Sir D’Arcy Thompsons zur Generierung der Form miteinander verwandter Fischarten durch Cartesische Transformationen. Aus [14] 2. Strukturbionik: Untersuchung biologischer Materialien, Strukturen und Formbildungsprozesse (z. B. komplexe, hierarchisch aufgebaute Verbundmaterialien, pneumatische Strukturen, Membranstrukturen) auf Anwendungsmöglichkeiten in der Technik. 3. Baubionik: Nutzung organischer, gut recyclebarer Baumaterialien (z. B. Stroh in Tonbacksteinen zur Stabilisierung und als Wärme- und Schalldämmung) sowie Konstruktion temporärer technischer Leichtbauwerke (z. B. Seil-, Schalenund Membranenkonstruktionen), basierend auf Anregungen von natürlichen Leichtbaukonstruktionen. 4. Klima- und Energiebionik: Energieeinsparung und Wohnkomfort durch passive Lüftung, Kühlung und Heizung in Anlehnung an Tierbauten. 5. Konstruktionsbionik: Analyse der Konstruktionselemente und Funktionsmechanismen der meist multifunktionellen natürlichen Konstruktionen; Vergleich mit analogen technischen Konstruktionen und Untersuchung von Anwendungsmöglichkeiten bionisch inspirierter Konstruktionen in der Technik. 6. Bewegungsbionik: Untersuchung von schwimmenden und fliegenden Tieren in Hinblick auf ihre Strömungsanpassungen an das äußere Milieu (Wasser, Luft), ihrer Antriebsmechanismen und deren mechanischen Wirkungsgrade mit dem Ziel der Verbesserung technischer Konstruktionen; Bewegungsanalyse des Laufens von Tieren mit unterschiedlicher Beinzahl als Grundlage für den Bau von „Laufmaschinen“. 179 Übersicht 7. Gerätebionik: Entwicklung technisch einsetzbarer Maschinen und Geräte, basierend auf Vorbildern aus der Natur (z. B. Pumpen, Bohrer, hydraulische oder pneumatische Maschinen, Förder- und Abbausysteme). 8. Anthropobionik: Optimierung von Mensch-MaschineInteraktionen, z. B. durch ergonomische Gestaltung von Bedienungsoberflächen entsprechend der sensorischen und motorischen Gewohnheiten der Menschen; Erhöhung der Effizienz muskelbetriebener Fortbewegungsmittel (z. B. Fahrräder, Inlineskater oder Langlaufski); Verbesserungen in der Robotik (z. B. bei der Greifarmsteuerung durch Analysen der Beinbewegungen von Arthropoden). 9. Sensorbionik: Entwicklung hochsensibler Sensor-, Ortungs- und Orientierungssysteme durch Umsetzung von Konstruktionsprinzipien biologischer Sensoren, die für eine Vielzahl chemischer und physikalischer Reize bekannt sind. Mögliche Anwendungen sind Abstands-Kontroll-Systeme für Autos und verschiedenartige codierte Öffnungssysteme für Sicherheitsräume und schlüssellose Autos. 10. Neurobionik: Weiterentwicklung von Informationsverarbeitung und Steuerung (z. B. durch intelligente Schaltungen, die Verschaltung von Parallelrechnern und Neuronale Schaltkreise), ausgehend von Anregungen aus dem Bereich der Neurobiologie und biologischen Kybernetik. Beispiel: Neuronale Netze zur Steuerung von Industrieanlagen (vgl. NR 2/2003, S. 74). 11. Verfahrensbionik: Analyse von Steuerung und Ablauf komplexer biologischer Prozesse und Untersuchung der Übertragungsmöglichkeit in die Technik; Beispiele: Entwicklung einer Wasserstofftechnologie nach dem Vorbild der Photosynthese (dieses Beispiel lässt sich auch der Biotechnologie zuordnen), die Übertragung des (fast) vollständigen Recyclings in die industrielle Produktion, sowie ökologische Umsatzforschung und kybernetische Prozesssteuerung bei komplexen industriellen Vorhaben. 12. Evolutionsbionik: Nutzung biologischer Evolutionsstrategien in der Technik für die Optimierung komplexer technischer Systeme und Verfahren (vor allem solcher, die rechnerisch (noch) nicht simulierbar sind). Nach ihrem Arbeitsgebiet gefragt, würden sich indes nicht alle Wissenschaftler, die in einem der oben genannten Gebieten tätig sind, als Bioniker oder „biomimetisch orientierte“ Forscher bezeichnen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Neurobionik, aber auch für weite Teilbereiche der Anthropo-, Sensor- und Verfahrensbionik. Hierin zeigen sich zum einen die großen Chancen des interdisziplinären Ansatzes der Bionik, bestehende Forschungsrichtungen weiterführend zu ergänzen, andererseits aber auch die große Gefahr der Beliebigkeit, nach dem Motto „alles ist irgendwie Bionik“. Aus diesem Grund wird im Folgenden versucht, Grenzen und Möglichkeiten der Bionik aufzuzeigen und das Arbeitsgebiet am Beispiel einiger typischer Forschungsprojekte und technischer Anwendungen in seiner ganzen Breite, aber auch klaren Umgrenzung zu definieren. 180 Möglichkeiten und Grenzen der Bionik Bevor einige Anwendungsmöglichkeiten der Bionik vorgestellt werden, sollen mögliche Missverständnisse ausgeräumt werden: 1. Traditionelles ingenieurmäßiges Konstruieren wird auch weiterhin die Grundlage technischer Entwicklungen bleiben; Bionik kann und soll diese Vorgehensweise nicht ersetzen. 2. Bionik soll anregen – wo es möglich und sinnvoll erscheint – technische Neuentwicklungen an der Natur abzugleichen, um so die vielfältigen in der Natur verwirklichten Lösungen als Ideenreservoir zur Optimierung technischer Materialien und Konstrukte zu nutzen. 3. In der Technik wurden oftmals ohne jegliche Vorkenntnis der Natur Problemlösungen entwickelt, die in ihrer Funktion natürlichen Gebilden oder Organen mit ähnlichen Aufgaben verblüffend ähneln. Diese a posteriori festgestellten Analogien beschränken sich jedoch häufig auf Aussehen und Funktion, während Materialien, Strukturen und interne Funktionsweise sich meist grundlegend unterscheiden. Beispiele für solche Analogien sind: (1) aus dem Bereich der Mechanik Vielzweck-Taschenmesser (mit ihrem Verstau- und Ausklapp-Prinzip) und die multifunktionellen Beine von Stutzkäfern (Histeridae) sowie technische Saugnäpfe und die Saugnäpfe an den Vorderbeinen des Gelbrandkäfers (Dytiscus marginalis) (Abb. 3); (2) aus dem Bereich der Sensorik das Ultraschall-Echo-Ortungssystem der Delphine und die in der Medizin verwendete Ultraschall-Sonographie, ferner das als Wärmedetektor funktionierende Grubenorgan der Grubenottern und technische Infrarot-Ortungssysteme. a b c d Abb. 3. Von den natürlichen Vorbildern nicht beeinflusste Analogentwicklungen der Technik. – a. Vielzwecktaschenmesser (mit Verstauund Ausklapp-Prinzip). – b. Multifunktionelles Bein eines Stutzkäfers (Histeridae). – c. Saugnäpfe einer Seifenschale. – d. Saugnäpfe an den Vorderbeinen eines männlichen Gelbrandkäfers. [Photos W. Nachtigall] Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential Wie bereits angedeutet, darf man nicht erwarten, dass die Bionik prinzipiell die „natürlichere“, „umweltverträglichere“ Variante der Technik darstellt. Außerdem kann die Bionik – wie jede Wissenschaft – auch missbraucht werden. Diese Ambivalenz zeigt sich beispielsweise an den „Micro Air Vehicles“ (MAV), „intelligente Kleinstflugobjekte“, die mit Hilfe bionischer Methoden entwickelt werden. Sie können vielfältigen zivilen Zwecken dienen (etwa im Brandschutz oder bei der Überwachung von Vulkanen), aber auch eine neue Dimension in kriegerische Auseinandersetzungen bringen. Ausgewählte Beispiele bionischer/biomimetischer Forschung Formoptimierung nach dem Muster wachsender Bäume und Knochen Ausgehend von Beobachtungen der (Wuchs-)Form von Bäumen und anderer mechanisch stark belasteter natürlicher Strukturen wie Knochen hat sich Claus Mattheck vom Institut für Materialforschung des Forschungszentrums Karlsruhe mit den Gesetzmäßigkeiten ihrer Formgebung beschäftigt [17, 18]. Er konnte nachweisen, dass Strukturen bei minimalem Materialeinsatz den Festigkeitsanforderungen genügen, wenn auf ihrer Oberfläche überall gleiche Spannungen herrschen. Die Hypothese der konstanten Spannungen wurde bereits 1893 von dem Förster K. Metzger für Fichtenstämme formuliert [19]. Eine solche „Bauvorschrift“ führt dazu, dass bei Bäumen, Knochen, Zähnen und Krallen unter sparsamstem Materialeinsatz maximal belastbare Strukturen entstehen und lokale Schwachstellen vermieden werden (Abb. 4). Basierend auf seinen Untersuchungen an natürlichen Strukturen hat Claus Mattheck eine Reihe Computerunterstützter Methoden zur Gestaltoptimierung technischer Bauteile entwickelt [20, 21, 13], die seit mehr als einem Jahrzehnt erfolgreich in der Industrie eingesetzt werden: Bei der Computer-gestützten Optimierung (Computer Aided Optimisation: CAO-Verfahren) wird das in der Wachstumszone (Kambium) erfolgende sekundäre Dickenwachstum von Bäumen simuliert. Hierbei wird an die hochbelasteten Außenbereiche technischer Bauteile so lange Material angelagert, bis eine mechanisch optimierte Form mit konstanter Oberflächenspannung entstanden ist. Beim SKO-Verfahren (Soft Kill Option) hingegen wird nach dem Vorbild der Knochen-abbauenden Zellen (Osteoclasten) Material von unterbelasteten Stellen (im Innen- und Außenbereich) des im Computer simulierten Bauteils entfernt (Abb. 5a). Für sich genommen führt das SKO-Verfahren zu Leichtbau-Strukturen, die allerdings Spannungsspitzen an der Oberfläche haben können. Mit dem CAO-Verfahren hingegen erhält man Strukturen ohne derartige Spannungsspitzen und mit hoher Dauerfestigkeit, aber ohne Gewichtsoptimierung. Eine Kombination beider Verfahren ermöglicht es, die Vorteile zu vereinen, so dass im Ergebnis hochbelastbare form- und gewichtsoptimierte Strukturen entstehen. Auf diese Weise konstruierte man bereits Leichtmetall-Autofelgen mit 26% Gewichtsersparnis (Abb. 5b) und orthopädische Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 Abb. 4. Natürliche Gestaltoptimierung führt bei Baumgabeln (Zwieseln) zu einer günstigen Spannungsverteilung und zu Formen ohne Kerbspannung. Die v. Mises-Spannung ist ein relatives Maß für die Spannungsverteilung. Aus [18] Schrauben mit 20fach höherer Lebensdauer (eingesetzt z. B. bei Rückgratoperationen) und minimierter Bruchgefahr. Mattheck entwickelte außerdem das CAIO-Verfahren (Computer Aided Internal Optimisation), mit dem der Faserverlauf in Faserverbundwerkstoffen entlang der Kraftlinien kerbspannungsmindernd optimiert werden kann, wodurch die Gefahr der Rissbildung vermindert wird. Optimierung von Flug- und Schwimmkörpern nach dem Vorbild schwimmender Wirbeltiere Eine andere Art der Formoptimierung wurde bereits in den 60er Jahren von Heinrich Hertel (TU Berlin) für Flugzeuge gefordert. Er regte die Konstruktion spindelförmiger Laminarrümpfe für Flugzeuge an, an denen die Luft über weite Bereiche des Rumpfes bis zur weit hinten liegenden dicksten Stelle in der Grenzschicht laminar bleibt. Hierdurch kann der Gesamtwiderstand stark verringert werden. Ausgehend von Untersuchungen spindelförmiger Körper, die sich konvergent bei schnell schwimmenden Fischen (z. B. Thunfisch, Schwertfisch), Delphinen und anderen Walen evolviert haben, war Hertel zur Überzeugung gelangt, dass Flugzeuge mit einem ähnlichen spindelförmigen Rumpf einen geringeren Luftwiderstand haben als solche mit herkömmlichem zylindrischem Rumpf [22]. Neuere Untersuchungen von Rudolf Bannasch (TU Berlin/EvoLogics GmbH Berlin) an Pinguinen 181 Übersicht de, konnte der Widerstandsbeiwert sogar bis auf 0,016 gesenkt werden. Dieser Wert ist fast 20-mal niedriger als der Widerstandsbeiwert bei Automobilen, die mit Werten von 0,3 als strömungsgünstig gelten. Bei lebenden Pinguinen dürfte durch die feinstrukturierte Oberfläche des Gefieders der Strömungswiderstand sogar noch geringer sein (ein ähnliches Prinzip findet sich bei Haien, s. u.). Mögliche Anwendungsbereiche dieser bionisch inspirierten Formgebung sind Großraumflugzeuge und Unterwasserfahrzeuge, bei denen eine optimierte Spindelform bei erhöhtem Fassungsvermögen zu einer deutlichen Reduktion des Treibstoffverbrauchs führen könnte. a b Abb. 5. Schematischer Ablauf eines Designvorgangs zur Bauteiloptimierung. – a. Am Anfang steht ein grober Designentwurf mit einzuhaltenden Randbedingungen (Lagerung, Kraftangriff, Maximalgröße). Durch das SKO-Verfahren entsteht eine Leichtbaukonstruktion mit möglichen oberflächlichen Spannungsspitzen. Durch das CAO-Verfahren werden die Spannungsspitzen beseitigt, aber es kann wieder zu einer Gewichtszunahme kommen. Aus [18]. – b. Spannungsverteilung in einer durch Anwendung von SKO- und CAO-Verfahren form- und gewichtsoptimierten Leichtmetallfelge. Bei gleichem Material und gleicher Festigkeit wurde eine Gewichtsreduktion von 26% erreicht, obwohl nur die Speichenbereiche optimiert wurden. [Adam Opel AG] führten zu vergleichbaren Spindelformen, die selbst bei turbulenter Umströmung einen sehr geringen Strömungswiderstand besitzen [23, 24]. Besonders