Slalom / Der lange Weg zu mir selbst

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Slalom / Der lange Weg zu mir selbst
Dietmar Possart
Slalom / Der lange Weg zu mir selbst
Impressum
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© 2014 bei Dietmar Possart
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltung:
Verlag des Biographiezentrums
Jahnstrasse 41
86916 Kaufering
www.biographiezentrum.de
ISBN 978-3-940210-62-3
Dietmar Possart
Slalom
Der lange Weg zu mir selbst
Autobiographie
Verlag des Biographiezentrums
I.
Jedes Mal, wenn ich von München aus auf der Bundesstraße 12 in
Richtung Osten fahre und an der Abzweigung mit dem Hinweisschild „Aschau 6 km“ vorbei komme, denke ich ganz automatisch
wieder an die allererste, mir in Erinnerung gebliebene, schier endlos
lange Fahrt meiner Kindheit. Zumindest die erste längere Fahrt, die
sich unauslöschlich in meinem Kopf eingeprägt hat. Nachdem meine Mutter mich in Cranz bei Königsberg im Juni 1944 zur Welt gebracht hatte, war sie Anfang 1945 ohne jede Hilfe mit mir vor der
russischen Invasion geflüchtet. All das, was sich auf der endlosen
Flucht mit mir in den Wirren am Ende des Zweiten Weltkrieges aus
dem fernen Königsberg in Ostpreußen bis in dieses kleine, oberbayerische Dorf Aschau, in der Nähe des Inn, zugetragen hat, kenne
ich schließlich ja nur aus ihren Erzählungen. Ostpreußen, das Land
der endlosen Wälder und Seen, dessen breite Sprachfärbung sie bis
zu ihrem Tod nie verleugnen konnte. Doch diese lange Fahrt damals
hat sich unauslöschlich in meinem Kopf eingegraben, auch wenn ich
selbst heute noch darüber staune. War ich damals doch erst kaum
drei Jahre alt. In einen schrecklich rumpelnden, feuerspeienden
Holzvergaser hatte mein Vater mich damals mit eingepackt und los
war die Fahrt gegangen. Nach München ging die Reise. Und genau
nach dieser damals noch versetzten Abzweigung der B 12 am Reichertsheimer Berg hatte dieses spotzende, merkwürdige Gefährt, das
mir immer etwas unheimlich vorkam, in dunkler Nacht auf der
Rückfahrt seinen Geist aufgegeben. Aber das war praktisch schon
fast am Ende dieses für mich so großen Abenteuers gewesen. Eingepfercht zwischen etlichen Waschbecken, Toilettenschüsseln und irgendwelchen abgeschraubten Stahlrohren waren wir zusammen mit
einem unserer Nachbarn aus dem Lager, Herrn Lachnitt, vormittags
mit dieser fürchterlich rumpelnden Kiste in Richtung München losgefahren. Zur Möhlstraße in München-Bogenhausen, zum dortigen
Schwarzmarkt, hatte Vati gesagt. Vati hatten mir meine Eltern beige5
bracht, obwohl ich ihn viel lieber Papa genannt hätte. So nannten all
meine Spielkameraden ihre Väter, und diese Bezeichnung empfand
ich als viel würdevoller für einen so großen, schlanken Mann. Also
mein Vati, Alfred Johannes Possart, hatte mich auf diese Abenteuerreise mitgenommen. Mutti, auch sie hätte ich eigentlich viel lieber
Mama genannt, hatte sich zuerst noch entschieden dagegen gesträubt. Aber das Argument meines Vaters, dass er mit einem solch
hübschen, kleinen, blonden Jungen doch viel unverdächtiger erscheinen würde und mit meiner endlosen Quengelei und Bettelei hatten
wir beide sie letztendlich doch weich bekommen. Und Routine in
solch einem Spiel hatten Vati und ich ja wirklich schon. Denn zum
Hamstern, so hieß das damals, wenn die Flüchtlinge aus den ehemaligen, deutschen Ostgebieten auf die bayerischen Bauernhöfe
kamen, um um Lebensmittel zu betteln, nahm Vati mich immer mit.
Und mit seinem Charme und mir als blondem Engelchen war die
anfänglich oft durchaus vorhandene aggressive Ablehnung der Bäuerinnen meistens sehr schnell dahin geschmolzen.
„A so a siaß´ kloans Kindal. Sagn´s amoi. Is des jetzt a Bua
oder is des eppa a Madl?”
Eine Frage, die mich damals noch nicht störte. Aber ohne
Eier, Zucker, Mehl oder Speck sind Vati und ich jedenfalls nie von
unseren Hamstertouren durch die Bauernhöfe nach Hause zurück
gekommen. Mutti war es zufrieden. Aber sie hatte sich wohl immer
ein Mädchen gewünscht. Des öfteren wurde darüber gesprochen.
Wie schön es doch wäre, wenn ich noch ein kleines Schwesterchen
bekommen würde. Ein Stück Zucker sollte ich abends auf das Fensterbrett legen, bevor ich ins Bett ging. Das würde den Storch bestimmt anlocken. Und der würde dann im Tausch für den Zucker
dort ein kleines Schwesterchen ablegen. Aber obwohl ich das nicht
nur pflichtgemäß, sondern sehr gerne tat, hat der verdammte Storch
zwar immer den Zucker genommen, aber kein Schwesterchen gebracht. Denn Geschwister zu haben, hätte ich mir ganz gut vorstellen können. Jedenfalls hatte Mutti meine damals noch fast weißblonde Haarpracht zu einer lockigen Mädchenfrisur wachsen lassen.
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Eine lästige Pracht, die ich erst viel später, nach einem heftigen Zornesausbruch, endlich als Erstklässler losgeworden bin.
Schwarzmarkt! Einen Film hatte ich zu jener Zeit ja noch nicht
gesehen. Aber als etliche Jahre später im Nachbarort Waldkraiburg
das erste Kino, die „Scala“, ihre Pforten öffnete und ich dort ein erstes Mal den Film von Fritz Lang, „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, sehen durfte, fühlte ich mich regelrecht in dieses frühe Münchner Abenteuer zurückversetzt. Ein Film, den ich bis heute besonders
mag. Vati hatte den rumpelnden Holzvergaser in gebührendem Abstand weiter vorn am Stadtrand, irgendwo hinter der Prinzregentenstraße, abgestellt. Mit mir in der Mitte waren Vati und unser Nachbar an zerbombten Häusern und riesigen Trümmerhaufen vorbei
zur Möhlstrasse geschlendert. Irgendwie hatte ich mir etwas anderes,
etwas Schwärzeres vorgestellt. Zumindest etwas Dunkles, in das man
hinein marschieren muss. Aber da standen nur Männer mit langen
Mänteln herum, ihre Hüte und Schiebermützen möglichst tief in die
Stirn gezogen, die Hände tief in den Manteltaschen oder mit großen
Taschen oder Rucksäcken. Sie tuschelten oder unterhielten sich
halblaut und tauschten irgendwelche Dinge miteinander. Das erste
Mal, dass ich so viele Menschen sah. Bis dahin waren mein ganzes
Universum ja nur unser Barackenlager mit dem offenen Zentralplatz
und die dichten Wälder um es herum mit den Bunkerruinen darin
gewesen.
Im rechten Teil, in der östlichsten all dieser Baracken wohnten wir damals. Gleich dahinter begannen schon die schier endlosen
Wälder. Und dass unsere Behausung dort ursprünglich ein Außenlager des KZ Dachau gewesen war, der ungeteerte Zentralplatz dort
der Appellplatz für all die entrechteten Juden und die Zwangsarbeiter aus Osteuropa und die teilweise bizarren Bunkerruinen eine Munitionsfabrik, habe ich erst als ich größer geworden war auf meine
immer lästigeren Fragen hin erfahren. Und was die dort Festgesetzten allein schon in diesen Baracken hatten durchleben müssen, hatten wir ja auch noch hautnah zu erleben die Ehre. Schaben, Flöhe,
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Läuse und Wanzen! Vor allem die Wanzen sind mir bis heute in Erinnerung geblieben. Nachts im Bett, wenn sie sich aus den Ritzen
der Zimmerdecke auf dich herab fallen lassen, wenn sie zubeißen,
während du schläfst und wenn du dann endlich eine von ihnen zu
fassen bekommst. Dieser widerliche, süßliche Gestank, wenn du sie
zwischen deinen Fingernägeln zerquetscht. Die blutigen Fingernägel,
von denen du den Gestank nicht einmal mehr dann richtig los bekommst, wenn du sie in der Waschschüssel in der Küche abgewaschen hast.
Nein, fließendes Wasser gab es in unserer Behausung nicht.
Aber an der rechten Außenwand unserer Baracke befand sich ein
Wasserhahn, der sogar noch funktionsfähig war und an dem sich
auch die Flüchtlinge aus den umliegenden Baracken bedienten.
Samstag Abend – oder wie meine Eltern sagten, Sonnabend Abend,
war immer unser Badetag. Dann zapfte Vati in zwei alten, unverzinkten Eimern Wasser aus diesem Hahn und brachte es in die Küche. Auf dem Kohlenherd in der Küche standen dann zwei riesige
Blechtöpfe, in denen es heiß gemacht und anschließend in eine neben dem Herd platzierte, blecherne Wanne gegossen wurde. Das
dauerte natürlich, aber es steigerte auch die Vorfreude. Zuerst durfte
ich hinein. Ich wurde in dem heißen Wasser abgeseift, dann war
Mutti an der Reihe, zuletzt Vati. Alle nacheinander in dem selben,
immer undurchsichtiger werdenden, seifigen Nass. Vati als Letzter,
der sich zum Abschluss, nackt in der Wanne stehend, immer noch
einen Eimer kalten Wassers, den er für sich reserviert hatte, fast
wollüstig stöhnend über den Kopf goss. Jedes Mal der absolute Höhepunkt der Woche, wie wir da alle drei nackt und vergnügt durch
die warme Küche turnten. Dietmarle danach immer schleunigst abfrottiert und dick in Handtücher eingepackt, denn als Kind schien er
Erkältungen fast magisch anzuziehen. Wieder angezogen, transportierten Mutti und Vati die Wanne dann nach draußen und schütteten
das Resultat unserer Reinigungsaktion in die Wiese gegenüber. Allerdings nicht immer. Denn während der Wintermonate passierte es
doch des öfteren, dass die Wasserleitung eingefroren war. Dann
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wurde draußen Schnee eingesammelt, der in den großen Töpfen
heiß gemacht wurde. Aber das reichte dann nur für eine Katzenwäsche.
Da es keine Wasseranschlüsse in den Baracken gab, gab es
drinnen logischer Weise auch keine Toiletten. In bunter Reihe gab es
daher überall in der Nähe der Baracken kleine, relativ unscheinbare,
aber nicht zu übersehende Holzhäuschen, in denen man seine Notdurft verrichten konnte. Das in der Küche auf dem Töpfchen sitzen
war mir schon relativ früh zuwider, wenn Mutti und Vati da herum
liefen und anschließend auch noch das Ergebnis meiner Sitzungen
begutachteten. Und so durfte ich schon sehr bald den selben Luxus
wie meine Eltern genießen und das so genannte „Häuschen“ benutzen. Immer im Frühjahr, wenn die Erde nicht mehr gefroren war,
buddelte Vati wenige Meter von diesem Holzhäuschen entfernt eine
neue, tiefe Grube in die Erde. Dann wurde das Häuschen mit Hilfe
von Nachbarn auf diese neue Grube gesetzt und unsere Produktion
des letzten Jahres mit der Erde aus der neuen Grube unsichtbar gemacht. Der beste Dünger für die Erde, wie Vati mir erklärte. Und
das wilde Gras, das relativ schnell darüber wucherte, war auch viel
grüner und kräftiger. Jedenfalls schien es mir so.
An der Rückwand unserer Baracke befand sich ein kleiner,
notdürftig eingezäunter Garten. In dem Vati und zwei Nachbarn Tabak anpflanzten. Die großen, grünen Blätter aus diesem Garten wurden anschließend auf einer Wäscheleine getrocknet und bei Regen
und nachts in den Hausflur verlagert. Ihren Duft mochte ich ganz
besonders und war immer dabei, wenn Vati und seine Freunde sie
dann auf dem Küchentisch mit bloßen Händen zerrieben und sich
dann aus den ersten Krümeln in Zeitungspapier ihre ersten Zigaretten drehten und anzündeten. Ein Duft und eine feierliche, ja fast
sakrale Stille um diese großen Männer, die auch mich ehrfürchtig
schweigen ließ.
Da war das in der Möhlstraße natürlich etwas ganz anderes,
etwas ganz besonders spannendes gewesen. Vati und Herr Lachnitt
sprachen mit einigen dieser Furcht einflössenden Männer mit den
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hochgeschlagenen Mantelkrägen und den tief in die Stirn gezogenen
Schiebermützen. Kopfnicken, Gemurmel und dann plötzlich der
schrille, ohrenbetäubende Lärm einer Trillerpfeife!
„Achtung MP! Die Amis machen schon wieder Razzia!“
MP war die Abkürzung für die amerikanische Militärpolizei.
Von beiden Seiten kamen sie in ihren laut röhrenden, offenen Jeeps
heran gebraust und versuchten die Straße abzusperren. Und während sie von ihren Jeeps sprangen, nach allen Seiten ins Gebüsch
weglaufende Mantelmänner. Die Unglücklicheren wurden von
schwarzen Männern in dunkelblauen Uniformen abgefangen. Und
dann war die Straße auch schon fast wie leergefegt. Vati und Herr
Lachnitt, mit mir wieder ihn ihrer Mitte, versuchten, freundlich
grüßend, an den Polizisten vorbei zu gehen. Vermutlich war ihnen
das Herz in die Hose gerutscht. Doch einer dieser farbigen Militärpolizisten hielt uns auf. Er grinste uns freundlich an, schenkte mir
eine kleine Tafel Schokolade und forderte mich auf, davon zu probieren. Das erste Mal, dass ich so etwas überhaupt annehmen und
sogar davon essen durfte. Denn zwei oder drei Mal zuvor hatte Vati
mich aus der Reihe der jubelnden Kinder heraus gerissen und mir
wutentbrannt eine Ohrfeige gegeben, als amerikanische Soldaten auf
dem Zentralplatz unseres Barackenlagers Süßigkeiten verteilt hatten.
„Wehe du nimmst etwas von diesen Amerikanern! Das kann
vergiftet sein. Dann wirst du ganz schlimm krank und stirbst!“
Ja, Misstrauen, anfangs vermutlich sogar auch noch bittere
Enttäuschung, Wut und vielleicht sogar Hass gegen diese Amerikaner als Sieger des Weltkriegs saßen noch sehr tief in ihm. Aber dieses
Mal nickte er und begleitete meinen zuerst noch etwas zögerlichen
Genuss der Schokolade mit einem eher etwas säuerlichen Lächeln.
Schließlich war er in der Welt der Nazis, in deren tausendjährigem
Reich, erwachsen geworden. Aus seiner Geburtsstadt, der damals
noch autonomen Stadt Danzig, heute das polnische Gdansk, hatte es
ihn schon im Alter von achtzehn Jahren „heim ins Reich“, wie wohl
eine der griffigen Parolen jener Jahre hieß, nach Königsberg in Ostpreußen, heute das russische Kaliningrad, gezogen. Viel später, zu
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seinem 65. Geburtstag hatte ich ihn zu einer Reise in seine Geburtsstadt eingeladen. Sein Geburtshaus in Danzig-Neufahrwasser, direkt
an der Westerplatte steht noch. Für ihn wurde es ein Wellental von
Emotionen, durch das er dort Tage lang geholpert ist. Aber als späterer, auf den Führer vereidigter Berufssoldat ist er sein Misstrauen
und seine nie ganz verschwundene Geringschätzung gegenüber
Amerikanern eigentlich sein Leben lang nie ganz losgeworden. Den
selben Weg ins Reich hatte auch Mutti genommen, Johanna Gertrud, geborene Szuggar. Auch sie hatte sich nicht damit abfinden
wollen, dass ihre Geburtsstadt Memel nach dem Ersten Weltkrieg
dem 1918 neu gegründeten Staat Litauen zugeschlagen worden war
und seitdem als Klaipeda auf der Landkarte zu finden ist.
Als wir damals, nachdem uns dieser freundliche, schwarze Mann in
der blauen Uniform unkontrolliert und freundlich grinsend hatte
passieren lassen, zu unserem Holzvergaser zurück gekommen waren,
warteten in der Nähe schon einige dieser finsteren Mantelmänner
aus der Möhlstrasse, mit denen Vati und Herr Lachnitt gesprochen
hatten. Und dann wurde eilig getauscht. Waschbecken, Toilettenschüsseln und Stahlrohre wurden ausgeladen. Zigaretten, Seife, ich
glaube auch Parfüm, Zucker und was sonst noch alles, wurde in drei
große Leinensäcke gepackt. Und dann waren diese finsteren Mantelmänner auch schon wieder zwischen all den Häuserruinen verschwunden. Herr Lachnitt heizte den kleinen Holzofen im Heck des
Wagens wieder an. Lachend hob Vati mich in die Mitte der Sitzbank
und dann waren auch wir wieder verschwunden. Vati am Steuer und
Herr Lachnitt neben mir fingen an zu singen. Am Stadtrand Münchens, in der Nähe von Riem, passierten wir eine faszinierende Anhäufung großer, merkwürdig aussehender Holzkästen auf Rädern,
von denen die weiße Farbe wohl schon vor langer Zeit abgesprungen war. Wie richtige, kleine Häuser sahen sie aus. Voll bepackte
Wäscheleinen, die tief durchhingen und herumtollende Kinder mit
fremdartigen, dunklen Gesichtern, die uns zuwinkten.
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„Das sind Zigeuner und das ist ein Zigeunerlager. Zigeuner
sind faul. Und sie klauen und stehlen wie die Elstern. Da muss man
aufpassen und sich möglichst fernhalten. Früher wurde so etwas in
Arbeitslager gesteckt!“
Das war die knurrige, ja abschätzige Antwort Vatis auf meine
neugierige Frage, was das denn für Menschen seien. In dem monotonen Gebrumme und dem ewigen Klappern des Holzvergasers war
ich dann aber wohl relativ schnell und wohl auch sehr tief eingeschlafen. Bis, ja bis wir da oben im tiefsten Dunkel am Reichertsheimer Berg hängen geblieben waren. Aufregung und eine heftige
Diskussion zwischen Vati und Herrn Lachnitt, die mich wieder aufweckte. Den Wagen bekamen die beiden jedenfalls nicht mehr flott.
Dass sie ihn da so einfach hinter der Abzweigung stehen lassen
konnten war nicht das Problem, den würden sie morgen schon wieder irgendwie flott bekommen. Aber was mit all den Sachen, die sie
da in München eingetauscht hatten? Ach ja, die waren ja gut in den
drei Leinensäcken verpackt. Vati mit zwei gefüllten Säcken über den
Schultern und Herr Lachnitt mit einem Sack über der Schulter vor
uns herhumpelnd, so stolperten wir den Rest des Berges in der Dunkelheit hoch. Herr Lachnitt humpelte vor uns her, weil ihm als Soldat eine Kugel der Alliierten ein Stück der Hüfte zerschmettert hatte.
Seitdem ging er normalerweise an einem Stock. Dieses Mal aber
hatte er ihn nicht dabei. Schweigend dann der schier endlos lange
Weg von dort oben bergab, am Dorf Aschau vorbei, weiter über die
freien Felder bis hin zur schon maroden Einzäunung unseres
Barackenlagers. Der Weg schien einfach kein Ende mehr zu nehmen
und die Füße begannen mir entsetzlich weh zu tun.
„Sei tapfer mein Junge. Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“
Ein beliebter Spruch meines Vaters, den ich auch später
noch des öfteren zu hören bekam. Als besonders passend habe ich
ihn zwar selten empfunden, aber irgendwie hat er sich Zeit meines
Lebens eingeprägt. Schließlich und endlich erreichten wir das Loch
in dem doch schon ziemlich maroden Maschendrahtzaun, der früher
die Zwangsarbeiter an der Flucht hatte hindern sollen. Dann noch
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der steile Abhang hinunter zu unserer Baracke. Eine völlig aufgelöste
Mutti, deren Vorwürfe auf Vati nur so niederprasselten, nahm mich
in die Arme. Ich glaube, schon in ihren Armen war ich endgültig
eingeschlafen.
Ob dieser monströse, rumpelnde und ewig spotzende Holzvergaser damals überhaupt jemand gehört hat, habe ich bis zu dessen
endgültigem Verschwinden nie so richtig begriffen. Wahrscheinlich
war er ein weiteres Überbleibsel aus dem tausendjährigen Reich. Zu
viele der männlichen Barackenbewohner rumpelten irgendwann einmal mit ihm los. Und nach ihrer Rückkehr wurde er immer wieder
sehr sorgfältig in dem nächstgelegenen Trümmerbunker versteckt.
Bis er dann eines Tages eben einfach nicht mehr da war. Vermutlich
hatte er irgendwo draußen, irgendwo in der weiten Welt endgültig
seinen Geist aufgegeben oder die beiden inzwischen neu installierten
Dorfpolizisten oben im Dorf Aschau hatten ihn aus dem Verkehr
gezogen.
Oh ja, und überhaupt diese überall in den dichten Wäldern
um das Barackenlager herum verteilten, von den amerikanischen
Soldaten erst nach Ende des Krieges gesprengten Bunker. Trümmerbunker nannten wir Zwerge sie damals. Schließlich hatten auch die
anderen Flüchtlinge in diesem Barackenlager genügend Kinder passenden Alters, mit denen ich spielen konnte. Einer der Jungen hatte
immer Hunger. Und ich erinnere mich noch gut, wie er oft eilig zurück zur Baracke lief und seiner Mutter zurief: „Mama! Schmier´ mir
eine und schmeiß´ mir durchs Fenster!“ Gemeint war nicht er selbst,
sondern eine Scheibe Margarinebrot. Hunger ist ein Gefühl, das ich
eigentlich nie kennen gelernt habe. Aber dass das Essen zumindest
nicht sehr abwechslungsreich war, merkte ich, als ich eines Abends
nach Hause kam. Als ich die Wohnungstür öffnete, segelte ein Teller
an mir vorbei und prallte gegen die Barackenwand. Der Teller zerbarst, Kartoffelscheiben schneller und ein Spiegelei langsam rutschten auf den Boden. „Immer diese Scheiß-Bratkartoffen mit Spiegelei“, hörte ich Vati schimpfen. Natürlich war Mutti beleidigt. Ich
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wurde ins Wohnzimmer geschickt und als ich zurück kam, säuberte
Vati gerade den Fußboden.
Die gesprengten Bunker in den Wäldern übten natürlich eine magische Anziehungskraft auf uns Kinder aus. Trotz des ausdrücklichen
und oft wiederholten Verbots wohl aller Eltern waren sie einfach der
ideale Spielplatz für uns. Munitions- und Pulverreste, ja zwei-, drei
Mal sogar noch eine Handgranate waren da immer wieder zu entdecken. Die Größeren unter uns wussten schon, wie man mit Handgranaten umzugehen hatte und wie man sie zur Explosion bringen
konnte. Vor Erregung bibbernd und zitternd warteten wir dann hinter einer der mächtigen, abgekippten Betonmauern auf den gewaltigen Knall. Allerdings musste man sich anschließend schnellstens aus
dem Staub machen und möglichst tief im Wald verschwinden, weil
mit ziemlicher Sicherheit dann schon einer der zornentbrannten Väter angerauscht kam. Aber noch stärker hatten es vor allem uns Kleineren die Pulverreste angetan, die man so schön, in lange Schlangen
gelegt, abfackeln konnte, wenn einer der älteren Spielkameraden
Streichhölzer „besorgt“ hatte. Auch wenn es für die versengten
Hemden und Haare danach etwas auf die Mütze gab. Spätestens
zwei oder drei Tage nach diesem Donnerwetter fand sich die ganze
Meute wieder bei den Bunkern ein und begab sich erneut auf die
Suche nach Explosivem.
Einer dieser Trümmerbunker, direkt am Rand des Barackenlagers, hatte eine besondere Funktion. Die meisten der Vertriebenen
hatten mit der Aufzucht von Kleintieren begonnen. Hühner, Enten,
Gänse, Kaninchen, sogar Schafe und Ziegen. All diese Tiere liefen
da zwischen all den Baracken herum, nur um irgendwann die Speisekarte aufzubessern. Und für die Ziegen und Schafe brauchte man im
Winter natürlich Heu. Heu, das noch als Gras in dunkler Nacht von
den Weiden der Aschauer Bauern gestohlen und in dieser nahe
gelegenen Ruine zum Trocknen gelagert worden war. Eine zu große
Verlockung für uns Zwerge. Denn eines Tages zündeten wir es
einfach an. Was für herrliche Flammen das waren! Aber danach die
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wütende Suche unserer Erzieher nach den Schuldigen. Eine frühe
Lehre für mein weiteres Leben. Wir alle hatten uns vor Angst schlotternd geschworen, eisern zu schweigen und nichts und niemand etwas von unserer Missetat zu verraten. Aber gerade ein schon etwas
älterer Junge, Franzi Hüller, der mir bis dahin immer sehr imponiert
und der bei uns bis dahin so eine Art Anführerrolle gespielt hatte,
machte als Erster schlapp und verriet uns. Welch eine Enttäuschung
und noch dazu Hausarrest für zwei Wochen. Aber diese Enttäuschung war es wohl, die ein erstes Mal zu zwei getrennten Gruppen
führte. Zwei Gruppen von Zwergen, die sich zu prügeln und zwischen den Bunkerruinen mit Steinen zu bewerfen begannen. Einer
davon landete eines Tages direkt auf meinem Kopf. Blutverschmiert
lief ich zu unserer Baracke zurück. Mutti schien einem Herzinfarkt
nahe. Aber Vati behielt den Überblick und umwickelte meinen Kopf
mit einem Handtuch. Auf dem Gepäckträger seines Fahrrads brachte er mich zu dem praktischen Arzt im Dorf Aschau, Herrn Dr.
Alfred Sporer.
„Sei tapfer mein Junge! Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“
Dieses Mal wirkten diese beiden Sätze schon wesentlich besser. Und irgendwie sind sie sogar zu einer Art Leitmotiv in meinem
Leben geworden. Selbstbeherrscht und diszipliniert zu bleiben, mit
diesen beiden albernen, kleinen Sätzen habe ich es meistens zumindest einigermaßen geschafft. So weit ich mich erinnere, habe ich damals weder geweint noch gejammert, als die Platzwunde auf meinem
Kopf mit diversen Stichen genäht wurde. Aber möglicherweise war
es ja auch nur der Anblick der in meinen Augen so traumhaften Villa, in der dieser mit einer dicken Hornbrille bewaffnete Herr Doktor
residierte. Sie hatte mich offensichtlich so mächtig beeindruckt, dass
ich die Zähne zusammenbiss und stumm blieb. Alles gab es da, sogar eine Toilette mit Wasserspülung direkt im Haus! So also lebten
und wohnten Menschen außerhalb unseres Barackenlagers. Aus der
Erinnerung heraus wohl das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden ganz ernsthaft um etwas beneidete und mir ganz fest vornahm, es einmal auch so weit zu bringen.
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Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatten in „unserem“
Barackenlager, wie wir es nannten, Juden und Zwangsarbeiter, die
Sklaven der arischen Rasse, in den vielen, versteckten Bunkern für
die Dynamit Nobel AG Munition zur Bestückung der Waffen des
deutschen Militärs produzieren dürfen. Versteckt in diesem dichten
Waldgebiet südlich in einer Senke unterhalb des Bauerndorfes
Aschau. Ja sogar so gut versteckt, dass die alliierten Bomber diese
Anlage einfach nicht entdeckt hatten. Erst kurz nach Kriegsende
waren sie von amerikanischem Militär gesprengt worden. Das
„Werk“, wie die Bauern aus Aschau diese versteckte Ansiedlung der
Einfachheit halber verniedlichend genannt hatten. Und als dann all
die Vertriebenen aus den Ostgebieten des ehemals Großdeutschen
Reiches diesen malerischen Landstrich regelrecht überschwemmt
hatten und in die nun leerstehenden Baracken eingewiesen worden
waren, hatte es diesen Namen dann auch offiziell bekommen:
Aschau-Werk. (Im übrigen wurde dieses, „unser“ Barackenlager ein
gutes Jahrzehnt später dann abgerissen und das alte Territorium neu
eingezäunt. Und als Rechtsnachfolger der einstigen Dynamit Nobel
produziert dort heute eine Firma Wasag Chemie Munition für die
Deutsche Bundeswehr. Natürlich nicht mehr mit Zwangsarbeitern
wie einst, sondern mit, wie ich doch stark annehme, gut bezahlten
Ingenieuren und Facharbeitern.)
Ziemlich dunkel kann ich mich auch noch daran erinnern,
dass auch Vati und etliche unserer Nachbarn damals eine ganze Zeit
lang für die amerikanischen Militärs gearbeitet hatten. Aber besser
kann ich mich an seine späteren Erzählungen erinnern. Bei der amerikanischen Militärverwaltung hatten sie sich in einer zu diesem
Zweck gegründeten Gesellschaft einfinden müssen. Soweit ich mich
erinnere, hieß sie STEG. Society to empty Germany, wie böse Zungen damals behaupteten. Jedenfalls meine ersten Worte in Englisch.
Natürlich stimmte das nicht. STEG bedeutete „Staatliche Erfassungsgesellschaft“. Gegründet auch zum Abbau all der technischen
Anlagen dieser Munitionsfabrik, von denen etliches danach nach
Amerika verschifft wurde. Die Waschbecken, Zuleitungsrohre und
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Toilettenschüsseln aus den Steingebäuden der arischen Lagerkommandantur waren offensichtlich nicht ganz so interessant für Amerika gewesen. Und so hatte man sie still und leise zur Seite legen
können. Schließlich konnte man so etwas viel besser im zerbombten
München gebrauchen und somit erfolgreich dort an der Möhlstraße
gegen Lebensnotwendigeres eintauschen. Und sogar Geld hatte Vati
für seine Tätigkeit bei der STEG von der amerikanischen Militärverwaltung bekommen. Reichsmark! Ein Überbleibsel aus dem Tausendjährigen Reich. Offensichtlich völlig wertlos, weil niemand mehr
dieser Währung traute und lieber Tauschhandel betrieb.
Aber irgendwann waren all diese Anlagen und Maschinen
zerlegt und verschifft gewesen und all die Männer in unserem Barackenlager waren nun wieder ohne eine Arbeit. Nur Vati nicht.
Denn Mutti als Regierungsoberhaupt und Finanzminister unserer
Familie – eine Rolle, die sie im Lauf der Jahre noch sehr viel dominierender ausfüllen sollte – hatte es irgendwie geschafft, einen alten,
ausrangierten Opel P 4 zu erwerben. Und Vati als gelernter Kraftfahrzeugmechaniker hatte dieses in meinen Augen todschicke Auto
auch wieder flott bekommen. Für mich war das damals eine wahre
Luxuslimousine. Mit ihrem Charme beschaffte ihm Mutti zudem eine Taxilizenz bei den amerikanischen Militärbehörden. Ursprünglich
war der Plan wohl gewesen, dass auch Mutti dieses Taxi chauffieren
sollte. Jedenfalls machte sie den Führerschein. Aber was sie bis dahin nicht gewusst hatte, sie hatte fürchterliche Angst davor, ein Auto
zu steuern. Eine Angst, die wohl mit jeder Fahrt panischer wurde.
Und so endete diese Karriere sehr bald in einem Straßengraben.
Nichts Schlimmes, nur rückwärts rollend im Strassengraben war sie
gelandet und der Wagen hatte auch nur ein paar kleine Schrammen
abbekommen. Doch von da an hat sie sich Zeit ihres Lebens nie
mehr hinter das Steuer eines Autos gesetzt. Und auch als Mitfahrerin
hat sie diese Angst nie mehr ablegen können. Am liebsten saß sie
dann auf der Rückbank hinter Vati, weil sie da am wenigsten vom
Verkehr mitbekam. Für mich natürlich ideal, weil ich so schon als
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kleiner Junge immer den Beifahrersitz einnehmen durfte, wenn wir
privat irgendwo hinfuhren.
Jedenfalls gab es in Aschau-Werk nun plötzlich ein Taxi. Zu
der Zeit wohl fast eine Sensation. Und wir bekamen sogar ein Telefon in unsere Barackenwohnung gelegt. Damals das einzige Taxi
weit und breit. Nicht unbedingt für all die Vertriebenen in diesem
Lager. Aber westlich vom Dorf Aschau, fast versteckt zwischen Bergen gelegen, gab es das sogenannte „Salesianerlager“, das heute
Waldwinkel heißt. Keine Baracken, nein, richtige Häuser aus Stein
standen dort. Denn dort hatten bis weit in das Dritte Reich hinein
salesianische Mönche ihren Nachwuchs auf ihren Bekehrungsfeldzug für den christlichen Glauben in Afrika und Südamerika vorbereitet. Bis die SS sie schließlich ausquartiert hatte. Und nach Kriegsende hatten die Alliierten dort die bei Kriegsende noch Überlebenden aus den Konzentrationslägern einquartiert, sogenannte displaced
persons oder abgekürzt „DP´s“. Und die verfügten nun sogar über
„richtiges“, wertvolles Geld, nämlich amerikanische Dollar! Doch all
ihre persönlichen Angelegenheiten, Anträge, Anträge zur Wiederbeschaffung persönlicher Dokumente, Anträge auf Ausreisepapiere, ja
alles Mögliche mussten sie bei der amerikanischen Militärverwaltung
in München erledigen. Für sie war da ein Taxi natürlich höchst willkommen. Der Fahrpreis wurde individuell am Telefon ausgehandelt,
jeweils abhängig von der vermutlichen Aufenthaltsdauer in München. Und sie zahlten in Dollar. Dollar, die Vati brav ablieferte und
die Mutti wie einen Goldschatz im Keller versteckte. Ja, unsere
Wohnung verfügte über einen Keller. Durch eine Klappe, die direkt
unter meinem Kinderbett im Schlafzimmer versteckt war, konnte
man auf einer Art Hühnerleiter hinunter klettern. Oft kam Vati von
diesen Fahrten nach München erst spät Nachts zurück. Längst
schon im Bett konnte ich ihn und Mutti dann plötzlich noch reden
und lachen hören, denn die dünnen Bretterwände unserer Baracke
machten es praktisch unmöglich, nicht zu lauschen. Meistens brachte Vati mir von diesen Fahrten sogar etwas mit. Schokolade, eine
Puppe ohne Gesicht, die ersten Märchen und Malbücher oder ein18
mal sogar eine große Schachtel voller verschiedenfarbiger Holzklötzchen. An sie erinnere ich mich noch besonders gut. Denn mit ihnen
konnte man so herrliche Türme errichten, die man mit dem entsprechenden Zeitabstand, wenn man den Triumph des Bauens und Gelingens ausreichend genossen hatte, wieder mit einem Frontalangriff
zerstören konnte, um später wieder von Neuem mit neuen Varianten zu beginnen.
Und einmal brachte Vati sogar Stoff für mich mit. Richtig
feinen Zwirn, aus dem Mutti die erste lange Hose für mich von einer
unserer Nachbarinnen, „Pate Mieze“, schneidern ließ. Üblich waren
damals kurze Hosen und wenn es kälter wurde lange Strümpfe.
Lange Strümpfe mit Strumpfhaltern, die entsetzlich kratzten. Mit
stolz geschwellter Brust ging ich daher an dem ersten Sonntag Nachmittag, an dem ich diese Hose tragen durfte, in ihr zum Spielen.
Dummerweise zu den Werkstattgruben aus Beton, in denen die
Wachtruppen der SS früher ihre Lastwagen repariert hatten. Neben
den Treppen, die in diese Gruben hinunter führten war da ein etwa
dreißig bis vierzig Zentimeter breiter, mit glattem Beton ausgeführter Abstand zu der seitlichen Mauer. Und weil er doch so schön glatt
war, eignete er sich wunderbar dazu, auf dem Hosenboden in die
Grube hinunter zu rutschen. Allerdings nicht für das dafür wohl
doch zu feine Tuch dieser Hose. Als ich in der Abenddämmerung
mit durchgewetztem Hosenboden nach Hause kam, begann Mutti
tatsächlich zu weinen und Vati erfüllte seine Aufgabe als Erzieher
mit zwei, drei kräftigen Ohrfeigen. Oh ja, physische Bestrafung war
damals absolut nicht ungewöhnlich und man empfand sie in der
Regel sogar als gerecht. Denn schließlich hatte man dann ja auch
meistens etwas ausgefressen. Als eher peinlich empfand ich es allerdings jedes Mal, wenn Vati später dann langatmig begründete, warum diese oder jene Ohrfeige hatte sein müssen und dass sie ihm
eigentlich viel mehr weh getan hätte als mir selbst. Auf meinen,
allerdings nur ein einziges Mal gemachten Vorschlag, es dann doch
lieber sein zu lassen, wenn es ihm doch mehr weh tun würde als mir,
fing ich allerdings gleich noch eine ein!
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Aber irgendwann war auch diese Zeit des Taxiunternehmens vorbei.
All diese DP´s, diese displaced persons hatten ihre Anträge irgendwann einmal erledigt gehabt, hatten ihre Ausreise an andere Orte
oder in andere Staaten bewilligt bekommen und Vati hatte sie ein
letztes Mal zum Münchner Hauptbahnhof oder zum inzwischen
wieder normal funktionierenden Flughafen in München-Riem gefahren. Aber Mutti hatte ja ihren Dollarschatz im Keller, als die Währungsreform kam. Jeder Bürger bekam zuerst vierzig und dann noch
einmal zwanzig DM als Kapital für den Neustart in das deutsche
Wirtschaftswunder. Die Menschen begannen wieder zahlungswillig
zu werden. Aber weit und breit gab es da im „Werk“ ja noch kein
Geschäft, in dem man sich etwas kaufen und in dem man es für die
plötzlich wieder vorhandenen Lebensmittel hätte ausgeben können.
Das war offensichtlich Muttis Stunde! Sie beschloss, mit ihrem Dollarschatz aus dem Keller, ein Lebensmittelgeschäft zu errichten.
Allerdings nicht in unserem Barackenlager, sondern am Werksausgang Richtung Aschau Dorf, wo die ersten Mietshäuser für die Vertriebenen mit Geldern aus dem Marshall-Plan errichtet werden sollten. „Milch u. Gemischtwaren G. Possart“ stand da auf dem Ladenschild über der Eingangstür. Vati bekam einen weißen Kittel verpasst und war von nun an der Verkäufer in Muttis Geschäft. Und
für mich begann eine herrliche Zeit. Mutti und Vati verließen früh
morgens unsere Baracke mit dem Fahrrad und kamen erst abends
wieder zurück. Mutti manchmal beleidigt oder etwas schnippisch,
weil Vati einer der Kundinnen angeblich zu schöne Augen gemacht
oder irgend jemand schon wieder hatte „anschreiben“ lassen, obwohl der noch vom letzten Einkauf etwas schuldig war. Und Vati sie
besänftigend, weil das alles doch zum Geschäft gehöre. Morgens,
wenn ich ausgeschlafen hatte, zog ich mich an und wanderte auf der
„Beton“, so nannten wir all die Straßen durch den Wald, zu dem Geschäft. Und Mutti machte mir dort in einem Hinterzimmer, so einer
Art Büro, etwas zu essen. Aber ansonsten war ich den ganzen Tag
frei und immer heiß begehrter Kumpel meiner Spielkameraden.
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Konnte ich doch unbemerkt die ein oder andere Süßigkeit aus Muttis Geschäft mitbringen. Bonbons wurden damals nur in kreisrunden
Glaskugeln angeboten und sie wurden Grammweise verkauft. Einmal hineingegriffen, merkt ja sowieso niemand, so dachte ich, und
eine Handvoll in die Hosentasche gesteckt. Vati erzählte mir später
einmal, dass er das sehr wohl bemerkt, aber es Mutti nie verraten
hätte, weil er mir diese Sonderstellung gegönnt hatte. Hinter dem
Geschäft im Wald wartete dann schon die ganze Meute. Und nach
der Verteilung meiner Beute ging es tiefer in den Wald, zu den
Trümmerbunkern oder zu den Schlingpflanzen am Abhang Richtung Jettenbach. Diese Schlingpflanzen in den Fichten- und Föhrenbäumen übten eine besondere Anziehungskraft auf uns aus. Wir
nannten sie die „Judenstricke“. An ihnen hängend konnte man so
schön schaukeln und Tarzan spielen. Aber man konnte sie auch abschneiden und rauchen, bis einem schwindlig oder sogar schlecht
wurde. Das ging besonders bei uns Kleineren zur Freude der Größeren meistens relativ schnell. Das war die Zeit, als die ersten
Comics, Tarzanhefte, Prinz Eisenherz oder Mickymaus auf den
Markt kamen, die Mutti in ihrem Laden auch anbot. Und weil mich
das, was in den Sprechblasen stand, brennend interessierte, lernte ich
sehr schnell fast fehlerfrei zu lesen und wurde so zum gefragten
Vorleser für all meine Kameraden dort im Wald. Oder wir liehen
uns einen Leiterwagen aus, mit dem wir die „Beton“ in Richtung
Jettenbach hinunter rasten. Abwechselnd durfte einer nach dem anderen die Deichsel zwischen seine Beine nehmen und den Wagen
die kurvige Strecke als Steuermann nach unten lenken, während die
anderen geduckt, wie richtige Bobfahrer, hinter ihm kauerten. Es
war eine Zeit der totalen Freiheit, deren Begrenzung jeweils nur das
pünktliche nach Hause kommen um sieben Uhr abends war. Das
klappte allerdings nicht immer. Um sechs Uhr war Geschäftsschluss
und um sieben Uhr war Muttis Abendessen fertig. Und wenn ich
nicht pünktlich erschien, musste ich mich waschen und ohne
Abendessen ins Bett gehen. Aber sonst waren es meist gemütliche
Abende, an denen ich ungestört spielen und lesen konnte. Mutti und
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Vati waren da meistens mit ihren Kassenabrechnungen, Rechnungen
und Nachbestellungen beschäftigt. Dass das Ganze für beide wirklich nicht so ganz einfach war und ich dabei nicht stören sollte, hatte
ich schnell begriffen.
Doch im September 1950 war es dann mit dieser großen Freiheit auf
einen Schlag vorbei. „Dietmarle“, wie meine Eltern mich gerne
nannten, wenn sie in etwas rührseliger Stimmung waren, ein Kosename, den ich eigentlich nie gemocht habe, musste zur Schule. Zusammen mit meinen schulpflichtigen Leidensgenossen ging es vom
Zentralplatz des Barackenlagers aus den steilen Abhang hoch, durch
ein großes Loch in dem inzwischen doch schon sehr maroden Maschendrahtzaun hindurch, der noch aus dem Dritten Reich stammte.
Dann standen wir am Rand der Felder. Als erstes wurden dort oben
die langen, kratzigen Strümpfe von den Knöpfen an der Unterhose
befreit und zu einem Wulst nach unten gerollt. Und dann ging es
quer zwischen den Feldern hindurch in das Dorf Aschau. Das war
der wesentlich kürzere Weg, machte doch die asphaltierte Straße
nach Aschau einen viel zu weiten Bogen für uns. Das Schulhaus
selbst lag am westlichen Ende des Dorfes, direkt hinter der Kirche,
zwischen dem Dorffriedhof und einem großen Löschteich. Schallendes Gelächter der Bauernbuben am ersten Schultag, als die Lehrerin
meinen Namen aufrief und ich pflichtgemäß aufstand und „hier“
sagte.
„A Madel,“ brüllten sie und lachten schallend. Ich war wütend, beleidigt und tief getroffen. Und zu Hause muss ich wohl in
meiner Wut und mit meinen Tränen so überzeugend gewirkt haben,
dass ich noch am selben Nachmittag bei Frau Schmikal, der Friseuse, die inzwischen einen „Salon“, nicht weit von Muttis Geschäft
entfernt, eröffnet hatte, von meiner Lockenpracht befreit wurde.
Etwa hundert Meter vom Schulhaus entfernt stand die Kirche der Gemeinde, in der ich schon etliche Male gewesen war, wenn
eine Primiz, d.h. die Weihung eines Absolventen des katholischen
Priesterseminars in Freising zum Priester stattgefunden hatte.
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Ja, die alte Mutter Lerche
ging so gerne in die Kerche.
Doch zum Pfarrer war sie frech.
Bumms, da hat sie eine wech!
Das brüllte bestimmt einer der Flüchtlingsjungen, wenn wir vom
Pausenhof aus eine der alten Austrgsbäuerinnen in die Kirche gehen
sahen. Aber Spaß beiseite. Jedes Mal war es der erwachsen gewordene zweite oder dritte Sohn eines der reicheren Aschauer Bauern gewesen. Wieder ein gläubiger Sohn dieser Gemeinde, wie Weihbischof Neuhäusler, auf seinen Bischofsstab gestützt, dann zu verkünden pflegte. Wieder einer, der den Weg des Glaubens eingeschlagen
hat. Ja, ein richtig beeindruckendes Volksfest war das jedes Mal.
Dieser lateinische Singsang unter freiem Himmel, all die Buden auf
dem Weg zur Kirche, in denen alles Mögliche zum Kauf angeboten
wurde. Dann der Einzug all dieser so edel gekleideten Priester in das
Kirchengebäude und die lateinische Messe. Oh ja, dieser feierliche
Pomp und dieser Glanz beeindruckten mich jedes Mal so gewaltig,
dass ich mit fünf oder sechs Jahren unbedingt Priester und Bischof
werden wollte. Aber die Ernüchterung für den kleinen Erstklässler
kam schon in der ersten Unterrichtsstunde in Religion, auf die sich
der kleine Mann ganz unschuldig gefreut hatte. Denn Religionsunterricht war damals eine Sache des Dorfpfarrers.
„Du bist doch protestantisch,“ stellte der katholische Ortspfarrer Lindauer mit gekräuselter Stirn und vorwurfsvoller Stimme
fest, als er mich da in meiner Bank sitzen sah. „Also hast du hier
nichts verloren!“
Ich musste also das Klassenzimmer verlassen. Das empfand
ich als unwürdig und es tat damals sehr weh. Einen evangelischen
Priester, der mir wenigstens den Glauben der Protestanten hätte vermitteln können, gab es mangels genügend evangelisch getaufter
Schäfchen zu jener Zeit weit und breit auch noch nicht. Und zu
Hause hörte ich nur vom bösen Teufel, dem lieben Gott, von Jesus
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und den Schutzengeln, die mich beschützten. „Ich bin klein, mein
Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesulein.“ Gar nicht so
leicht, sich das bildlich vorzustellen. Aber vor allem die Schmach
hinausgeworfen worden zu sein, hat wohl meine jahrzehntelange Beschäftigung mit Religionen, speziell mit den drei monotheistischen
Religionen, irgendwie angestachelt und eigentlich bis heute wachgehalten. Was soll das für ein Gott sein, den solch arrogante Menschen
verkünden, wenn sie schon solch kleine, noch mehr oder weniger
unschuldige Jungen mit einem Stigma versehen? Und alles, was ich
seither in mich hinein gelesen habe, hat meine Distanz zu jeder Art
von Glaubensgemeinschaften immer nur noch größer werden lassen.
Immer ein Gott, der seine Schäfchen zu Auserwählten macht und
der die, die nicht an ihn glauben, im islamischen Extrem dann sogar
zu Schweinen oder Affen mutieren lässt. Zu Kreaturen, die man ohne Schuld auf sich zu laden ruhig auch erschlagen kann. Aber so weit
war ich damals verständlicher Weise noch nicht. Tief gedemütigt
verließ der kleine, blonde Junge jeweils zu Beginn des Religionsunterrichts das Klassenzimmer und begab sich zu dem Löschteich hinter dem Schulgebäude, um in dessen trübem Wasser flache Kieselsteine zum Hüpfen zu bringen. Doch das Gefühl des ausgegrenzt, ja
des ausgestoßen Seins milderte sich im Laufe der Zeit. Voller Genugtuung stellte ich nämlich fest, dass mich meine Klassenkameraden gerade deshalb zu beneiden begannen. Ganz offensichtlich hielt
Pfarrer Lindauer einen grottenschlechten oder einfach nur todlangweiligen Unterricht. Aber besonders lange war er dann sowieso nicht
mehr der Hirte seiner Aschauer Schäfchen. Mit einem von ihnen,
der Gemeindesekretärin, hatte er wohl eher versehentlich ein kleines
Schäfchen, ein Mädchen, gezeugt. Der Skandal im Dorf Aschau,
über den sich die Erwachsenen, allerdings nur hinter vorgehaltener
Hand, empörten. Und Pfarrer Lindauer bekam eine neue Aufgabe
im erzbischöflichen Ordinariat in München zugeteilt. Der Religionsunterricht in der Schule wurde nun an die Lehrer delegiert.
Pfarrer Lindauers Nachfolger wurde ein sehr freundlicher,
eigentlich immer lustig wirkender und sehr jovialer Mann, der für
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meine Nase etwas unangenehm nach Knoblauch roch. Sich mit so
einer Rasselbande lärmender Zwerge während einer Unterrichtsstunde abzugeben, dazu hatte dieser fröhliche Gemeindehirte offensichtlich keine Lust. Aber umso lieber und intensiver beschäftigte er sich
mit seinen Ministranten. Dafür, dass sie ihn immer einzeln in der
Sakristei seiner Kirche besuchten, dort wohl still hielten und ihren
Eltern gegenüber verschwiegen blieben, belohnte er sie regelmäßig
mit einem Zweimark Stück. Das war etwas, worum ich sie natürlich
beneidete, denn so ein „Zwickel“ war vier Mal mehr als das Taschengeld, das ich von meinen Eltern für einen ganzen Monat
bekam. Natürlich war ich neugierig und wollte wissen, wofür er
seinen Ministranten dieses Geld gab. Aber mehr als dass sie sich dort
einfach nur nackt vor ihm ausziehen mussten, bekam ich trotz all
meiner Neugier einfach nicht aus ihnen heraus, wenn wir danach gelegentlich an den Nachmittagen über die Felder und Weiden streunten. Die ersten Viehweiden, die nun schon mit elektrischen Zäunen
umfriedet waren. Nicht mehr wegen möglicher Eindringlinge oder
Dieben, sondern um Kühe und Pferde am weglaufen zu hindern.
Für uns waren diese Zäune eine gewaltige Mutprobe. Wer wagte es,
den Zaun anzupinkeln? Wumms! Das gab einen mächtigen Schlag
auf den Penis und ließ einen unkontrolliert zurück taumeln. Aber
man wurde bewundert und war ein Held. Natürlich wäre das nackt
ausziehen vor Hochwürden für zwei Mark auch für mich eine leichte
Übung gewesen, so dachte ich damals wohl. Worum es wirklich
ging, habe ich im Lauf meines Lebens dann ja genauer erfahren.
Aber da sich das Ganze innerhalb der katholischen Glaubensgemeinschaft abspielte, hatte ich einfach keine Chance, jemals an diesem Geldsegen zu partizipieren. Doch schon nach wenigen Jahren
bekam auch dieser joviale Hirte der Aschauer Gemeinde irgendwo
weit weg in einem Kloster eine neue Aufgabe zugeteilt. Da war ich
allerdings schon nicht mehr so richtig auf dem Laufenden, denn da
besuchte ich bereits das damals noch katholisch geführte Realgymnasium in Mühldorf am Inn und hatte schon keinen näheren Kontakt mehr zu meinen ehemaligen Spiel- und Schulkameraden.
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Fräulein Fahmüller, eine schon etwas in die Jahre gekommene, pummelige, kleine, aber ausgesprochen mütterliche Person und Fräulein
Stürmer, eine noch junge, hochaufgeschossene, schlanke Person mit
eher herberen Gesichtszügen, waren meine Lehrerinnen an der
Volksschule Aschau. Das Schulgebäude verfügte nur über vier Klassenzimmer und so gab es für jede Klasse an zwei Tagen der Woche
Nachmittagsunterricht. Um zwölf Uhr mittags, wenn die anderen
Klassen die Zimmer geräumt hatten, trat dann die andere Hälfte der
Schulkinder an. Ich empfand diese Regelung als ausgesprochen angenehm, denn das frühe Aufstehen war nach der Zeit der absoluten
Freiheit so gar nicht nach meinem Geschmack. Vati kam an den
Tagen des Nachmittagsunterrichts so gegen zehn Uhr auf dem Fahrrad aus Muttis Gemischtwarenladen zurück in unsere Baracke und
machte Frühstück für mich. Tee oder Limonade mochte ich irgendwie nicht und so ging Vati dazu über, mich zum Frühstück mit einem Milchglas an seinem Bier teilhaben zu lassen. Mutti hätte verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen, deshalb
blieb es auch lange unser Geheimnis. Ob es mir besonders geschadet
hat, kann ich nicht beurteilen. Für Außenstehende jedenfalls, so
hoffe ich zumindest, nicht erkennbar. Und bis heute schmeckt mir
mein abendliches Bier immer noch ausgesprochen gut.
Der Unterricht wurde in dem kleinen, zweistöckigen Schulhaus jeweils für zwei Klassen gleichzeitig in einem Zimmer erteilt.
Für die Lehrer manchmal sicher nicht die leichteste Aufgabe, wenn
der eine Jahrgang mit einer Stillarbeit beauftragt wurde, während der
Unterricht für den anderen Jahrgang verbal fortzusetzen war. Irgendwann waren die kleinen Stillarbeiter dann aber einfach nicht
mehr zu bremsen. Für mich am Anfang besonders schwierig und
langweilig, konnte ich doch schon lesen und auch schon in Druckbuchstaben schreiben. Fräulein Stürmer mit ihrem herben Charme,
die zuerst das Vergnügen hatte, mich zu unterrichten, setzte sich
dann meistens sehr rigoros durch und so hatte ich bei ihr des öfteren
die Ehre, mich in einer Ecke des Klassenzimmers mit dem Gesicht
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gegen die Wand stellen zu dürfen. Interessierte mich doch der Unterricht für die zweite Klasse viel mehr als das Erlernen von Buchstaben, die ich doch längst schon kannte. Und so gab ich eben ungefragt Antworten auf die Fragen an die höhere Klasse.
Einmal allerdings musste ich mich zur Strafe in die Ecke stellen, weil ich morgens zu spät im Unterricht erschienen war. Am
Nachmittag zuvor war ich beim Schlittenfahren gestürzt und mein
Schlitten war mir voll auf die Schulter gefallen. Vati hatte mir aus Eisenrohren diesen ziemlich schweren Schlitten zusammen schweißen
lassen, der prächtig fuhr und schneller als die Holzschlitten all der
anderen war. Mein Arm schmerzte entsetzlich und ich schlich nach
Hause. Mutti war, wie immer in solchen Situationen, verschreckt,
aber Vati übernahm das Kommando. Er tastete meinen Arm bis zur
Schulter ab. Nichts gebrochen, konstatierte er kurz. Dann wieder
sein beliebter Spruch vom Indianer, der keinen Schmerz kennt. „Sei
nicht so zimperlich, du kleiner Armleuchter, das vergeht wieder!“
Am nächsten Morgen dann den Schulranzen auf den Rücken und ab
in die Schule. Und das tat weh. Ich musste immer langsamer gehen,
damit die Schmerzen einigermaßen erträglich blieben. Zu langsam
für meine Begleiter, die ja rechtzeitig in der Schule sein wollten. Als
ich endlich ankam, hatte der Unterricht längst begonnen und meine
Erklärung nicht akzeptiert. „Ausrede“, sagte Fräulein Stürmer nur.
„Ab in die Ecke!“
Ich weiß nicht mehr, ob ich aus Wut, aus Enttäuschung oder
vor Schmerzen einfach losheulen wollte. Aber ich weiß noch gut,
dass ich mir auf die Zähne gebissen und es nicht getan habe. Nein,
so sollten mich meine Klassenkameraden jedenfalls nicht sehen. Am
Abend danach bekam ich Fieber und einen so heftigen Schüttelfrost,
dass Mutti nach Herrn Dr. Sporer telefonierte. Der kam auch und
stellte fest, dass mein Schlüsselbein gebrochen war und dieser
schmale Knochen fast schon die Haut durchbohrte. Der Lederriemen des Schulranzen hatte das wohl bewirkt. Nicht auszudenken,
was passiert wäre, wenn ich noch einmal hingefallen wäre. Ich hatte
einfach nur Glück gehabt. Aber etwas Glück braucht der Mensch im
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Leben wohl immer. Und das hat mich bis heute nicht verlassen. Ich
jedenfalls war es zufrieden und Vati ziemlich geknickt. Denn nun
musste er sich Muttis heftige Vorwürfe anhören. Und das konnte
endlos dauern, wenn sie erst einmal in Fahrt gekommen war! Nach
der Eruption dann tagelanges, beleidigtes Schweigen gegenüber dem
als Schuldigen ausgemachten. Etwas, was ich schon damals als ausgesprochen unpassend und unangenehm empfand und gegen das ich
in späteren Jahren resistent wurde.
Sich bei Fräulein Stürmer während der Stillarbeit zur Beantwortung von Fragen an die Zweitklässler zu melden oder überhaupt
die für mich manchmal offensichtlich wirklich kinderleichten Antworten womöglich auch noch ungefragt einfach in das Klassenzimmer hinein zu rufen, war allerdings grundsätzlich wenig ratsam. Und
zu oft wollte ich ja auch nicht in der Ecke des Klassenzimmers stehen. In meinem Zeugnis unter der Rubrik „Allgemeine Würdigung“
meiner Leistungen im ersten Schuljahr wurde das von Fräulein Stürmer wie folgt dokumentiert: „Ein kleiner Schwätzer, aber fleißig und
aufmerksam.“
Eine Aufmerksamkeit, die mich bei meinen Klassenkameraden, von denen ja fast alle aus den Bauernhöfen kamen, aber vor
allem bei deren Müttern relativ schnell populär werden ließ. Diese
armen Buben kamen oft schon völlig erschöpft in den Unterricht.
Hatten sie doch schon in aller Frühe, so ab fünf Uhr morgens, Kühe
melken oder Schweine füttern oder sonst irgendwo im Stall oder vor
dem Beginn des Nachmittagsunterrrichts schon auf dem Feld mitarbeiten müssen. Von den allabendlichen Stallarbeiten ganz zu schweigen. An ihren Lernerfolgen waren die meisten ihrer Väter wohl
schon bei ihrer Zeugung nicht interessiert gewesen. Und so wurde
ich sehr schnell zu einer gefragten Adresse. Der Flüchtlingsbub hatte
ja genügend Zeit. Also verbrachte ich von da an viele Nachmittage
damit, einigen der Bauernbuben bei der Erledigung unserer
Hausaufgaben zu helfen. Und so mit acht oder neun Jahren durfte
„da kloane Preiß“ zur Belohnung dann auch schon mal mit dem
Bauern auf dem Traktor, dem „Bulldog“, hinaus auf die Felder
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fahren und sogar beim Pflügen der Äcker selbst den Traktor steuern
und die Furchen ziehen. Oder ich durfte, wenn am nächsten Tag
Nachmittagsunterricht war, sogar noch bei den abendlichen
Stallarbeiten mitmachen. Als Barackenbewohner fand ich das alles
einfach toll und so ein Bauernhof mit all seinen Tieren wurde in
diesen Jahren so eine Art Traumschloss für mich.
„Wir sind geboren, um auch für andere Menschen da zu
sein,“ hatte mir Mutti mehr als einmal als kleiner Junge gepredigt.
Das hatte ich schon kapiert. „ Aber wofür sind denn eigentlich die
anderen Menschen da“, hatte ich sie gefragt. Eine mich
zufriedenstellende Antwort darauf hatte ich von ihr allerdings nicht
bekommen.
Aber jetzt schien ich es so ganz langsam begriffen zu haben.
Meinen Klassenkameraden nachmittags helfen zu können, gab mir
immer ein gutes Gefühl. Besonders an die Bauernfamilie Rappensberger erinnere ich mich bis heute noch sehr gut. Oft war ich auf
deren Hof. Georg, „Schosi“, so weit ich mich erinnere, der dritte
Sohn der Familie, ging mit mir in die selbe Klasse und wurde mein
Banknachbar. Ein durchaus aufgeweckter, kluger, drahtiger, ja gewitzter, kleiner Junge, dem ich lieber als den anderen half. Viele
Jahre später, als erwachsener Mensch, habe ich ihn ein paar Mal in
Aschau wieder getroffen. So rund und fett war er da inzwischen
geworden, dass ich ihn beim ersten Mal kaum wiedererkannt habe.
Wie übrigens auch die meisten meiner damaligen Klassenkameraden
aus dem Dorf enorm an Gewicht zugelegt hatten. Ob ich denn
krank sei, wurde Mutti später manchmal von ihren Nachbarn gefragt, als ich Aschau schon lange verlassen hatte. Auf ihre Gegenfrage warum diese Frage, als Antwort, weil ich doch so dürr und so
abgemagert sei. Und bei jedem meiner wenigen Treffen mit Schosi
war dieser schon sehr gut alkoholisiert. Den Hof hatte, wie in Bayern üblich, sein ältester Bruder geerbt. Er selbst war nach dem
Abschluss der Volksschule so etwas wie ein Chemiefacharbeiter bei
der Wasag-Chemie in Aschau-Werk geworden, einer dieser neuen
Waffenschmieden unserer Republik. Und letztlich haben mir diese
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wenigen, späteren Begegnungen, die mühsamen Gespräche mit ihm
und seine Schilderungen alles noch viel klarer werden lassen. Bei all
ihren später Geborenen waren die Bauern nur an deren Arbeitskraft
interessiert gewesen. Was später einmal aus ihnen als Nichterben
werden würde, war ihnen letztlich wohl herzlich egal gewesen. Und
so sind vermutlich noch mehrere solcher Begabungen wie der kleine
Schosi einfach im Dorf selbst oder irgendwo in der Nähe verkümmert. Es sei denn, einer dieser empfindsamen, katholischen Priester
hatte ihnen Zugang zum Priesterseminar in Freising verschafft. Aber
dazu hatte dann wohl irgendwann die innerkirchliche Reputation der
gelegentlich wechselnden Aschauer Gemeindehirten auch nicht
mehr gereicht.
Bei Fräulein Fahmüller, die mich nach Fräulein Stürmer unter ihre
Fittiche bekam, stieg ich dann fast in die Höhen eines Genies auf.
Manchmal eher unangenehm für mich und auch ziemlich lästig, weil
jeder meiner Streiche plötzlich mit dem Hinweis auf meine besonderen Talente ganz besonders getadelt und bestraft wurde. Sie war
sich mit meinen Eltern jedenfalls sehr schnell einig, dass ich unbedingt auf eine höhere Schule müsste. Und außer dem für Aschau damals aktuellen Priesterseminar in Freising, gab es die einzig erreichbare Schule dieser Art in der Landkreishauptstadt Mühldorf am Inn,
etwa zwanzig Kilometer von Aschau entfernt. Damals noch ein
halbstaatliches, katholisch geführtes Institut, in das man erst nach
einer Aufnahmeprüfung gelangte und für das die Eltern Schulgeld zu
bezahlen hatten. Soweit ich mich erinnere, waren das damals dreißig
Deutsche Mark im Monat. Ein Betrag, der 1954 weit mehr als zehn
Prozent des Monatsgehaltes meines Vaters ausmachte. Die Eltern,
die heutzutage so etwas selbstverständlich und ungefragt tun, möchte ich gerne kennen lernen. Und diese Aufnahmeprüfung endete mit
meiner nächsten, wieder völlig unerwarteten Kollision mit Religionsgemeinschaften. In Mühldorf am Inn gab es inzwischen schon einen
evangelischen Pfarrer, einen Herrn Dr. Julius Weichlein, der für den
Religionsunterricht der noch wenigen in diesen Landkreis verspreng30
ten protestantischen Schüler an diesem Gymnasium zuständig war.
Ein fundamentalistischer, ziemlich großer, dicklicher Hardliner, der
es später sogar zum Titel eines Landeskirchenrates brachte. Aber mit
meinen, ihm wohl zu katholischen oder einfach zu laienhaften Antworten auf seine Fragen war er nicht zufrieden und wollte mir die
Aufnahme in diese witziger Weise katholische Institution verweigern. Allerdings überstimmten ihn die Prüfer in Deutsch und Rechnen. Ein Ansinnen über das er sich in meiner vor und vor allem
nachpubertären Schulkarriere mehr als einmal ärgern sollte. Denn
diese erneute Erniedrigung hatte mich endgültig angestachelt, viel in
Bibeltexten und viel über Religionen zu lesen. Oh ja, Vergangenheit
ist etwas, was niemals aufhört und irgendwie deine Zukunft weiter
mitbestimmt. Aber das realisierst du erst viel, viel später. Jedenfalls
konnte ich ihm später so seine Unterrichtsstunden oft mit meinem
angelesenen Wissen zur Qual machen. Und ich tat es mit Genuss
und manchmal auch zum großen Vergnügen meiner Klassenkameraden. Ob ich damit jemals Zweifel in deren Köpfen gesät habe, weiß
ich nicht. Vermutlich eher nein. Aber dass weder das Alte noch das
Neue Testament nicht wörtlich zu verstehen sind, musste selbst dieser frömmlerische Fettkloß Dr. Weichlein eingestehen. Es gibt ja genügend Beispiele dafür. Und warum ein Gott seinem auserwählten
Volk, den Israeliten, ausgerechnet ein Land verspricht, das offensichtlich schon gut besiedelt ist, mit der Maßgabe, alle Bewohner bis
zum letzten Säugling zu erschlagen, führte in späteren Jahren einmal
zu einer heftigen Diskussion, die abrupt beendet wurde. Denn nach
einer meiner Zwischenbemerkungen, sein Gott und sein Joshua
seien nichts anderes als Massenmörder, die heute dafür in den Knast
gehen würden, brachen Gelächter, Trommeln auf die Schulbänke
und Beifall meiner protestantischen Mitschüler aus. Dr. Weichlein
war so geschockt, wütend und sprachlos, dass er sich mitten in der
Unterrichtsstunde umdrehte, das Klassenzimmer verließ und nicht
mehr zurück kam. Dies und auch anderes brachten mir den Ruf
eines kleinen Revoluzzers ein, der ich eigentlich nie in meinem Leben gewesen bin. Wenn, dann habe ich vielleicht oft und manchmal
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wohl auch undiplomatisch meine Meinung vertreten. Jedenfalls
konnte mich Dr. Weichlein bis zum Abitur nicht leiden. Was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Vermutlich bin ich so etwas wie
ein kleiner Albtraum für ihn gewesen. Denn selbst für das Abiturzeugnis musste er mir im Kreise seiner Lehrerkollegen mit bleichem
Gesicht sogar noch ein „sehr gut“ zugestehen.
Überhaupt Religion und Glauben. Auch in späteren Jahren
habe ich es versucht und weiter gelesen. Das Alte Testament mit
seinen doch sehr menschlichen Geschichten fasziniert mich bis
heute. Aber von dem kindlichen Glauben an den „lieben“ Gott ist
da nichts mehr übrig geblieben. Schon der Anfang, wo dieser Gott
seinen Bund mit Jakob schließt. Mit einem Betrüger, der sich den
Segen seines schon blinden Vaters Isaak erschlichen hat. Und sein
Bruder Esau ist das Opfer dieses Betruges. Der arme Kerl wird
Stammvater der Edomiter, die später von den Nachkommen Jakobs,
den Israeliten und Judäern, ermordet und aus den ihnen zugeteilten
Bergen des Landes Kanaan auch noch verjagt werden. Wo bleibt da
die angebliche Gerechtigkeit dieses allmächtigen Gottes? Oder was
für ein Gott, der seinem gefallenen Erzengel Luzifer die Erlaubnis
gibt, einen seiner treuesten Gläubigen Hiob zu quälen, zu erniedrigen und mit Krankheiten zu plagen, nur um herauszufinden, ob er
dann von seinem Glauben an ihn abfalle. Und dieser arme Mann tut
das nicht, sondern bleibt ihm treu. Allerdings will er eine Begründung von ihm dafür, warum er so gequält wird. Und wie ist die Antwort? Du kannst dies nicht und auch alles das nicht, was ich kann.
Ätsch! Also halte endlich dein Maul und bete, dann geht es dir
wieder gut! Etwas zu billig als Lösung für mich. Dies und so manch
andere solcher Geschichten, viel später auch aus dem Koran, haben
jedenfalls nicht vermocht, mir den Glauben an einen allmächtigen
Gott näher zu bringen. Im Gegenteil. Als Geschichte der Stämme
der Juden, mit all den Höhen und Tiefen dieses Volkes lese ich im
Alten Testament bis heute immer noch ganz gern. Gibt es doch
einen wunderbaren Einblick in die Abgründe der Menschheit. Von
dem Bedürfnis oder einer Verpflichtung oder einer Notwendigkeit
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an irgendeinen, womöglich sogar einen gerechten Gott zu glauben,
fühle ich mich jedenfalls frei.
Aber zurück an das Ende meiner Kindheit. Im Jahr 1954 wurde
Deutschland zum ersten Mal Fußballweltmeister. Wir waren Fußballweltmeister! Und ich wurde nach vielen Jahren der erste und für
viele Jahre danach dann wohl auch der einzige Aschauer Gymnasiast
am Realgymnasium in Mühldorf am Inn. Für mich begann jetzt ein
ganz anderes, völlig neues und richtig aufregendes Leben. Wir waren
inzwischen umgezogen. Raus aus dem Barackenlager in einen der
neu errichteten Mietblöcke, die mit Marshallplan – Geldern aus den
Vereinigten Staaten für uns Vertriebene, wie wir inzwischen offiziell
genannt wurden, errichtet worden waren. Zweieinhalb Zimmer im
Hochparterre, nur wenige Meter von Muttis Gemischtwarenladen
entfernt. Und die neu angelegte, asphaltierte Straße bekam sogar einen Namen: Robert Bosch Straße. Das halbe Zimmer wurde meines.
Klitzeklein zwar, aber zum ersten Mal hatte ich mein eigenes Zimmer, mein eigenes Reich. Und natürlich war ich sehr stolz darauf.
Aber das hieß jetzt um sechs Uhr morgens aufstehen. Mutti hatte in
der Kochnische dann schon das Frühstück zubereitet. Um Viertel
vor sieben kam der Linienbus der Firma Sumser am alten Haupttor
des Werkes an. Und mit all den Haltestellen in Aschau – Dorf bei
der Brauerei Ametsbichler, Thann, Waldkraiburg, Lager Pürten,
Altmühldorf und Bahnhof Mühldorf brauchte er doch mehr als eine
Stunde bis er endlich auf dem Stadtplatz in Mühldorf seine Endstation erreichte. Der Bus zurück nach Aschau-Werk fuhr ziemlich
genau um dreizehn Uhr in der Mitte des Mühldorfer Stadtplatzes ab.
Nur ziemlich genau, weil der Busfahrer immer brav wartete, bis all
seine Fahrschüler angerauscht waren. Da hieß es nach dem letzten
Läuten der Schulglocke die Beine unter die Arme zu nehmen und zu
rennen, wenn man diesen Bus noch erwischen wollte. Denn der
nächste und zugleich letzte ging um halb fünf Uhr nachmittags.
Etwas, was später in und nach der Pubertät zu einem wahren
Glücksumstand wurde, wenn jemand nach dem Unterricht mit
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seiner gelegentlich wechselnden „heißen Flamme“ noch ein bisschen
am Ufer des Inn spazieren gehen und mit ihr etwas „Süßholz raspeln“ wollte. Ausdrücke, die mir bis heute besser gefallen als „cool“
oder „geil“. Jedenfalls hatte man dann zu Hause als einleuchtende
Entschuldigung, dass man aus schulischen Gründen den Mittagsbus
leider nicht mehr erreicht hatte. Ein Umstand, der für mich, allerdings etliche Jahre später, im doppelten Sinn noch sehr viel wichtiger
werden sollte.