interessant ist, dass der Rumpf beim schnellen Unterwasser-„Flug“ der Pinguine nahezu starr bleibt, während es bei Fischen hingegen zu ausgeprägten seitlichen und bei Säugetieren zu starken vertikalen Bewegungen der Wirbelsäule kommt. Das Vorhandensein eines beim Schwimmen starren Rumpfs bei den Pinguinen erleichtert eine Übertragung auf technische Strömungskörper. Abgüsse der Körper verschiedener Pinguinarten führten bei realitätsnaher turbulenter Umströmung zu sehr niedrigen Widerstandsbeiwerten; an einem Zwergpinguin-Modell ergab sich ein Widerstandsbeiwert von lediglich 0,025 (Abb. 6). Mit einem künstlichen Rotationsköper, der basierend auf den gemittelten Werten der Pinguinabgüsse hergestellt wur- 182 Haihaut und Ribletfolien Ende der 70er Jahre stellte der Tübinger Wirbeltierpaläontologe Wolf-Ernst Reif fest, dass die zwischen 0,15 und 0,5 mm großen Schuppen rezenter und fossiler Haie feinste Längsriefen und -rippen besitzen, die in Strömungsrichtung verlaufen und der Kontur des Haikörpers entlangziehen (Abb. 7a,b) [25, 26]. Im Anschluss an diese aus der biologischpaläontologischen Grundlagenforschung stammenden Erkenntnis konnte in Zusammenarbeit mit Dietrich W. Bechert von der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt (Berlin) gezeigt werden, dass diese Oberflächenstrukturen den Strömungswiderstand durch Reduktion der Wandreibung deutlich verringern [27–29]. Nach diesem Vorbild wurden verschiedenartige technische Rillen- und Schuppenstrukturen hergestellt und die mit ihnen erzielbare Reduktion der Wandreibung experimentell bestimmt; maximal wurde dadurch 10% Reibungsverminderung erreicht. Zusätzlich zu starren Rillenstrukturen wurden auch bewegliche, den Haischuppen nachempfundene Plättchen untersucht, die mit Oberflächenrillen versehen waren (Abb. 7c). Von diesen beweglichen Plättchen verspricht man sich neben einer Reibungsverminderung zusätzlich eine energetisch günstige verzögerte Ablösung des strömenden Mediums. Die möglichen technischen Anwendungen der als aufklebbare Ribletfolie hergestellten künstlichen Haihaut sind vielfältig. So ist an die Verkleidung von Flugzeugen und anderer schneller Transportmittel (z. B. Transrapid) zu denken. Bei ersten Versuchen Anfang der 90er Jahre mit einem A 320Airbus zeigte sich, dass eine Verkleidung mit Ribletfolien eine Verminderung der Wandreibung um 6% bewirken kann. Eine solche Reibungsreduktion könnte abhängig von Flugzeugtyp und Einsatzdauer zu einer Einsparung von mindestens 60 bis 200 Tonnen Kerosin pro Flugzeug und Jahr führen, was ökonomisch und vor allem ökologisch durchaus bedeutsam wäre. Ferner könnte man Gaspipelines und Gasturbinen mit Ribletfolie auskleiden. In neuerer Zeit wurden auch die Schwimmanzüge von Hochleistungsschwimmern durch das Aufbringen solcher Strukturen reibungsvermindernd optimiert. Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential a a b b c c Abb. 6. Wirbeltierrumpf als Vorbild für einen widerstandsarmen Strömungskörper. – a. Eselspinguin (Pygoscelis papua) mit strömungsgünstigem, spindelförmigem Rumpf. – b. Künstlicher Rotationskörper mit extrem strömungsgünstigen Eigenschaften, der aus den gemittelten Daten von Abgüssen der Pinguinkörper entwickelt wurde. Aus [64]. – c. Modell eines nicht realisierten Verkehrsflugzeugs mit spindelförmigem Laminarrumpf. [a, c: K. Luginsland, Landesmuseum für Technik und Arbeit, Mannheim] Abb. 7. Widerstandsmindernde Oberflächenstrukturen. – a. Schuppenrillenmuster bei einem Jungtier des Milbert-Hais (Carcharhinus milberti), das dem Strömungsrichtungsmuster in der Grenzschicht gleicht. Aus [2]. – b. Rillen- und Riefenstruktur auf den Hautschuppen eines adulten Samthais (Carcharhinus falciformis) als Beispiel für natürliche Riblets. [Photo W. E. Reif]. – c. Modell einer künstlichen Ribletstruktur mit beweglichen Schuppen. [K. Luginsland, Landesmuseum für Technik und Arbeit, Mannheim] Laufmaschinen Tiere, die mit mehreren Beinpaaren laufen, können sich – im Gegensatz zu auf Rädern rollenden Fahrzeugen – auch in unwegsamem, extrem steilem Gelände fortbewegen. In der bionischen Robotik geht es um die Konstruktion technischer Laufapparate, deren Mechanik und Bewegungssteuerung sich an laufenden Tieren (vorzugsweise Insekten) orientiert. Als hervorragendes Studienobjekt hat sich die trockenen Zweigen täuschend ähnlich sehende Stabheuschrecke (Carausius morosus) erwiesen (Abb. 8a). Die Zoologen Gernot Wendler und Hans Scharstein (Universität Köln) sowie Holk Cruse (Universität Bielefeld) haben die Fortbewegung der Stabheuschrecke analysiert und beschrieben [30, 31]. Bei schneller Bewegung haben stets drei der sechs Beine einen festen Halt, wenn die anderen drei einen Schritt machen. Hierbei bilden ein Vorder- und Hinterbein einer Körperseite zusammen mit dem mittleren Bein der anderen Körperseite ein „stabiles Dreibein“. Für die technische Umsetzung ist interessant, dass die Steuerung der Beine dezentral abläuft, d. h. jedes Bein verfügt über eine unabhängige, steuernde Nervenzelle. Die Nervenzellen sind miteinander vernetzt und generieren so das Gesamtmuster der Bewegung. Angeregt durch diese und ähnliche Untersuchungen wurden in den Arbeitsgruppen von Rüdiger Dillmann (Technische Universität Karlsruhe) und Friedrich Pfeiffer (Technische Universität München) nach dem Prinzip neuronaler Netzwerke dezentrale Steuerkonzepte für sechsbeinige Laufmaschinen entwickelt [31]. Ein Beispiel ist die 1993 von Stefan Cordes (Karlsruhe) gebaute Maschine LAURON (LAUfender ROboter Neuronal gesteuert; Abb. 8b). Es handelt sich um eine Leichtbaukonstruktion, die sich durch Elektromotoren autark bewegen kann. Zur Kontrolle der modular gesteuerten Bewegungsabläufe verfügt LAURON über 150 Sensoren. Die Einsatzmöglichkeiten solcher Laufroboter sind vielfältig. Außer für Einsätze in der Land- und Forstwirtschaft eignen sie sich vor allem für gefährliche Missionen, insbesondere Wartungsarbeiten in Kernkraftwerken und Katastrophengebieten, aber auch für die Erforschung fremder Planeten [7, 32]. Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 183 Übersicht a b Abb. 8. Insekt als biologisches Vorbild für die Entwicklung dezentral gesteuerter Laufmaschinen. – a. Die Gemeine Stabheuschrecke (Carausius morosus). [Photo H. Scharstein]. – b. LAURON II, die zweite Generation eines nach dem Vorbild der Stabheuschrecke konstruierten Laufroboters. [Photo K. Luginsland, Landesmuseum für Technik und Arbeit, Mannheim] Selbstreinigende Oberflächen: Der Lotus-Effekt Eines der bekanntesten Beispiele bionischer Forschung ist die von dem Botaniker Wilhelm Barthlott entdeckte Selbstreinigungsfähigkeit vieler Pflanzen. Mitte der 70er Jahre hatte er festgestellt, dass die Oberflächen unbenetzbarer, also wasserabstoßender Pflanzenblätter nur selten verschmutzt sind. Diese Beobachtung ergab sich im Rahmen einer repräsentativen Untersuchung mikroskopisch kleiner Oberflächenstrukturen hinsichtlich ihrer Eignung für die systematische Einteilung von Pflanzen [33]. Diese Eigenschaft zeigt sich bei vielen Pflanzen, die mit feinen Wachsstrukturen bedeckt sind, besonders eindrucksvoll jedoch bei der Indischen Lotosblume (Nelumbo nucifera), dem Symbol der Reinheit in asiatischen Religionen. Die strukturelle Grundlage des Selbstreinigungseffektes ist die Kombination aus wasserabweisendem (hydrophobem) Material (Pflanzenwachse) und einer geeigneten Mikro- und/oder Nanostruktur [34]. Im Fall der Lotospflanze handelt es sich bei der Strukturierung um eine Kombination aus einer mikroskopisch fein genoppten Blattoberfläche, deren Struktur durch die 20 bis 50 µm großen Zellen der Epidermis bestimmt wird, und aus Wachskristallen im Größenbereich von 0,5–3 µm (Abb. 9a,b). Auf den unbenetzbaren, fein genoppten Blattoberflächen ziehen sich die Wassertropfen in kugeliger Form zusammen und rollen bei geringsten Erschütterungen und/oder kleinsten Neigungswinkeln rückstandsfrei ab (Abb. 9c). Wegen der geringen Kontaktfläche auf der rauhen Oberfläche bleiben auch Schmutzpartikel schlecht auf dem Blatt haften. Rollt ein Tropfen über die Oberfläche, so nimmt er dabei die Schmutzpartikel auf und entfernt sie beim Ablaufen von der Blattoberfläche (Abb. 9d). Auf glatten Oberflächen verlaufen die Wassertropfen und „kriechen“ über die Schmutzpartikel hinweg, ohne den Schmutz mitzunehmen. 1987 griff Wilhelm Barthlott die Beobachtung wieder auf, und es gelang ihm, zusammen mit seinem Mitarbeiter Christoph Neinhuis, die physikalisch-chemische Basis des „Lotus-Effekts“ im Detail zu entschlüsseln, seine Bedeutung für die Biologie zu verstehen und eine nach diesem Prinzip funktionierende künstliche Schmutz abweisende Oberfläche herzustellen [35, 36]. In Kooperation mit verschiedenen Industriepartnern Abb. 9. Lotus-Effekt. – a. Ein Blatt der Lotosblume (Nelumbo nucifera) nach Kontamination mit dem Farbstoff Sudan III. Selbst dieser hartnäckige Farbstoff wird durch einfaches Besprühen mit Wasser in wenigen Sekunden vollständig vom Blatt entfernt. – b. Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme der Blattoberfläche. Deutlich erkennbar ist die doppelte Strukturierung aus a c Epidermispapillen und feinen Wachskristallen. – c. Aufgrund der wasserabweisenden Chemie der Wachse und der Rauhigkeit der Oberfläche kugelt sich ein Wassertropfen vollständig ab und haftet praktisch nicht am Blatt. – d. Funktionsweise der Selbstreinigung durch den Lotus-Effekt: Die glatte Oberfläche (links) wird von den Wassertropfen benetzt, und die Schmutzpartikel werden nur verschoben, wenn die Tropfen b d über sie hinwegkriechen. Auf der rauhen, fein genoppten Oberfläche (rechts) haften Schmutzpartikel schlecht, werden von den abperlenden Wassertropfen aufgenommen und von der Oberfläche abgewaschen. Aus [35] 184 Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential Abb. 10. Fünf Strukturebenen pflanzlicher Achsen am Beispiel eines Koniferenstammes und einer Koniferentracheide. Integrale Ebene: Eine pflanzliche Achse besteht aus verschiedenen Geweben mit unterschiedlichen mechanischen Eigenschaften und Funktionen. Makroskopische Ebene: Die einzelnen Gewebe bestehen typischerweise aus mehreren Zellarten mit verschiedenen Funktionen und mechanischen Eigenschaften. Mikroskopische Ebene: Die mechanisch relevante Zell(wand)struktur kann z. B. bei Tracheiden durch die Form und Anordnung der Verstärkungsleisten bzw. Tüpfel variiert werden. Ultrastrukturelle Ebene: Ultrastruktureller Zellwandaufbau, z. B. bei Tracheiden Anordnung und Winkel der Zellulosemikrofibrillen in den verschiedenen Wandschichten. Biochemische Ebene: Biochemischer Aufbau der Zellwand, z. B. bei Tracheiden Mengenverhältnis und Zusammensetzung von Cellulose, Hemicellulosen, Pektinen und Lignin (Polysaccharidverhältnisse, Monomerenzusammensetzung des Lignins). Aus [41] werden seit 1994 Schmutz abweisende, selbstreinigende Lacke, Farben und andere Oberflächenbeschichtungen produziert, die weitreichende Anwendungsmöglichkeiten besitzen (siehe: www.lotus-effekt.de). Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass reine Grundlagenforschung zu hochgradig anwendungsrelevanten Ergebnissen führen kann. Strukturoptimierte Naturfaser-Verbundmaterialien Seit Mitte der 80er Jahre beschäftigen sich an der Universität Freiburg der Biologe Thomas Speck und der Biophysiker Hanns-Christof Spatz mit quantitativen Analysen der mechanischen Eigenschaften pflanzlicher Achsen und ihrer strukturellen Hintergründe [37–40]. Ihre Untersuchungen zeigten, dass pflanzliche Achsen hochkomplexe Verbundmaterialien darstellen, die auf mindestens fünf hierarchischen Ebenen als Verbundstrukturen interpretiert werden können (Abb. 10). Im Laufe der Evolution haben sich die mechanischen Eigenschaften pflanzlicher Achsen an die jeweils herrschenden Umweltbedingungen angepasst [41], wobei Veränderungen auf allen hierarchischen Ebenen möglich sind. Darüber hinaus ermöglichen diese Strukturebenen auch eine „Feinabstimmung“ der mechanischen Eigenschaften im Verlauf der Individualentwicklung (Ontogenie) einer Pflanze [42]. Die komplexe Struktur pflanzlicher Achsen führt zu Abb. 11. Pfahlrohr als Ideengeber. – a. Bestand des Pfahlrohrs (Arundo donax) im Botanischen Garten der Universität Freiburg. [Photo T. Speck]. – b., c. Schwingungsverhalten und Schwingungsdämpfung eines Arundo donax-Halms mit (b) und ohne Blätter (c) gemessen in einer Höhe von 2,5 m über dem Boden. In beiden Fällen ist eine starke Dämpfung der Schwingung zu erkennen. Die beim