Aber noch etwas anderes änderte sich nach diesem Schulwechsel abrupt. Nicht nur die Tatsache, dass ich erst gegen zwei Uhr
nachmittags aus der Schule zurück kam, nach dem Mittagessen sehr
eifrig und wirklich pflichtbewusst zuerst meine Hausaufgaben erledigte und erst gegen fünf oder halb sechs Uhr abends nach draußen
ging, ließ den Kontakt zu meinen ehemaligen Spiel und Klassenkameraden sehr schnell abreißen. Da war kaum noch Zeit für die anderen, die das offensichtlich nicht verstehen wollten. Und plötzlich
war ich für sie so etwas wie ein Feind geworden, auf jeden Fall ein
Außenseiter, ein widerlicher Streber, dem man zeigen musste, wie
sehr man so einen verachtete. Argumente und Erklärungsversuche
von meiner Seite halfen da einfach nicht mehr weiter und das Ganze
eskalierte immer stärker. Am besten, man verprügelte so einen! Um
das zu vermeiden, hätte ich natürlich auch zu Hause bleiben können,
aber das ließ mein Stolz einfach nicht zu. Schließlich ging es so weit,
dass ich eines Tages einem von ihnen, Horst Kristoff, bei so einer
Sammelattacke gegen mich, mit einem Küchenmesser, das ich in
meiner Angst aus der Küche mitgenommen hatte, eine tiefe,
schrecklich blutende Stichwunde in seinem Oberschenkel beibrachte. Er schrie und heulte und seine Komplizen ergriffen das Hasenpanier, als sie das Blut und mich mit dem bluttriefenden Messer in der
Hand vor sich sahen. Riesengroße Aufregung danach, Rufe nach Dr.
Sporer und nach der Polizei und wüste, gegenseitige Beschimpfungen der Eltern. Und sogar Leute, die meine Tat mit einem Augenzwinkern abnickten. Am Ende wider Erwarten keine Bestrafung für
mich und Vati legte mir grinsend die Hände auf die Schultern, als
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wir wieder allein in der Wohnung waren. Jedenfalls hatte ich von da
an Ruhe. Allerdings hatte ich seitdem in Aschau-Werk auch kaum
noch Freunde. Etwas, was mich schon nicht mehr besonders
großartig berührte, entwickelten sich doch in meiner neuen Schule in
Mühldorf und wenige Jahre später auch durch den Sport schnell
neue Freundschaften.
Ja, und noch etwas wesentliches änderte sich für unsere Familie in
diesen Jahren. Der Deutsche Bundestag, der damals ja noch in Bonn
residierte, hatte ein Gesetz zur Wiedereingliederung ehemaliger Berufssoldaten verabschiedet, mit irgendeinem Paragraphen 131. Der
traf auf Vati zu. Denn schließlich war er zehn Jahre Berufssoldat in
Hitlers Armee gewesen. Er erzählte kaum darüber und wenn, dann
nur darüber, dass er nur wenig erfreuliche Erfahrungen in dieser Zeit
und in diesem Beruf bis zum Zusammenbruch des Tausendjährigen
Reiches hatte sammeln können. Und trotz meiner mit zunehmendem Lebensalter immer bohrenderen Fragen, hat er nie wirklich etwas konkretes darüber und über seine Erlebnisse und seine Taten im
Zweiten Weltkrieg erzählt. Nein, böser Taten habe ich ihn nie verdächtigt, aber sein Schweigen hat mich irgendwie immer gestört.
Doch nun bekam er plötzlich die gesetzlich garantierte Gelegenheit
Beamter zu werden. Polizei, Bahn und Post standen zur Auswahl.
Und Mutti entschied das sehr entschlossen für ihn. So, wie sie eigentlich immer alles entschied. Ihr Traum war es offensichtlich immer schon gewesen, mit einem Beamten verheiratet zu sein. Dann
ist man sein Leben lang finanziell abgesichert, war ihre feste Überzeugung! Und das hat sie dann in späteren Jahren auch von mir
erwartet. Eine Erwartung, die zu ihrem Leidwesen allerdings nicht in
Erfüllung gegangen ist. Allein die Vorstellung schon mit zwanzig
Jahren ausrechnen zu können, was man einmal mit sechzig Jahren
verdienen würde, war einfach zu langweilig für mich. Deshalb hätte
es ihr sicher umso größere Freude bereitet, dass ihr geliebter Enkel
Stefan diese Erwartung inzwischen erfüllt. Dass Vati als Polizist womöglich noch einmal Waffen tragen würde, kam für Mutti schon
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überhaupt nicht in Frage. Und als Bahnbeamter würde er womöglich
öfter mal länger von zu Hause fort sein. Vielleicht sogar als Reisebegleiter in irgendwelchen Schlafwägen. Wer weiß, auf was für Frauen
er da treffen würde. Das wollte sie nicht. Oh nein, eifersüchtig war
Mutti nie! Behauptete sie zumindest. Sehr zum Vergnügen von Vati
und mir. Also wurde Vati Postbeamter. Zunächst nur auf Probe und
als Briefträger. Und er hat sich auf seinen neuen Beruf mit wirklich
großem Ehrgeiz, Ausdauer und Energie gestürzt. Stufe um Stufe
kletterte er die Karriereleiter hinauf. In späteren Jahren wurde er sogar noch Leiter des Postamtes Waldkraiburg und als hoch geachteter
Postoberinspektor ging er mit dreiundsechzig Jahren hochgeehrt
und auch ein bisschen stolz in den wohlverdienten Ruhestand. Da
allerdings war er gesundheitlich schon ziemlich angeschlagen. Offiziell hörte er damals Mutti zu Liebe sogar auf zu rauchen. Und so
hatte ich bei unseren Familienbesuchen dort oder bei ihren Besuchen bei uns die Ehre, immer nach ihm die Toilette zu besuchen,
wenn er dort schnell und heimlich eine geraucht hatte. Denn dann
war es mein Qualm, den Mutti dort erschnuppern konnte.
„Nimm´ dir ein Beispiel an Vati und hör´ endlich auch auf,“
tadelte sie mich dann gern. Vati und ich haben uns dabei oft grinsend zugezwinkert. Es war wohl das letzte Laster, das ihm noch Vergnügen bereitete. Die Strapazen des Krieges, der Gefangenschaft,
eine ziemlich missratene Operation zur Entfernung seiner Nierensteine, die operative Entfernung seiner Krampfadern, das alles hatte
seinen Körper wohl schon ziemlich mitgenommen. Doch dann kam
1984 der Horrorbefund Magenkrebs für ihn. Nach der Operation in
Großhadern war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein paar
Monate sah es danach sogar aus, als wäre die Operation erfolgreich
gewesen. Aber dann ging es im Eiltempo und rapide bergab mit ihm.
Kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag starb er Anfang August
1985 im Krankenhaus Haag. Ich hatte Mutti am Abend zuvor nach
Hause gebracht. Die letzten Stunden seines Lebens war ich mit ihm
ganz allein in seinem Krankenzimmer. Auch da kein Wort über seinen möglichen, kurz bevorstehenden Tod. Es war eine ganz merk36
würdige Situation. Obwohl er genau wusste, wie es um ihn stand
und obwohl er wissen musste, dass auch wir es wussten, tat er so, als
wäre das alles nur eine vorüber gehende Schwäche, die er bald überwunden hätte. Und dann ist er gegen ein Uhr morgens ganz still eingeschlafen. Ich habe mich oft gefragt, warum er uns das alles bis zu
seinem Ende vorgespielt hat. Wahrscheinlich war es einfach nur so,
dass er uns und dass er vor allem sein geliebtes „Trudchen“ nicht
erschrecken wollte.
Diese Mitte der Fünfziger Jahre neu gewonnene und von ihr offensichtlich so heiß ersehnte finanzielle Sicherheit ließ Mutti 1955 zielgerichtet weiter überlegen. Als Vati schließlich seine Ernennungsurkunde als Beamter auf Lebenszeit bekommen hatte, verkaufte sie ihr
Milch und Gemischtwarengeschäft und wurde wieder Hausfrau. Der
Erlös aus diesem Verkauf bildete den Grundstock für den Erwerb
eines Reihenmittelhauses auf der anderen Straßenseite. Ebenfalls mit
Mitteln aus dem Marshall-Plan, mit denen Deutschland wieder aus
dem Bankrott nach dem Zweiten Weltkrieg herausgeholt werden
sollte, waren auch diese Reihenhäuser Mitte der Fünfziger Jahre
entstanden. Gut, ein solider finanzieller Grundstock für den Kauf
dieses Hauses war durch den Verkauf des Geschäftes ja vorhanden.
Aber was war mit dem restlichen Kaufpreis? 25.000 Deutsche Mark
sollte das Haus kosten. Die Raiffeisenbank Aschau war bereit, einen
Kredit für den Restbetrag, ich glaube mich zu erinnern, so um die
10.000 Mark, zu geben. Zweihundert Deutsche Mark im Vierteljahr
an Zinsen und Tilgung bedeutete das an Rückzahlungsverpflichtung.
Und ich erinnere mich noch gut an die schier endlosen, abendlichen
Diskussionen zwischen den beiden. Vati war eindeutig der Optimist
und Mutti die Zögerliche. Überhaupt ein Optimismus, der Vati Zeit
seines Lebens nie verlassen hat, während Mutti mit zunehmendem
Alter immer sorgenvoller und immer ängstlicher wurde. Doch damals setzte Vati sich durch und das Reihenhaus in der RobertBosch-Straße Nr. 16 wurde gekauft. Bliebe nur noch zu erwähnen,
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dass sie schon wenige Jahre später die verbliebene Resthypothek
voller Stolz vorzeitig getilgt hatten.
Mutti überlebte Vati um zwölf Jahre. Nach seinem Tod fällte sie allerdings keinerlei Entscheidungen mehr. Irgendwie war ihr Unternehmungsgeist mit seinem Tod absolut erloschen. Und sie war
plötzlich nur noch die hilfsbedürftige Oma. Jetzt erwartete sie die
Entscheidungen von mir. Und so gut es ging – und ich hoffe, dass
ich immer richtig für sie entschieden habe – hatte ich nun zu entscheiden. Und so langsam dämmerte sie im Laufe der Jahre mit zunehmender Demenz weg. Nein, es waren keine guten Jahre mehr für
sie. 1997 verstarb sie dann nach einer – weiß der Teufel wo und wie
eingefangenen – Lungenentzündung. Auch sie habe ich an ihrem
Sterbebett bis an ihr Ende begleitet. Im Gegensatz zu Vati, der ganz
still und ruhig eingeschlafen war, kämpfte Mutti bis zu ihrem letzten
Atemzug. So als wolle sie um alles in der Welt nicht loslassen.
Szuggar, ihr Geburtsname, so meinte Ralph des öfteren, sei ein typisch jüdischer Name. Ob ich da denn nicht einmal nachforschen
wolle? Aber das habe ich sehr schnell abgelehnt. Dass es da womöglich etwas gab, was meine Eltern mir nie erzählen wollten, habe ich
eigentlich immer empfunden. Eine Ahnung, dass es da etwas gab
und auch was es möglicher Weise war, hatte ich natürlich schon.
Aber da sie es mir nicht erzählen wollten, habe ich auch nie tiefer
gehend nachgeforscht und es auf sich beruhen lassen. Warum denn
versuchen, Geheimnisse zu lüften, die dir deine Eltern, aus welchem
Grund auch immer, nicht erzählen wollten und die im Nachhinein
sowieso niemandem mehr etwas bringen! Lassen wir also alles so,
wie deine Eltern es dir erzählt haben und wie sie es gerne haben
wollten.
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II.
Am Anfang meiner neunjährigen Karriere als Gymnasiast bin ich
natürlich jeden Mittag am Ende des Unterrichts um 13:00 Uhr, wenn
die Schulklingel ertönte, ganz brav zu der Bushaltestelle in der Mitte
des Mühldorfer Stadtplatzes geflitzt. Mein Banknachbar in der Klasse wurde irgendwann später Christian Pfeiffer. Er kam aus Kirchweihdach, einem Dorf irgendwo, ziemlich weit hinter Altötting,
schon ziemlich nahe zur Grenze Österreichs. Im Vergleich zu seinem, war mein täglicher Schulweg allerdings eher ein Klacks. Er war
ebenfalls ein Flüchtlings- oder Vertriebenenkind, so wie auch die
Mehrzahl meiner neuen Klassenkameraden. Seine Eltern hatten dort
in Kirchweihdach einen sogenannten Aussiedlerhof zum Bewirtschaften zugewiesen bekommen. Auch so etwas gab es inzwischen
für vertriebene Landwirte aus den nun ja nicht mehr deutschen Ostgebieten. Ein damals noch etwas hölzerner Knabe mit einer ausgesprochenen Begabung für Mathematik und Naturwissenschaften.
Fächer, die von Anfang an nie zu meinen Leidenschaften gehörten.
Warum er nach dem Abitur dann Jura jedoch studierte, habe ich deshalb auch nie als logisch empfunden. Aber immerhin hat er es damit
sogar kurzzeitig bis zum SPD-Justizminister in Niedersachsen gebracht und als leitender Jugendkriminologe eines Instituts in Hannover ist er bis heute immer wieder einmal im Fernsehen zu sehen. Allerdings geht er mir da mit seinen ewigen Aufforderungen an die politisch Verantwortlichen, hier oder da etwas zu tun oder unbedingt
regelnd einzugreifen, ehrlich gesagt, etwas auf die Nerven. Obwohl
er diesen Hang auch schon während unserer gemeinsamen Schulzeit
hatte. Aber Christian in jener Zeit mit diesen Schwerpunkten und
ich mit meiner grossen Begeisterung für Geschichte, Erdkunde und
Sprachen haben uns letztlich die letzten Jahre unserer Schulkarriere
hindurch als Banknachbarn – meist in der vorletzten oder letzten
Bankreihe – wohl ganz gut ergänzt. Und zugegebener Maßen habe ja
auch ich später dann keines dieser von mir geliebten Fächer studiert.
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Obwohl ich während dieser Jahre schon daran gedacht hatte, später
Archäologe zu werden. Das hat mich damals fasziniert und ein bisschen ist davon eigentlich mein ganzes Leben übrig geblieben. Vielleicht habe ich mich damals dem empörten Widerspruch meiner
Eltern, das Studium für solch einen Hungerleiderberuf zu beginnen,
etwas zu willig gebeugt. Aber damals hatte ich ja auch noch ganz
andere Sachen im Kopf und schließlich musste ich überhaupt erst
einmal irgendwie mit mir selbst klar kommen. Und das allein war
schon gar nicht so ganz einfach. Und zugegeben, es hat sehr lange,
möglicherweise sogar viel zu lange gedauert, bis ich meinen eigenen
Weg nicht nur gefunden habe, sondern ihn auch gegangen bin.
In erster Linie war es damals der Sport ganz allgemein, der
mich faszinierte. Insbesondere aber die Leichtathletik wurde meine
erste und dann etliche Jahre andauernde, große Leidenschaft. Eher
zufällig hatte ich als Zehnjähriger bei einem Sportfest in Kraiburg
am Inn an einem Geländelauf teilgenommen. „Abturnen“ nannte
sich diese Veranstaltung im Spätherbst. Eigentlich auch darum, um
auszuprobieren, ob das erste Paar Turnschuhe, das ich damals bekommen hatte, auch richtig passen würde, war Vati mit mir dort hin
gefahren. Das Oberteil der Schuhe war aus Leinen und sie hatte eine
leicht gerippte Gummisohle. Quer durch die Trampelpfade am Inn
entlang verlief die Strecke. „Lauf am besten ganz vorne mit“, hatte
Vati mir gesagt, „dann wirst du nicht so viel herum geschubst.“ Das
tat ich dann auch brav und zu meinem eigenen Erstaunen ging einem nach dem anderen der doch um einiges Älteren und Größeren
um mich herum so langsam die Puste aus. Und ich, der Jüngste, kam
schon als dritter oder vierter in dem am Ende weit auseinander gezogenen Feld in das Ziel auf dem Sportplatz zurück. Erstaunt und
ziemlich erschöpft nahm ich Vatis Freudensprünge und seine Umarmung kaum wahr.
Natürlich waren das damals noch keine Sportplätze, wie wir
sie heute kennen. Eine Sandgrube, die sowohl für den Hoch-, als
auch für den Weitsprung genutzt wurde, irgendwo hinter den Pfosten eines der Fußballtore. Die Bahnen für die Sprintwettbewerbe
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wurden mit Sägespänen auf das Gras des eher holprigen Fußballfeldes gezogen. Ein quer gelegter Holzbalken markierte die Abwurfstelle für Kugelstoßen und Schlagballweitwurf. Zwei Disziplinen die
ich eigentlich nie besonders mochte und in denen ich trotz aller Bemühungen die ganzen Jahre immer eine ziemliche Blindschleiche
blieb. Aber Weitspringen und vor allem Laufen waren zwei Disziplinen die mich fortan begeisterten. Und so wurden das Kraiburger
Anturnen im Frühjahr und das dortige Abturnen im Spätherbst zu
meinen sportlichen Höhepunkten der nächsten zwei oder drei Jahre.
Vor allem dieser Geländelauf quer durch die Innauen hatte es mir
angetan und meinen besonderen Ehrgeiz geweckt. Ich begann dafür
immer begeisterter zu trainieren und Vati wurde mein erster Trainer.
Aus seinen und Muttis Erzählungen weiß ich noch, dass er selbst in
jungen Jahren ein guter Handballtorwart gewesen war. Doch während er von großartigen und dramatischen Spielen erzählte, waren
die Schwerpunkte in Muttis Erzählungen allerdings eher seine dabei
erlittenen Verletzungen und Schrammen und die nach solchen Spielen für sie eher enttäuschenden Rendezvous mit ihm. Wohl auch
deshalb empfand sie Sport immer als ungesund, ziemlich unnütz und
letztlich als Zeitverschwendung. Aber an einem Abend in der Woche lief ich von da an vor Muttis Gemischtwarengeschäft los. Wir
hatten uns auf der „Beton“ eine Rundstrecke herausgesucht, die in
etwa einen Kilometer lang war. Vati stand da mit seiner Taschenuhr
und nahm die Zeit, die ich für so eine Runde brauchte. Gar nicht so
schlecht, nur etwas über drei Minuten! Schon nach wenigen Wochen
schaffte ich es in drei Minuten und dann darunter. Dann wiederholten wir das Ganze an einem zweiten Abend pro Woche. Im Lauf der
Monate steigerten wir die Anzahl der Läufe zuerst auf zwei und
später dann sogar auf drei Läufe pro Abend, bis ich dann schließlich
alle drei unter drei Minuten schaffte. Es machte richtig Spaß. Und
mit der so gewonnenen Ausdauer gewann ich schon beim nächsten
Anturnen in Kraiburg den Geländelauf der Jugend und wurde dort
so nach und nach der kleine Star der Geländeläufe bei diesem Kraiburger An- und Abturnen, der seine Altersgenossen immer weiter
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hinter sich ließ. Und sehr bald wurde Vati dann auch schon von den
Offiziellen des VfL Waldkraiburg angesprochen und ich begann mit
ihnen zusammen zu trainieren. Jetzt ging es erstmals auf „richtige“
Sportplätze. Sportplätze mit Aschenbahnen in Burghausen, in Ingolstadt und in München, mit dem für meine damaligen Begriffe fast
traumhaft schönen Dantestadion. Und natürlich zu den dazu gehörenden Meisterschaften. Kreismeisterschaften, Oberbayerische Meisterschaften, Bayerische Meisterschaften, später dann sogar Deutsche
Jugendmeisterschaften in Düsseldorf und Berlin. Ja doch, neben,
nein fast noch vor dem Gymnasium wurde Leichtathletik für mich
zu einem wesentlichen Inhalt all der folgenden Jahre.
Zunächst allerdings wurde mein sportlicher Ehrgeiz immer
wieder durch Erkältungen und dabei vor allem meist durch ziemlich
schmerzhafte, eitrige Mandelentzündungen gebremst. Das war enttäuschend für mich und mehr als lästig. Von klein auf war ich, trotz
all des Mangels, ganz offensichtlich ein umsorgtes, typisch verhätscheltes Einzelkind gewesen. „Mach deinen Mantel richtig zu. Merke
dir: Du musst immer durch die Nase atmen. Den Schal musst du
richtig um den Hals wickeln, sonst hast du gleich wieder eine Mandelentzündung!“ Das Wort Streptokoken kannte ich damals zwar
noch nicht. Aber prompt hatte ich sie schon wieder. Das machte
mich wütend und musste endlich aufhören. Mit elf oder zwölf Jahren, als meine Mandeln wieder einmal vereitert waren, gelang es mir
endlich mit Dr. Sporers und Vatis Beistand und gegen Muttis Willen,
sie im Kreiskrankenhaus Mühldorf herausnehmen zu lassen. Mutti
zitterte zunächst vor Angst und war anschließend sogar ziemlich
pikiert, als der Arzt nach der Operation meinte, dass das schon viel
früher hätte passieren müssen. Und irgendwie war das wohl auch der
Anfang meiner Emanzipation, wenn man das bei einem Knirps von
elf oder zwölf Jahren so nennen kann. Jedenfalls begann ich nun
immer häufiger selbst zu entscheiden, was gut für mich war. Sicher
war es wohl so manches Mal absolut blödsinnig. Wenn ich nur daran
denke, wie sehr ich mich damals gegen die von Mutti selbst genähten
Schlafanzüge zu wehren begann, dann kann ich heute nur noch
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darüber schmunzeln. Aber damals war es bitterer Ernst für mich
und führte dazu, dass ich seither nackt schlafe. Damals zunächst aus
Protest. Doch bis heute schlafe ich immer noch so, weil ich es
einfach als angenehm empfinde.
Unser Trainer in der Leichtathletikabteilung des VfL Waldkraiburg hieß Horst. Er war um etliche Jahre älter als ich und trainierte des öfteren auch noch selbst mit uns mit. Was mir zunächst
ganz normal erschien und nicht einmal besonders auffiel war, dass er
praktisch immer hinter mir stand, wenn wir nach dem Training unter
die Dusche gingen. Und das selbst nach Wettkämpfen, bei denen er
als unser Betreuer bestimmt nicht besonders ins Schwitzen gekommen war. Und als er, da war ich vielleicht vierzehn oder fünfzehn,
damit begann, mir unter der Dusche auch noch den Rücken abzuseifen, war mir schon irgendwie klar, dass das keine zufälligen Begegnungen mehr waren. Oh ja, es tat mir zunächst einfach nur gut.
Doch irgendwann bewegten sich seine eingeseiften Hände wie zufällig auf meine Brust und an meine Brustwarzen. Nicht nur, dass ich
fast blitzartig eine Erektion bekam. Zuerst war ich eher erschrocken,
aber es tat mir unheimlich gut. Und so langsam wurde mir bei all
den Duschereien, auf die ich mich nach jedem Training freute, doch
immer klarer, das mich das Streicheln der Brustwarzen besonders
erregte. Ich begann es einfach schweigend zu genießen. Großartige
Gedanken machte ich mir deswegen allerdings nicht. Schließlich
waren wir schon früher gelegentlich in den Wald gegangen, um dort
zu onanieren. Wessen Sperma spritzte am weitesten? Ein etwas älterer Junge, Heinz, ein ziemlich staksiger und schlechter Läufer, war
da immer der klare Sieger. Beeindruckend, wie weit sein Sperma
spritzte. Aber auch das sah ich eher sportlich. Ob Heinz oder Horst
nun schwul waren oder sind, darüber habe ich mir damals nie Gedanken gemacht und wir haben auch später, als von dem ein oder
anderen blöde Bemerkungen kamen, nie offen über dieses Thema
gesprochen. Schließlich war es ja auch noch viele Jahre danach strafwürdig. Damals war schwul ein Schimpfwort. Homoerotisch, homosexuell oder musikalisch nannte man es in gesitteteren Unterhaltun43
gen. Heinz zog kurz danach mit seinen Eltern nach Norddeutschland. Gefühlsmäßig würde ich sagen, zumindest Horst war schwul,
obwohl er später zwei Kinder in die Welt gesetzt hat und bis heute
offensichtlich glücklich in zweiter Ehe verheiratet ist. Aber wie wenig das bedeutet, weiß ich inzwischen ja aus eigener Erfahrung. Jedenfalls war mir schon damals irgendwie klar, dass mich Männer
eigentlich viel mehr interessierten als das andere Geschlecht. Allerdings nicht so junge Männer wie dieser Horst. Ältere Männer mit
Charakterköpfen, womöglich schon mit schlohweißen Haaren, zogen mich schon damals fast magisch an. Ja, ich suchte ihre Nähe.
Engagiert, aber noch etwas unsortiert im Kopf trat ich schon mit
sechzehn Jahren in die SPD ein. Möglicherweise auch deshalb, weil
der Ortsverein Aschau eher ein Club älterer Männer war, meist Vertriebene aus dem Sudetenland. Aber mit meinen Weltverbesserungsideen kam ich bei ihnen jedenfalls nicht besonders gut an. Oh ja, was
hat man mit sechzehn Jahren doch für tolle Ideen und Träume, wie
leicht die Welt doch zu verändern wäre. Aber besonders beeindruckende Charakterköpfe waren in Aschau nicht vertreten. Eher eine
Ansammlung bauchiger Biertrinker aus dem Flüchtlingsmilieu, die
für meinen Geschmack ziemlich unqualifiziert herum schwafelten.
Ihr Traum war es lediglich, endlich einmal den CSU-Bürgermeister,
der immer von den reichen Aschauer Bauern auserkoren wurde, bei
der nächsten Kommunalwahl zu besiegen. Mehr nicht! Etwas, was
ihnen und ihren Nachfolgern meines Wissens auch viele Jahre danach nicht gelungen ist. Eher etwas enttäuscht von ihnen, versuchte
ich trotzdem meine Ideen zu verwirklichen und schaffte es sogar im
Nachbarort Waldkraiburg eine Ortsgruppe der Jungsozialisten zu
gründen, die gerne meinen Ideen folgte. Zu einer Zeit allerdings, in
der ich bereits jenen Charakterkopf entdeckt hatte, der die nun
folgenden Jahre meines Lebens immer maßgeblicher bestimmen
sollte. Herr Studienrat Ernst Tauber, Lehrer für Deutsch, Geschichte und Erdkunde am Realgymnasium in Mühldorf. Ein großgewachsener, immer etwas nervöser und leicht schusselig wirkender,
schlank gebliebener, älterer Gelehrtentyp mit einer fast schon
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weißen, immer etwas wirren Mähne. Und er war nicht verheiratet,
wodurch er allseits als leicht verschrobener Wunderling galt. Er hatte
mir schon gefallen, bevor er unser Klassenlehrer wurde. Und nachdem er unser Klassenlehrer geworden war, wurde ich mir immer
sicherer, dass auch ich ihm gefiel. So etwas fühlt man.
Diese Erkenntnis fiel aber auch in eine Zeit, in der meine Klasse, vor
allem aber Bärbel Eberl, Christian Pfeiffer und auch ich, in Mühldorf zu besonderer Popularität gelangten. Es waren die Jahre in denen das Fernsehen begann, nicht nur Gesprächsstoff, sondern auch
für Normalbürger erschwinglich zu werden. Schwarzweiß damals,
mit zwei Kanälen, ARD und Bayerisches Fernsehen. Und das Bayerische Fernsehen hatte zu einem Wissenswettstreit bayerischer
Gymnasien aufgerufen. Wir drei waren die Abgesandten unserer
Schule im Fernsehstudio München-Freimann mit einer direkten Telefonverbindung zu unserem Klassenzimmer in Mühldorf. Immer
abends um halb acht stellten sich zwei Schulen eine halbe Stunde
lang den Quizfragen des Moderators, für deren richtige Beantwortung der Schnellere der beiden einen bestimmten Geldbetrag bekam.
Wie viel das war, weiß ich nicht mehr. Und der Sieger des Abends
kam eine Runde weiter, für den Verlierer war das Spiel vorbei. An
den Quizmaster der Sendung erinnere ich mich bis heute noch sehr
gut. Günther Wolfbauer, schon damals eine Art Reporterlegende,
der besonders Fußballreportagen zu richtigen Rundfunkkrimis werden ließ. Wir waren natürlich nervös und warteten im Studio gespannt auf sein Erscheinen. Aber so etwas hatten wir dann doch
noch nicht gesehen. Er trug ein ziemlich schlecht sitzendes Toupet,
um seine Glatze zu verbergen, und hatte lackierte Fingernägel. Unsere Bärbel wirkte leicht schockiert, Christian und ich grinsten uns etwas ratlos an. Unsere Nervosität war jedenfalls wie weggeblasen.
Und zu unserem eigenen Erstaunen schafften wir alle Runden und
erreichten sogar das Finale. Dass wir dort dann gegen das Gymnasium Scheinfeld aus Unterfranken verloren, tat unserer neu gewonnenen Popularität jedenfalls keinen Abbruch mehr. Im Gegenteil,
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wir waren das Großereignis in der Lokalpresse und sogar der Mühldorfer Bürgermeister bedankte sich ausdrücklich bei uns. Und selbst
unsere Mathematiklehrerin, Frau Gassner, eine hagere, eher strohtrockene, schon ältere, unverheiratete Dame aus Gars am Inn, bei
der ich bis dahin keine besonders guten Karten gehabt hatte, legte
mir während des Unterrichts ihre Hand auf die Schulter. „In Mathe
bist du zwar nicht gerade eine Kanone und dass du gut laufen
kannst, weiß ich. Aber auch sonst scheinst du ja ein ganz schlaues
Kerlchen zu sein.“ Das verbesserte meine Mathematiknote zwar
auch nicht, aber immerhin das Klima zwischen uns beiden. Wobei
dieses Fach zu meinem Bedauern aus zwei Teilbereichen bestand. In
Algebra, da wo es um Konkretes, wo es um Zahlen ging, war ich
zumindest so gut, dass es in der Gesamtbetrachtung immer noch
mühelos zu einer vier reichte. Aber Geometrie blieb für mich immer, ja bis heute, ein böhmisches Dorf. Ein Fach, zu dem ich nie
einen Zugang fand, mit dem ich nie wirklich etwas anfangen konnte
und das mich einfach auch nicht interessierte. Von da an akzeptierte
Frau Gassner das. Algebra zwei, Geometrie fünf oder sechs, das
reichte zusammen immerhin zur Gesamtnote vier.
Dafür legte ich mich vor allem im Geschichtsunterricht, aber
auch in den Fächern Deutsch und Erdkunde ganz besonders ins
Zeug. Zum einen, weil mir speziell diese Fächer immer schon außerordentlichen Spaß machten. Besonders faszinierte mich schon immer das Fach Geschichte. All diese großartigen Leistungen, zu denen die Menschheit schon im Altertum fähig gewesen war. Das bewundere ich bis heute. Zum anderen aber auch, weil ich natürlich bei
unserem neuen Klassenlehrer, bei Herrn Ernst Tauber, glänzen wollte. Er sollte doch sehen, was für einen klugen Burschen er da vor
sich hatte. Und als er mir einmal am Ende einer Unterrichtsstunde
im Vorbeigehen, wohl eher unabsichtlich, über die Haare strich,
durchzuckte es mich regelrecht, so wie sonst nur mit diesem Horst
unter der Dusche. Da war ich schon etwas mehr als sechzehn Jahre
alt. Und nach monatelangem Abwägen entschloss ich mich dann
endlich, ihn einfach einmal an einem Nachmittag nach dem Unter46
richt ganz privat zu Hause zu besuchen. Selbstverständlich unangemeldet, da er es sich sonst womöglich verbeten hätte. Wie ein Geheimagent hatte ich ihn nach dem Unterricht bis zu seiner Wohnung
verfolgt, um auch sicher zu gehen, dass er zu Hause sein würde,
wenn ich klingelte. Und natürlich hatte ich mir auch ein Thema zurecht gelegt, damit ich nicht einfach nur blöde vor ihm dastehen
würde, falls er mir die Türe öffnen würde. Um es nicht allzu spannend zu machen, es klappte besser als erhofft. Ernst empfing mich
überrascht, aber sehr freundlich, machte Tee für uns beide und
amüsierte sich sichtlich über meine doch mehr als eigenwillige Interpretation eines Gedichtes, an dessen Verfasser ich mich zwar nicht
mehr erinnere, aber zu der ich ihn scheinheilig um seine Meinung
fragte. Es wurde eine sehr, sehr nette, immer entspanntere Diskussion, an deren vermeintlichem Ende er mich noch durch seine Wohnung führte. Aber es war nicht ein Ende, sondern ein traumhafter
Beginn. In seiner Schlafzimmertür legte er mir seine Hand auf die
Schulter. Wir blickten uns nur kurz an und dann lagen wir irgendwie
auch schon nackt auf seinem breiten, französischen Bett. Es war wie
ein Filmriss, eine Art Rausch. So etwas zwischen wild und zärtlich.
Wie sonst soll ich den Rest dieses Nachmittags beschreiben? Ich
könnte heute nicht einmal mehr sagen, wer da eigentlich wen verführte. Aus heutiger Sicht klingt das alles fast unglaublich. Jedenfalls,
von diesem Nachmittag an wusste ich nicht nur endgültig, was Sex
zwischen Männern ist, sondern das plötzlich auch das Herz dabei
sein kann. Und von diesem Nachmittag an war ich auch über beide
Ohren in diesen Ernst verliebt. Zum ersten Mal wurde mir nun richtig klar, wie ich gestrickt war. Obwohl es dann doch etliche Wochen
dauerte, bis ich ihm meine Gefühle erklären konnte. Wochen der totalen Verwirrtheit und Ratlosigkeit für mich, aber viel mehr noch
entsetzliche Wochen für ihn. In meiner jugendlichen Freude, Erregtheit und Naivität hatte ich einfach nicht wahr genommen, dass eine
derartige Beziehung ja gleich im dreifachen Sinn strafbar war. Einmal damals wegen der homosexuellen Handlungen, als zweites, weil
ich noch minderjährig war, und als drittes, weil sie mit einem
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„Abhängigen“, nämlich mit einem seiner Schüler, vollzogen worden
war. Deswegen hätte Ernst nicht nur seine Stellung verlieren können, dafür wäre er wohl nicht nur zu jener Zeit in den Knast gegangen. Und tatsächlich, wochenlang hatte er damals befürchtet, dass
diese Bombe platzen könnte und entsprechend versucht, mich einfach nicht mehr zu beachten. Konnte er bei so einem Halbwüchsigen ja schließlich nicht sicher sein, dass der nicht alles prahlerisch
ausplaudern und ihn damit ans Messer liefern würde! Und entsprechend quälend waren diese Wochen damit auch für mich. Hin
und her gerissen zwischen dem, was ich für ihn empfand und dem,
was zumindest damals allgemeiner gesellschaftlicher Konsens war,
wagte ich es nicht, ihn noch einmal zu Hause zu besuchen, ihm zu
erzählen, was und wie mich das alles bewegte. Im Unterricht beachtete er mich einfach nicht mehr. Aber irgendwann, als er im
Schulhof Pausenaufsicht hatte, wagte ich es doch und konnte kurz
mit ihm sprechen. Um da im Schulhof nicht weiter aufzufallen, lud
er mich doch wieder zu sich nach Hause ein. Und nach diesem Besuch war die Welt für mich einfach nur noch rosarot! Ja, ich glaube
sagen zu können, dass wir uns damals wirklich liebten. Auch wenn
die Geschichte ein paar Jahre später dann sehr banal, wie wohl so
manche Beziehung zwischen zwei Menschen, zu Ende ging. Aber
damals war ich einfach nur unbeschreiblich glücklich. Und es wurde
eine sehr ernsthafte Beziehung. Es war beileibe nicht nur der Sex,
konnte ich doch so viel von ihm lernen. So oft es ging, blieb ich
nachmittags bei ihm und nahm erst den Abendbus nach Hause. Meine Hausaufgaben waren dann schon erledigt und ich konnte abends
unbeschwert für die nächsten, anstehenden Leichtathletikwettbewerbe trainieren. Fast nebenbei holte ich mir den ein oder anderen
Kreismeistertitel, wurde oberbayerischer Jugendmeister im Geländelauf und auf der Aschenbahn und außerdem der Garant für den Sieg
im Tausendmeterlauf bei den Schulwettkämpfen gegen die Gymnasien aus Traunstein, Wasserburg und Burghausen. Die letzten beiden
Jahre bis zum Abitur vergingen so für mich fast wie im Flug. Ich
schwebte regelrecht auf einer Wolke. Nachdem ich achtzehn Jahre
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alt geworden war, blieb ich des öfteren auch über Nacht bei Ernst in
Mühldorf. Vati und Mutti akzeptierten, etwas mürrisch zwar und
schweigend, dass ich mich so besser auf das Abitur vorbereiten
konnte. Überhaupt seltsam, dass wir bis an ihr Lebensende nicht ein
einziges Mal über Homosexualität geredet haben. Und erstaunlicher
Weise bemerkte auch praktisch kein Außenstehender etwas davon.
Gab es doch genügend anderes, dümmliches Gerede, nachdem unsere Klasse einen neuen Klassenleiter bekommen hatte, Herrn Studienrat Hauff, einen weiß gewaschenen, lüsternen Altnazi mit einem
Klumpfuß. Ein waschechter Arier, wie der einstige Reichspropagandaminister Goebbels, spotteten wir damals. Über ihn gäbe es einige,
eher unappetitliche Geschichten zu erzählen. Bessere dagegen über
Richard Mergl, unseren Ältesten in der Klasse, der als Klassensprecher so manche Situation in seiner ruhigen Art für uns bereinigte.
Oder über meinen Banknachbarn Christian Pfeiffer, Eva Svoboda
oder, oder, oder. Doch für Ernst und mich waren das alles mehr
oder weniger schon Randnotizen. Schließlich hatte Ernst längst
schon beschlossen, dass er sich pensionieren lassen würde. Dann
würde er dreiundsechzig sein. Und dann würde er vielleicht gemeinsam mit mir nach Berlin gehen. Natürlich war ich begeistert. WestBerlin damals, die künstlich hochgezüchtete Glitzerwelt des goldenen Westens, um den bösen Kommunisten die Überlegenheit unseres Wirtschaftssystems mitten in deren Machtbereich möglichst eindrucksvoll zu demonstrieren. Weit, weit weg von all diesem provinziellen Mief. Zumindest empfand ich die Enge dieser Kleinstadt
Mühldorf am Inn und die des Dorfes Aschau damals so.
Mein Abitur machte ich dann im Sommer 1963. Aber ganz so, wie
von uns beiden ursprünglich geplant, klappte unsere gemeinsame
Berlin-Idee dann allerdings doch nicht, denn ich sollte zunächst eine
kaufmännische Lehre machen, um heraus zu finden, was ich denn
eigentlich studieren wollte. Eine Lehre bei der Firma Rosenthal, der
damaligen Edelmarke für Porzellan. Zunächst in Selb, kurz vor der
tschechischen Grenze. Doch schon nach sechs Wochen wurde ich
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in deren Verkaufsbüro in Stuttgart abgeordnet. Schlicht gesagt war
das ein unmöglicher Laden, den ich im Zorn und gerade noch rechtzeitig verließ, um in Stuttgart mit dem Studium der Betriebswirtschaft zu beginnen. Und so musste Berlin noch ein ganzes Jahr auf
uns warten. Ein Jahr, das ich zwischen Aschau, Mühldorf und Stuttgart verbrachte. Das Studium dort begann ich ehrlich gesagt, eher
aus Verlegenheit, denn so ganz genau wusste ich zu jener Zeit immer
noch nicht, was ich denn wirklich studieren wollte. Und das Ganze
noch dazu auch noch auf den allerletzten Drücker, denn ursprünglich hatte ich ja die kaufmännische Lehre machen sollen, auch um
überhaupt zu sehen, ob mangels anderer zu realisierender Ideen, wie
zum Beispiel Archäologie, Betriebswirtschaft überhaupt das war, was
ich studieren wollte. Und der arme Ernst saß unterdessen als Frühpensionär in Mühldorf herum. Doch als endlich klar war, dass ich
die Lehre abbrechen würde, war die Immatrikulationszeit in München und Berlin schon abgelaufen. Aber in Stuttgart schaffte ich es
in allerletzter Stunde noch, mich immatrikulieren zu lassen. Schließlich sollte die Zeit nicht nutzlos vertan werden. Wurde sie aber doch,
denn außer dass ich dort Stuttgarter Hochschulmeister im achthundert Meter Lauf wurde, tat sich nicht besonders viel. Eigentlich ein
ziemlich verplempertes und eher frustrierendes Jahr, speziell auch
für Ernst. So oft wie irgend möglich war ich natürlich bei ihm in
Mühldorf, wo er sich sichtlich langweilte. Und das war ziemlich oft.
Aber ein Jahr später klappte es dann wirklich und heiß ersehnt. Wir
fanden in einem alten, schon etwas verwitterten Haus mit Vorgarten,
nahe dem Teltowkanal, fast in Sichtweite zu den Grenzanlagen der
damaligen DDR, eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad im
Erdgeschoss. Pinnauweg hieß die kleine, immer fast menschenleere
Straße. An die Hausnummer kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Ich glaube, es war die Nummer siebzehn oder neunzehn. Direkt an der Ecke war die Bushaltestelle. Und zur Freien Universität
in Dahlem war es mit dem Bus auch nicht besonders weit.
West-Berlin, die Glitzerstadt, Kurfürstendamm, Europacenter, das KdW, das Kaufhaus des Westens, alles sehr beeindruckend.
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Busse, die die ganze Nacht hindurch fuhren! Kein Vergleich damals
mit München oder Stuttgart. Als Dorfkind für mich anfangs fast so
etwas wie eine Traumwelt. Aber ich gewöhnte mich gern und sehr
schnell an diese pulsierende Metropole. Ernst konnte seinen Ruhestand jetzt genießen und ich ungestört studieren und trainieren. Und
so schien unser Glück absolut perfekt zu sein. War es anfangs ja
auch. Aber nach einigen Monaten fing es langsam an zu bröckeln.
Anfangs noch fast unmerklich. Wir hatten zunächst den Glanz und
dann auch sehr schnell das schwule Nachtleben dieser glitzernden
Metropole entdeckt. Das war irgendwie kaum zu glauben. Zuerst
gemeinsam und auch nur an den Wochenenden all die Kneipen rund
um den Nollendorfplatz, Motzstrasse oder weiter unten an der
Kleiststraße. Ich kam kaum noch aus dem Staunen heraus, was da so
alles herumund ablief. Und zudem war ich damals wohl auch noch
unglaublich naiv! Obwohl mir das ganze, ungewohnte, ziemlich tuntige Getue der Männer dort in diesen Bars von Anfang an irgendwie
nicht besonders behagte. Aber Ernst lebte dort sichtbar auf und so
ging ich trotzdem mit. Ja, und dort lernte ich damals dann auch
schnell kennen, was sich hinter dem Angebot eines „Darkrooms“
verbarg. Und das auch noch auf ziemlich schockartige Weise. Ernst
hatte mir vorne in einer der Bars gesagt, er wolle sich weiter hinten
mal ein bisschen näher umsehen. Doch als er nach einer Viertelstunde noch nicht wieder zurück gekommen war, wurde ich unruhig
und ging ebenfalls nach hinten, um nachzusehen. Halblautes Stöhnen! In dem Dunkel dauerte es natürlich etwas, bis ich die schemenhaften Gestalten besser erkennen konnte. Der Mann, der da so
stöhnte, war Ernst, in der Mitte von drei anderen Männern. Wutentbrannt stieß ich sie weg und stand vor Ernst. Sein Hemd war
offen, seine Hosen und Unterhose lagen fast schon auf dem Fußboden. Geschockt ging ich zurück an die Bar. Ernst zog sich schnell
wieder an und kam nach vorne, zurück zu mir. Seine Erklärung war
eigentlich überhaupt keine und ich begann so langsam zu begreifen.
Und der Satz eines dieser Männer, die ihn da hinten im Dunkel
bearbeitet hatten, „dein Alter braucht das doch“, brachte etwas in
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mir zum Einsturz. Für mich war die Beziehung zu ihm und mit ihm
immer monogam gewesen. Warum sich dann also von anderen befummeln lassen? Ich verstand es einfach nicht. Aber dieser Satz
blieb hängen, obwohl ich zunächst ganz tapfer bereit war, Ernst
auch so zu akzeptieren. Doch seine Ausflüge in die schwule Szene
Berlins eskalierten regelrecht. Immer häufiger, wenn ich nachmittags
oder abends von der Uni nach Hause kam, war die Wohnung leer
und Ernst kam erst spät nachts in unsere Wohnung zurück. Manchmal sogar überhaupt nicht mehr. Unsere Gespräche, die Diskussionen über Gott und die Welt, all das, was ich an ihm so geschätzt
hatte, wurde immer weniger, immer seltener. Er habe sich mit alten
Freunden getroffen und sie hätten durchgemacht, war Ernsts Erklärung, wenn wir uns am nächsten Abend, wenn ich aus der Uni
zurück kam, wiedersahen. Und irgendwann lag morgens, als ich aufstand, ein fremder, junger Bursche nackt, in eine Decke gehüllt, auf
dem Sofa in unserem Wohnzimmer. Er war hellblond und zwei oder
drei Jahre jünger als ich. Zugegeben ein wirklich sehr hübscher
Junge. Vielleicht gerade deshalb empfand ich ihn als ausgesprochen
unsympathisch. Ich war wütend und wollte ihn sofort rauswerfen.
Aber Ernst hielt mich zurück. Der Junge sei doch nur zu Besuch in
Berlin und hätte nicht gewusst, wo er übernachten könne. Sonst sei
da nichts. Aber im Laufe der nächsten Wochen war der Junge immer
häufiger da. Was die beiden miteinander trieben, wenn ich nicht da
war, konnte ich mir inzwischen natürlich nur allzu lebhaft ausmalen.
Oh ja, ich war eifersüchtig, aber zunächst wollte ich es einfach nicht
wahr haben. Konnte unsere Beziehung, die doch so schön gewesen
war, so billig enden? Oh ja, sie konnte es, als Ernst den Vorschlag
machte, der Junge könne doch bei und mit uns wohnen, bis er das
Richtige gefunden habe. Das war schließlich zu viel für meinen noch
jugendlichen Stolz. Entweder dieser Schönling oder ich, Ernst sollte
sich rasch entscheiden. Aber so getroffen, gekränkt und so beleidigt
wie ich war, traf ich die Entscheidung schon an einem der nächsten
Tage selbst. Eigentlich eher zufällig hatte ich am Schwarzen Brett
der Freien Universität gelesen, dass in dem Studentenheim der
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Henry Ford Stiftung im Stadtteil Zehlendorf noch einige Studentenbuden zu vergeben waren. Wild entschlossen fuhr ich also dorthin.
Ein Zentralgebäude für die Verwaltung und einige locker in einer
Park ähnlichen Landschaft verstreute, zweistöckige Wohnblocks.
Sehr idyllisch das Ganze. Ein klitzekleines Zimmer zwar, aber Gemeinschaftsduschen und jeweils eine Etagenküche. Ich unterschrieb
den Mietvertrag. Und noch am selben Abend packte ich in aller Ruhe meine Siebensachen am Pinnauweg zusammen. Ich hatte reichlich Zeit dazu, denn weder Ernst, noch dieser blonde Jüngling
waren, wie fast schon üblich, zu Hause. Und so hinterließ ich nur
einen kleinen Zettel auf Ernsts Kopfkissen, ohne meine neue
Adresse, auf den ich tief beleidigt geschrieben hatte, mein Bett wäre
jetzt für diesen miesen Schönling nun auch nachts frei. Ernst habe
ich danach nur noch ein einziges Mal in meinem Leben wieder
gesehen. Wochen später stand er eines Morgens vor dem Eingang
zur Bibliothek der Freien Universität. Da stand er, leicht verknittert
und nach vorne gebeugt, vor mir. Wir müssten miteinander reden,
schließlich würde ich einiges falsch verstehen und es gäbe da doch
einiges zwischen uns zu klären. Aber für mich gab es da einfach
nichts mehr zu verstehen oder zu klären. Ich fühlte mich beschämt,
tief in meiner Ehre getroffen, ja erniedrigt und ausgenutzt. Und wer
weiß, was da sonst noch so alles in meinem Kopf herum schwirrte.
Ja doch, meine ganze, wunderbare Welt war für mich innerhalb weniger Monate komplett in sich zusammen gestürzt. Und so ließ ich
Ernst wutentbrannt einfach vor der Bibliothek stehen.
Mit den Erfahrungen eines inzwischen ja doch schon ganz schön
langen Lebens sehe ich Ernst und gerade diese Dinge heute natürlich mit ganz anderen, zugegeben etwas erfahreneren Augen. Inzwischen wohl doch um einiges ruhiger und sehr viel differenzierter,
auch was ihn selbst und seine Bedürfnisse damals betraf. Und dennoch würde ich heute vermutlich wohl wieder genauso entscheiden,
allerdings in Freundschaft und ohne den Kontakt so radikal abzubrechen. Zumindest nicht mehr so dramatisierend und so abrupt.
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Und ganz bestimmt nicht mehr mit solch radikalen, ja blödsinnigen
Konsequenzen, die ich damals für mich selbst daraus zog. Die anderen, diese verdammte Gesellschaft hatte wohl doch Recht. Schwul
war jetzt plötzlich etwas Widerliches, Verabscheuungswürdiges auch
für mich. Etwas, was ich bestimmt nie mehr in meinem Leben sein
wollte. Ich begann, bösartige Traktate gegen Homosexualität zu lesen, mir selbst etwas vorzumachen und mich komplett zu verstellen.
Ohne in den folgenden Jahren überhaupt schon richtig zu begreifen,
wie sehr ich meine ganze Umwelt, aber vor allem auch mich selbst,
zu belügen begann. Was für ein Vollidiot war ich damals doch, der
vor sich selbst schlicht und ergreifend weglief! Aber das habe ich
erst viel später in der ganzen, bitteren Tragweite, auch für meine
Nächsten, begriffen. Zunächst musste ich mich zum ersten Mal in
meinem Leben auch mit Geld und mit finanziellen Problemen
auseinander setzen. Schließlich musste ich für das Zimmer in dem
Studentenheim ja nun auch Miete bezahlen. Die Miete für die Wohnung am Pinnauweg hatte Ernst großzügiger Weise immer alleine
bezahlt. Und mein Stipendium von, ich glaube damals einhundertneunzig DM, war bei einer Miete für das Zimmer von vierzig oder
fünfundvierzig DM auch nicht gerade sehr üppig. Doch in diesem
Studentendorf fand ich sehr schnell die Möglichkeit, mir etwas hinzu
zu verdienen, denn im Zentrum des Dorfes gab es eine Studentenkneipe, betrieben von den studentischen Bewohnern des Dorfes. Ich
bewarb mich dort als Barkeeper. Zunächst für einen Abend in der
Woche. Kein Problem, ich bekam den Job. Das fing an, mir immer
mehr Spaß zu machen, und bald schon arbeitete ich da auch an einem zweiten Abend. Immer Dienstag und Donnerstag Abend. Und
nach einem Jahr übernahm ich die Kneipe als Geschäftsführer mit
einem ersten Festgehalt selbst. Und gerade in jener Zeit wurde sie,
allerdings ohne mein Zutun, so etwas wie die Wiege der Achtundsechziger Studentenrevolte. Viele der lautstarken, linken Vorreiter
wohnten damals in diesem Studentendorf, und so gab es in der
Kneipe oft bis in die Morgenstunden heftige Diskussionen, bei denen oft so viel Bier floss, dass mein Geldbeutel immer schneller
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anschwoll. Denn von den Bierkutschern hatte ich zudem sehr
schnell gelernt, wie man sich noch zusätzlich ein bisschen Schwarzgeld hinzu verdienen konnte. Obwohl man das mit den Steuern als
Student zu jener Zeit noch nicht wirklich ernst nahm. Und ich kann
mich auch nicht einmal erinnern, ob ich damals überhaupt eine
Lohnsteuerkarte besaß. Wenn, dann schlummerte sie wohl ungenützt unter der Anschrift meiner Eltern!
Und noch eine ebenso radikale und vermutlich genau so
dümmliche und unsinnige Entscheidung traf ich in jenen Monaten
nach dieser abrupten Trennung von Ernst. Warum rennst du eigentlich jeden Morgen zum Schlachtensee und zurück? Du bist noch
müde vom Thekendienst und in die Uni willst du auch noch gehen.
Also beschloss ich ebenso radikal, auch mit der Leichtathletik aufzuhören. Damals hatte ich die eintausend Meter schon knapp unter
2:32 Minuten geschafft. Das war in jenen Jahren eine sehr gute Zeit.
Irgendwo in einem Ordner liegt die Urkunde dazu sogar noch herum. „Wenn du noch vier oder fünf Sekunden schneller läufst, gehörst du schon zur absoluten nationalen Spitze“. Dorthin, womöglich sogar zu Olympischen Spielen zu gelangen, war in meiner Jugend lange mein Traum gewesen. Doch plötzlich verdrängte ich das
alles mit aller Gewalt. Es hatte mich einfach nicht mehr zu interessieren. All das, was da in Berlin, an dieser Universität und in der
Kneipe rund um mich herum geschah, war mit einem Mal viel interessanter und viel, viel aufregender. Und um nicht mehr lange überlegen zu müssen, kaufte ich mir meine erste Schachtel Zigaretten.
Sogar daran, wie mir die Wirkung dieser allerersten Zigarette in die
Knochen fuhr, sich bis in die Zehenspitzen ausbreitete und mich
richtig schwindlig werden ließ, kann ich mich heute noch erinnern.
Jedenfalls waren damit zwei Kapitel meines Lebens endgültig abgeschlossen. So glaubte ich damals zumindest. Aber offensichtlich
kann man nichts in seinem Leben einfach so mir nichts, dir nichts
und schon gar nicht endgültig abschließen. Irgendwann drängen sich
all die längst vergessen geglaubten, aber in Wirklichkeit letztlich nur
unterdrückten Bedürfnisse und Sehnsüchte immer stärker in den
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Vordergrund. Und erst dann merkt man, dass man ja jahrelang neben sich her gelaufen ist. Und man beginnt zu begreifen, was man
verdrängt hat und wer man in Wirklichkeit ist. Aber dann gehört
nicht nur eine ganze Portion Kraft dazu, sondern auch ziemlich viel
Mut, Rücksichtslosigkeit und unendliche Sturheit, diese Erkenntnis
in die Tat umzusetzen, um das alles noch einmal zu korrigieren. So
ein ganzes Lügengebäude um sich herum und all das, was man selbst
darauf aufgebaut hat, wieder einzureißen und sich noch einmal neu
zu orientieren, ist nicht so ganz einfach und vor allem ist es fast unbegreiflich und sicher auch schmerzhaft für die Menschen, die dir
nahe stehen, die dir und auf das vertraut haben, was du bis dahin
dargestellt hast.
Doch damals war ich, ohne überhaupt noch weiter darüber nachzudenken, mehr als wild entschlossen, ein völlig neues, und wie ich zu
jener Zeit tatsächlich glaubte, endlich auch „normales“ und besseres
Leben beginnen zu müssen. Schnell zurück auf die Gleise dessen,
was Normalität bedeutete, zurück zu dem, was mir in all den Jahren
zuvor von meinen Eltern und meiner Umwelt vorgelebt worden
war! Möglichst nichts mehr, was auch nur entfernt an schwul hätte
erinnern können. Keine schwule Kneipe mehr. Einfach so weit wie
möglich weg von all diesen Tunten, von dieser schwulen Szene.
Irgendwie war das zunächst auch gar nicht so schwer. In einem der
sogenannten Beatschuppen, so nannten sich nach dem Irrsinnserfolg
der Beatles und Rolling Stones damals die in Berlin wie Pilze aus
dem Boden schießenden Tanzlokale, lernte ich ein Mädchen kennen.
Sie hieß Iris Sander und befand sich gerade in der Ausbildung zur
Medizinisch Technischen Assistentin. Gut aussehend, schwarze
Haare und ein mitreißendes, ansteckendes Lachen. Das ging am Anfang sogar einigermaßen gut. Gelegentlich schliefen wir auch miteinander, meist nach ein oder zwei Schnäpsen. Irgendwie funktionierte
das sogar einiger Maßen gut, obwohl es mich nicht sonderlich erregte. Immerhin die erste Frau, mit der ich das zustande brachte. Na ja,
zu einem Casanova hat mich das wohl auch nicht gerade gemacht.
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Aber ich war ganz froh, dass es immerhin funktionierte. Ein Zeichen
für mich, dass ich wohl doch ganz „normal“ war. Ich stellte sie meinen Eltern in Aschau-Werk vor und wir verlobten uns sogar. Anfangs übte sie mit mitgebrachten Spritzen. Blut aus den Venen meines Ellenbogens zu entnehmen, war das Ziel. In der ersten Zeit sah
mein Arm auch dementsprechend zerstochen und blau aus, aber sie
lernte schnell und brachte es zumindest darin zu echter Perfektion.
Ihr Vater war ein kleiner, in meinen Augen schon relativ alter, ausgesprochen chauvinistischer Polizeibeamter, der Studenten ganz allgemein und schon deswegen wohl auch mich offensichtlich nicht leiden konnte. Ganz im Gegensatz zu seiner aus Wien stammenden,
wesentlich jüngeren Gattin. Sie lud mich an Sonntagen zum Nachmittagskaffee mit selbst gebackenem Kuchen ein. Also hätte alles
ganz nett und harmonisch sein können. Wenn, ja wenn dieser hagere, kleine Giftzwerg nicht immer mit seinen rechtslastigen, ziemlich primitiven Tiraden die sicher gut gemeinten Versuche seiner wesentlich herzlicheren Ehefrau torpediert hätte. Warum sich diesen
ganzen Schrott von ihm überhaupt noch anhören? Irgendwann hatte
ich endgültig genug davon, ging nur noch selten und dann überhaupt
nicht mehr hin. Und parallel dazu begann sich auch die Beziehung
zu Iris relativ schnell abzukühlen und immer oberflächlicher hinzuschleppen. Nein, sehr tiefgehend war diese Beziehung wohl niemals
gewesen. Und ich denke, auch Iris war nicht besonders traurig, als
wir sie nach gut einem Jahr ohne großen Radau wieder beendeten.
Ich war sogar ausgesprochen froh darüber, hatte mich inzwischen
doch meine Tätigkeit als Geschäftsführer der Kneipe längst voll im
Griff. Zwei- oder dreimal in der Woche morgens das Warten auf die
Bierkutscher der Schultheiß Brauerei, die den von mir bestellten
Nachschub brachten, Überwachung und Nachkontrolle der Reinigung der Kneipe, die Abrechnung der offiziell und der auf meine
eigene Rechnung verkauften Getränke. Schließlich sollte mir ja niemand auf die Schliche kommen. Um das Ganze sicher im Griff zu
behalten, war es sinnvoll, möglichst immer auch abends in der
Kneipe zumindest vorbei zu schauen, um den Überblick nicht zu
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verlieren. Da blieb nicht mehr viel Zeit, dem ursprünglichen Zweck
meines Aufenthaltes in Berlin, dem Studium der Betriebswirtschaft,
nachzugehen. Und so langsam reifte die Erkenntnis in mir, dass ich,
wenn ich so weitermachen würde, nie im Leben ein Examen schaffen würde. Und zudem wurden die Diskussionen all dieser immer
linkslastiger werdenden, ja immer fanatischeren, studentischen Zecher in dieser, „meiner“ Kneipe immer wütender, entschlossener
und auch gewaltbereiter. So genannte „sit-ins“, mit denen Vorlesungen ihnen unangenehmer Professoren blockiert und unmöglich gemacht werden sollten. Es steigerte sich. Demonstrationszüge, Anleitungen zum Basteln von Molotow-Cocktails, all das wurde in dem
großen Raum der Kneipe in lautstarken Diskussionen beschlossen.
Letztlich wollten sie diese „Schweinerepublik“ der sogenannten Altnazis sogar auslöschen. Sachliche Argumente wurden einfach nicht
mehr gehört und nur noch mit „Ho-, Ho-, Ho-Chi-Minh“-Gebrüll
nieder geschrien. Nein, so hatte ich mir das alles ganz und gar nicht
vorgestellt. Es wurde irgendwie immer verrückter und auch immer
bedrohlicher. Mit meinen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit
hatten solche Dinge jedenfalls nichts mehr zu tun. Und immer stärker hatte ich so eine Ahnung, dass das alles noch viel schlimmer
eskalieren würde. Was es dann ja zwei Jahre später auch wirklich tat.
Aber da war ich schon weit weg, wieder zurück in München. Nach
sechs Semestern, von denen die beiden letzten eigentlich nur mehr
auf dem Papier gestanden hatten, hatte ich beschlossen, zurück nach
München, an die Ludwigs-Maximilians Universität, zu wechseln, um
dort noch einmal neu zu starten. Rechtzeitig davon gekommen,
dachte ich drei Jahre später, als ich in München mein Examen machte. Denn da wurden die Examensklausuren in Berlin von diesen
Chaoten gestürmt. Der Verwaltungsrat der Henry Ford Stiftung
dankte mir jedenfalls dafür, dass ich die Kneipe so gut geführt und
zu so schönen Gewinnzuwächsen gebracht hatte. Und mit weit über
eintausend, sagen wir einmal so, nicht ganz legal, verdienten DM in
der Tasche und der Erkenntnis, dass mein Vorgänger in der Kneipe
vermutlich noch viel hemmungsloser in die eigene Tasche gewirt58
schaftet haben musste, brach ich meine Zelte in Berlin ab. Vor etlichen Jahren habe ich mit Ralph zusammen dieses Studentendorf
hinter der Potsdamer Chaussee noch einmal besucht. Die Gebäude
waren noch die selben, lediglich um einiges vergammelter. Sogar
mein einstiges Eckzimmer im Erdgeschoss eines der Häuser konnte
ich noch finden. Auch das Gebäude der Kneipe existierte noch. Allerdings ist es inzwischen in eine Kinderkrippe umfunktioniert worden. Ralph schmunzelte und meinte nur lakonisch, so also hätten
sich die Bedürfnisse der Studenten inzwischen gewandelt: Von der
Revolution doch lieber wieder zurück an den Küchenherd und in
den Schoß der bürgerlichen Kleinfamilie.
Zurück in München fand ich sehr schnell und ohne größere Mühe
ein relativ günstiges Zimmer auf der Schwanthaler Höhe, in der
Kazmaierstrasse. Alles in München war im Vergleich zu West-Berlin
damals gemütlicher und irgendwie auch noch so richtig provinziell.
Mit meinem in Berlin nicht ganz legal verdienten Geld startete ich
als erstes meine erste Auslandsreise. Sechs Wochen fuhr ich in einem Bus bis nach Kabul! Damals die große Zeit von Flowerpower
und der bekifften Hippies. Einfach unvorstellbar in der heutigen
Zeit. Ein Jahr später dann quer durch Spanien. Barcelona, Valencia,
Madrid, Pamplona. Eine völlig neue Welt mit ganz anderen, neuen
Perspektiven tat sich da für mich auf. Danach war ich zwar wieder
restlos pleite. Aber ich hatte sehr viel Neues, Andersartiges und Beeindruckendes erlebt. Gerade diese, meine ersten, großen Reisen,
noch dazu so ganz allein, haben mich geprägt, denn seither ist es mir
bei jeder meiner Reisen ein Bedürfnis, mit den Menschen, egal wo
ich gerade bin, in Kontakt zu kommen.
Dieser Neuanfang in München war für mich aber auch sonst
rundherum problemlos. An den Freitagabenden fuhr ich jetzt wieder
regelmäßig mit meiner schmutzigen Wäsche zu meinen Eltern nach
Aschau-Werk, und am Sonntag Abend zurück nach München. Und
nun begann ich mich auch wieder ernsthaft mit meinem Studium zu
befassen. Angeblich ist Betriebswirtschaft ja eine sogenannte Geis59
teswissenschaft. Aber ihr Geist reduzierte sich für mich immer mehr
auf die geistigen Eitelkeiten der sie lehrenden und aufeinander eifersüchtigen Professoren, je tiefer ich einstieg. Was ist ein Oligopol?
Du kannst es von rechts aus betrachten oder auch von links aus. Es
kann ein böses Oligopol sein, aber auch ein ganz gutes mit entsprechender Preis- oder Nachfrageelastizität. Irgendwie alles Quatsch.
Die große betriebswirtschaftliche Koryphäe in Berlin war Professor
Erich Kosiol gewesen. Etliche seiner Lehrsätze waren trotz all dem
Wirbel dort immerhin bei mir hängen geblieben. Aber seinen Namen oder auch nur eine seiner Thesen bei Professor Edmund Heinen in München zu erwähnen oder womöglich zu vertreten, endete
fast schon im totalen Gau. Ebenso unklug wäre es bei ihm gewesen,
das zu verwenden, was man von einem Professor Nicklisch, der
ebenfalls in München lehrte, in dessen Vorlesungen gehört oder gelesen hatte. Und in diesem Sinn ging es weiter und weiter. Nur nicht
das Falsche lesen und womöglich auch noch dazu stehen! Meine als
Schüler noch vorhandene Ehrfurcht gegenüber dieser sogenannten
Geisteswissenschaft schmolz immer mehr dahin. Ihre Vertreter mutierten in meinen Augen immer sichtbarer zu eitlen, aufgeblasenen
und aufeinander eifersüchtigen Selbstdarstellern. Nein, Betriebswirtschaft ist in meinen Augen keine wirkliche Wissenschaft, höchstens
eine Pseudowissenschaft überkandidelter Geister, die aus gängigen
Alltagsabläufen großartig klingende theoretische Modelle bauen. Obwohl es logischer gewesen wäre, mit dieser Pseudowissenschaft aufzuhören, wagte ich es dann doch nicht. Dazu fehlte mir zum einen
der finanzielle Rückhalt. Und dann wäre alles bis dahin ja nur sinnlos
vertane Zeit gewesen. Und schließlich war mein Stipendium ja auch
nur für acht Semester bewilligt. Also passte ich mich an, wenn auch
widerwillig und mit einem permanent schlechten Gefühl im Bauch.
Einfach nur durch diese lästige Mühle, möglichst schnell ein Examen und dann möglichst weit weg von dieser so jämmerlichen Institution. Aber ganz so schnell ging das alles dann doch nicht. Immerhin dauerte es noch fast drei Jahre, bis ich mein Diplom endlich in
der Tasche hatte. Und zur Verleihung des Diploms kam Mutti extra
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nach München. Irgendwie hatte sie, nach meinen diversen Schimpfkanonaden, wohl nicht mehr so recht daran geglaubt, dass ich es
doch noch schaffen würde.
In der Studentenbibliothek der Universität, kurz vor dem
Siegestor, traf ich zufällig kurz nach Beginn des Wintersemesters
auch meinen ehemaligen Klassenkameraden Christian Pfeiffer wieder. Durch meine Beziehung zu Ernst Tauber hatte ich schon während der letzten Schuljahre eigentlich kaum noch Kontakte zu meinen Klassenkameraden gehabt. Und nach dem Abitur waren sie völlig abgerissen, ohne dass ich etwas vermisst hätte. Doch hier traf ich
Christian wieder. Er studierte inzwischen Jura und lud mich in seine
Studentenbude in der Schwabinger Kurfürstenstrasse ein. Eine sehr
nette, kleine Mansarde in der fünften Etage, unter dem Dach. Der
Eigentümer, ein dicker, kurzatmiger Original-Münchner mit Hosenträgern, hatte den Speicher seines Hauses zu fünf Zimmern, einer
kleinen Küche und einer Toilette ausbauen lassen, die er für fünfundfünfzig DM nur an Studenten vermietete. Allerdings konsequenterweise immer nur, bis sie ihr Examen geschafft hatten. Dann
mussten sie ihr Zimmer für einen nächsten Bewerber um einen
akademischen Titel räumen. Einer der Bewohner war gerade mit
seinem Studium fertig geworden und so bekam ich, auf Christians
Empfehlung hin, zum Beginn des nächsten Semesters dessen
Zimmer. Eine klitzekleine Mansarde mit schrägen Wänden und einem Fenster in den Hinterhof, die ich heute eher als kleines Loch
bezeichnen würde. Aber damals genügte es mir völlig. Die Zimmer
wurden mit Ölöfen beheizt, für die wir mit unserem Geld auch
selbst das nötige Heizöl in Kanistern zu beschaffen hatten, den Liter
für fünf oder sechs Pfennige. Firma Breitsameter Heizöle, wenn ich
mich recht erinnere, in der Amalienstraße, war damals unsere Einkaufsquelle. Auf den Gepäckträgern unserer Fahrräder kutschierten
wir die vollen Kanister dann in die Kurfürstenstraße. Und irgendwie
roch es in unseren Mansarden den ganzen Winter hindurch immer
nach Heizöl. Aber das störte unsere Biedermeier-Romantik da oben
unter dem Dach eigentlich überhaupt nicht.
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Und zunächst eher aus Neugier begann ich mich auch wieder
für die SPD, speziell die Jungsozialisten, zu interessieren. Und relativ
schnell begann ich mich dort auch wieder zu engagieren. Willy
Brandt war in diesen späten Sechzigerjahren eindeutig ein Idol für
junge Menschen. Mitreißend damals all die Reden im deutschen
Bundestag. Direktübertragungen aus dem Bundestag, die man gespannt am Fernsehschirm oder im Rundfunk verfolgen konnte. Ein
Herbert Wehner, ein Helmut Schmidt, später, nach Willy Brandt,
deutscher Bundeskanzler, damals noch mit dem Spitznamen
Schmidt Schnauze, oder ein Franz-Joseph Strauss. Politiker, die
nicht nur frei reden konnten, sondern wirklich mitrissen und polarisieren konnten. Jedenfalls keine solch traurigen Gestalten, die heute
am Rednerpult des Bundestags stehen und ihre Reden vom Blatt
ablesen. Die Gruppe der einst von mir in Waldkraiburg gegründeten
Jungsozialisten hatte sich inzwischen nach Mühldorf verlagert. Neue
Gesichter, die meisten Schüler meines ehemaligen Gymnasiums, die
mich überaus freundlich aufnahmen. Und anders als in Berlin war
ich auch da wieder sehr schnell mittendrin. Delegiertentreffen, Parteitage der SPD und eine siebzehnjährige „Genossin“, die sich sehr
für mich interessierte, wohl auch deshalb, weil ich schon Student
war. Halb zog sie ihn, halb sank er hin und dann war ich auch schon
mit ihr verlobt. Margret Kraus, die Tochter eines brummigen und
meist fast verbissen schweigenden, promovierten, mir sehr sympathischen Chemikers, der bei der Wasag-Chemie in Aschau-Werk
arbeitete. Sein Markenzeichen war es, mit seinem VW-Käfer die
wald- und kurvenreiche Strecke nach Aschau und dort von seinem
Arbeitsplatz zurück nach Mühldorf im exakten Tempo von sechzig
km/h zu absolvieren. Wohl der Schrecken aller Autofahrer, der endlose Autoschlangen hinter sich produzierte. Seine sehr viel jüngere
Frau Anni war eine sehr temperamentvolle, überaus engagierte Mitarbeiterin der Arbeiterwohlfahrt und eine leidenschaftliche Sozialdemokratin. Enorm ehrgeizig war auch ihre Tochter Margret und
immer zum Beischlaf bereit. Obwohl sie nur sechs Jahre jünger war
als ich, fast schon eine andere Generation. Sie tanzte leidenschaftlich
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gern und zudem hatte sie eine wunderbare Stimme. Mit einem
Schulfreund aus dem Gymnasium, Peter Mackay, dessen Eltern als
Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg aus Rumänien vertrieben
worden waren, traten die beiden auch schon gelegentlich öffentlich
auf. Bei Betriebsfeiern als Duo Margret und Peter und auch schon
mit kleinen Gagen. Und da ich die Woche über in München war,
suchte ich dort nach besseren Auftrittsmöglichkeien für die beiden.
Schließlich brachte ich es mit einem Demoband der beiden so weit,
dass sie in einer Rundfunksendung des Bayerischen Rundfunks auftreten konnten und anschließend von einem der Moderatoren, Ado
Schlier, damals eine kleine Rundfunklegende, dort ins Vorprogramm
einer kleinen Tournee mit einer Prager Band durch Bayern aufgenommen wurden. Im Song-Parnass, in der Einsteinstrasse, das leider
schon lange nicht mehr existiert, entdeckte ich für die beiden eine
weitere Möglichkeit aufzutreten. Eine kleine Bühne, auf der jeder,
der von seinem Talent überzeugt war und es auch vor den Ohren
der dortigen Betreiber drauf hatte, seine Künste nach erfolgreichem
Probesingen darbieten konnte. Und dorthin bewegten sich auch die
damaligen Produzentensterne am deutschen Schlagerhimmel. Michael Kunze, einer von ihnen, begann sich für die beiden zu interessieren. Eigentlich mehr für Margret. Zunächst für sie hatte er sich ein
ans Herz gehendes Liedchen mit dem Titel „Du“ ausgedacht. Aber
sie fand das ganze Lied einfach zu blöd und zu schmalzig. Die Sängerin Joan Baez und deren kritische Texte waren eher das, was ihr
vorschwebte. Und ihre Stimme hatte wirklich etwas und war sicher
vergleichbar. Aber so etwas primitives wollte sie dann doch nicht
singen. In seiner offensichtlichen Not ließ Michael Kunze dann Peter diesen schmalzigen Song trällern. Der hatte gerade die sogenannte Mittlere Reife am Gymnasium in Mühldorf nicht geschafft und
bei Bruckmann in München eine Graphikerlehre begonnen. Und bei
einem unserer abendlichen Bummel durch die Innenstadt Münchens
war uns eher zufällig das Straßenschild Maffeistraße aufgefallen. Hej!