unbeblätterten Halm (c) im Wesentlichen auf die Materialeigenschaften zurückzuführende Schwingungsdämpfung beträgt ca. 25% pro Schwingung. Blau: gemessene Kurve; rot: mathematisch simulierte Kurve für eine exponentiell gedämpfte Schwingung; gestrichelt: Hüllkurve für eine exponentielle Dämpfung. Aus [46] Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 185 Übersicht technisch interessanten mechanischen Eigenschaften, wie zum Beispiel der Fähigkeit zur Schwingungsdämpfung, die von Olga Speck (Universität Freiburg) am Pfahlrohr (Arundo donax) untersucht wurde (Abb. 11) [43–46]. Für die Herstellung biomimetisch inspirierter technischer Materialien sind vor allem drei Eigenschaften pflanzlicher Achsen, die hierbei als „Ideengeber“ dienen, von Interesse: 1. Hervorragende Energiedämpfungseigenschaften pflanzlicher Achsen (wie z. B. von Bambus, Pfahlrohr und alten Lianenachsen), 2. Scherspannungsarme Verbindungen zwischen weichen und harten Geweben durch komplexe Verzahnung zwischen festigenden Geweben und Grundgewebe sowie durch graduelle Steifigkeitsübergänge zwischen Fasern und Matrix (Grundgewebe) (Abb. 12) [39, 47] und 3. Mechanisch „gutmütiges“ Bruchverhalten durch lokale „Vorversagensereignisse“, die zu neuen stabilen Konfigurationen führen und das endgültige Materialversagen „hinauszögern“ (Abb. 13a) [48]. Basierend auf den Strukturvorgaben der Natur werden in Zusammenarbeit mit dem Institut für Textil- und Verfahrenstechnik (ITV) Denkendorf und industriellen Partnern derzeit Energie absorbierende Faserverbundmaterialien mit Gradientenstruktur konstruiert, die gleichzeitig hohe Steifigkeit und Festigkeit zeigen (Abb. 13b) [49, 50]. Die Einsatzmöglichkeiten solcher stoßdämpfenden strukturoptimierten Gradienten-Faserverbundmaterialien sind vielfältig und reichen von Sportgeräten über Fahrzeugpanzerungen bis hin zu unterschiedlichen Leichtbau-Trägerstrukturen. Bei der Herstellung von strukturoptimierten Faserverbundmaterialien können sowohl technische Fasern (Glasfasern, Karbonfasern) als auch natürliche Fasern, wie Flachs oder Hanf verwendet werden. Neben den teilweise hervorragenden mechanischen Eigenschaften hat die Verwendung von Pflanzenfasern weitere Vorteile, die sie vor allem hinsichtlich der Ökobilanz interessant machen: 1. Geringes Eigengewicht (trockene Pflanzenfasern sind etwa um einen Faktor 3 leichter als Glasfasern); 2. Gute biologische Abbaubarkeit (auch bei Verbundstoffen, da die Kunststoffmatrix in kleine, leichter abbaubare Partikel zerlegt wird); 3. Möglichkeit einer rückstandsfreien thermischen Verwertung von Naturfaserverbundstoffen mit hohem Naturfaseranteil; 4. CO2-Neutralität (nachwachsender Rohstoff). Zwei weitere biomimetische Projekte, die ebenfalls seit 2002 im Rahmen des Kompetenznetzes „Pflanzen als Ideengeber für die Entwicklung biomimetischer Materialien und Technologien“ bearbeitet werden, beschäftigen sich mit „Smart Materials mit variabler Steifigkeit und Selbstreparaturmechanismen“ sowie mit „Technischen Textilien für den Flüssigkeitsferntransport“ [50]. Im Rahmen des ersten Projekts wird in der Freiburger Arbeitsgruppe von T. Speck in Zusammenarbeit mit der Schweizer Firma prospective concepts ag versucht, selbstreparierende technische Membranen zu entwickeln. Vorbild sind schnelle Selbstreparaturme- 186 Abb. 12. Struktur von Pflanzenachsen. – a., b. Graduelle Übergänge von Struktur und mechanischen Eigenschaften in der Halmwand und im Rhizom des Pfahlrohrs (Arundo donax). – a. Schematischer Quera schnitt durch die Halmwand eines Stengelinternodiums. Deutlich ist der kontinuierliche Übergang zwischen äußerem Sklerenchymring und dem lignifizierten Parenchymgewebe zu b erkennen. Von außen nach innen verringert sich die Anzahl der von verholzten Sklerenchymscheiden begleiteten Leitbündel kontinuierlich, während die Größe der Zellen des parenchymatischen Grundgewebes zunimmt und gleichzeitig ihre Wanddicke und ihr Lignifizierungsgrad c abnehmen. Hierdurch kommt es zu einer kontinuierlichen Abnahme der Steifigkeit der Halmwand von außen nach innen. Aus [48]. – b. Querschnitt durch ein Internodium des Rhizoms, die lignifizierten Gewebe sind durch Phloroglucin-Salzsäure rot angefärbt. Zwischen den stark lignifizierten Sklerenchymscheiden der Leitbündel und dem nicht verholzten Speicherparenchym ist ein kontinuierlicher Übergang von Zellgröße, Wanddicke und Verholzungsgrad zu erkennen. Aus [46]. – c. Querschnitt durch eine biege- und torsionsflexible Achse der tropischen Liane Condylocarpon guianense, die eine hohe Energieabsorptionsfähigkeit besitzt. Auffällig sind die mächtigen parenchymatischen Holzstrahlen des sternförmig eingebuchteten flexiblen Holzes und die Vielzahl großlumiger Tracheen, die aufgrund der inneren Struktur ihrer Wände zudem einen sehr sicheren und effizienten Wassertransport ermöglichen. Aus [41] chanismen in Pflanzen, mit denen mechanische Schäden der Sprossachse, wie sie durch Wachstumsprozesse oder äußere Einflüsse entstehen können, kompensiert werden [51]. Diese Membranen sollen unter anderem in ultraleichten luftdruckstabilisierten Pneusystemen, die nach dem Tensairity-Konzept zusätzlich durch Druckstäbe und Zugseile versteift sind, verwendet werden. Tensairity-Strukturen können in verschiedenen Bereichen wie z. B. für mobile Brücken oder bei temporären Bauwerken eingesetzt werden [52]. Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential Im zweiten Forschungsprojekt, das von Volker Mosbrugger und Anita Roth-Nebelsick (Universität Tübingen) koordiniert wird, sollen nach dem Vorbild pflanzlicher Wassertransportsysteme (insbesondere Lianen, Abb. 12c) – in Zusammenarbeit mit dem ITV Denkendorf neuartige technische Textilien aus Hohlfasern für den Ferntransport von niederviskösen Flüssigkeiten entwickelt werden [53]. In den mikroskopischen Hohlfasern dieser „Textilmatten“ sollen Flüssigkeiten sicher (Embolievermeidung und Emboliereparatur durch spezielle Strukturierung der inneren Oberfläche der Hohlfasern) und bedarfsgesteuert über große Distanzen transportiert werden. Mögliche Einsatzbereiche sind wassersparende Bewässerungssysteme und schonende Entwässerungssysteme, aber auch der Bekleidungsbereich. Klimatechnik nach dem Vorbild Natur Erhebliche – und tendentiell steigende – Mengen an Energie werden in den hoch technisierten Ländern für die Klimatechnik aufgewendet. Hier verspricht die Nutzung einfacher physikalischer Prinzipien ein erhebliches Einsparpotential. Vorbild kann das Belüftungssystem der Bauten des Präriehundes (Cynomis ludovicianus) sein, das in den 70er Jahren von Wissenschaftlern um den amerikanischen Zoologen und Biophysiker Steven Vogel entdeckt wurde [3, 54]. Sie zeigten, dass Präriehunde ihre unterirdischen Bauten mit zwei unterschiedlich hoch gelegenen Eingängen anlegen. Einer liegt an der Spitze eines steilwandigen Kegels aus Aushubmaterial, der andere hingegen auf einer flachen Kuppel. Wenn ein Wind über den Bau weht, wird durch diesen Höhenunterschied eine Druckdifferenz hervorgerufen, die unabhängig von der Windrichtung eine immer in einer Richtung durch den Bau ziehende Luftströmung erzeugt. Somit lüften Präriehunde unter Ausnutzung des Bernoulli-Prinzips (eine Druckdifferenz bewirkt eine entsprechende ausgleichende Strömung) durch letztlich von der Sonne induzierte Windbewegungen ihren Bau, der ohne Lüftung unbewohnbar wäre. Ein auf Temperaturunterschieden beruhendes Belüftungssystem hat bereits Mitte der 50er Jahre der Schweizer Biologe M. Lüscher bei Termitenbauten entdeckt [55]. Hierbei strömt die Luft, angetrieben durch das Wärmegefälle zwischen (warmer) Bauoberseite und den (kühlen) unterirdischen Bereichen, in einem geschlossenen Röhrensystem durch den Bau nach oben und direkt unterhalb der Bauoberfläche wieder nach unten. Da die Wände der Termitenbauten aus porösem Material bestehen, kann Kohlendioxid aus dem Bau heraus diffundieren, während Sauerstoff hinein diffundiert. Interessanterweise gibt es Parallelen in der traditionellen vorderasiatischen Architektur zur Belüftung von Gebäuden, die erst in neuerer Zeit gewürdigt werden. Ein weiteres Phänomen, welches ebenfalls für Fragen der Gebäudeklimatisierung interessant ist, wurde von dem Berliner Physikochemiker Helmuth Tributsch und Mitarbeitern beim Eisbären (Ursus maritimus) entdeckt. Beim Eisbärfell leiten die weißen Haare die einfallende Licht- und Wärmestrahlung ähnlich wie Lichtleiter nach unten zur dunklen Hautoberfläche, die sie absorbiert. Dies führt in Zusammen- Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 Abb. 13. Stabilität von natürlichen und künstlichen Faserverbundmaterialien. – a. Knickversuch mit einem Internodium des Pfahlrohrs (Arundo donax) aus dem mittleren Halmbereich. Die Pfeile markieren das a erste Vorversagensereignis und den Punkt endgültigen Halmversagens. Nach jedem der bis zu 10 kleinen Vorversagensereignisse stabilisiert sich der Halm wieder und b toleriert bei weiter ansteigendem Biegemoment eine zunehmende Krümmung, bis es zum nächsten Vorversagensereignis kommt. Hierdurch kann die durch die Pflanze tolerierbare Krümmung um bis zu 300% erhöht werden. Aus [48]. – b. Im Labormaßstab hergestelltes strukturoptimiertes Naturfasermaterial mit hervorragendem Energieabsorptionsvermögen und gutmütigem Bruchverhalten. Bei diesem biomimetisch inspirierten Material wurden Gewebe aus Pflanzenfasern in mehreren Schichten in Polyurethanschaum eingebettet. Aus [50] spiel mit den im dicken Fell eingeschlossenen, isolierenden Lufträumen zu einem Wärmegewinn [2, 56]. 1996 haben Werner Nachtigall und sein Mitarbeiter G. Rummel (Universität Saarbrücken) ein Niedrigenergiehaus konzipiert, welches das Lüftungsprinzip der Termitenbauten (passive Porenlüftung) und das beim Eisbärfell verwirklichte Prinzip der transparenten Wärmedämmung nutzt [57]. Flusskrebsauge und Röntgenastronomie Mitte der 1970er Jahre entdeckten unabhängig voneinander zuerst der Zoologe Klaus Vogt (damals Stuttgart, heute Universität Freiburg) und kurze Zeit später M. F. Land (University of Sussex, England) das Funktionsprinzip der Komplexaugen von Flusskrebsen (Orconectes, Astacus [58–60]). Das Flusskrebsauge ist wie die Komplexaugen aller Gliederfüßer aus vielen kegelförmigen Einzelaugen (Ommatidien) zusammengesetzt. Im Gegensatz zu den als getrennte Linsensysteme wirkenden, sechseckigen Ommatidien der Insekten bilden die quadratischen Ommatidien der Flusskrebse in ihrer Gesamtheit eine Art facettierte Spiegellinse (Abb. 14a, b). Hierdurch entsteht ein Auge mit großem Sehfeld (etwa 90°), großer Lichtstärke und hoher Bildschärfe. Die einfallenden Lichtstrahlen werden durch Spiegelung an den Randflächen der quadratkegelförmigen Ommatidien auf die darunter liegenden Sinneszellen geleitet. Entscheidend ist 187 Übersicht a c Abb. 14. Flusskrebsauge als Vorbild für Röntgenoptik. – a. Prinzip des Strahlengangs durch ein quadratkegeliges Ommatidium des Krebsauges. Aus [2]. – b. Prinzip der Funktionsweise des Krebsauges, das sich durch eine konzentrische Schar virtuell spiegelnder, sich durchdringender Kegelmäntel um jede Raumrichtung beschreiben lässt. Aus [59]. – c. Strahlengang beim Röntgenkollimator (Pfeil nach rechts) und bei der Röntgenfokussierung (Pfeil nach links). Aus [59] b nun, dass nicht alle Randflächen verspiegelt sind. Hierdurch kann es zu einer Bildverstärkung kommen, da parallel einfallende Strahlen von verschiedenen Ommatidien auf dieselben Sinneszellen gelenkt werden. Angeregt durch diese biophysikalischen Arbeiten begann Roger Angel vom Stewart-Observatorium (Tuscon, USA), Pläne für ein neuartiges, auf dem Prinzip des Krebsauges basierendes Weitwinkel-Röntgenteleskop zu entwickeln. Die zuvor bekannten Röntgenteleskope basierten auf RöntgenKleinwinkelstreuung an Metalloberflächen (Röntgenstrahlen können nicht durch Linsen fokussiert werden) und konnten nur einen Himmelsausschnitt von etwa 1° gleichzeitig abbilden. Mit dem neuartigen Weitwinkel-Röntgenteleskop, bei dem Millionen feinster, halbkugelig angeordneter Bleiglasröhrchen die einfallenden Röntgenstrahlen total reflektieren und fokussieren, kann man dagegen ein Viertel des Himmels gleichzeitig beobachten (Abb. 14c). In einer Versuchsversion wird ein solches Weitwinkel-Röntgenteleskop bereits auf einem Forschungs-Satelliten erprobt. Nach Abschluss dieser Testphase ist der Start eines größeren, verbesserten Modells geplant. Ganz andere Anwendungen ergeben sich, wenn man das beschriebene Prinzip umkehrt und Röntgenstrahlen