Maffei, nein, nein englischer: Maffay, ja doch, genau das war es
doch. Und so hatten wir auch schon einen Künstlernamen für ihn:
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Peter Maffay. Der Song wurde tatsächlich ein Riesenhit, die Nummer 1 in allen möglichen Hitparaden und Peter Maffay mit diesem
schmalzigen Lied über Nacht ein Star. Besonders der gehauchte
Sprechtext „Du, ich muss dir etwas sagen...“ hatte es wohl vielen angetan. Aber dafür war Peters Akzent einfach zu hart! Wessen Stimme das wohl war? Bis heute kann ich mich darüber amüsieren. Jedenfalls ein Star, der in Thomas Hecks Schlagerparade auftreten
durfte. Den gehauchten Sprechtext bekam er nicht so ganz hin, aber
egal. Abrupt brach er sämtliche Kontakte zu seiner alten Umgebung
und speziell auch zu Margret und mir ab. Mit seinen Eltern zog er
weg aus Waldkraiburg nach Taufkirchen und baute um sich das
Image eines harten Rockers mit weichem Kern auf. Ein Rocker mit
Schmalzliedern. Offensichtlich passte er damit genau in eine Marktlücke, die die Leute mögen! Ist so schön kuschelig und so ganz und
gar ungefährlich. Irgendwann viel später habe ich mal in einer dieser
Quatschzeitschriften gelesen, wie er sich als jugendlicher Immigrant
in Deutschland mit Gelegenheitsarbeiten durchs Leben hatte schlagen müssen. So am Rande des Existenzminimums. Richtig rührselig
und gut zu dem um ihn aufgebauten Image passend! Er, dieses zarte,
kleine Bübchen aus Waldkraiburg, Flüchtlingskind wie wir alle damals! Mir machte das nichts aus, aber natürlich war Margret damals
bitter enttäuscht und ziemlich sauer auf ihn. Denn irgendwie hatte
sie wohl gehofft, dass er sie mitziehen oder sonst etwas für sie tun
würde. Sie wollte nicht begreifen dass er einfach nur ein schäbiger,
kleiner Egoist war. Ein Charakterschwein, das seine Partnerin schnöde im Stich ließ, hätten wir als Schüler früher gesagt. Aber möglicherweise muss man sogar so sein und absolut rücksichtslos seine
Ellenbogen benützen, um sich in diesem kurzlebigen Gewerbe möglichst lange zu behaupten. Und Respekt, das hat er ja auch wirklich
geschafft, obwohl ich heute seine inzwischen ziemlich vermanschten
Texte nicht immer und wenn dann nur teilweise verstehe. Vielleicht
hätten ihm ein paar Semester Sprachunterricht bei seinen Schauspielerfreunden da ganz gut getan. Soll wohl so etwas wie rockige
Poesie sein, was er da produziert. Mit dem Singen war es bei Margret
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jedenfalls erst einmal und wie ich vermute, auch später endgültig
vorbei. Sie wollte Journalistin werden und mich heiraten. Aber das
war die Zeit kurz vor meinem Examen und eine derartige Störung in
dieser Zeit wäre mir eher unangenehm gewesen. Und außerdem war
ich absolut unsicher, ob ich sie, ob ich denn überhaupt heiraten
wollte, ob ich mich dann nicht eher in etwas hinein treiben lassen
würde. Aber dann löste sich das Ganze nach meinem Examen relativ
schnell. Margrets Versuch, Aufnahme in die Deutsche Journalistenschule zu finden, war gescheitert, obwohl sie für meine Begriffe
wirklich gut schreiben konnte. Und während ich in meiner Mansarde
ein erstes Mal in meinem Leben wirklich brutal für ein absolut ungeliebtes Examen büffelte und wenig Zeit für sie aufbrachte, fand sie
Anschluss an einen US-Amerikaner, der ihr Vater hätte sein können.
Wo sie ihn kennen gelernt hatte, weiß ich nicht einmal mehr. Jedenfalls besuchte sie mich mit ihm ein- oder zweimal in meinem Zimmerchen unter dem Dach. Ein schon älterer, graumelierter, schlanker, wirklich sehr gut aussehender, in den Vereinigten Staaten verheirateter Mann, der wegen irgendetwas länger beruflich in München
zu bleiben hatte. Eigentlich hätte er auch mir ganz gut gefallen. Vielleicht noch ein bisschen zu jung für meinen Geschmack. Aber zu jener Zeit war ich ja immer noch fest davon überzeugt, dass ich Gefühle für Männer einfach nur zu unterdrücken hätte. Und in dem
ganzen Stress vor dem Examen, in der Sorge, wie würde ich sechs
Klausuren innerhalb einer Woche überstehen, fiel mir das auch relativ leicht. Ja, dieser Mann schien mir sogar ausgesprochen nett und
eher schüchtern zu sein. Für Margret sicherlich ein Typ, den sie viel
leichter kommandieren konnte als mich. Irgendwie war ich schon
enttäuscht, aber ich zerbrach mir den Kopf zunächst nicht weiter
darüber. Ich wollte mein Examen bestehen und im Sommer 1969
schaffte ich es dann auch endlich. Sehr durchschnittlich zwar, aber
das kümmerte mich, ehrlich gesagt, wenig.
Nun war mein Weg in die Zukunft offen und ich hatte auch ausreichend Muße über diese Beziehung zu Margret, über mich selbst
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und meine Wünsche nachzudenken. Und so machte ich Margret, als
ich mein Examen bestanden und wieder genügend Zeit für anderes
und all ihre besitzergreifenden Pläne hatte, als erstes klar, dass sie
nicht mehr mit mir, aber von mir aus sehr gerne mit diesem durchaus netten Amerikaner weiter schlafen könne. Nein, an einer engeren Beziehung, womöglich auch noch in Konkurrenz zu einem gut
situierten, gut aussehenden, verheirateten Mann gab es in meinen so
langsam reifenden Plänen nun wirklich keinen Platz mehr. Bei dieser
Trennung produzierte Margret jede Menge Krokodilstränen und beinahe schon filmreife Szenen einer Trennung. Aber das änderte
nichts mehr. Mein Entschluss stand jedenfalls fest und die Beziehung endete damit ziemlich abrupt. Und so irrational, wie ich mit
fünfundzwanzig Jahren immer noch war, entsorgte ich meinen Verlobungsring theatralisch bei Jettenbach in den Inn. Margret schien
damals ganz offensichtlich ein zwanghaftes Bedürfnis nach dem
Ehestand gehabt zu haben. Jedenfalls hörte ich von Bekannten wenige Monate später, dass sie einen ehemaligen Schulfreund aus
Mühldorf geheiratet hatte. Gunther, „Jonny“ Minker, einen zumindest damals meist schon leicht alkoholisierten, „ewigen“ Studenten
der Völkerkunde, wenn ich ihm begegnete. Eigentlich ein ganz sympathischer Typ. Ich konnte mir das Ganze nicht so richtig vorstellen
und traf mich deshalb sogar, ich glaube zwei Mal, etwas länger mit
ihm. Aber da war Margret bereits aus dieser Ehegemeinschaft verschwunden und er lebte schon mit einer neuen Freundin zusammen.
Er erzählte mir, dass Margret als Journalistin nach Hamburg gegangen sei. Und seit jener Zeit habe ich auch nie wieder etwas von den
beiden gehört. Ehrlicherweise hat es mich auch all die Jahre, bei all
dem Neuen, das nun für mich wichtig wurde, auch nicht mehr weiter interessiert. Erst jetzt, während ich diese Erinnerungen schreibe,
habe ich ein bisschen im Internet nach ihr gesucht. Als Margaret
Minker hat sie sich eine wahnwitzig lange Homepage gebaut. Überhaupt faszinierend, wie viele Leute das Bedürfnis haben, sich im Internet darzustellen und bis auf die Unterhosen auszuziehen. Und als
kleiner Scherz, den ich manchmal verwende, um sich dann anschlie66
ßend empört über die Ausspähung ihrer Privatsphäre zu beschweren. Doch zumindest was ihre Zeit damals in München betrifft, passt
das, was sie so schreibt, nicht so ganz mit all dem zusammen, was
sich damals wirklich ereignete. Na ja, die Zeit heilt alle Wunden, wie
es so schön heißt und sie verklärt dann auch so manches. Und was
nicht passt, lässt man dann eben weg. Die Ehe mit „Jonny“ ist, wie
sie schreibt, schon nach wenigen Jahren geplatzt. Mit einem Italiener
verheiratet und wie ihrer Homepage zu entnehmen, offensichtlich
als ausgesprochen erfolgreiche Schriftstellerin, lebt sie heute wieder
in Mühldorf.
67
III.
Da hatte ich nun endlich mein wenig geliebtes Examen bestanden,
wenn auch ziemlich durchschnittlich. Aber das war mir, ehrlich gesagt, völlig egal. Hauptsache endlich frei, wieder allein und ohne Beziehungsprobleme musste ich, den Regeln meines neuen, von meiner
Umwelt erwarteten, bürgerlichen Lebens entsprechend, allerdings
mit einer Frist bis zum nächsten Semesterbeginn, meine kleine, möblierte Mansarde in der Kurfürstenstraße räumen. Und von irgendetwas musste ich von jetzt an meinen Lebensunterhalt ja auch endgültig selbst bestreiten und zunächst einmal die Schulden begleichen,
die sich im letzten Jahr des Studiums angesammelt hatten. Da stand
ich nun mit einem wunderschönen Diplom in der Tasche, das mir
die Türen zur Berufswelt öffnen sollte. Gut, ich hatte es geschafft,
obwohl mich der ganze Betrieb an der Universität eigentlich immer
stärker abgestoßen hatte. Und überhaupt wusste ich ja immer noch
nicht so richtig, was ich nun eigentlich beruflich machen sollte.
Geldverdienen ja, das war irgendwie schon klar. Aber wie und wo?
In der Mensa der Universität hatten wir gelegentlich darüber diskutiert, wo und wie man nach dem Studium am besten Geld verdienen
könne. Die Ölbranche wäre eine der besten Möglichkeiten, da hätte
man die größten Chancen, hatte ich da gehört. Herr Gulbekian, „Mr.
Five Percent“, wurde als leuchtendes Beispiel dafür geschildert, wie
man da schnell reich werden könnte. Also nahm ich das Branchenbuch und suchte darin nach Ölfirmen in München. Gleich bei der
ersten Adresse „Deutsche Benzin und Petroleum AG“ blieb ich
hängen und bewarb mich dort. Und schon wenige Tage später wurde ich zu einem Vorstellungsgespräch in die Briennerstraße Nr. 10
eingeladen. Ein netter Mann, ein Herr Rautschka, der Personalchef
der Niederlassung dieses Konzerns, interviewte mich. Eigentlich
ging es in dem ganzen Gespräch mehr darum, dass ich aus Ost-
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preußen und er irgendwo aus dem Sudetenland stammte. Und im
übrigen wirkte auch mein neu erstandenes Diplom. Schon nach etwa
einer halben Stunde war ich per Handschlag engagiert und hatte
zwei Tage später den Anstellungsvertrag in meinem Briefkasten.
Ohne große Unterbrechung startete ich bereits zwei Wochen danach
in mein Berufsleben. Ohne große Pause schon deshalb, weil ich zum
Ende meines Studiums total verschuldet war. Die letzten beiden Semester hatte ich kein Stipendium mehr erhalten. Das war nach acht
Semestern zu Ende gewesen. Meine Eltern hatte ich nicht mehr groß
anpumpen wollen. Bei Christian Pfeiffer hatte ich eintausend und
bei Margrets Mutter Anni sogar dreitausend Mark Schulden. Immerhin, mit viertausend DM konnte man damals als Student noch mehr
als ein ganzes Jahr überleben. Und dieses Geld wollte ich natürlich
schnellstmöglich zurückzahlen. Mit einem Anfangsgehalt von neunhundertfünfzig DM ging das auch relativ schnell. Zudem wurde
mein Ratensparvertrag über viertausend DM fällig, den meine Eltern
zum größten Teil selbst für mich aufgefüllt hatten und den ich nun
dafür ausgab, meinem Vater seinen VW-Käfer abzukaufen. So bekam er sein eigenes Geld jedenfalls wieder zurück, um sich selbst einen neuen Wagen kaufen zu können. Voller Stolz war ich zum Jahresende 1969 fast schon wieder schuldenfrei und sogar schon stolzer
Besitzer eines, wenn auch gebrauchten VW-Käfers. Und natürlich
musste ich mir eine neue Bleibe suchen. In der Au, in der Kolumbusstraße, mietete ich mir in einem neu errichteten Appartementhaus ein EinzimmerAppartement in der ersten Etage mit Bad und
eingerichteter Kochnische. Sogar einen kleinen Balkon mit Blick in
den Hinterhof, den Parkplatz einer Spedition, konnte ich nun mein
eigen nennen. Und auch für die nötigen, damals noch wenigen Möbel von Möbel Krügel reichte das Gehalt. Ein völlig neues Lebensgefühl war das! Und beinahe übergangslos war so aus mir in kürzester Zeit ein auf sich selbst stolzes und tadellos funktionierendes
Mitglied der bundesdeutschen Erwerbsgesellschaft geworden. Oh ja,
es war schon eine etwas gewöhnungsbedürftige Totalumstellung.
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Aber sie gelang mir sehr schnell, ohne größere Schwierigkeiten und
ohne Probleme.
Und diese neuen, bürgerlichen Lebensumstände machten
mir, zumindest in den ersten Jahren, auch riesigen Spaß! Voller Eifer
und Engagement wurde ich sogar zum Vorsitzenden der Münchner
Jungsozialisten gewählt und machte Bundestags-Wahlkampf für einen Rechtsanwalt Manfred Schmidt in Schwabing. In der Aufbruchstimmung Ende der Sechzigerjahre gewann er als Newcomer sogar
völlig überraschend seinen Wahlkreis. Rudi Schöffberger, Walter
Kolo, Sigmar Geiselberger, Christian Ude, Ulrike Mascher. Alles
ehrgeizige junge Leute, die den Aufstand gegen das SPD-Establishment, vor allem gegen den damaligen Münchner Oberbürgermeister
Hans-Jochen Vogel, versuchten. Auch eine Heide Simonis lernte ich
damals kennen, nicht unbedingt als die tolle „Grande Dame“, als die
sie sich später als Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein so
gerne darstellte, sondern als ein beim Essen kleckerndes Landei.
Dieses Aufmucken gegen die Parteihierarchie fand ich zunächst, zumindest in Teilen, noch ganz in Ordnung. Doch so nach und nach
wurde mir immer klarer, dass all diese Leute eigentlich nur ihr
eigenes Vorwärtskommen und ihre eigene politische Karriere im
Sinn hatten. Irgendwie der Beginn unserer Ellenbogengesellschaft.
Große Sprüche über eine gerechte Gesellschaft, aber wenn es wirklich um sozial, um reale Hilfe für kleine Leute im Alltag ging, war
sehr schnell Sendepause, blieben nur hohle Sprüche übrig. Nach
heftigen, ja fast schon wütenden Diskussionen im Vorstand der
Jungsozialisten warf ich schließlich hin und trat aus dieser Partei aus.
Das alles brauchte ich nun wirklich nicht. Bliebe noch zu erwähnen,
dass einer ihrer damaligen Jungstars, dieser Manfred Schmidt, Jurist
und ehemaliger Bundestagsabgeordneter für München-Schwabing,
gut zwanzig Jahre später für etliche Jahre in den Knast wanderte.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 hatte er dem Angebot seiner geistigen Brüder aus der Sozialistischen Einheitspartei
der ehemaligen DDR und wohl auch der Verlockung des ganz großen Geldes nicht widerstehen können. Und so hatte er ihnen, ganz
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sicher nicht ganz uneigennützig, dabei geholfen, ihr viele Millionen
schweres Parteivermögen über dunkle Kanäle ins Ausland, nach
Österreich, verschwinden zu lassen. Sicher ärgerlich, aber bezeichnend nicht nur für ihn. Der feine, demokratische Sozialist wurde als
windiger Strohmann enttarnt. Verwundert darüber war ich allerdings
nicht. Hat es mir, wenn auch spät, nur das bestätigt, was ich damals
empfunden hatte.
Da war meine Arbeit in der Deutschen BP doch etwas ganz
anderes. Keine hochgestochenen, eitlen Akademiker mehr um mich
herum, sondern etwas trockene, bodenständige, schon ältere, berufserfahrene Chefs. Und ansonsten eine Ansammlung lustiger, manchmal mehr als verrückter, jüngerer Leute, die auch gerne mal, vor allem zu Faschingszeiten, total ausflippten. Mir hatten sie es gut eineinhalb Jahre später zu verdanken, dass die Firma BP am Faschingsdienstag in München seitdem geschlossen blieb. Aber dazu später.
Auf alle Fälle war das der völlige Gegensatz zu der immer etwas gedrückten, schleicherischen, wie ich empfand, scheinheiligen Atmosphäre an der Universität und all dem schön geredeten, persönlichen
Machtstreben in der SPD. In den ersten Monaten wurde ich von
Abteilung zu Abteilung geschickt, um das Geschäft erst einmal kennen zu lernen. Eine besonders harte, vor allem physische Übung war
das Lagerwesen. Um sechs Uhr morgens Dienstbeginn am anderen
Ende von München, wo die Straßenbahn am Hasenbergl ihre Endschleife drehte. Aber ich denke, dass ich das Geschäft relativ schnell
begriff, allerdings nicht so schnell die Tücken einer damaligen Konzernhierarchie. Das kam erst einige Zeit später. Jedenfalls fühlte ich
mich sehr schnell von allen akzeptiert und war auch ein bisschen
stolz darauf. Und schon nach wenigen Monaten bekam ich völlig
überraschend eine Sonderaufgabe. „Sie haben doch Wirtschaft studiert,“ konstatierte der Verwaltungschef. „Und einen Wagen haben
sie auch! Also fahren Sie schnell nach Stuttgart und bringen Sie dort
unsere Tochtergesellschaft in Ordnung.“ Tage zuvor hatte es in den
Fluren der Niederlassung einen donnernden Auftritt des Konzernbosses Albert Hallmann gegeben, einer damals schier Gott ähnlichen
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Figur, um die sich die ehrfürchtigsten Sagen der Mitarbeiter rankten.
„Ihr seid sogar zu blöde, um so eine kleine Firma erfolgreich zu führen,“ hatte er den Chef der Niederlassung, einen Grafen Hohenthal,
da auf dem Flur angebrüllt. „Wenn die bis zum Jahresende immer
noch Verlust macht, schmeiss´ ich euch alle raus!“ Türen knallten
und danach tödliche Stille in der ganzen Etage. Doch das war der
Startschuss für meinen Einsatz geworden. Heute so kaum noch vorstellbar. Also schaute ich mir die Bilanz dieser Tochtergesellschaft,
MVG Stuttgart, an. Oh weh! Und am folgenden Montag Morgen
fuhr ich mit meinem Käfer nach Stuttgart. Eine verschreckte, nein,
eher fatalistische Truppe fand ich dort vor. Der Geschäftsführer,
ursprünglich ein Tankstellenbetreuer im Hause BP, weinte. Er habe
den Job nie gewollt und er könne ihn auch gar nicht. Der Buchhalter
ein müde und gleichgültig wirkender, älterer Mann, dem alles egal zu
sein schien. Und die Tankwagen veraltete Rostlauben. Da war mir
schon klar, dass diese Firma einfach Verluste machen musste. Und
ich handelte schnell und konsequent. Der Zufall half mir bei der
Suche nach einem neuen Geschäftsführer, den ich bereits in der ersten Woche fand und engagierte. Seinen Vorgänger schickte ich
schnellstens zurück in das BP-Verkaufsbüro in Stuttgart. Zumindest
er war glücklich. Von dem Buchhalter trennte ich mich einvernehmlich, wie es so schön heißt. Nachdem ich ihm sehr schnell gravierende Fehler nachgewiesen hatte, ging er freiwillig. Auch kein Problem,
da in der Firma noch eine zweite Buchhalterin saß. Irgendwie
erstaunlich, aber all die Namen habe ich mir bis heute gemerkt. Herr
Bürkle, der Weinende, Herr Piotrowski der neue Geschäftsführer,
Herr Scheuerle, der müde Buchhalter und Frau Stubner, die zweite
Buchhalterin, die ich zur ersten machte. Die fünf alten Rostlauben
gab ich bei Daimler in Zahlung und orderte dafür zwei neue, größere
Tankfahrzeuge. Einem Fahrer kündigte ich, die anderen vier ließ ich
in Schichten fahren. Jeweils sechs Stunden pro Tag, aber dafür dann
auch Samstags. Mit diesen Tätigkeitsnachweisen fuhr ich mit stolzgeschwellter Brust zurück nach München und berichtete einem immer bleicher werdenden Niederlassungsleiter. In meinem jugend72
lichen Schaffensdrang hatte ich nämlich niemanden in diesem Konzern nach Genehmigungen und Vollmachten gefragt und in meinem
Überschwang einfach so gehandelt, wie ich es für richtig hielt. Wenn
schon, dann aber richtig! Aber Vollmachten gehörten damals zu den
großen Heiligtümern im hierarchischen Aufbau dieses Konzerns.
Und nicht einmal die Vollmachten eines Niederlassungsleiters reichten, wie sich nun herausstellte, dafür aus, zwei neue Tankwagen bei
Daimler zu bezahlen. Tankwagen, die inzwischen natürlich längst
schon fleißig Heizöl und Diesel ausfuhren. Wie Graf Hohenthal es
dann doch geschafft hat, weiß ich nicht. Jedenfalls wurden die Tankfahrzeuge von der Hamburger Zentrale genehmigt und fast noch
pünktlich bezahlt. Die nächsten Monate war ich dann praktisch jede
Woche drei bis vier Tage in Stuttgart. Und mit dem neuen Geschäftsführer, Herrn Piotrowski, einem wirklich tüchtigen Mann,
schafften wir es, bis zum Jahresende tatsächlich schon einen kleinen
Gewinn auszuweisen. Keine Frage, dass mir das, diesem jungen, akademischen Hitzkopf im Haus der Niederlassung München schnell
einen besonderen Ruf einbrachte. Mein Bruch der Konzernregeln
wurde meinem Eifer und jugendlichen Überschwang zu Gute gehalten und mir als Ausrutscher eines frechen, überengagierten Anfängers, der mit den Spielregeln noch nicht so vertraut war, gnädigst
verziehen. Schließlich hatte ich ja den turn around in Stuttgart geschafft, wie man es heute nennen würde. Und ich hatte mir einen
Ruf erworben, der bis in die Hamburger Zentrale durchgedrungen
war und der zudem in einer fast dreißig prozentigen Gehaltserhöhung seinen Ausdruck fand. Und ab da gehörte ich zu den Leuten
mit Führungspotential im Hause BP und wurde an die Zentrale in
Hamburg versetzt. Allerdings mit einem Dienstsitz in München und
einem netten, eigenen, kleinen Büro in der Münchner Niederlassung
mit ihren damals sieben Verkaufsabteilungen.
Eigentlich bin ich ja mein Leben lang immer ein ziemlicher Faschingsmuffel gewesen. Diese merkwürdige Lust so vieler Menschen, plötzlich in eine andere Haut zu schlüpfen und Hurra zu
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rufen, fehlt mir ganz einfach. Zuerst war es Ludmila und dann Ralph
in meinen späteren Jahren. Sie haben mich ab und zu einmal mitgerissen, allerdings auch dann eher als Zuschauer. Aber als ich dort
in der Briennerstraße am Faschingsdienstag 1971 gerade meine Büroarbeiten erledigte, wurde der Lärm in den übrigen Büros immer
lauter, ja unerträglicher. All die jungen Kollegen waren kostümiert,
schon gut angetrunken und selbst durch den entnervten Grafen Hohenthal nicht mehr zu bändigen. Fenster wurden geöffnet und schon
zersplitterten die ersten Schreibtische mit einem Höllenlärm auf dem
Innenhof am Wittelsbacher Platz. Graf Hohenthal wollte sogar
schon die Polizei zu Hilfe rufen. Doch ich konnte ihn gerade noch
stoppen. „Das machen wir ganz anders!“ Ich war wütend, brüllte die
jungen Kollegen fürchterlich an und warf sie regelrecht aus dem
Haus. Als sie am nächsten Morgen ziemlich geknickt wieder zur
Arbeit erschienen, hatte ich Graf Hohenthal schon davon überzeugt,
dass die Jungs am Faschingsdienstag durch nichts und niemand zu
bändigen wären und deshalb an so einem Tag besser außerhalb der
Niederlassung toben sollten. So gab es keinerlei Disziplinarmaßnahmen, sondern nur die freudige Botschaft, dass ab dem
nächsten Jahr die Niederlassung am Faschingsdienstag geschlossen
bliebe. Und so wurde ich gerade für die jüngeren Kollegen ganz ungeplant zu einer richtigen Autoritätsperson, was für meine Karriere
in diesem ehrenwerten Haus ein paar Jahre später noch ganz hilfreich werden sollte.
Das mit dem eigenen, kleinen Büro passte auch insgesamt
ganz wunderbar in diese, meine ersten Jahre als Ölkaufmann. Hatte
ich doch kurz nach Beginn meines Berufslebens Ludmila kennengelernt. An einem Spätnachmittag Ende September war es, als ich in
einem der Bierzelte während des Münchner Oktoberfests nach meinen noch neuen Arbeitskollegen suchte, mit denen ich mich da treffen wollte. Da saß sie mit einem ehemaligen Mühldorfer Schulkollegen, Jimmy Grimm, an einem der langen Tische. Jimmy und ich
begrüßten uns mit dem üblichen, fast noch jugendlichen „Hallo“,
wenn man sich länger nicht mehr gesehen hatte, und ich setzte mich
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zu den beiden. Oh ja, vom ersten Augenblick an gefiel Ludmila mir
ausgesprochen gut. Eine schlanke, schwarzhaarige Schönheit! Ja, sie
beeindruckte mich wirklich. Etliche Monate zuvor war sie in den
Nachwehen des vor allem für die junge Generation so hoffnungsvollen und bitter gescheiterten Prager Frühlings aus der Tschechoslowakei geflüchtet. Zunächst hatte sie Unterschlupf bei einer ihr bekannten Familie in Wasserburg am Inn gefunden. Da ihre Mutter,
ebenfalls eine Gertrud, in der Tschechoslowakei in ihrem tschechischen Pass als „deutsch“ geführt wurde, hatte sie hier kein Problem
gehabt, in der Durchlaufstation Zirndorf als „deutsch“ anerkannt zu
werden. Und als wir beide uns damals trafen, hatte sie gerade mit
ihrem Studium an der damaligen Pädagogischen Hochschule in Pasing begonnen. Das war nach den unsinnigen, typisch deutsch arroganten Gesetzen notwendig, da ihr tschechisches Lehrerexamen und
ihre dortige, schon einjährige Tätigkeit als Lehrerin in Deutschland
nur als zwei Studiensemester anerkannt wurden. Und da das Studium an der Pädagogischen Hochschule nur sechs Semester dauerte,
hatte sie sich dafür entschieden. Das würde sie letztlich nur zwei
Jahre kosten, denn schließlich wollte sie so schnell wie möglich unabhängig sein und ihr eigenes Geld verdienen. Allein schon das und
wie sie da, herausgerissen aus ihrem bisherigen Leben mit all diesen
neuen Lebensumständen umging, hat mich schon sehr beeindruckt.
Was Ludmila damals allerdings noch nicht ahnen konnte, war, dass
sie sich damit auf den Weg in einen Beruf begeben hatte, den sie
letztlich nie wirklich lieben würde. Jedenfalls trafen wir uns sehr
schnell wieder und dann auch immer häufiger. Ich besuchte sie gern
in ihrem Studentinnenquartier im Haus der Englischen Fräulein in
der Planeggerstraße in Pasing und sie mich in der Kolumbusstraße.
Ich korrigierte die erstaunlich wenigen grammatikalischen Fehler in
ihrer Facharbeit über Anton Semjonowitsch Makarenko und wir
übten des öfteren unter Gelächter die Phonetik ihrer Aussprache.
Unauslöschlich in Erinnerung geblieben ist uns beiden bis heute der
„Schwöödenkeenig“ Karl Gustav. Etliche Male hatten wir ihn als
„Schweedenköönig“ geübt. Doch in all ihrer Aufregung bei ihrer
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Prüfungsstunde war er doch wieder der „Schwöödenkeenig“ geworden. Allerdings frage ich mich heute, warum wir damals nicht auf die
Idee kamen, diese Worte einfach zu trennen und ihn als Karl Gustav, König von Schweden zu bezeichnen. Das wäre damals sicher
um einiges einfacher für Ludmila gewesen. Aber wer weiß, vielleicht
wäre dann der „Keenig“ von „Schwööden“ daraus geworden.
Im folgenden Frühjahr besuchte ich dann ein erstes Mal ihre
Eltern und ihren Bruder Stefan in deren Haus in Repiste, einem
kleinen Dorf kurz vor Mährisch-Ostrau. Wirklich freundliche, sehr
herzliche und für mich sofort sympathische Menschen. Vor allem
ihr beinahe blinder Vater, Bohumil, beeindruckte mich schon bei
dieser, unserer ersten Begegnung sehr. Ein schon älterer, sehr warmherziger Mann mit einem wunderbaren Charisma und mit einem
Optimismus, der einfach ansteckend war. Und er war bis in seinen
Tod konsequent. Als die Ärzte bei ihm, ein gutes Jahrzehnt später,
im Alter von knapp achtzig Jahren Nierenkrebs feststellten, beschloss er, sich nicht mehr operieren zu lassen. Seine Uhr sei nun
wohl abgelaufen, sagte er und da solle man schon nicht mehr
großartig an ihr herumdrehen. Ich habe es nicht vergessen. Doch
diese, seine Einstellung zum Leben habe ich damals kaum beachtet.
Aber heute beschäftigt sie mich sehr viel intensiver. Wie werde ich
mich entscheiden, wenn es einmal tatsächlich zu so etwas kommen
sollte? Werde ich den Mut haben, so zu handeln wie er? Oder werde
ich mich anders entscheiden und mich operieren lassen? Hoffen,
dass dann wieder alles gut wird? Was ist richtig? Ich kann es nicht
sagen. Erst einmal bin ich froh, dass ich bisher Glück gehabt habe
und mir diese Frage bisher weder stellen noch beantworten musste.
Nach gut einem Jahr war damals dann jedenfalls klar, dass Ludmila
und ich heiraten würden. Also heirateten wir gegen Ende März 1971
auf dem Standesamt in Aschau am Inn, noch bevor Ludmila ihr
staatliches Diplom endgültig in der Tasche hatte. Gefühlsmäßig eine
letztlich etwas traurige Hochzeit für Ludmila, konnten doch ihre Eltern nicht daran teilnehmen. Schließlich war sie für die kommunistisch programmierten, tschechischen Bürokraten ein Republikflücht76
ling und allein die Tatsache, dass sie diese damals etwas ärmliche
Republik ohne deren behördliche Genehmigung verlassen hatte, galt
dort zu jener Zeit als Republikflucht und somit als Straftat. Und
dementsprechend hatten ihre Eltern auch keine Ausreisebewilligung
zur Hochzeit ihrer Tochter erhalten. Das mit der Straftat der Republikflucht haben wir im Lauf der Jahre korrigieren können. Zu Ludmilas Gerichtsverhandlung fuhr ich als ihr Ehemann nach MährischOstrau und konnte eine Vertagung des Falles erreichen. Schließlich
habe sie ja nur aus Liebe zu mir das Land verlassen und erwarte jetzt
ein erstes Kind von mir. Irgendwie war es sogar ganz lustig, die
dicken, noch jungen Volksrichterinnen von dieser Liebesgeschichte
zu überzeugen und zu einem Urteil kam es deshalb auch nie. Später
erhielt Ludmila für dreitausend DM ein tschechisches Dauervisum
für die Bundesrepublik und konnte somit ihre Eltern ungefährdet
besuchen. Etliche Jahre danach kam dann für weitere siebentausend
DM ihre offizielle Entlassung aus der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft. Na ja, von etwas musste dieser sozialistische Staat
schließlich ja auch leben! Allerdings hat Ludmila ihre tschechische
Staatsbürgerschaft nach der „sanften“ Revolution 1989 ganz automatisch wieder bekommen. Das haben wir tapfer verschwiegen, da
sie als Staatsbeamte keine zweite Staatsbürgerschaft besitzen durfte.
Na ja, gemerkt hat es jedenfalls niemand – und heute, als Pensionistin, fragt sie sowieso keiner mehr danach.
Irgendwie passte unsere Hochzeit damals nicht nur in diese,
im Vergleich zu heute, immer noch sehr, sehr bürgerliche Gesellschaft. Alles ging zielgerichtet seinen Weg. Ja, in diese Zeit passten
auch genau all die Erwartungen, die Ludmila, die Ludmilas und meine Eltern, die der Konzern BP und vor allem auch ich an mich
selbst nun hatten. Und ich war immer noch eisern davon überzeugt,
dass ich meine Gefühle für Männer einfach nur zu unterdrücken
hätte, obwohl es manchmal begann, schon etwas schwerer zu fallen.
Aber irgendwann würde sich das alles schon von selbst erledigen, so
hoffte ich zumindest. Einerseits fühlte ich mich zufrieden und irgendwie sogar auch glücklich. Alles schien bestens zu laufen. Aber
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dann war auch immer wieder diese undefinierbare Unruhe in mir.
Ich erklärte sie mir mit meinem Beruf, mit den Anforderungen und
der Verantwortung, die nicht nur in der Firma immer größer wurden. Ja doch, ich wollte damals wohl einfach nur dazu gehören. Ludmila wurde schwanger. Um Platz für ein Kind zu haben, waren wir
inzwischen in eine zweieinhalb Zimmer Mietwohnung am Westkreuz in Neuaubing in der Reichenaustrasse Nr.15, umgezogen. In
ihrem ersten Berufsjahr als Lehrerin, bis zu Stefans Geburt im Mai
1972, fuhr Ludmila jeden Morgen mit der Bahn von Pasing nach
Augsburg in ihre Grundschule, während ich an allen möglichen
Orten Süddeutschlands als Einzelkämpfer für BP für Händler Betriebsanalysen erstellte und meinen Kollegen beibrachte, wie man
diese zu erstellen und wie man Bilanzen zu lesen und vor allem zu
beurteilen hatte. Und das war nicht in jedem Fall ein Vergnügen,
sondern eher eine bittere Pille. Denn der ein oder andere Händler
war nach der ersten, aus heutiger Sicht eher kleinen, Wirtschaftskrise
Ende der Sechzigerjahre ziemlich eindeutig am Ende. Das dem
Händler selbst zu vermitteln war gar nicht einmal so problematisch.
Der ein oder andere fühlte sich sogar richtig erlöst. Das Problem
waren eher die eigenen Chefs, die von Betriebswirtschaft und Bilanzen kaum Ahnung hatten. War es doch bis dahin immer nur weiter
aufwärts gegangen. Aber wie nun weiter mit diesen Händlerbetrieben, die ja ein wesentlicher Teil des Geschäftes waren? Schließlich
verkauften sie die Produkte meines Arbeitgebers. Mein Vorschlag,
solche Händler, dem Stuttgarter Muster entsprechend, zu übernehmen, wurde zuerst etwas zögerlich akzeptiert und dann tatsächlich
realisiert. Und es lief von Anfang an teuflisch gut. Rückblickend war
es allerdings wohl keine allzu große Kunst, weil die deutsche Wirtschaft zu jener Zeit wieder richtig zu boomen begann. Mir allerdings
bescherte es immer größeres Ansehen in der Firma und ich wurde
ganz offiziell in die Riege künftiger Führungskräfte aufgenommen.
„Ein ruhiger, abwägender Kaufmann, der mit Sicherheit zu den
Kandidaten für eine VL-Position gehört,“ heißt es in einer meiner
damaligen Beurteilungen.
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Aber ganz so ruhig und abwägend war ich, war es zu jener
Zeit letztlich dann doch nicht. Im Gegenteil, denn im Mai 1972 kam
schließlich Stefan zur Welt. Und mit ihm eine neue, ungeahnte Hektik in Ludmilas und mein Leben. Verständlicherweise wollte Ludmila
weiter ihrem Beruf nachgehen. Etwas, was damals noch nicht so
ganz selbstverständlich war. Aber wie? Jemand musste Stefan dann
ja während ihrer Unterrichtsstunden betreuen. Und so kamen wir
auf die Idee, dies durch meine Mutter erledigen zu lassen. Allerdings
konnte das nur in Aschau-Werk funktionieren. Ludmila ließ sich
deshalb an die Volksschule in Kraiburg am Inn versetzen und wohnte die Woche über bei und mit meinen Eltern. Während Ludmila in
Kraiburg Unterricht gab, versorgte Mutti den kleinen Stefan, ihr heiß
geliebtes „Steffele“! Freitag Abend holte ich Ludmila und Stefan von
dort ab und brachte die beiden am Sonntag Abend wieder zurück.
Auf Dauer war das nicht nur wegen der Enge des kleinen Reihenhauses in Aschau-Werk kein haltbarer Zustand. Vor allem keine
leichte Zeit für Ludmila. Denn Mutti war einfach sehr überzeugt
davon, dass sie alles besser wusste und Ludmila hielt sich zurück,
weil sie keine böse Schwiegertochter sein wollte. Doch ihre neue
Rolle als Oma gefiel Mutti nicht nur gut, sie lebte sie immer intensiver. Um dem zu entgehen und da ich für die BP sowieso
meistens irgendwo in der Südhälfte Deutschlands unterwegs war, lag
es nahe, unseren Lebensmittelpunkt einfach ganz nach Aschau zu
verlagern, denn Ludmila gefiel es dort. Mit einem Kredit der
Aschauer Raiffeisenbank, dem wenigen eigen Ersparten und zehntausend DM, die meine Eltern zugaben, kauften wir für einhundertfünftausend DM ein gerade fertiggestelltes Reiheneckhaus in Aschau
Dorf. Sehr idyllisch gelegen, mit einem kleinen Garten, hinter dem
Dorfbach und hinter der Aschauer Brauerei. Nur gute fünf Minuten
Fußweg zu der inzwischen neu gebauten Aschauer Volksschule für
sie, an die sich Ludmila hatte versetzen lassen. Vati brachte morgens,
vor seinem Dienstbeginn im Postamt Waldkraiburg, Mutti zu uns.
Dort betreute sie Klein-Stefan und bereitete das Mittagessen vor,
während Ludmila ihren Unterricht hielt. Mittags, wenn Vati Mittags79
pause und Ludmila ihren Unterricht beendet hatte, aßen sie zu viert,
dann brachte Vati sein „Trudchen“ wieder zurück nach AschauWerk und fuhr zurück in sein Postamt. Ich selbst startete damals
sehr oft schon Sonntagabend zu meinem nächsten Händlerbetrieb
oder in die Hamburger Zentrale und kam erst Freitag Abend wieder
zurück an den häuslichen Herd. Das ging ohne größere Probleme
und eigentlich ganz gut.
Doch dann erhielt ich Ende 1974 die überraschende, zugegebenermaßen von mir längst erwünschte und erhoffte Beförderung zum
Verkaufsleiter für das hessische Händlergeschäft der BP in der Niederlassung Frankfurt am Main. Doch dort in der Berlinerstraße
Frankfurts empfing mich ein richtiges Intrigantennest! Die Mannschaft in meiner Abteilung war eigentlich nur daran interessiert,
nicht aufzufallen und ansonsten möglichst in Ruhe gelassen zu werden. Und sie war insgeheim wohl auch enttäuscht darüber, dass es
keiner von ihnen geschafft hatte, diesen Posten zu bekommen. Über
mir thronte ein ausgesprochen intriganter, alkohohlabhängiger Niederlassungsleiter, ein Herr Hesse. Das erste Mal, dass mir zu dämmern begann, dass ich in so einem Konzern irgendwie im falschen
Film war. Aber das Nach- oder Aufgeben war schon damals nicht
meine Sache. Das stehst du durch! Diesem Kotzbrocken zeigst du
es. Und so kauften wir in Aschaffenburg-Damm ein Reihenhaus und
verkauften Aschau. „Am Galgenbuckel“, wie der Hügel am Stadtrand im Volksmund hieß. Aschaffenburg als Wohnsitz, weil es noch
zum so genannten Freistaat Bayern gehört und Ludmila sich so nach
Klein-Ostheim versetzen lassen und dort weiter als Lehrerin arbeiten
konnte, Klein-Stefan war inzwischen drei Jahre alt. Für ihn bekamen
wir einen Kindergartenplatz, ebenfalls in Klein-Ostheim. Und so
pendelte Ludmila jeden Morgen mit Stefan in ihrem Wagen nach
Klein-Ostheim und ich die vierzig Kilometer nach Frankfurt. Eine
leidenschaftliche Autofahrerin ist Ludmila allerdings nie geworden.
Und so hat sie das Autofahren nach der Zeit in Aschaffenburg auch
sehr schnell wieder aufgegeben. Zwischen Herrn Hesse und mir
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flogen bald die Fetzen. Er versuchte zu torpedieren, was immer ich
vorschlug und machte und versuchte mir noch dazu seine eigenen
Fehler in die Schuhe zu schieben. Ein richtig fieser Kleinkrieg, der
mir trotz allen Ärgers sogar irgendwie Spaß zu machen begann. Aber
für die Mannschaft und natürlich auch für den Konzern selbst war
das ausgesprochen negativ. Nichts ging mehr wirklich voran. Es
wurde ein für alle Beteiligten immer unerträglicheres Patt. Und relativ schnell begann man das auch im Vorstand der Firma in Hamburg zu begreifen. Und kaum dass wir als Familie in Aschaffenburg
wieder glücklich vereint waren, bekam ich die Verkaufsleiterposition
für das Händlergeschäft in München angeboten. Durch den überraschenden Todesfall meines damaligen Münchner Kollegen war die
dort wesentlich umfangreichere Position frei geworden und auch
meine ehemaligen Münchner Mitstreiter wollten mich als Chef. Ludmila und ich waren uns sehr schnell einig, dass auch wir wirklich
sehr gerne nach München zurück wollten. Mit ihrem Antrag auf
Rückversetzung nach München hatten wir zudem Glück. Herrschte
doch damals eine sogenannte Lehrerschwemme, in der der Staat
froh über jeden Lehrer war, den er entweder nicht anstellen musste
oder wieder aussondern konnte. Es gelang sogar ohne irgendein
Problem. Und so wurde Frankfurt zu einer zweijährigen Episode,
die ich sehr schnell und auch ganz gern verdrängt habe. Und nachdem ich fast ein Jahr bis zum Schuljahresende jeden Sonntag Abend
von Aschau nach Frankfurt und Freitag Abend von Frankfurt nach
Aschau gegondelt war, nahm ich nun fast ein Jahr lang, wieder bis
zum Schuljahresende jeweils Sonntag Abend den Weg von Aschaffenburg nach München und Freitag Abend den Weg zurück nach
Aschaffenburg. Die Autobahnstrecke von Frankfurt nach München
und zurück kannte ich, kannte vor allem mein Auto damals wirklich
schon auswendig. Am Ende dieser zwei Jahre war ich jedenfalls
mehr als 150.000 Kilometer gefahren.
München bedeutete damals für uns fast so etwas wie eine glückliche
Rückkehr in die alte Heimat. Wir verkauften unser Reihenhaus in
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Aschaffenburg an meinen ziemlich knickrigen, aus der Hamburger
Zentrale kommenden, Nachfolger in Frankfurt, das sowieso noch
zum größten Teil der Bank gehörte. Mein Nachfolger, ein Herr Jorasch, ist dort in Frankfurt allerdings nie über ein Schattendasein
hinaus gekommen. Wahrscheinlich passte er besser zu dem alkoholisierten Niederlassungsleiter, der schon wenige Jahre später wegen
seiner Alkoholkrankheit weit vor der Zeit in Pension geschickt wurde. Wir mieteten uns am Erkweg in Englschalking ein. Eine geräumige Erdgeschosswohnung. Sogar ein kleiner Swimmingpool war da
im Keller, in dem ich Stefan das Schwimmen beibrachte. Keine
Tilgungsraten und Zinsen mehr und sogar etwas Geld auf dem
Sparbuch. In meiner Abteilung meine früheren, inzwischen schon
nicht mehr ganz so verrückten Kollegen. Es machte wieder richtig
Freude in dieser Firma zu arbeiten. Alle zogen wir an einem Strang
und unsere Geschäfte blühten. Stefan hatte fünf Minuten Fußweg in
seinen Kindergarten und Ludmilas Knappertsbuschschule war zehn
Minuten entfernt. Und relativ schnell hatten wir endlich wieder
Freunde. Ludmila wurde erneut schwanger und Ende Juni 1977 kam
Eva auf die Welt. Und die Geschäfte meiner Abteilung liefen immer
prächtiger. Wir spezialisierten uns in der Firma darauf, auch gesunde
Händlerfirmen aufzukaufen. Das war ja meine Entdeckung gewesen,
die Lücke in der ich Freiraum hatte und in der ich zunächst auch
noch ungestört so entscheiden konnte, wie ich es für richtig hielt. Es
machte riesigen Spaß und meine Mannschaft zog eifrigst mit. Die
deutsche Wirtschaft boomte und wir erwirtschafteten teilweise
Gewinne ohne Ende. So prächtig lief das bei uns, dass der Vorstand
es zwei Jahre später zu einer neuen Organisationsform machte. Und
plötzlich war ich eingezwängt in neue Regeln, hatte plötzlich auch
kaum noch eigene Entscheidungsbefugnisse und musste für jede
Kleinigkeit bei der neu geschaffenen, uns nun vorgesetzten Abteilung in der Hamburger Zentrale um Genehmigung bitten. Das tat
auch meiner Mannschaft weh, denn wir bildeten uns ein, vieles nicht
nur besser zu wissen, sondern auch besser zu können. Und das war
auch so. Schließlich hatten wir die Erfahrungen gesammelt. Aber
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wahrscheinlich war das zumindest damals eine dieser unsinnigen,
aber offensichtlich zwangsläufigen Gesetzmässigkeiten in großen
Konzernen. Zeigte eine Idee damals Erfolg, wurde sie in eine Organisationsform, in ein starres System, gepresst. Und Systemen sind
Fehler immanent. Gut, das scheinen auch betriebswirtschaftliche
Theoretiker inzwischen als Fehler erkannt zu haben. Schließlich ist
man am Ende eines solchen Studiums heute ja auch nicht mehr
Diplom-Kaufmann, sondern MBA. Jedenfalls sind heute flachere
Hierarchien angesagt. Aber bei uns in München war damals das
Feuer der Begeisterung sehr schnell erloschen. Hinzu kamen erste,
schlecht kaschierte Fehlkäufe meiner Kollegen in den drei anderen
Niederlassungen und ein neuer, sich selbst maßlos überschätzender,
in meinen Augen leicht größenwahnsinniger Vorsitzender des Vorstands, Dr. Hellmut Buddenberg. Ein Vorsitzender, der sich zudem
mit windschnittigen, aber unfähigen Claqueuren umgab und der all
die guten, alten Haudegen erbarmungslos entsorgte, die es wagten,
ihm zu widersprechen. Eine smarte Null wurde Verkaufschef des
Konzerns, ein Herr Dr. Kolwe. Der größte Kunde unserer Niederlassung, ein Münchner Kohlen- und Heizölhändler mit einem riesigen Grundbesitz in der Hansastraße, stand zum Verkauf an. Die Eigentümer wollten nicht mehr. Ein wahres Schnäppchen, das BP zum
eindeutigen Platzhirsch in München gemacht hätte! Ich hatte die
besten Kontakte zu deren Geschäftsführer und war über die Kaufpreisvorstellungen der Eigentümer bestens informiert. Für eine Niederlassung war die Nummer allerdings zu groß. Also übernahm Dr.
Kolwe. Er wollte sich das Gelände der Firma „inkognito“ mit mir
zusammen vom Auto aus ansehen. Aber wie sollte das gehen? Sowohl ich, als auch mein Wagen waren dort bestens bekannt. Also
heimlich mein Anruf beim dortigen Geschäftsführer. Es klappte. Als
wir durch das Gelände der Firma und vorbei am Bürogebäude fuhren, blickten all die Angestellten und Arbeiter krampfhaft in andere
Richtungen. Und Dr. Kolwe war sehr stolz, dass er es mir gezeigt
und dass das so hervorragend geklappt hatte. Einfach nur lächerlich!
Dennoch machte BP ein passables Kaufangebot. Von deren Ge83
schäftsführer erfuhr ich allerdings, dass eine andere Firma mehr
geboten hatte. Ich informierte Herrn Dr. Kolwe, der diese andere
Firma und deren Macher angeblich bestens kannte und mit deren
Geschäftsführer befreundet war. Nein, das sei nur eine Erfindung,
um den Kaufpreis hochzuschrauben und nicht wahr. Pech für BP,
dass er sich von seinem Freund dort anlügen ließ und diese andere
Firma den Kauf dann tätigte.
Hätte, wäre, wenn! Der schleichende Niedergang des Konzerns war
auf allen Ebenen relativ dramatisch zu spüren. Alles verlief jetzt
schleppender. Lieber keine Entscheidung mehr treffen, als womöglich einen Fehler machen, wurde zur stillschweigenden Devise
auf allen Ebenen der Firma. Solle Herr Dr. Buddenberg uns doch
sagen, was richtig sei. Und er tat es voller Selbstüberschätzung. Nur
gingen seine Ideen oft schon im Denkansatz an der Realität vorbei.
Und so wurde es schlimmer und schlimmer. Auf einen Verkäufer
draußen packte er drei Organisatoren in der Zentrale. Das Ergebnis
seiner Genialität belegen zwei Ziffern: 1977/78 hatte BP einen
Marktanteil in Deutschland zwischen 23 und 24 Prozent. Bis zum
Jahr 2000 war dieser Anteil auf etwa 6 oder 7 Prozent zusammen geschrumpft. Sicher haben auch seine, von ihm auserkorenen, Vorstandskollegen und Nachfolger noch das ihre dazu beigetragen. Aber
den Grundstein für diesen Niedergang hatte dieser Herr Dr. Buddenberg gelegt. In diesem System fühlte ich mich zunehmend unwohler. An Herrn Dr. Vollrath, den Generalbevollmächtigten, der
sich vergeblich bemühte in den Vorstand zu gelangen und später
entsorgt wurde: „Anliegend ein neues Projekt. Es ist sauber durchgerechnet und wird eine sichere Rendite von etwa zehn Prozent
bringen, wir bitten um Genehmigung.“ Das war jetzt der Stil des
Hauses. Wenn nicht gleich eine Ablehnung wegen zu geringer Rendite kam, die kurze telefonische Nachricht, dass das Projekt dem
Vorstand vorgelegt worden sei. Und dann Monate lang gelegentliche, telefonische Rückfragen, ob man die Rendite nicht etwas höher
rechnen könne. Nein! Ich wurde immer sturer, denn wir rechneten
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ehrlich. Schließlich die lautlose Beerdigung des Projektes. Für die
Welt verändernden Ideen von Dr. Buddenberg war das alles offensichtlich viel zu klein. Irgendwie begann der Alltag immer grauer zu
werden. Meine Zweifel, ob ich überhaupt noch in ein solch frustrierendes, ja sinnloses Lakaiensystem passte, begannen immer stärker
zu wachsen.
Und noch etwas drängte sich in dieser Zeit immer weniger
kontrollierbar in mir nach vorne. Vielleicht war es die Frustration
oder aber die Unzufriedenheit darüber, wie sich alles in diesem Konzern BP entwickelte. Ich kann es eigentlich bis heute noch nicht so
ganz genau erklären. Jedenfalls, irgendwann Ende der siebziger Jahre, in dieser Zeit, gab ich all den in mir immer noch schlummernden
Sehnsüchten nach und sprang über die von mir selbst vor mir aufgebaute Mauer. Zunächst einfach mal schnell auf dem Heimweg oder
während der Mittagspause der schnelle Besuch der öffentlichen Toilette am Polizeipräsidium in der Ettstrasse. Witzigerweise befand die
sich genau neben der Einfahrt zum Polizeipräsidium, kaum fünf Minuten von meinem Arbeitsplatz entfernt. Dort war immer ein sehr
lebhafter Betrieb und auch jemand, der mir schnell Erleichterung
verschaffte. Und dort hörte ich auch das erste Mal von einem
schwulen Lokal in der Baldestraße. Während des Oktoberfestes ging
ich ein erstes Mal dort hin. „Club Tadzio“ oder einfach die „Sieben“,
so hieß das Lokal in der Baldestraße. Der Anlaufpunkt für ältere
Männer bei ihrer Partnersuche. Bis auf die Straße standen die Männer da mit ihren Gläsern in der Hand. War es nun Glück oder Pech
oder ein relativ später Sieg meiner so lange unterdrückten Bedürfnisse? Schon an diesem ersten Abend lernte ich dort einen sehr eleganten, sehr charmanten, noch dazu sehr gut aussehenden, schlanken, alten Deutsch-Amerikaner aus Houston in Texas kennen. Ein
interessanter Mann mit einer faszinierenden Lebensgeschichte. Und
mit diesem Werner landete ich nach unserem zweiten Treffen dort
auch prompt in seinem Hotelbett. Ja, es war zunächst wie eine Befreiung. In meiner ersten Euphorie schob ich alle Zweifel zur Seite
und gaukelte mir vor, beides zusammen müsste doch irgendwie
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gehen. Braver Ehemann und Familienvater, der sich ab und zu mit
einem Mann vergnügt. Warum eigentlich nicht? Was ist schon dabei,
machte ich mir zunächst vor, wenn du danach wieder brav nach
Hause gehst. Aber so langsam dämmerte es mir, wurde immer belastender. Du bist ja ein Betrüger. Du betrügst nicht nur dich selbst, du
betrügst ja auch deine Frau. Und so etwas hat vor allem Ludmila
wirklich als Allerletztes verdient. Ausgerechnet sie, die du doch wirklich gern hast und die sowieso immer von ihren Selbstzweifeln geplagt wird. Und wie werden deine beiden Kinder, wie werden diene
Kollegen, wie wird man in deiner Firma reagieren, wenn man erst
einmal entdeckt, wenn klar wird, was du da klammheimlich treibst?
Das Ganze entwickelte sich immer mehr zu einem Albtraum, zu einem schier unentwirrbaren, kaum noch überschaubaren Knäuel, in
das ich mich immer tiefer zu verstricken begann. Zwei, beinahe drei
Jahre gingen so ins Land. Ja, ich wurde zu einem immer routinierteren und vielleicht sogar raffinierten Lügner, aber gleichzeitig fühlte
ich mich immer schmutziger und mies und als schäbiger Betrüger.
Ich wurde immer ungeduldiger, kleinste Unregelmäßigkeiten begannen mich aus der Fassung zu bringen und wütend zu machen. Doch
ich konnte es einfach nicht mehr lassen. Und die zwei, drei, netten
alten Herren, meine gelegentlichen, kurzzeitigen Bettgenossen, zu
denen ich mich immer öfter mit Ausreden stahl, wie länger arbeiten
zu müssen oder ein plötzlicher, überraschender, auswärtiger Termin,
zeigten vollstes Verständnis für meine Situation. Sie hatten natürlich
ausreichend Zeit und waren auch jederzeit verfügbar und willig. Klar
doch, für sie war es ein absolut problemloses Vergnügen. Für mich
war es das ja auch beinahe, zumindest so lange ich mit ihnen zusammen war. Kleine, ziemlich belanglose Geschichten, an die ich mich
durchaus und gerne erinnere. Aber nichts, was darüber hinaus
erwähnenswert wäre. Der Weg danach, der nächtliche Weg zurück in
die eheliche Wohnung, Ludmilas Blicke oder der Weg am nächsten
Morgen in mein Büro. All das machte mir immer deutlicher, was für
eine miese, charakterlose Gestalt da langsam immer mehr aus mir
wurde. Und irgendwann war mir dann endgültig klar, dass es so
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jedenfalls nicht mehr weitergehen, ja dass ich so einfach nicht mehr
weiterleben konnte, dass ich alles niederreißen und irgendwann
schließlich alles in einem fürchterlichen Chaos für alle Beteiligten enden würde. Um mich wieder im Spiegel anschauen zu können, musste ich einfach einen Strich unter all das ziehen, was ich bis dahin getan hatte.
Und 1982/83 traf ich dann eine Entscheidung, die mein Leben noch
einmal grundsätzlich verändern sollte. Oh nein, rückblickend war
das beileibe nicht so ganz einfach und schon gar nicht unkompliziert. Wenn ich heute zurück denke, staune ich immer noch. Staune
ich immer noch, wie gut das alles schließlich gegangen ist. Wahrscheinlich habe ich eine große Portion Glück gehabt. Ja, ich denke
oft, dass ich einfach nur großes Glück gehabt habe. Nicht nur da,
sondern überhaupt in meinem ganzen Leben. War es nun das Bedürfnis, meinen Sex endlich so auszuleben, wie es mir Spaß machte
oder der immer stärker fühlbare Wunsch, aus dem Eheleben oder
voller Trotz aus diesem inzwischen immer sterileren Ölkonzern auszubrechen, in dem ich mich immer mehr als austauschbare Nummer
fühlte? Oder war es ganz simpel das Bedürfnis frei zu sein. Ich denke, irgendwie war es eine Mischung, eine Kombination aus all dem.
Und der Zufall half mir dabei sogar etwas. Den Vorstellungen jenes
Dr. Buddenbergs entsprechend wurde der gesamte Konzern ein
nächstes Mal neu und umorganisiert. Ich sollte das Controlling für
das Tankstellengeschäft in der Konzernzentrale in Hamburg übernehmen. Nein, dabei wollte ich nicht mehr mitmachen. Ein weiterer
Lackaffe im Dunstkreis von Herrn Buddenberg wollte ich einfach
nicht auch noch werden. Es war die Gelegenheit für mich. So trennten sich die Weltfirma BP und Herr Possart im gegenseitigen Einvernehmen, wie es so schön heißt, und ich konnte sogar noch eine
ganz nette Abfindung und die Mitnahme einer Pensionszusage aushandeln. Allerdings gegen ein einjähriges Wettbewerbsverbot, auf
verkäuferische Tätigkeiten in der Ölbranche. Ein Wettbewerbsverbot, das ich sogar als Kompliment empfand. War ich in seinen Au87
gen doch zumindest so gut gewesen, dass mich der Vorstand nicht
sofort bei einem Konkurrenten sehen wollte. Doch da hätte er sich
keine Sorgen machen müssen. Ob Esso, Shell oder andere Konzerne, davon hatte ich jedenfalls genug. Dieses eine Jahr überbrückte
ich relativ elegant als Buchhaltungsleiter bei Haniel in München, um
meine beruflichen Pläne, den Wunsch nach Selbstständigkeit zu sortieren und in Ruhe angehen zu können. Lustiger Weise genau bei jener Firma, die BP drei oder vier Jahre zuvor den großen Heizöl- und
Kohlenhändler vor der Nase weggeschnappt hatte. Aber gegen eine
Tätigkeit als Buchhaltungsleiter konnte BP nichts einwenden. Mochte es in deren Augen auch ein „Geschmäckle“ haben, aber dagegen
war von BP nichts zu machen. Und auch sehr ehrlich, ich habe mich
dieses ganze Jahr sehr korrekt an die Vereinbarung gehalten!
Wir waren inzwischen in die Prinzregentenstraße umgezogen, weil die Miete am Erkweg in immer rauschendere Höhen gestiegen war. Und zudem hatte Ludmila, inzwischen längst Beamtin
auf Lebenszeit, diese Möglichkeit genutzt und uns über den Münchner Beamtenwohnungsverein eine günstige Wohnung hinter dem
Prinzregentenplatz, in der Prinzregentenstraße beschafft. Sie war geräumiger, Stefan und Eva hatten ihr eigenes Zimmer, Ludmila und
ich schliefen inzwischen in getrennten Zimmern. Aber es ging einfach nicht mehr. Also mietete ich mir eine eigene Dreizimmer-Wohnung in der Einsteinstrasse, nur etwa 600 Meter von der ehelichen
Wohnung entfernt. Ludmila erklärte ich damals nur, dass es mit uns
und überhaupt mit allem so einfach nicht mehr weitergehen könne.
Aber ich würde auch weiter für die Kinder da sein, versprach ich ihr.
Das holperte anfangs schon etwas, hat sich aber im Laufe der folgenden Jahre doch ganz passabel eingespielt. Ihr damals als Begründung zu sagen, dass ich letztlich wohl schwul sei, dass ich eigentlich
schon immer schwul gewesen sei und dies fast zwei Jahrzehnte
unterdrückt hätte, wagte ich ihr damals einfach nicht zu sagen. Und
später war es dann ja auch nicht mehr notwendig. Da war es wohl
auch für sie klar. Und so haben wir bis heute nie miteinander über
dieses Thema gesprochen. In jenem Jahr reichte mein Entschluss,
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die sichere und gut bezahlte Stellung bei BP und meine gar nicht so
schlechte Karriere dort aufgegeben zu haben, um mich für verrückt
zu halten. Allgemeines Entsetzen damals vor allem bei meiner Mutter und bei Schwiegermutter Gertrud. Vati Alfred schwieg und Papa
Bohumil war da schon gestorben. Die Wohnung in der Einsteinstraße möblierte ich so, dass Eva und Stefan jederzeit auch bei mir
sein und da auch schlafen konnten. Und sie nutzten das und Papas
Nähe zumindest zeitweise ganz gerne, auch für ihre sportlichen Ambitionen als Eiskunstläufer. Zumindest bilde ich mir ein, dass es
ihnen trotz der Trennung ihrer Eltern an nichts gemangelt hat.
Obwohl ich mir heute manchmal nicht mehr so ganz sicher bin,
wenn ich die beiden so betrachte und mich gelegentlich frage, ob ich
das Ganze nach so vielen Jahren heute vielleicht nicht doch in einem
etwas zu rosigen Licht sehe. Natürlich blieben die Zweifel und
irgendwie wurde das Ganze auch stolperig. Ist das eigentlich richtig,
was du da machst? Und nach ein paar Jahren hatte ich genügend
Geld, um mir eine Wohnung in der Elektrastraße zu kaufen.
Ludmila war damals und auch später bei und nach unserer Scheidung mehr als fair. Wir brachten die Scheidung mit einem Anwalt
einvernehmlich, wie es so schön heißt, hinter uns und gingen anschließend auf einen Kaffee und einen Cognac ins Café Luitpold
und abends zum Essen in ein schickes Lokal, den Preysingkeller in
der Preysingstrasse. Ein nettes Lokal, das leider nicht mehr existiert.
Ich weiß, dass Ludmila beiden Kindern gegenüber und auch sonst
wohl nie ein böses Wort über mich und mein Verhalten verloren
hat. Jedenfalls war ich jetzt frei. Frei, um mich so zu bewegen, wie
ich wollte und auch frei, meine zunächst immer noch etwas diffusen
und noch unklaren Pläne zu realisieren, mir ein eigenes Geschäft
aufzubauen. Mit dieser Idee nahm ich 1984 zunächst den Posten als
Geschäftsführer der Benzin-Kontor GmbH, einer Tochtergesellschaft der Rütgerswerke in Frankfurt am Main, an. Eine kleine, in
dieser Aktiengesellschaft, die sich hauptsächlich mit der Veredelung
von Teerprodukten beschäftigte, exotische und eigentlich völlig de89
platzierte Tochtergesellschaft, die vier Tankstellen besaß, mit Mineralölprodukten handelte und zudem, als ich dort als Geschäftsführer
begann, mit einem völlig laienhaften Konzept auch noch kräftige
Verluste machte. Um das zu beheben, hatten sie einen Fachmann
gesucht. Ich wollte diese Stellung unbedingt, denn die baldige Pleite
der Mutter Rütgerswerke war für mich von Beginn an abzusehen.
Noch bevor ich meinen Posten antrat. Ich bekam die Stellung und
sanierte die Firma. Als ich damals antrat, hatte die Firma elf Angestellte. Heute schaffen wir das mehr als dreifache Volumen mit fünf
Leuten. Das zu sanieren war zwar nicht sehr schlau, aber ich konnte
nicht anders. Ansonsten musste ich nur in aller Ruhe abwarten. Es
dauerte, aber ich konnte meinen Plan realisieren. In den Wirren des
schleichenden Untergangs dieses Konzerns, der dann von der Ruhrkohle AG geschluckt wurde, konnte ich „mein“ Benzin-Kontor
schließlich übernehmen. Allerdings mit Bankschulden bis zur Halskrause, denn inzwischen hatte ich die Firma ja schon in die Gewinnzone gebracht. Dieser für sie exotische Appendix war für die „großen“ Manager der Ruhrkohle trotzdem nicht wirklich interessant
und wirklich haben wollte sie außer mir vermutlich auch niemand.
Management buyout heißt so etwas in der Fachsprache. Beide Seiten
waren es zufrieden. Und seitdem habe ich es, nicht immer ganz ruhig, doch den jeweiligen Möglichkeiten entsprechend umstrukturiert
und größer werden lassen. Meine dafür aufgenommenen privaten
Bankschulden hatte ich immerhin schon drei Jahre später getilgt.
Natürlich ist es keine Weltfirma geworden, aber daran hatte ich auch
nie Interesse. Wahrscheinlich hätte ich auch gar nicht das Talent
dazu. Aber sie gibt mir bis heute den Spielraum, frei und unabhängig
zu sein und so zu leben, wie ich will. Etliche Jahre später habe ich sie
dann in eine kleine Aktiengesellschaft umgewandelt, zum einen, um
für Ralph als Aufsichtsrat die Möglichkeit zu schaffen, auch in geschäftlichen Angelegenheiten mit und bei mir sein zu können, zum
anderen, um die persönliche Haftung zu reduzieren. Und mit einem
pensionierten Kollegen aus der Branche, Helmut Schreier und unserem Anwalt Fritz Keller zusammen hat er immer einen guten Job
90
gemacht. Der Neffe mit diesem so netten, weit gereisten Onkel in
derselben Firma, das kam überall gut an und gab meinem BenzinKontor sogar einen Hauch von Weltläufigkeit! Ja, diese Firma ist
nun schon seit vielen Jahren zu einem wesentlichen Inhalt meines
Lebens geworden! Sein liebstes Hobby auch noch als Beruf ausüben
zu können, wer hat schon solch ein Glück. Nein, es war eigentlich
nie das Geld, das damit zu verdienen war, das ist immer Nebensache
gewesen, die irgendwie dazu gehört. Und es übt bis heute überhaupt
keinen Reiz auf mich aus. Das Spiel ist es. Der Reiz, gelingt mir das
oder falle ich hinten runter? Gut, manchmal bin ich tatsächlich
hinten runter gefallen. Eine Roboter-Tankstelle haben wir gebaut.
Eine schmerzhafte aber irgendwie auch wiederum herrliche Pleite.
Auch das tat überhaupt nicht weh, weil, wie in vielen anderen Dingen auch da das Positive überwog. Oder die „Einstweilige Verfügung“ gegen DEA, die wir von einer mütterlichen Richterin des
Landgerichts München zugesprochen bekamen, die die Diskussion
um die Kosten-/Preisschere mit anheizte und schließlich 2006 zur
Aufnahme in das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen führte.
Und noch eine meiner so unüberlegten, abrupten Entscheidungen
aus den Berliner Jahren revidierte ich genau zu jener Zeit. Du musst
wieder irgend etwas für deine Gesundheit tun! Nach beinahe zwanzig Jahren Pause begann ich wieder zu laufen. Zunächst natürlich
wie ein lahmender Gaul. Aber es begann mir sehr schnell auch wieder enormen Spaß zu machen. Und dabei kam dann auch ein gewisser Ehrgeiz ganz automatisch wieder zurück. Sogar bis zur Teilnahme an Marathonläufen reichte er schließlich. Stadtmarathons in
Wien und München. Einen solchen Lauf über zweiundvierzig Kilometer unter dreieinhalb Stunden zu bewältigen, setzte ich mir als
Ziel. Und das schaffte ich nach ein paar Jahren. Aber das reichte
dann auch. Schneller zu werden hätte absolut systematisches Training bedeutet, schwer mit meinem beruflichen Alltag und meinem
nicht immer zu verbergenden Hang zur Faulheit zu verbinden. Doch
immerhin ist Laufen bis heute eine meiner Lieblingsbeschäftigungen
am frühen Morgen geblieben. Heutzutage nicht mehr mit beson91
deren Leistungszielen, sondern inzwischen um noch möglichst lange
einigermaßen fit und beweglich zu bleiben. Aber es macht immer
noch sehr viel Spaß. Zum Beispiel an Regentagen oder bei Schneetreiben. Nichts ist doch schöner, als mit dem Gefühl wieder nach
Hause zu kommen, der Natur getrotzt zu haben. Und außerdem ist
es sicher auch das sinnvollste Mittel meiner Lust am Rauchen meiner
Zigarillos, meinem abendlichen Bier und meinem obligatorischen
Absacker vor dem Schlafen gehen etwas Gesünderes entgegen zu
setzen.
Natürlich, die ein oder andere schlaflose Nacht hatte ich
nach dem Start des nun mir gehörenden Benzin-Kontors und auch
später noch. Das schreibt sich alles heute so leicht. Aber ich kann
mich noch sehr gut erinnern, wie ich manchmal um drei oder vier
Uhr morgens nach einem regelrechten Albtraum, in dem ich pleite
ging, schweißgebadet aufwachte. Vieles gäbe es zu erzählen. Vom
nächtlichen Auspumpen der Tanks bei einem offensichtlich zahlungsunfähig gewordenen Kunden in Cham zum Beispiel. Oder von
dem netten Opa, der trotz Offenbarungseid seine Tankstelle weiter
betreiben wollte. Doch kurz danach hatte ich dann glücklicherweise
schon Ralph kennen gelernt. Ralph, dem ich so viel zu verdanken
habe. Der aus mir in unseren mehr als zwei Jahrzehnten einen
neuen, einen ruhigeren, abwägenderen, ja ausgeglicheneren Menschen gemacht hat. Wie er das geschafft und wie er das vor allem in
den Gründerjahren der Firma mit mir ausgehalten hat, ist für mich
rückblickend betrachtet wirklich bewundernswert gewesen. In dem
Schwulenclub für ältere Männer in der Baldestrasse, der „Sieben“,
hatte ich ihn an einem Wochenende angesprochen. Wirklich schade,
dass diese kleine Bar, diese Enklave für ältere Schwule, nun schon
lange nicht mehr existiert. War sie doch immer so etwas wie ein Ruhepunkt in dem von Jahr zu Jahr immer schriller werdenden Nebenuniversum der Schwulen, das ich so, wie es sich heute darstellt, sowieso nicht mehr besonders mag. Wieso eigentlich muss ich überall
hinaus posaunen, dass ich schwul bin? Doch dort konnte man noch
über andere Dinge reden und oft auch sehr ernsthafte Gespräche
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führen. Als das Haus Ende der Neunzigerjahre dann verkauft und
die Bar geschlossen wurde, wollte ich in einem Anfall von Wehmut
das Haus sogar kaufen, um diese Bar als Enklave weiter bestehen zu
lassen. Aber Ralph und ein Bausachverständiger brachten mich,
wohl zu meinem Glück, dann noch sehr schnell wieder von dieser
Idee ab.
Ralph selbst, ihn privat, als Person näher kennen zu lernen, war anfangs gar nicht einmal so einfach. Er war zunächst eher zugeknöpft.
Weder wie er hieß, noch wo er wohnte, wollte er mir anfangs sagen.
Sein Vorname sei Olaf, hatte er mir zuerst erzählt. Ich hielt ihn
zunächst für einen Engländer, der gut Deutsch sprach und Journalist
oder so etwas ähnliches sein musste. Zumindest mit der beruflichen
Einschätzung lag ich nicht verkehrt. Aber ich ahnte natürlich, dass
der Name nicht stimmte. Und mehr im Spaß stellte ich mich ihm
deshalb zuerst als Friedhelm vor. Noch Jahre später waren wir
deshalb für die Gäste in der „Sieben“ das Paar Olaf und Friedhelm.