einer im Brennpunkt befindlichen Röntgenquelle parallel ausrichtet. Ein solcher Röntgenkollimator ist beispielsweise für feinste Ätzvorgänge auf Mikro-Chips von großem Interesse. Evolutionsstrategien für Optimierungsaufgaben Ingo Rechenberg und Hans-Paul Schwefel haben in den 1960er Jahren an der FU Berlin erstmals Evolutionsstrategien bei der Konstruktion technischer Produkte erfolgreich angewendet [61, 62]. Die Idee ist, komplexe, theoretisch (noch) nicht beschreibbare technische Konstrukte durch zufällige Änderungen (analog biologischer Mutation) und/oder Neukombinationen von Bauelementen (analog der biologischen 188 Rekombination) zu verändern und die neu entstandenen Konstrukte auf ihre Effizienz zu testen. Die Konstrukte mit verbesserter Effizienz bilden die Basis weiterer „evolutionärer“ Veränderungen, während alle anderen, weniger effizienten ausgeschieden werden (analog der biologischen Selektion). Eines der ersten eindrucksvollen Ergebnisse ist die von Hans-Paul Schwefel 1968 vorgestellte Optimierung einer Zweiphasen-Überschalldüse, wie sie zur Stromerzeugung in Satelliten vorgesehen war. Ausgangspunkt der Optimierung war eine konventionell geformte Düse mit 55% Wirkungsgrad, die in 20 Sektoren zerlegt wurde. Durch zufällige Neukombination dieser Sektoren und anschließendem Test der Effizienz konnte über 44 Zwischenstufen eine unkonventionell geformte, aber optimierte Endform mit fast 80% Wirkungsgrad gefunden werden. Erst Jahre später gelang es, die Form dieser optimierten Düse auch theoretisch zu verstehen (Abb. 15). Heute ist die durch die zunehmende Rechenleistung von Computern immer leistungsfähiger gewordene Evolutionsstrategie eine etablierte Methode, die in vielen Bereichen der industriellen Konstruktion zum Einsatz kommt. Darüber hinaus kann sie auch zur Qualitäts-, Kosten- und Herstellungsoptimierung von Mischungsverhältnissen z. B. bei Kaffee, Farben oder Klebstoffen verwendet werden (Arbeiten von Michael Herdy, Firma INPRO,Berlin). Evolutionäre Strategien werden auch auf dem Sektor der molekularbiologisch-pharmakologischen Forschung verfolgt. Ein Beispiel sind die „Evolutionsmaschinen“, wie sie erstmals im Labor von Manfred Eigen (Max-Planck-Institut für Biophysik, Göttingen) im großen Stil eingesetzt wurden. Ziel ist es, aus einer Vielfalt von Molekülen (RNA, Peptide, Proteine) über einen schrittweise erfolgenden Selektions- und Mutationsprozess Moleküle zu generieren, die hinsichtlich Größe, sterischer Struktur, Bindungsfähigkeit und ähnlicher gewünschter Eigenschaften optimiert sind. Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential Abb. 15. Optimierung einer ZweiphasenÜberschalldüse nach dem Prinzip der Evolutionsstrategie. Ausgehend von einer konventionell geformten Venturi-Düse (A) wurde über 44 zufällig entstandene Zwischenstufen (B) die optimierte Endform (C) gefunden. Aus [61] Biologische und technische Konstruktionen – ein Vergleich Lebewesen unterliegen seit vielen hundert Millionen Jahren den Prozessen der Mutation, Rekombination und Selektion, die zu einer Vielzahl erstaunlicher Anpassungen an die jeweiligen Umweltbedingungen führten. Berücksichtigt man den großen Zeitraum (seit der Entstehung der ersten Lebewesen ungefähr 3,8 Milliarden Jahre), so ist es nicht überraschend, dass sich in der belebten Natur für viele Problemstellungen hervorragende Lösungen finden. Die „Qualität biologischer Lösungen“ ist noch bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass biologische Strukturen in der Regel nicht nur auf eine Funktion, sondern auf zwei oder mehrere Funktionen hin optimiert wurden. Oberirdische, aufrechte Pflanzenachsen müssen beispielsweise nicht nur eine ausreichende mechanische Stabilität besitzen, sondern auch Wasser und Assimilate leiten, Speicherfunktionen erfüllen und unter Umständen Photosynthesefunktion ausüben. Biologische Strukturen sind also stets unter dem Aspekt der Mehrfaktorenoptimierung zu betrachten. Lebewesen müssen zudem in gewissem Umfang auf umweltbedingte Änderungen der mechanischen Belastungen reagieren und mechanische Schäden selbst reparieren (z. B. Knochenbrüche, Schäden an Stämmen und Ästen). Eine weitere Besonderheit ist, dass Lebewesen Glieder einer kontinuierlichen Generationenreihe sind, sie bringen also ein phylogenetisches Erbe mit, das den Rahmen für weitere Evolutionsschritte absteckt. Sie besitzen dabei einerseits Anpassungsmöglichkeiten (organismische Lizenzen), andererseits aber auch Anpassungsgrenzen (organismische Limitierungen). Lebewesen insgesamt wie auch ihre Teile (Organe, Gewebe, Zellen, Zellorganelle) sind demnach „phylogenetisch vorgeprägte, multifunktionelle“ Gebilde. Erst im komplexen Zusammenspiel der einzelnen Teile werden die vielfältigen Prozesse ermöglicht, die wir „Leben“ nennen. Eine Eigenheit biologischer Konstrukte ist außerdem ihre begrenzte Nutzungsdauer. Spätestens nach dem Lebensende des Organismus werden sie in den natürlichen Stoffkreislauf einbezogen; sie sind in aller Regel rasch und vollständig abbau- und recyclebar. Ganz anders verhält es sich mit den menschlichen Konstrukten, die im Laufe der etwa 10 000 Jahre zurückreichenden technischen Phase („kulturelle Evolution“) entwickelt wurden. Diese sind in der Regel auf eine einzige Funktion optimiert und müssen daher keine „Kompromiss-Struktur“ zeigen. Sie Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 sind zudem oft langlebig (wie z. B. der Industriemüll zeigt) und ihre Rückführung in geoökologische Stoffkreisläufe ist in vielen Fällen noch nicht erprobt. Da menschliche Konstrukte nicht integraler Teil eines funktionellen Ganzen (eben von Lebewesen) sind, unterliegen sie nicht dem Zwang, ständig funktionieren zu müssen. Deshalb können sie rasch und zielgerichtet auf eine bestimmte Funktion optimiert werden, wobei die jeweils vorhandenen Ressourcen und zur Verfügung stehenden Materialien genutzt werden können. Aus diesem Grunde wurden in der vergleichsweise kurzen Periode der technischen Phase der Menschheit enorm rasche Fortschritte gemacht, wobei alte Technologien zum Teil vollständig von neuen abgelöst wurden (z. B. früher analoge, heute zunehmend digitale Verfahren zur Aufzeichnung von Bild und Ton). Dennoch gibt es auch hier