Selbstverständlich war das ziemlich kindisch und albern von uns,
aber es hat uns noch lange Spaß gemacht. Ralphs richtigen Namen
habe ich wirklich erst erfahren, als ich Olaf im biblischen Sinne
sogar schon ganz gut kennengelernt hatte. Da wusste ich immerhin
schon, dass er Däne war und in Kopenhagen lebte. Aber ich hatte
nur seine Telefonnummer. Einmal hatten wir uns bei einer meiner
Geschäftsreisen zu den Hamburger Ölmultis in einem Hotel in
Hamburg verabredet. Er war, aus Kopenhagen kommend, dort
schon vor mir eingetroffen und hatte sich mit seinem Pass und damit mit seinem richtigen Namen angemeldet. Und als ich am nächste
Morgen, beim Verlassen des Hotels, artig die Rechnung unter Nennung der Zimmernummer bezahlen wollte, sprach mich die Rezeptionistin als Herr Ralph Oppenhejm an. Ich musste lachen und auch
Ralph, der das ein paar Meter weiter, hinter mir in der Lobby hörte,
schmunzelte. Aber da hat es ihn auch schon nicht mehr weiter gestört. Hatte er mich zu jener Zeit doch schon zumindest als ausreichend vertrauenswürdig eingestuft.
93
Oh ja, ich habe so unendlich viel von Ralph gelernt. Nicht
dass er trotz seiner viel größeren, zum Teil wirklich dramatischen
Lebenserfahrung jemals versucht hätte, mir etwas beizubringen, womöglich mit erhobenem Zeigefinger oder bedeutungsvoller, tiefer
gelegter Stimme. Er als Mensch war es einfach, wie er die Dinge immer ruhig und gelassen angegangen ist, wie er völlig unaufgeregt immer Lösungen gefunden und Entscheidungen getroffen hat. Er war
in allen Belangen ein stiller Lehrmeister. Das hat mich nicht nur beeindruckt, sondern mich langsam Schritt für Schritt verändert. All
die wunderbaren kleinen und großen Geschichten, die er geschrieben hat, sein trockener Humor, sein unbestechlicher Blick für Menschen, aber auch seine absolute Konsequenz. Das alles hat auch meinen Blick auf die Welt und auch den Blick auf mich selbst nach und
nach still und zunächst fast unmerklich verändert. Etwas besseres als
all die Jahre, ja als dieses Leben mit ihm zusammen hätte mir einfach
nicht passieren können! Sogar zum Schreiben kritischer Glossen hat
er mich animiert, ja, so kann man sagen, in seiner ruhigen Art dazu
verführt. Aber du musst die Leute dabei auch zum Lachen bringen,
sonst wollen sie sie nicht mehr lesen. Selbst wenn ihnen das Lachen
danach im Halse stecken bleibt, werden sie dann bestimmt auch
nach deinem nächsten Artikel greifen. Oh ja Ralph! Zwar habe ich
immer schon gerne kleine Gedichtchen geschmiedet, so für den aktuellen Anlass und auch schnell wieder vergessen. Aber seinem Vorbild folgend habe ich zu schreiben begonnen. Zuerst meine kleinen,
zugegeben meist etwas kritisch-boshaften Artikel mit dem Titel
„Grob gesagt“, über die er sich zunehmend amüsiert und für die er
mich sogar gelobt hat. Eine, die nach einer exzessiv langen Sonnwendfeier entstanden war, hat ihn in schallendes Gelächter ausbrechen lassen. Ich mag sie bis heute! Kommt sie der Realität doch
langsam immer näher.
Ein herrlicher Tag! Die Luft scheint zu glühen. Und der kleine Zimmermann
im Kopf hämmert immer noch herum. So, als wolle er dein Gehirn endgültig
platt machen. Oder das, was noch übrig ist. Kein guter Tag! Du tröstest dich
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damit, daß es jedenfalls besser ist, solche Tage zu überstehen als auf den herrlichen Abend davor zu verzichten. Und immerhin ist ja Wochenende. Da fällt dir
der Artikel aus der tz München von vor drei Tagen ein. Oder war es die von
vor vier Tagen? Den wolltest du unbedingt nochmal in aller Ruhe durchlesen.
Immerhin, dein Gehirn arbeitet noch. Aber wo ist diese verdammte Zeitung? Du
weißt genau, du hast sie rechts im Arbeitszimmer auf die Kommode gelegt. Du
wühlst den Stapel durch, der sich da angesammelt hat. Aber da ist sie nicht.
Vielleicht ist es wegen der falschen Brille, die du gerade auf der Nase hast, daß
du sie nicht findest. Du nimmst die andere Brille. (Inzwischen arbeite ich mit
drei Brillen. Eine, um in die Ferne zu sehen, die zweite, um Dinge in der Nähe
zu sehen. Die dritte, um die anderen beiden wieder zu finden.)
Wo ist diese verdammte Zeitung? Vereinfachung, Simplifizierung! Der
Mensch hat einfach zu viele Schränke, Kommoden, Schubladen und zu viele
Ablagemöglichkeiten. Diogenes war ein kluger Mann, der hatte nur seine Tonne.
Oder war das Sokrates? Du hörst auf, zu suchen. Deine Lebenserfahrung sagt
dir, wie viele Dinge du schon gefunden hast, wenn du sie nicht gesucht hast! Also
denk nicht mehr an diese blöde Zeitung und den Artikel und laß’ es.
Raus in den Garten. Du steuerst den Liegestuhl an. Unter den Buchen,
die du vor vielen Jahren gepflanzt hast, ist es angenehm kühl. Oder sind es
Ulmen? Mann, jetzt erinnerst du dich nicht mal mehr daran. Zumindest das
unter deinen Füßen ist Rasen. Dabei funktioniert dein Gehirn doch sonst so
perfekt. Also gut, drei kleine Schwächen mußt du dir eingestehen, wenn du ehrlich bist. Manchmal erinnerst du dich nicht an Namen, manchmal nicht an Gesichter und manchmal, ja was war das doch gleich wieder?
„Nur an einer Sache interessiert, versucht er sich verzweifelt daran zu
erinnern, welche das war,“ grinste mich mein Onkel in solchen Situationen
immer an.
Entspanne dich. Doch was ist das? Da ist sie! Da auf dem Liegestuhl
liegt diese verdammte Zeitung. Richtig, du warst ja eben schon mal im Garten.
„Die Superabzocke der Benzinmultis.“ In fetten Lettern lacht dir diese
Schlagzeile ins Gesicht. „Spritpreise stiegen in wenigen Stunden um neun Cent.“
Richtig, das war nach dem Preisabsturz am letzten Wochenende. Die große
Stunde aller Münchhausen an den Tankstellen. Da können sie ihren Zentralen
via intranet die Hucke über ihre örtlichen Wettbewerber volllügen. Merkt ja
sowieso keiner und das System senkt den Preis automatisch ab. Offensichtlich
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verfügt keines dieser Systeme über Preisuntergrenzen. Etwas wie Abgabepreis ab
Raffinerie mal 1,19! Um Untereinstandspreisverkäufe zu vermeiden. Klar doch,
daß dann so Experten wie Herr Sven Jansen vom AvD in dem Artikel die
Keule rausholen: „Trotz hohem Ölpreis waren in den letzten Tagen Preisreduzierungen bis zu zehn Cent möglich. Das zeigt doch, daß bei den Öl- und Benzinpreisen noch viel Luft ist. Wer sich...Preissprünge von zehn Cent leisten
kann, der kann nicht behaupten, daß er bei der Preisgestaltung mit dem Rücken
zur Wand steht.“ Wenn der kleine Zimmermann in deinem Kopf nicht so herumhämmern würde, könntest du lachen oder dich ärgern. Aber wegen der Gesundheit ist es wohl besser das Adrenalin ruhig vor sich hinplätschern zu lassen.
Obwohl solche, von jeder Kenntnis unbeleckten Kommentare dem Autofahrer
doch nur die Vorurteile bestätigen, die er sowieso schon hat. Schön wär’s ja,
wenn wir uns diese Preissprünge leisten könnten.
„Wichtig ist, was hinten rauskommt“, hat Altbundeskanzler Kohl
einst so schön gesagt.
Alles, nur das nicht Angie! Aber das juckt dich bestimmt nicht. Schließlich hast
du der Berliner Zeitung erzählt: „Ich höre immer wieder morgens im Radio, daß
ich mich um dieses oder jenes aber sofort kümmern müsse.“ Und fügst später an:
„Als Regierungschefin muß ich auf die große Linie achten.“ Auf welche bitte?
Eigentlich bin ich kein Mensch, der besonders stolz auf sich selbst
ist, aber auf sein Lob war und bin ich stolz. Aber ausgiebiger zu
schreiben habe ich erst kurz nach Ralphs Tod begonnen. Zuerst war
es so etwas wie eine Art Strohhalm, an den ich mich klammern
konnte, um die plötzliche Leere, all die Verzweiflung und die unendliche Trauer nach seinem plötzlichen Tod irgendwie besser in den
Griff zu bekommen, die mich beinahe hinunter gerissen haben. Es
war fast wie ein magischer Zwang. Und angefangen habe ich mit
dem nunmehr folgenden Kapitel. Über das Alter hatte ich es ursprünglich benannt. Aber danach konnte ich einfach nicht mehr aufhören. Nicht dass ich etwas außergewöhnliches zu erzählen hätte.
Wie viele Menschen haben da interessantere Geschichten zu erzählen. Aber ich musste einfach immer weiter schreiben, weil plötzlich
so viele Erinnerungen immer intensiver in mir hoch kamen und ich
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immer stärker das Bedürfnis hatte, all das zu sortieren. So sind die
kurz nach seinem Tod geschriebenen Zeilen, die im nächsten Kapitel beginnen, eben immer weiter nach hinten gerutscht, weil sich all
die Erinnerungen an frühere Zeiten immer intensiver nach vorne
gedrängt haben.
97
IV.
Über das Alter oder das Altern an sich gibt es ja absolut unterschiedliche Auffassungen. Für die einen, ich nenne sie einfach mal
die Miesepeter, die ihr Leben lang mit nichts von dem zufrieden waren, was um sie geschah oder was sie erreicht hatten, ist es der letzte
„Abgrund, in den hinunter zu blicken schwindelig macht“, wie Gerhard Hauptmann es in seinem „Vor Sonnenuntergang“ beschreibt.
Für die anderen, die Optimisten, fängt das Leben dagegen mit 66
Jahren überhaupt erst richtig an, wenn man denn dem Schlagertext
von Udo Jürgens Glauben schenken will. Ich habe eigentlich noch
kein so richtiges Gefühl dafür, wo ich mich heute da selbst einordnen soll. Bin ich jetzt mit vierundsechzig Jahren denn schon alt?
Aber jetzt wo Ralph nicht mehr da ist, muss ich mich sowieso erst
einmal wieder selbst sortieren. Und das ist ein Prozess, in dem ich
fast ratlos hin und her schwanke, in dem mir unendlich viele Gedanken durch den Kopf schwirren und in dem ich fast jeden Morgen
alles immer wieder neu zu sortieren versuche, was mir so im Laufe
des letzten Tages durch den Kopf gegangen ist.
Oh ja, ein Loch wünsche ich mir manchmal. So ein richtig
riesengroßes, tiefes, tiefes Loch in der Zeit mit einem Schalter, in das
ich mich hinein verkriechen und in dem ich die Zeit wieder auf den
2. Februar 2008 zurückdrehen könnte. Als ich da im Augustinum neben Ralphs Bett saß, seine Hand hielt und mir an jenem Samstag
Abend mit jeder Stunde immer, immer klarer wurde, dass es wohl
endgültig zu Ende sein und dass er wohl nicht mehr nach Hause
kommen würde. Eine akute Lungenentzündung war bei ihm ausgebrochen. Auch wenn die Ärzte wirklich noch alles versuchten. Auf
irgend ein Wunder hoffst du da plötzlich. Aber dann packt dich
langsam eine dumpfe Leere und du begreifst so langsam, ja, langsam
wird dir immer klarer, es wird nicht mehr geschehen. Und dabei
hatte doch alles nach seiner Operation drei Tage zuvor so gut, ja fast
euphorisch ausgesehen. Oh ja, dahin wünsche ich mich manchmal
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zurück, wünsche mir, dass alles einfach nur weiter gegangen wäre
und dass er jetzt wieder genesen neben mir säße! Jeden Tag sehe ich
mir morgens Ralphs Photo zu Hause, auf dem er mir mit einem Glas
Cognac zuprostet und in meinem Büro sein Photo auf meinem
Schreibtisch an. Rein zufällig habe ich es ein paar Tage vor seinem
Tod aufgenommen. Ralph darauf im Profil, sehr ernst in die Ferne
blickend. Eigentlich bräuchte ich diese beiden Photos ja nicht einmal
mehr anzuschauen, ich habe sie sowieso ständig vor Augen. Und
nicht nur sie. Aber mit dem Blick auf sie kann ich ihm Fragen stellen, mit ihm argumentieren, scherzen und mit ihm über alles Mögliche reden, über alles, was ich so mache oder gemacht habe, so als
wäre er noch da. Und dann, irgendwann spät in der Nacht schreckst
du dann hoch, kommen immer wieder diese dunklen Gedanken.
Warum warst du am Morgen vor seiner Operation nicht noch einmal bei ihm? Da hättest du ihm doch noch einmal zeigen müssen,
wie sehr du ihn liebst, wie sehr du dich auf seine Rückkehr freust,
wie sehr du ihn einfach brauchst. Vielleicht hätte ihm das die nötige
Kraft gegeben. Unsinn, redest du dir dann ein. Am Abend vorher
seid ihr in seinem Einzelzimmer – darauf hat Ralph immer allergrößten Wert gelegt – mit seinen Ärzten, Dr. Lamm, Prof. Reichhard
und Dr. Scheinpflug noch zusammen gesessen. Ihr habt gelacht,
gescherzt, er hat nicht aufgehört zu erzählen und er war bei bester
Laune, als du ihn um halb zehn Uhr abends verlassen hast. Alles
würde gut gehen! Und am nächsten Morgen um sieben Uhr hatte
seine OP schon begonnen. Da hättest du ihn doch wahrscheinlich
nur verwirrt. Aber vielleicht hätte er dich gerade da ganz besonders
gebraucht! Weiß der Geier! Und dann kannst du nicht mehr einschlafen. Ein Glas Milch und ein Zigarillo. Das hilft dann doch.
Eine neue Aorta ist Ralph dort eingesetzt worden. Dr. Lamm, der
die Operation durchgeführt hatte, hat dich nach der OP ganz
glücklich umarmt. Alles schien wirklich gut gegangen zu sein. Und
dann, drei Tage später, Ralphs wahnsinnig schneller Abflug in die
Ewigkeit.
99
Welch schöner und starker Baum!
Genau richtig für diesen Traum.
In des Windes sanfter Weise
Richtig für die letzte Reise.
„Wir werden’s erfahren,“
hast du oft lachend gesagt.
In all unsren Jahren
von keiner Ahnung geplagt.
Wir haben geweint
Und wir haben gelacht
Wir haben vereint
Den Herbst uns zum Sommer gemacht.
Nun bist du gegangen.
Kündigst unsren Vertrag
in allen Belangen
nach diesem endlosen Tag!
Das war nicht erwartet,
das kam viel zu früh.
So ganz anders geartet
und mit so viel Müh!
Ich habe gezittert,
geweint und geflucht.
Dein Kampf war erbittert.
Du hast alles versucht!
Du solltest wohl gehen.
Deine Zeit war vorbei.
Ja, nun ist es geschehen.
Alles brach plötzlich entzwei.
100
„Wir werden’s erfahren,“
hast du oft lachend gesagt.
In all unsren Jahren
Von keiner Ahnung geplagt.
Doch nun ist es geschehen.
Dein Zug klingt schon fern.
Doch ich kann dich noch sehen.
Du bleibst der leuchtende Stern!
Welch schöner und starker Baum!
Genau richtig für diesen Traum.
In des Windes sanfter Weise
Richtig für die letzte Reise!
Ja, Possart! Da sitzt du vor dem PC und da fällt dir so was ein. Ein
richtiger Lyriker könnte diese hilflose Verbrämung sicher besser.
Wie, so hast du diesen Dr. Lamm ein paar Wochen nach dieser
Operation gefragt, als ihr euch eines Abends in deiner Tankstelle in
Maisach verabredet hattet, wie wäre es für Ralph denn eigentlich ohne diese verdammte Operation weitergegangen? Diese Frage ist dir
einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Sie hat dich sogar ganz
gewaltig gequält! Deshalb hattest du um diese Unterredung gebeten.
Vielleicht ein paar Wochen, vielleicht zwei, drei Monate. Aber dann,
irgendwann, so Dr. Lamm, wäre für Ralph ein schreckliches Ende
gekommen. Er habe das selbst einige Male erlebt, wie die Aorta eines Menschen zerbirst. Nichts, absolut nichts könne man, könne ein
Arzt dann mehr für ihn tun. Und dieser Mensch versinke dann in
einem verzweifelten, ja schrecklichen Todeskampf, so als würde er
langsam gewaltsam ertränkt. Zugegeben, diese Perspektive hat dich
dann doch wieder einigermaßen beruhigt und deine nachträglichen
Zweifel, ob Ralphs Entscheidung für diese verdammte Operation, in
der du ihn mit deinem ewigen Optimismus ja auch noch zusätzlich
bestärkt hast, die richtige war, doch um einiges kleiner gemacht.
101
Im April 2007 sind wir wieder einmal, wohl das sechste Mal,
gemeinsam nach Japan geflogen. Ein erstes Mal zur Zeit der Kirschblüte! Ohne die geringste Vorahnung, dass es das letzte Mal sein
würde. Aber da, lieber Ralph, hattest du es plötzlich ungewöhnlich,
ja für mich merkwürdig eilig gehabt, denn eigentlich hatten wir erst
im Juni, zu meinem Geburtstag, fliegen wollen. Die Male zuvor hattest du die Zeit der Kirschblüte immer abgelehnt, weil da das Wetter
in Japan schlecht und meistens ungemütlich und regnerisch sei. Aber
auf einmal hatte das einfach nicht mehr gegolten. Das Wetter sollte
angeblich sehr schön und frühlingshaft sein. Also musste eilig ich
umbuchen. Unser Flieger nach Frankfurt, wo wir den Anschluss
nach Osaka bekommen sollten, war hoffnungslos verspätet. Das
schaffen wir ja nie mehr, hast du im Flugzeug gemeint. Doch, wir
schaffen das bestimmt, habe ich dir geantwortet. Denn ich hatte
dich während unseres endlosen Wartens an der Abfertigung in München bei der Stewardess heimlich als „gehandicapt“ angegeben. Ein
paar Minuten warst du da neben mir ganz schön sauer, aber dann
hast du den Kopf geschüttelt und gegrinst. Mit einem Elektroauto
sind wir in Frankfurt fast halsbrecherisch von dem einen Terminal
zu dem anderen geflitzt. Der Junge am Steuer fuhr wirklich Vollgas.
Und als Letzte haben wir die Maschine doch noch erreicht. Und elf
Stunden später hast du auf mein wohl etwas anzügliches Grinsen
nicht reagiert, als wir bei strömendem Regen dann in Osaka, Kansai
Airport, gelandet sind. Oh ja, und dort in Japan, im alten Teil Kyotos, deiner Lieblingsstadt, habe ich dir noch versprochen deinen 85.
Geburtstag 2009 dort ganz groß mit dir zu feiern. Und dass ich dir
auch dort wieder sagen könnte, ich liebe dich! Viele hunderte, ja
vermutlich sogar tausende Male im Verlauf all unserer gemeinsamen
Jahre habe ich diese drei Worte zu Ralph gesagt und ihm diese Worte auch in unzähligen Briefen und auf Zettelchen auf dem Frühstückstisch geschrieben. Briefe und Zettelchen, die er in Plastiktütchen aufbewahrt hatte und die ich jetzt alle noch einmal durchgelesen und danach klein geschnipselt in den Müll geworfen habe.
„Ich liebe Dich – jeg elsker Dig.“
102
Ralph ging mit diesen drei Worten doch um einiges sparsamer um als ich und sehr oft auch nur in Frageform. Ganz bestimmt
war er auch da um einiges klüger oder zumindest vernünftiger als
ich. Auf jeden Fall war er wesentlich diskreter als ich. Natürlich habe
ich diese Worte etliche Male schriftlich von ihm, aber auch da sehr
oft in umschreibender Form. Warum deckst du mir eigentlich jeden
Morgen den Tisch, servierst du mir das Frühstück und warum
kochst du für mich jeden Abend, tust für mich dies und tust für
mich das? Was für eine unnötige Frage! Weil ich dich liebe! Er hörte
diese Worte gern und als Antwort sein verschmitztes, stilles, fast in
sich gekehrtes Schmunzeln. Aber was ist diese Liebe eigentlich? Was
steckt hinter diesen so schnell und so leicht dahin gesagten Worten?
Viele, viele Jahre ist dein Leben, sagen wir es einfach einmal so, gut
bürgerlich verlaufen. So wie du von deinen Eltern erzogen wurdest,
eben so, wie es damals einfach gut bürgerliche Sitte war. Du hast
geheiratet und sogar zwei Kinder gezeugt. Dass dich ältere Männer
mehr als das andere Geschlecht anziehen, ja dass du vermutlich
schwul bist, ist dir zwar schon ziemlich früh durch den Kopf gegeistert, aber du hast es nach einer für dich ziemlich enttäuschend gelaufenen Episode in deinen jungen Jahren weder dir und schon gar
nicht deiner Umwelt eingestehen wollen. Im Gegenteil, du hast es
weit, weit von dir geschoben. Ja, dieser Prozess der Selbstfindung
hat sehr, vielleicht sogar zu lange gedauert. Schwul, das war damals
noch ein besonders verächtlich gemeintes Schimpfwort, das mit dem
zunehmenden Selbstbewusstsein der so gestrickten Menschen heute
zu deren selbstgewähltem Gattungsbegriff geworden ist. Damals bezeichnete man sich in diesen Kreisen noch als musikalisch oder ganz
schlicht als homosexuell. Aber damals passte so etwas weder zu diener Erziehung, zu deinem sozialen Umfeld noch zu dem Karrierestreben, das dir so wohl anerzogen worden war, aber das dich durchaus auch selbst voran getrieben hat. Doch mit deiner Rolle als Angestellter in einem dieser langsam den Charakter verbiegenden Großkonzerne, in der du dich eingeschränkt fühltest und mit deinen
Pflichten als Ehemann bist du zunehmend unzufriedener, ja un103
glücklicher. Das permanente Schielen nach der nächsten Stufe der
Karriereleiter, die Auseinandersetzung mit Vorständen, die du für
dümmer hältst als dich selbst. Das alles wird immer belastender, ja
immer unerträglicher für dich. Alles beginnt sich nach und nach in
ein riesengroßes Fragezeichen zu verwandeln. Und dann, mit beinahe vierzig Jahren, hast du dann doch noch den Mut aufgebracht
und den Schritt weg von all dem Gewohnten und in die Unabhängigkeit gewagt. Wohl das allererste Mal hast du den Mut gehabt, ganz
allein eine Entscheidung zu treffen, dich aus all diesen selbst gewählten und anerzogenen Fesseln zu befreien! Oh ja, lange genug hast du
schließlich daran herum gekaut. Aber erst danach hast du wirklich so
richtig begriffen, dass du fast schon dabei warst, an dir selbst, an all
den erlernten Regeln kaputt zu gehen. Sicher riskant und auch nicht
leicht, ja kaum verständlich für deine Nächsten. Allein die Klagelieder deiner Mutter und deiner Schwiegermutter damals! Verrückt
seist du! Obwohl deine Frau Ludmila da und auch später dann nie
ein böses Wort über dich und deine Entscheidung verlieren wird.
Oh ja, sie ist eine wirklich bewundernswerte Frau! Wie froh kannst
du nicht nur darüber, sondern auch darüber sein, dass ihr im Laufe
der Jahre danach so nach und nach zu echten Freunden geworden
seid. Schließlich habt ihr ja die gemeinsame Verantwortung für eure
beiden Kinder. Für alle um dich herum ist das zunächst einfach nur
egoistisch, aber für dich damals so etwas wie eine späte Befreiung.
Endlich kannst du dich den Herausforderungen stellen, die dich eigentlich auch früher schon irgendwie gereizt hätten. Zugegeben,
selbst heute noch nicht immer ganz leicht, aber gerade das ist doch
dieser Kick, diese besondere Herausforderung. Ein Fragezeichen
gerade biegen, ein Ausrufezeichen daraus werden zu lassen. Das hat
dich schon immer fasziniert und lässt dich selbst heute noch nicht
los. Nebenbei ein bisschen Männerfreundschaften hier, ein bisschen
Männerfreundschaften da. Eigentlich mehr so zur gelegentlichen
Entspannung, denn dein Ehrgeiz und deine neue, berufliche Selbstständigkeit beanspruchen dich von da an wirklich voll. Das andere
läuft wirklich nur so nebenbei und du bist auch ganz zufrieden
104
damit. Jedenfalls ist zunächst nichts dabei, was dir besonders unter
die Haut gehen würde.
Ja und dann triffst du eines Tages, ohne dass du das Gefühl
hast überhaupt auf der Suche nach irgend jemand zu sein, einfach
ganz zufällig in einer Bar einen Mann. Natürlich in jener Bar in der
Baldestraße, in die du manchmal ganz gerne gehst. Ohne auf Suche
zu sein, wie du dir gerne einredest. Da steht plötzlich ein Mann, der
dich mit seinem damals schon weißen, fülligen, immer leicht wirren
Haarschopf und seinem markanten, sympathischen Gesicht, seinem
leicht spöttischen Blick, wie er da mit einem Weinglas in der Hand,
mit übereinander geschlagenen Beinen gegen eine Wand gelehnt
steht, sofort magisch anzieht. Ein Mensch, der für dich von da an im
Schnellzugtempo immer unverzichtbarer werden wird. Aus Dänemark kommt er. Ein Land, das du bis dahin nur aus dem Erdkundeunterricht und von der Landkarte her kanntest. Nie wäre dir bis dahin eingefallen, dieses Land jemals zu besuchen. Aber später wirst
du es sogar ein bisschen lieben lernen. Am Anfang, so denkst du, ist
diese Begegnung eine herrliche Gelegenheit, endlich deine Sexualität
wieder einmal so richtig auszuleben. Doch was werden das plötzlich
für aufregende Begegnungen mit diesem Menschen! Du kannst dich
jedenfalls nicht erinnern, das alles jemals etwas so intensiv erlebt zu
haben! Diese niemals zuvor so erlebten Reize der Haut, dieses heiße
Fieber, diese angespannte Erregtheit, dieses fast andächtige und
doch so ungeduldige Warten auf die nächste, so befreiende Explosion. Aber das ist schließlich nur der physische Anfang dieser Geschichte. Ganz schnell wird dir klar, dass das alles viel, viel mehr ist.
Eine Geschichte, die dich wie die Krake im Märchen mit aller Macht
umschlingen und die dich nie mehr loslassen wird. Ja, es ist wirklich
wie in einem Märchen. Und da begreifst du mit einem Schlag, dass
das nicht nur so zum Lauf deines Lebens gehört, das ist auf einmal
dein komplettes Leben! Nein, diesen Menschen hast du zwar nicht
ernsthaft gesucht, aber er beginnt dir immer besser zu gefallen. Ja,
dieser Mensch gefällt dir nicht nur, mit immer stärkerer Wucht wird
er immer unverzichtbarer für dich! Was er sagt, wie er dich zum
105
Nachdenken bringt, was er tut oder was er nicht tut und wie er
aussieht. Unheimlich schnell, aber folgerichtig geht es tiefer und tiefer – und irgendwann willst du ihn – und welch ein phantastisches
Gefühl will auch er dich, wie es scheint, auf keinen Fall mehr loslassen. Aber nun als homosexuelles Paar abgestempelt durch die
Welt zu ziehen, dazu habt ihr beide keine Lust. Denn was hinter
eurer Wohnungstür abläuft geht schließlich außer euch beiden niemanden etwas an. Also erfindet ihr in München die Onkelrolle, damit eure bürgerliche Umwelt ihre Erklärung und ihren Frieden hat.
Irgendwann, Jahre später wird er dann Aufsichtsrat deiner Firma
und ihr erscheint fast nur noch gemeinsam. Mit deinem Anwalt und
einem alten Haudegen aus der Branche wird er ein gutes Team. In
der besseren Kopenhagener Gesellschaft, die ihn als Schriftsteller
und Kritiker verehrt, verschweigt er dich zunächst fast ganz. „Dänemark ist immer noch ein Dorf. Wenn in diesem Land einer etwas
weiß, wissen es kurz danach alle – und das brauche ich bestimmt
nicht!“ Kein wirkliches Problem für dich. Obwohl es anfangs
manchmal schon noch ein bisschen weh tut, wenn er dort bei irgendwelchen Gesellschaften eingeladen ist und dich allein in seinem
fast verwunschen wirkenden Haus am Baunegaardsvej zurück lässt.
Oder womöglich sogar davor. Einmal, im tiefsten Winter räumst du
dort gerade noch den Schnee vor seinem Haus zur Seite, als er zu
einer dieser Gesellschaften startet. Er steckt dir zum Abschied die
Hausschlüssel in die Manteltasche. Nur sind es diesmal leider die falschen, nämlich die Schlüssel zu eurer Münchner Wohnung. Da hast
du eine halbe Nacht lang da draußen im Schnee wirklich erbärmlich
gefroren! Aber auch da bist du nicht einmal sauer. Jedenfalls dass ihr
beiden euch liebt, merkt so nach und nach sowieso ein jeder, der
noch nicht völlig abgestumpft ist. Auch ohne dass ihr irgendetwas
demonstrieren müsstet. Nichts wird zur Gewohnheit, nichts stumpft
ab. Im Gegenteil! Egal wie laut er manchmal nachts neben dir
schnarcht, selbst das macht dich glücklich. Er ist da, er ist bei dir.
Über was ihr im Laufe der nun folgenden Jahre so alles diskutiert
und worüber ihr euch so manches Mal die Köpfe heiß redet. Nein,
106
stimmt so nicht ganz. Du redest dir den Kopf heiß, Ralph bleibt
eigentlich immer der kühle, der nüchtern, der distanziert, manchmal
fast schelmisch argumentierende Teil in jeder eurer Diskussionen.
Und er ist es, der Klarheit in deinen Kopf bringt, ohne in all den
Jahren auch nur einmal den Zeigefinger zu heben.
Über Religionen zum Beispiel. Bei jeder dieser ewig neuen,
aber sich doch immer wiederholenden Weltenkrisen war das zumindest am Anfang noch ein diskussionswürdiges Thema zwischen euch
beiden. Aber was hat eigentlich dich selbst dazu getrieben, dich fast
ein Leben lang durch drei Eingott Religionen zu lesen? Monotheismus! Thora, Tanach, Bibel und Koran. In deiner Kindheit und in
deiner Jugend vermutlich der Zorn und die Enttäuschung über ein
paar unsägliche, ja fundamentalistische Vertreter dieser christlichen
Eingott-Religionen. Nachdem du Lesen, Schreiben und das kleine
Einmaleins gelernt hattest, die unbeantwortet gebliebene Frage, was
aus Lamech, dem Vater Noahs eigentlich während dieser ach so
schrecklichen Sintflut geworden sei. Mit 182 Jahren war er Vater
Noahs geworden und hätte danach sogar noch weitere 595 Jahre
gelebt. Wo bitte sei dieser Lamech denn während oder nach dieser
Sintflut geblieben? Ist er da über hundert Jahre irgendwo herum
geschwommen oder hat er womöglich schon das allererste U-Boot
besessen? Und was ist eigentlich aus dessen Vater Methusalem geworden? Wenn der tatsächlich 969 Jahre alt geworden ist, dann hat
er doch seinen Sohn Lamech ja sogar noch um fünf Jahre überlebt,
denn der war ihm ja erst im Alter von 187 Jahren geschenkt worden.
Wo ist der denn eigentlich während dieser ganzen, großen Sintflut
abgeblieben? Und überhaupt, wieso sind die Menschen damals so alt
geworden oder wie haben die gerechnet? Irgend etwas stimmt doch
an diesen ganzen Geschichten nicht! Oder kannst du als kleiner
Junge einfach noch nicht mit solch großen Zahlen umgehen, wie
Vati dir damals, dich tröstend über den Kopf streichelnd, gesagt hat?
Oder die Geschichte von Ismael und Isaak. Wieso schickt Gott den
einen in die Wüste, obwohl er doch auch ein großes Volk gründen
soll?
107
Später dann wahrscheinlich, wie sehr viel klügere Menschen
als du, ist es die Suche nach einem tieferen Sinn des eigenen
Daseins. Warum bin ich oder warum bin ich überhaupt auf dieser
Welt? Das Bedürfnis einen tieferen Sinn für dein eigenes Leben zu
finden oder zu ergründen. Oder ist es ganz einfach nur die Angst?
Die in jüngeren Jahren ja noch unerträgliche Vorstellung, mit dem
Tod könnte alles ganz plötzlich vorüber sein. Und was dann oder
was ist danach? Monate, in Summe vermutlich sogar Jahre, hast du
darüber gelesen und gegrübelt. Viele Menschen interessieren sich mit
zunehmendem Alter immer stärker für Religionen und für Fragen
des Glaubens. Masao, Kitada San, zum Beispiel, Ralphs alter, immer
noch an der Börse spekulierender, japanischer Freund, der jetzt
plötzlich, mit nahezu 90 Jahren, zum frömmelnden Buddhisten geworden ist und sich einmal im Monat einen Priester kommen lässt.
Auch wenn so etwas in Japan nur gegen direkte Bezahlung, direkt in
die Tasche des Priesters funktioniert. Ralph hat sich darüber jedenfalls köstlich amüsiert. Oder Bubi, der so unheimlich preußische
Zahnarzt Herr Doktor Kamm, euer im Jahr 2005 verstorbener, alter
Freund aus Tel Aviv, der in seinen späten Jahren zum orthodoxen
Juden wurde und euch mit seinen manchmal extremen Sonderwünschen zum Sabbath mehr als einmal dem Wahnsinn nahe gebracht
hat. Bei dir selbst allerdings geht es langsam, aber immer deutlicher,
wenn auch unbewusst in die entgegengesetzte Richtung. Es gab Zeiten, da war dein Bedürfnis wesentlich stärker. Nicht dass du heute
mit dieser Welt unbedingt zufriedener wärst. Im Gegenteil, sie
scheint dir immer stärker aus den Fugen zu geraten. Aber so langsam machst du inzwischen deinen Frieden mit ihr. Auch wenn du als
Junge damals davon geträumt hast, ändern wirst du sie bestimmt
nicht. Und eine Antwort für dich selbst, auch wenn sie dich immer
noch nicht so ganz befriedigt, scheinst du letztendlich auch gefunden zu haben.
Was bitte, hast du denn überhaupt aus der Kette dreier in
historischen Zeitabständen niedergeschriebenen Eingott-Religionen
gelernt? Ralph hat dich zudem noch auf das Gilgamesch-Epos auf108
merksam gemacht. Selbst dort taucht dieser biblische Noah ja auch
schon auf. Etwa zweitausend Jahre vor dem alten Testament. Schon
da, aber wohl auch schon zuvor in der Hochkultur des alten Ägyptens mit dem Pharao Echnaton oder bei den Griechen des Altertums gibt es diese wunderschönen, für dich inzwischen eher kitschigen Eingott-Geschichten oder die vom Göttervater Zeus, der so
herrlich über allen anderen Göttern thront. Die Erklärung allen
Seins durch einen Allmächtigen, der unseren Globus in Nullkommanichts geschaffen hat und dem man danken und dienen müsse. Aber
dann kommen all die listigen Abschreiber. Einer nach dem anderen.
Und jeder von ihnen hat zielgerichtet ein paar Geschichten dazu erfunden, um seine eigenen Machtansprüche oder die seines Clans zu
untermauern, ja um diese Machtansprüche möglichst unangreifbar
zu machen.
Am eindrucksvollsten geschieht das wohl bei den Juden,
deren Geschichte, als Altes Testament festgehalten, schon vor weit
mehr als 5.000 Jahren beginnt. Ihr Gott als der rächende „Jahve“ ist
es, der die ganze Erde in sechs Tagen erschaffen hat und sich am
siebenten Tag sogar schon wieder entspannt zurück lehnen kann. Er
hat seinen Bund mit Abraham, einem Ehebrecher, der seinen unehelichen Sohn Ismael in die Wüste schickt, mit Isaak, dessen beinahe
abgeschlachtetem, ehelichen Sohn und mit Isaaks zweit geborenem
Sohn Jakob, einem miesen Betrüger, der Esau um das Recht des
Erstgeborenen bringt, geschlossen. Sie, die Juden sind sein auserwähltes Volk. Deshalb ins Meer mit all den Ägyptern, nieder mit den
Babyloniern, nieder mit den Philistern usw.! Rein in das gelobte
Land Kanaan mit ihnen. Auch wenn das nur funktionieren kann,
wenn sie alle dortigen Einwohner mitsamt ihren Kindern und ihrem
Vieh erschlagen. Und sie tun es, denn ihr Jahve ist ihnen dabei
selbstverständlich behilflich. Schließlich handeln sie ja auf seinen Befehl. Völkermord ohne Bestrafung mit eingeschlossen!