Begrenzungen verschiedenster Art. Viele Techniken können nicht verwirklicht werden, weil geeignete oder preiswerte Materialien noch fehlen, andere können noch nicht optimiert werden, weil sie aus Kostengründen mit alten oder anderen Techniken noch kompatibel sein müssen (z. B. Datenverarbeitungs- und Telekommunikationssysteme). So gibt es eine Reihe von Unterschieden, die verstehen lassen, dass biologische Evolution und menschliche Technik für vergleichbare Probleme zu recht unterschiedlichen Lösungen gekommen sind, obwohl sie dieselbe physikalische Umwelt teilen (gleicher Temperatur- und Feuchtigkeitsbereich, gleiche Wind- und Strömungsstärken) und denselben physikalischen Gesetzen unterliegen. Es sollte Herausforderung und Verpflichtung sein, die in Jahrmillionen langen Evolutionsprozessen entstandenen biologischen Strukturen als Anregungen für moderne und umweltverträgliche Hochtechnologie-Produkte zu nutzen. Es ist wohl nicht vermessen, in der Technischen Biologie und Bionik (zusammen mit der Biotechnologie) zukünftige Leitforschungsrichtungen innerhalb der „Leitwissenschaft Biologie“ zu sehen. Voraussetzung ist, dass die politischen Rahmenbedingungen stimmen, um die Ergebnisse der Grundlagenforschung rasch und möglichst umfassend zur Anwendung zu führen. Ermutigend sind die unübersehbaren Zeichen der Wertschätzung dieser Forschungsrichtung, die sich darin zeigt, dass – in Zeiten knapper Kassen – in Deutschland zwei Kompetenznetze eingerichtet wurden, durch welche Forschung und Zusammenarbeit bionisch/biomimetisch arbeitender Wissenschaftler gefördert wird. 189 Übersicht Auf Bundesebene ist dies das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte „Bionik-Kompetenznetz: BIOKON“ (www.bionik.tu-berlin.de/kompetenznetz), auf Landesebene das durch das Ministerium für Wissenschaft und Kunst des Landes BadenWürttemberg geförderte Biomimetik-Kompetenznetz „Pflanzen als Ideengeber für die Entwicklung biomimetischer Materialien und Technologien“ (www.biologie.uni-freiburg.de/biomimetik). Außerdem wurde von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) der hoch dotierte „Deutsche Umweltpreis“ bereits zwei Mal für Forschungen aus dem Bereich Bionik/Biomimetik vergeben (1999 an Prof. Dr. Wilhelm Barthlott und 2003 an Prof. Dr. Claus Mattheck). Die DBU fördert außerdem von 2004 an bionische Forschungen im Rahmen eines von den Autoren dieses Artikels koordinierten Stipendienprogramms mit bis zu 10 Promotions-Stipendien. Der enorme Wissenszuwachs bezüglich des Aufbaus und der Funktionsweise biologischer Strukturen und ganzer Organismen sowie die technologischen Fortschritte, die in jüngster Zeit sogar eine Bearbeitung von Werkstücken im atomaren Bereich möglich machen (Nanotechnik), lassen erwarten, dass die Bionik hervorragende Zukunftschancen hat, komplexe biologische Konstrukte mittels hoch entwickelter Steuer- und Produktionsmethoden in technische Anwendungen umzusetzen. Aktualisierte und erweiterte Fassung von T. Speck: Bionik. Lexikon der Biologie, Band 2. Spektrum Akademischer Verlag. Heidelberg 1999. Literatur: [1] W. Nachtigall: Vorbild Natur. Bionik-Design für funktionelles Gestalten. Springer. Heidelberg 1997. – [2] W. Nachtigall: Bionik. 2. Aufl. Springer. Heidelberg 2002. – [3] S. Vogel: Von Grashalmen und Hochhäusern – mechanische Schöpfungen in Natur und Technik. WileyVCH. Weinheim 2000. – [4] H. Grothe: Leonardo da Vinci – Erfinder und Konstrukteur. Reprint der Originalausgabe, Reprint-Verlag. Berlin 1874. – [5] M. Schneider (Hrsg.): Leonardo da Vinci – Der Vögel Flug/Sul volo degli ucceli. Schirmer/Mosel 2000. – [6] F. Greguss: Patente der Natur: Technische Systeme in der Tierwelt – Biologische Systeme als Modelle für die Technik. Quelle & Meyer. Heidelberg 1988. – [7] W. Nachtigall, K. G. Blüchel: Das große Buch der Bionik – Neue Technologien nach dem Vorbild der Natur. Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart 2001. – [8] G. Galilei: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenschaftszweige. 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Prof. Dr. Thomas Speck (Jahrgang 1957) studierte Biologie in Freiburg. 1986 Diplomarbeit über ein Thema aus dem Grenzbereich Biophysik/ Paläobotanik. 1990 Promotionsarbeit über die Biomechanik von Landpflanzen. 1990 Hans Spemann-Preis der Fakultät für Biologie der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Seit 1994 (zusammen mit Prof. HannsChristof Spatz) Leitung der „Plant Biomechanics Group Freiburg“. 1996 Habilitation, seit April 2002 Professor für Funktionelle Morphologie und Direktor des Botanischen Gartens der Universität Freiburg. Arbeiten Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 u. a. zur Biomechanik und Funktionsmorphologie der Pflanzen, Evolution pflanzlicher Wuchsformen, Öko-Biomechanik von Pflanzen in tropischen Regenwäldern und Bionik/Biomimetik. Engagement u. a. in der Gesellschaft für Technische Biologie und Bionik (GTBB), im Kompetenznetz Biomimetik und in der Forschungsgemeinschaft Bionik-Kompetenznetze e. V. (BIOKON). Botanischer Garten der Universität Freiburg, Institut für Biologie II, Schänzlestr. 1, 79104 Freiburg i. Br. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Christoph Neinhuis (Jahrgang 1962) war nach der Gesellenprüfung zunächst als Gärtnergehilfe tätig. 1984 begann er sein Studium der Biologie in Bonn. 1990 Abschluss der Diplomarbeit über den Einfluss von Tensiden auf epiculare Wachse. 1993 Promotion über die Verbreitung und Charakterisierung mikroskulpturierter Oberflächen bei Pflanzen unter besonderer Berücksichtigung der Benetzbarkeit und Kontamination. Diese Studien führten zusammen mit den Arbeiten seines Lehrers, Prof. Dr. Wilhelm Barthlott, zur detaillierten Erforschung des „Lotus-Effekts“, für die beide 1999 den Philipp-Morris-Forschungspreis erhielten. Seit April 2002 Professor für Botanik an der Technischen Universität Dresden. Forschungsschwerpunkte: Ultrastruktur epicuticularer Wachse und deren Bedeutung für die Systematik, Selbstorganisationsprozesse, Lotus-Effekt, Biomechanik der pflanzlichen Cuticula, Systematik und Phylogenie der Aristolochiaceen. Institut für Botanik der TU Dresden, LS Botanik, Zellescher Weg 22, 01062 Dresden. E-Mail: [email protected] 191