Bis dahin stören sich wohl auch die anderen, sogenannten
heidnischen, seien es Ein- oder Mehrgott-Anbeter, nicht besonders
an dieser jüdischen Eingott-Version. Aber dann verurteilen diese Ju109
den vor rund 2.000 Jahren angeblich ihren Landsmann Jesus zum
Tod. „Unseren“ Herrn Jesus, den Sohn Gottes, wie vor allem Katholiken so schön sagen. Obwohl das historisch gesehen so sowieso
nicht einmal stimmt und von den vier Jüngern, deren Evangelien
von der offiziellen Kirche als in ihr Weltbild passend anerkannt sind,
etwas unterschiedlich erzählt wird. Niedergeschrieben sind deren
Geschichten zwar auch erst weit nach ihrem Tod, wie so viele dieser
so heiligen Geschichten, aber was macht das schon aus. All die Geschichten, die nicht in das Schema von „liebt euch“ oder zu der von
den Männern erwünschten Rolle der Frauen passen, werden darin
einfach weggelassen. Und das Kreuz ist ja auch ein schickes Symbol,
das sich als Anhänger mit einem Goldkettchen um den Hals besonders gut macht. Also deshalb schnell dem Alten Testament dieses
Neue, bereinigte Testament voran gesetzt. Und der aus einem Saulus
zum Paulus gewordene, ehemalige jüdische Hauptmann tadelt die
gerade entstehenden Christusgemeinden und gibt ihnen in seinen
prahlerischen Briefen und seinen Zurechtweisungen angeblich falscher Apostel die Spielregeln vor. Ein Besessener, der glaubt in der
Endzeit, kurz vor dem Untergang dieser Welt zu leben und der das
Jüngste Gericht noch zu seinen Lebzeiten erwartet. Aber nicht nur
er, auch ein Petrus und ein Jakobus oder ein Johannes, wohl all diese
Apostel, sie glauben in dieser „Endzeit“ zu leben. Nun gut, Psychiater gab es damals wohl noch nicht. Christen nennen sie sich jetzt
und Jahve heißt bei ihnen jetzt „Gott“! Gott, der sie jetzt auserwählt
hat. Deshalb nieder mit all diesen mörderischen, gottlosen Juden, die
sowieso vom Satan regiert werden. Und selbstverständlich hilft ihr
Gott ihnen dabei. Nicht nur den Katholiken, ganz besonders gut
fünfzehnhundert Jahre später auch den protestantischen Lutheranern. Luther, dieser so hochverehrte, angeblich so aufrechte Reformator und Edeldeutsche! Vorbild soll er sein? Geiler und gefräßiger
Lakai eines thüringischen Landesfürsten ist er gewesen, der die geschundenen Bauern, die an seine Worte glauben, nicht nur verrät,
sondern die Fürsten sogar noch dazu auffordert, sie einfach nieder
zu metzeln. Die Türken beschreibt er als Gefolgsleute des Teufels.
110
Die jüdischen Synagogen als Herbergen des Teufels, in denen Eitelkeiten, Lügen, Blasphemie, Täuschung und die Beschimpfung Gottes an der Tagesordnung seien. Die langnasigen Juden als blutrünstige Mörder, die zudem noch stehlen, betrügen, fluchen und deren
Häuser man zerstören und die man gewaltsam aus dem Land vertreiben sollte. Immerhin, in diesem Punkt ist er sich mit den Katholiken
einig! Was für eine herrlich widerliche Steilvorlage später für die Nazis! Und als logische Fortsetzung dann seine Pastoren in diesem
Tausendjährigen Reich, die nichts besseres zu tun hatten als sich als
Sippenforscher für dieses faschistische Gesindel zu betätigen. Ihre
kirchlichen Archive forsteten sie ganz im Sinne Herrn Luthers
durch, um den Nazis auch all jene als Juden ans Messer zu liefern,
deren Groß- und Urgroßeltern schon lange zum Protestantismus
konvertiert waren. Menschen, die sich seit Generationen als Deutsche gefühlt hatten und ohne deren Beiträge die deutsche Kultur
und Wissenschaft mehr als armselig dastehen würden. Was für eine
erbärmliche Glaubensgemeinschaft ist das doch! Aber dieser feine
Herr Luther wird uns heute noch als Vorbild für den rechten Glauben präsentiert und im Jahr 2017 werden ihn wohl alle Protestanten
zum fünfhundertsten Jahrestag seines Thesenanschlags in Wittenberg tüchtig feiern!
Und dann, vor mehr als dreizehnhundert Jahren sind dann
auch noch die arabischen Karawanentreiber in ihren sandigen Oasen
an der Reihe. Mohammed, dieses offensichtlich all die Frauen in seiner Umgebung beglückende Potenzbündel, hört über zwanzig Jahre
lang die Stimme seines Herrn „Allah“! In dem chaotischen Gewirr
ihres aus Tanach, Talmud, Altem und Neuem Testament zusammen
gemixten Korans wird aus Jahve oder Gott jetzt „Allah“. Und der
hat sich auch wieder diesen Ehebrecher Abraham ausgewählt.
Abraham als erster Muslim! „Auch wenn’s wackelt, es passt schon,“
würde ein Bayer dazu sagen. Diesmal allerdings zusammen mit
dessen unehelich gezeugtem Sohn Ismael. Und die beiden haben den
schwarzen Stein gegen die bösen Geister, den oder die Kaaba, in
Mekka wieder entdeckt, den Adam dort einst errichtet haben soll.
111
Juden und Christen haben nach den Worten dieses neuen Propheten, die ihnen einmalig gewährten Chancen durch ihren Ungehorsam
endgültig vertan, sein auserwähltes Volk zu werden. Sie, die Muslime
sind es jetzt! Deshalb sei möglichst jeder freundliche oder friedliche
Kontakt mit diesen Ungläubigen zu meiden. Aus denen werden später im Jenseits ja sowieso nur Affen oder Schweine. Und zur vornehmsten Aufgabe eines jeden gläubigen Muslims wird es nun, Juden und Christen am besten gleich zu bekehren oder wenn es nicht
gleich so direkt geht, eben mit List und Tücke auszurotten. Immer
wieder ist Dschihad, der heilige Krieg gegen die Ungläubigen angesagt. Und ganz selbstverständlich wird ihr gerechter Allah ihnen dabei helfen und diese künftigen Affen und Schweine vernichten.
Drei Eingott-Religionen und doch jedes Mal dieser angeblich
so allmächtige Jahve, Gott oder Allah, dessen Propheten seinen
gläubigen Anhängern das Paradies in den herrlichsten Farben und
denen, die nicht auf ihn zu hören bereit sind, ewige Höllenqualen
versprechen. Aber all das natürlich immer erst nach Beendigung des
irdischen Lebens. Ein angeblich allwissender Gott, der seine Schäfchen immer dazu animiert auf Erden in aller Demut Dreck zu fressen und die Nichtgläubigen als seine Feinde im Diesseits zu erniedrigen, zu versklaven und wenn sie sich dann womöglich immer noch
resistent zeigen, sie auch ohne Furcht vor Strafe und mit dem Versprechen auf ein Paradies im Jenseits endgültig zu eliminieren. Freies
Denken und Fragen sind dabei absolut unerwünscht. Dabei ist es
doch genau dieser drei Mal so einmalige Gott, der als Alibi, der als
Argument für endlose Kriege und all das Übel vom Nahen Osten
über Afrika bis tief nach Asien, ja für all diesen religiösen Dreck
benutzt wird. Im Großen wie im Kleinen! Ein Phantasiegebilde, um
mit den Ängsten anderer Menschen zu spielen, sie zu beherrschen,
zu unterjochen und sie im Namen des jeweiligen Gottes auszuradieren. Was sind das eigentlich für Menschen, die solch einen Gott
brauchen? Manchmal ist es wohl besser, sich nicht all zu viele
Gedanken darüber zu machen.
112
Monotheismus? Ralph hatte dazu eine seiner kleinen, wie so
oft hintergründigen Geschichten auf Lager, die das Ganze kurz gerafft zusammen fasst: „Warum, so fragt der katholische Priester den
Rabbiner, ist euer Jahve eigentlich ein Gott der Rache. Unser Gott
ist ein Gott der Liebe. Na ja, das ist schon in Ordnung so, antwortet
der Rabbiner. Bei uns ist es nämlich so, dass wir Liebe machen und
Jahve die Rache überlassen. Aber warum überlasst ihr eurem Gott
die Liebe und wollt euch immer nur rächen? Alles Blödsinn, sagte
der Immam. Unser Allah ist der Gott der Liebe und der Rache, da
haben wir nichts mehr zu entscheiden und zu verantworten, wir
müssen nur das tun, was der Koran von uns fordert, nämlich euch
beide abmurksen, wenn ihr euch nicht schleunigst zu uns bekehrt.
Inshallah!“
Oh ja, selbst diesen Koran habe ich, allerdings erst viele, viele Jahre später und immer ermüdeter, bis zu Ende gelesen. Ich war
einfach neugierig und wollte eigentlich nur wissen, was meine Tochter Eva dazu veranlasst haben könnte, zu diesem chaotischen Macho-Glauben zu konvertieren, der ihr angeblich nicht einmal erlaubt,
einem fremden Mann die Hand zur Begrüßung zu reichen. Bis dahin
war sie ein lebensfrohes, der Welt zugewandtes, in meinen Augen
auch ganz kluges Mädchen gewesen. Zumindest intellektuell war es
eine Qual für mich, all diese weit nach Mohammeds Tod zusammen
geschriebenen Suren, die altes und neues Testament mit alten und
neuen, sich noch steigernden Hassbefehlen, ja Hasstiraden. Drohungen, Verboten und Befehlen überfrachten! Evas Entscheidung für
diesen Glauben kann ich seither noch viel weniger verstehen. Wie
dem auch sei. Eigentlich tut sie mir da in ihrer Verschleierung und in
all ihrer Verbohrtheit inzwischen nur noch leid.
Nein, keiner dieser drei angeblich doch so einzigartigen Eingötter ist für mich eine Basis für ein verantwortungsvolles, für ein
selbstbestimmtes Leben geworden. Bin ich deshalb Atheist? Könnte
beinahe so klingen! Obwohl mir auch diese, in meinen Augen angeblich doch so rational denkenden Geisteswissenschaftler, die sich in
Gesellschaften wie der Bruno-Gesellschaft zusammenfinden, um die
113
Nichtexistenz eines Gottes zu beweisen, viel zu hochgestochen sind.
Schon wegen ihrer intellektuellen Hochnäsigkeit und der darauf aufbauenden Sinnlosigkeit, die sie nicht einmal bemerken. Warum muss
man beweisen, dass es etwas nicht gibt, was es sowieso nicht gibt?
Eigentlich passen sie in ihrer Verbohrtheit besser in irgendeine kommunistische oder Linkspartei. Expropriation nicht der Expropriateure, sondern des Klerus! Marx lässt grüßen. Nein, nicht der Erzbischof von München und Freising, sondern das alte Karlchen, das
noch in so vielen Köpfen herumspukt!
Aber wie wäre es denn dann mit den sogenannten Gnostikern? Darüber haben Ralph und ich so manches Mal, später allerdings zunehmend im Scherz diskutiert. Was hätte aus dieser schönen
Welt eigentlich alles werden können, wenn sie die Oberhand in all
den frühchristlichen Streitigkeiten behalten hätten? Von der offiziellen Kirche wurden und werden sie als Irrgläubige, als Gefahr für ihre
Schäfchen natürlich vehement abgelehnt. Aber irgendwie gefallen
mir ihre Erklärungsversuche um einiges besser. Der Mensch und die
Welt als eine vermurkste, letztlich misslungene Erschaffung von einem oder ein paar nicht ganz so omnipotenten Dämonen oder kleineren Göttern, die sich an ihrem Werk schlicht und ergreifend mehr
als ein bisschen verhoben haben. Aber über diesen Stümper-Göttern
thront dann im Prinzip schließlich doch wieder ganz unschuldig und
sehr allwissend der liebe Gott des Guten. Immerhin sei es diesem
guten Obergott gelungen, den so ganz und gar nicht geglückten
Menschen noch im allerletzten Moment einen seiner göttlichen Funken einzuverleiben. Den gälte es einfach nur in jedem Menschen zu
wecken. Den gälte es für jeden Menschen in sich selbst zu entdecken
und zu wecken. Schließlich könne, ja müsse er ihn doch fühlen.
Noch gut hundert Jahre nach dem Tode Jesu stellten diese Varianten
des Glaubens sogar die Mehrheit in den christlichen Gründergemeinden dar. Die Mandäer, die Johannes den Täufer zu ihrem Flaggschiff erkoren hatten, die Sethianer, die Seth, den Bruder von Kain
und Abel, als von diesem göttlichen Funken beseelt ansahen oder
die Albigenser und auch andere wären ja beinahe auch zu Weltreli114
gionen aufgestiegen. Aber als Ketzer verdammt wurden und werden
sie von den Verfechtern des jeweils richtigen und „wahren“, christlichen Glaubens gnadenlos niedergemacht. Wie würde unsere Welt
heute wohl aussehen, wenn sie offizieller christlicher Glaube geworden wären? Obwohl, wenn ich morgens so in die Zeitung schaue,
dann scheint es mir, als wäre von diesem göttlichen Funken doch
sehr wenig in den Menschen auf dieser Welt angekommen. Ja, dann
fühle ich mich jedes Mal ein bisschen mehr in meinen Zweifeln
bestätigt. Wie heißt es doch so schön im ersten Buch Mose? „Gott
schuf den Menschen nach seinem Bild...“ Na ja, ich denke, es ist
eher umgekehrt. Der Mensch schuf sich einen Gott nach seinem
Bild! So, wie er selbst vielleicht gern wäre. Natürlich in dem nicht
ganz selbstlosen Bestreben, die „Ungläubigen“ dadurch zu bekehren
und wenn ich sie bekehrt habe auch beherrschen zu können.
Bliebe noch Albert Einstein. In einem seiner Briefe hat er
einmal sinngemäß geschrieben: „Es gibt keinen Gott – gerade deshalb sollte man ihn lieben.“
Irgendwie hat mich dieser eigentlich ganz simple und auf den
ersten Blick eigentlich nicht logische Satz von ihm nicht wieder losgelassen. Aber er ist logisch! Wenn ich mich zum Beispiel in unangenehmen oder schwierigen Situationen manchmal dabei ertappe, mich
nach einer Hilfe „von oben“ zu sehnen. Wäre das nicht eine schöne
Basis für alle Menschen. Eine Basis, auf der man sein Leben in Ruhe
leben kann, ohne die Verpflichtung jemanden zu hassen oder vernichten zu müssen, weil es dein allwissender oder dich liebender
oder sich rächender Gott angeblich von dir fordert. Wenn es ihn
überhaupt nicht gibt, kann er es auch nicht von dir fordern und
gerade deshalb sollte man ihn dafür lieben.
Eine Antwort auf das Warum und Wieso und das Überhaupt
meines eigenen Daseins ist das zugegebener Maßen natürlich auch
nicht. Aber eigentlich suche ich inzwischen auch längst schon keine
schlüssige Antwort mehr darauf. Antwort überhaupt worauf? Muss
ich die überhaupt haben? Ralph war da viel klarer als ich. Er hatte
seine Antwort wohl schon als ganz junger Mann gefunden, als er
115
sterbenskrank im KZ Theresienstadt nur noch vegetierte. Er war
sich seiner sicher und er wusste ganz genau, wie er sich selbst einzuordnen hatte! Nein, die Suche, zumindest nach einer Antwort dieser
überhöhten Art habe auch ich inzwischen längst aufgegeben. Selbst
meine Abneigung gegen all diese monotheistischen Religionen und
deren wichtigtuerische, aufgeblasene Repräsentanten und angebliche
Stellvertreter oder Diener ihres jeweiligen Gottes auf Erden hat nach
all den Gesprächen mit Ralph im Lauf der Jahre spürbar nachgelassen. Ja, ich kann diese zugegeben, vor allem, wenn sie katholisch
sind, sehr medienwirksamen Gottindustrien inzwischen kritisch betrachten, ohne das Bedürfnis zu haben, sie verdammen zu müssen.
Sie interessieren mich nicht mehr! Repräsentieren sie für mich doch
nur noch das Ende einer Sackgasse, in die sich so viele Menschen
auf ihrer Suche nach sich selbst mehr oder weniger bewusst treiben
lassen. Auch das habe ich all den Jahren mit Ralph zu verdanken!
116
V.
Mein Vater ging 1978 mit 63 Jahren in Pension. Damals war ich
gerade einmal 34 Jahre alt. Oh ja, damals habe ich ihn tatsächlich für
einen richtig alten Mann gehalten, mit dem man sich nicht mehr
auseinanderzusetzen und den man eigentlich schon nicht mehr so
ganz ernst zu nehmen brauchte. Wie dumm das doch war! Aber er
hatte schließlich sein letztlich doch sehr bewegtes Arbeitsleben mit
Lobes- und Dankesreden auf ihn höchst ehrenvoll beenden können
und ich war noch mit so viel „wichtigen“, auf die Zukunft gerichteten, Dingen beschäftigt. Ich hatte ja noch so viel für meine berufliche Karriere, für meine Kinder, für mein Leben und überhaupt vor.
Doch heute, wo ich selbst über sein damaliges Pensionsalter hinaus
bin, fühle ich mich weder alt, noch habe ich Lust mit irgendetwas
aufzuhören oder mich nicht mehr ernst nehmen zu lassen. Obwohl
es mir manchmal inzwischen sogar ein bisschen Spaß zu machen
beginnt, mit meinem zunehmenden Alter zu kokettieren. Doch mit
meinem Vater, „Vati“, habe ich, so weit ich mich erinnern kann, nie
wirklich ernsthaft über Religion, über seine Sehnsüchte oder über
seinen möglichen Gott gesprochen. Warum fällt mir das eigentlich
erst heute auf? War ich damals so in Eile oder so fasziniert von mir
selbst? Wäre eine Erklärung, wenn auch eine eher beschämende.
Und wenn ich an meinen Sohn Stefan denke, dann hat auch er mich
noch nie etwas in diese Richtung gefragt. Ganz offensichtlich interessieren sich Söhne nicht für die Gefühlswelt ihrer Väter. Möglicherweise fälschlicherweise empfinde auch ich als Vater, mein Sohn wäre
in diesem Punkt ein Ignorant. Vielleicht tue ich ihm da ja Unrecht.
Aber mit diesem Gefühl im Bauch habe ich auch einfach nicht oder
nicht mehr das Bedürfnis, ihm zu erklären, was mich selbst bewegt.
So wie ich damals meinen Vater, hält er mich heute wahrscheinlich
auch schon für einen hoffnungslosen, alten Trottel. Aber irgendwie
berührt mich das längst schon nicht mehr. Ja es ist mir, ehrlich
117
gesagt, schon seit vielen Jahren zunehmend egal geworden. So, wie
es geworden ist, ist es eben!
Denn jetzt, wo ich sogar schon älter bin, als mein Vater damals, als er in Pension ging, habe ich immer mehr das Gefühl, als öffne sich der Horizont vor mir, wie in Zeitlupe, plötzlich immer weiter. Ja doch, jetzt wo mir klar ist, dass meine Zeit limitiert ist, dass
irgendwann, vielleicht sogar plötzlich und völlig unerwartet, ein Ende nicht nur sichtbar, sondern tatsächlich eintreten wird. Das Brett
vor dem Kopf schiebt sich wie von selbst zur Seite und ich begreife,
was ich schon viel früher hätte begreifen können. All diese verdammten Gefühle bei all meiner Suche – seien es Schuldgefühle,
Versöhnungsbedürfnisse, Selbstbeherrschung, Selbstzufriedenheit,
Selbstverantwortung, ja selbst Liebe – wie nachlässig und wie verdammt schlampig bin ich doch so viele Jahre mit all dem umgegangen. Wie dumm war ich eigentlich mein Leben lang? Und dabei war
das alles ich! Ja doch, genau das war ich und genau das bin ich selbst!
Immer noch! Da hätte ich nicht einmal großartig zu suchen brauchen. Ganz einfach: Ich bin da, weil ich da bin! Mag nach einer zu
einfachen Tautologie klingen, aber genau das ist es doch. All diese
Gefühle zu hegen und zu pflegen, selbstverantwortlich in mir selbst
zu ruhen, an mich selbst zu glauben. Das ist es doch und dazu brauche ich nun wirklich keinen allwissenden Gott, schon gar kein übernatürliches Wesen. Bliebe dann sowieso die Frage, welcher von den
dreien. Der der Rache, der der Liebe oder der der Rache und der
Liebe? Aber um das auch für sich selbst zu begreifen, wird mein
Sohn Stefan, wird vor allem auch meine Tochter Eva noch viel
nachdenken und viel erleben müssen. Und vielleicht ist es ja eine
Erkenntnis, die einem offensichtlich erst nach einem langen Leben,
wenn sich der Blick so langsam auf das Ende zu richten beginnt, so
langsam dämmert.
Das Groß- oder Aufziehen von Kindern, sie zu erziehen, ist,
im Nachhinein betrachtet, schon eine doch etwas merkwürdige Angelegenheit. Allein schon die Worte mit dem „ziehen“ klingen falsch
oder zumindest ungewollt merkwürdig. Sie möglichst liebevoll zu
118
klar denkenden, redlichen Menschen werden zu lassen, das ist dein
Plan. Aber irgendwann später stehst du da und begreifst, dass sie dir
fremd geworden sind. Na ja, du hast Ludmila immer gepredigt, dass
Kinder nur Gäste sind. Wenn sie erwachsen sind, müssen sie ihr eigenes Leben führen, sind sie für sich und ihr Tun selbst verantwortlich. Das sind sie natürlich und sie führen ihr eigenes Leben. Aber es
ist doch ein bisschen befremdlich, wie weit sie sich im Laufe der Zeit
von dir entfernt haben oder anders herum, wie weit du dich inzwischen selbst von ihnen entfernt hast. Sie haben sich völlig anders
entwickelt, als du gedacht, als du dir vorgestellt, vielleicht auch als du
es erwartet oder erhofft hast. Da liegen sie zunächst als gut und
warm verpackte Bündel an der Brust ihrer Mutter. Das geht ans
Herz, reißt dich einfach mit und weckt deinen Beschützerinstinkt.
Und du gibst dir alle Mühe, sie so zu umsorgen, dass ihnen um Himmels Willen nichts Böses zustößt. Zunächst wirst du Fachmann im
Fläschchen geben, im Popo säubern und im Wickeln. Aus ihrem
Juchzen und Lachen folgerst du, dass sie es ganz besonders mögen,
wenn du es machst. Eva will ihr morgendliches Fläschchen nur,
wenn du es ihr gibst. Allerdings nicht mit Milch, sondern mit Orangenlimonade. Mama Ludmila gibt resigniert ihren Widerstand auf.
Da trifft der Begriff vom stolzen Vater schon zu. Und der Stolz
wächst, wenn Kinder anfangen zu reden, wenn sie an deinen Lippen
hängen, dir deine Worte nachzusprechen versuchen. Und er wächst
noch mehr, wenn du hören kannst, dass sie es erfolgreich tun, wenn
sie anfangen Fragen zu stellen. Du bringst ihnen elementare Fähigkeiten wie Schwimmen oder Fahrradfahren bei. Ja, du bist richtig
stolz darauf, dass sie auch intelligent sind. Stefan, ein äußerst friedliebender Junge, zeigt sehr früh, dass er sehr präzise sein kann. Ein
kleiner Dichter sogar.
Es sprach der Teppich
Ach ich Depp ich.
Jeder tritt auf mit herum.
Bumm!
119
Eine Fähigkeit, von der er inzwischen jedoch kaum noch
Gebrauch zu machen scheint. Wenn er sie denn immer noch besitzt,
dann wendet er sie vermutlich nur noch in seiner Juristerei an. Sie
bereitet ihm allerdings zu Beginn seiner Schulkarriere sogar erste
Schwierigkeiten. So wird Ludmila von seiner Lehrerin in der ersten
Schulklasse angesprochen, er benehme sich im Unterricht oft etwas
auffällig und manchmal sogar etwas mehr als merkwürdig. Ein paar
Stunden bei einem Psychologen wären vermutlich ratsam. So habe
er sich einmal zu Beginn des Turnunterrichts sogar völlig nackt ausgezogen. Meine Nachfrage ergibt, dass seine Lehrerin das Kommando gegeben hatte: „Zieht euch aus!“ Das tat Stefan. Auf ihren erschrockenen Hinweis, aber doch nicht ganz, Stefan, mit seiner mir
unvergessen gebliebene Erwiderung:
„Dann müssen sie sich bitte etwas präziser ausdrücken.“
Als er in die Schule kommt, kann er, wie Eva später dann
auch, die als seine kleine Schwester an seinen Lippen hängt, bereits
lesen und in Druckbuchstaben schreiben. Auf die Frage, was er denn
heute in der Schule gelernt habe, erzählt er dir pfiffig grinsend, dass
er nun gelernt habe, wie der Buchstabe „M“ aussehe, um sich anschließend auf sein Bett zu legen und in einem seiner Bücher weiter
zu lesen. Mit seiner Lehrerin, einer letztlich dann doch einsichtigen,
schon etwas älteren Dame, haben wir uns dann aber doch schnell
geeinigt, ohne einen Psychologen zu Rate zu ziehen. Stefan musste
innerhalb von zwei oder drei Wochen Schreibschrift lernen und
wurde zum Halbjahr in die zweite Klasse versetzt. Und von da an
hat er Zeit seiner Schulkarriere immer gute Noten nach Hause gebracht. Er entwickelt so einige, kleine Eigenheiten. So macht er als
Gymnasiast gerne mal seine Hausaufgaben im U-Bahn-Untergeschoss am Marienplatz. Dort sei er auf einer Bank, trotz all der Menschen um ihn herum, wenigstens ungestört. Vor allem störe ihn dort
seine redselige, kleine Schwester nicht. Trotzdem scheinen wir die
Jahre bis zu seiner Pubertät ein sehr gutes Verhältnis zueinander und
miteinander gehabt zu haben. Aber irgendwann scheint er das Gefühl zu bekommen, er müsse seinen Kopf durchsetzen, sich selbst
120
beweisen. Im Prinzip generell, aber vor allem mir gegenüber. Anfangs ist es noch relativ leicht für dich, dagegen zu steuern. Wenn du
möchtest, dass er weiße Farbe als weiß akzeptiert, sagst du einfach,
es sei schwarze Farbe. Wie erwartet wird er dir widersprechen und
sie als weiß bezeichnen. Aber da er ja wirklich nicht dumm ist,
durchschaut er dieses Vorgehen relativ schnell. Er wird es nie aussprechen, aber er baut intensiv eine eher stumme, aber spürbare Aggressivität gegen dich auf. Mag vermutlich auch damit zusammen
hängen, dass du inzwischen getrennt vom Rest der Familie wohnst.
Vielleicht ist es aber auch das Gefühl von Knaben, dass Väter ab der
Pubertät einfach nur noch störend sind, dass sie mit ihren Ratschlägen immer lästiger werden und einem den eigenen Radius einschränken. Irgendwie scheinen Väter für Söhne dann peinlich zu werden.
Doch irgendwann ist ein Punkt erreicht, von dem ab sich Stefan und
du auch sonst nichts mehr zu sagen haben. Ein Punkt, von dem ab
du seine sehr abrupten, nicht nachvollziehbaren, teilweise hanebüchenen Entscheidungen auch nicht mehr verstehst. Sein großer
Mangel, trotz all seiner Intelligenz wird sein, dass er sich vorzugsweise auf die Dinge stürzt, für die er wenig oder keine Begabung
besitzt. All die Dinge für die er besonders begabt ist, scheinen ihn
zumindest nicht nachhaltig zu interessieren. Nein, er will sein eigenes Ding machen. Das fängt relativ früh mit dem Eislaufen an. Er
hatte es als kleiner Junge zunächst für sich allein entdeckt. Aber
Klein-Eva, die ihren großen Bruder bewundert, will es dann natürlich auch. Und sie holt nicht nur sehr schnell auf, sie überholt ihn
relativ schnell. Der Eislaufverein schlägt vor, die beiden als Paar zusammen laufen zu lassen. Zusammen mit Eva, die ein enormes Bewegungstalent besitzt, werden die beiden auch ein wirklich passables
Paar im Eistanz, das es am Ende sogar bis aufs Siegertreppchen bei
Deutschen Meisterschaften schafft. Aber da Eva von allen als der
treibende, der begabtere Teil angesehen wird, bohrt es in ihm. Er
steigert sich immer mehr in die Vorstellung hinein, es als Einzelläufer alleine schaffen zu müssen. Dabei hat er dafür absolut kein Talent, denn er kann einfach nicht hoch genug springen. Er lernt
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wunderbar Klavier zu spielen. Mama Ludmila ist stolz auf ihn. Doch
nachdem er die Prüfung für sein Abitur darin bestens absolviert hat,
klappt er den Klavierdeckel zu. Aus, vorbei! Bis heute hat er meines
Wissens nie wieder ein Klavier angerührt. Anstatt zum Abitur hin
Leistungskurse in Naturwissenschaften zu wählen, für die er ganz offensichtlich begabt ist, die ihm leicht fallen und in denen er gute Noten erhält, entscheidet er sich für Kunst. Dafür besitzt er allerdings,
sagen wir es möglichst neutral, nur limitierte Fähigkeiten. Doch mit
mir über solche Themen zu reden, mit mir darüber zu diskutieren
oder sich mit mir zu beraten? Nein, das ist jedenfalls zu jener Zeit
das Letzte, was er tun würde. Nach dem Abitur fällt ihm plötzlich
ein, eine Banklehre zu machen. Längst sind die Lehrstellen vergeben.
Also darf Papa ihn mit seinen Beziehungen schnell noch hinein
schummeln. Auf das Angebot, später in meiner Firma zu arbeiten,
antwortet er mit einem „ich bin doch nicht so verrückt wie du!“
Schade, aber wahrscheinlich sogar gut so. Als er später dann Jurastudent ist, bist du mit deiner Firma immerhin schon so gut etabliert,
dass du ihm Autos schenken kannst. Ein „Danke“ hast du dafür nie
gehört. Einen Mercedes fährt er zu Schrott. Einen für ihn dafür relativ teuer erstandenen Subaru bezeichnet er Ludmila gegenüber als
„Schrottlaube“. Das Wort „Danke“ fehlt viele Jahre grundsätzlich in
seinem Wortschatz mir gegenüber. Es sei denn, Ludmila hat ihn dazu dringend aufgefordert. Auch als ich nach dem Tod meiner Mutter
auf mein Erbe verzichte und es meinen Kindern übertrage. Allerdings wird er zum Hypochonder, wenn ihm die Dinge über den
Kopf zu wachsen drohen. Dann fühlt er sich oder wird sogar richtig
krank. Einmal begibt er sich zum Wochenende in das Kreiskrankenhaus Mühldorf. Angst und Schweiß geplagt. Ich denke, dass ihm
nichts fehlt. Und mit gutem Zureden schaffe ich es, ihn wieder heraus zu holen. Na ja, auch daran kann man sich gewöhnen. Ich habe
mich nach einigen Fehlversuchen eigentlich ganz problemlos daran
gewöhnt! Heute, wo er Vater zweier eigener Kinder ist, halte ich die
bürgerliche Opa-Fassade zu ihm aufrecht, vor allem Ludmila zu Liebe. Den von seiner Frau Viktoria in die Ehe mitgebrachten Sohn hat
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er nicht adoptiert. Da lockten wohl die Alimente! Es ist lange schon
keine tiefer gehende, wie man so schön sagt, herzliche Beziehung
mehr. Nein, eigentlich ist er mir als Person schon sehr lange egal
und das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Bekommst du von ihm
doch nur Anrufe, wenn er etwas braucht. Und das ist in der Regel
Geld. Es interessiert mich schon lange nicht mehr, was er denkt und
was er tut. Und so begegnen wir uns zwar immer mit freundlichem
Gesicht, aber zu sagen haben wir uns schon seit langer Zeit nichts
mehr. Die Anrede „Papa“ hörst du inzwischen schon lange nicht
mehr von ihm. Entweder spricht er dich als Dietmar oder als Opa
an. Stefan, ein Kind gebliebenes, ehemaliges oder vielleicht auch
immer noch Fast-Genie. Aber um das richtig einzuschätzen, bin ich
inzwischen schon zu weit entfernt. Jedenfalls ist er ein schlampig
angezogener Beamter mit einem sicheren Pensionsanspruch, der seine von ihm gezeugten Kinder ganz offensichtlich über alles liebt und
ihnen dementsprechend alles durchgehen und seine Gattin das auch
von ihr verdiente Geld mit mehr als vollen Händen ausgeben lässt.
Mit Ausnahme seiner Kleidung irgendwie das Abbild seines Großvaters. Nur hatte der eine Frau, die nicht nur auf Ordnung achtete,
sondern auch das von ihm verdiente Geld eisern zusammen gehalten
hat. Obwohl das zugegebenermaßen ja auch noch ganz andere Zeiten waren.
Und ganz ähnlich hat sich auch meine Beziehung zwischen unserer
Tochter Eva und mir entwickelt. Wenn auch erst etliche Jahre später, aber dafür dann auch umso abrupter war diese zweite, innere
Trennung. So, dass es von mir aus bei ihr nicht einmal mehr für eine
bürgerliche Opa-Fassade reicht. Die hätte Eva inzwischen zwar ganz
gerne wieder, aber ich nicht mehr. Lange haben wir beide ein durchaus inniges Verhältnis miteinander gehabt. Papa hat ihr sozusagen jeden Wunsch von den Augen abgelesen.
„Bereue nix, tu’ lieber was,“ war ihre erste Geschichte, in
Großbuchstaben gekrakelt.
123
Vieles von dem, was sie bewegte, wusste ich vermutlich sogar früher als Ludmila. Als sie nach ihrem Abitur unbedingt selbstständig sein will, zahle ich ihr zunächst in München und später dann
in Berlin die Miete für ihre eigene, kleine Wohnung. Besonders toll
finde ich das zwar nicht, dass sie den Beginn eines Studiums am
Ende immerhin um drei Jahre hinaus zögert, aber ich helfe ihr dabei
gerne finanziell. Ihre Liebesaffairen sind meist voller Dramatik, von
begrenzter Dauer und enden jeweils mit einem Wechsel ihrer Wohnstätte. Nach drei Jahren kehrt sie nach München zurück, in Mamas
Schoß und beginnt zu studieren. Nichts deutet zunächst auf dieses
abrupte Ende unserer Beziehung hin. Bis sie mir eines Tages einen
„Taxiunternehmer“ vorstellt. In einem klapprigen Mercedes-Taxi
kommen die beiden vorgefahren. Er, dessen Vornamen Faruk ich
bis heute immer wieder gerne vergesse. Wahrscheinlich eine Art innerer Blockade! Jedenfalls ein junger Mann mit Milchgesicht und
spärlichem Ziegenbärtchen. Auf dem Kopf eine Art Fez, ein langes,
bis zu den Knien fallendes, weißes Hemd und eine Art plüschiger
Freizeithosen. Er, in München geborener Sohn türkischer Eltern mit
Abitur und als Informatikstudent offensichtlich gescheitert, bezeichnet sich als gläubigen Muslim. Die Erleuchtung sei ihm blitzartig bei
einer nächtlichen Taxifahrt gekommen, als er in einer Waldstrecke
feststellte, dass er kaum noch Sprit im Tank seines Wagens hatte und
Allah um Hilfe angefleht habe. Und das Wunder geschah tatsächlich,
denn prompt war hinter der nächsten Straßenbiegung eine Tankstelle. Welch ein Wunder, wo doch in diesem unterentwickelten
Land kaum Tankstellen zu finden sind! Und Eva? Ihr sei Allah bei
einem Ausflug nach Wien in einem nächtlichen Traum erschienen.
Das kommt dir erst einmal vor wie schlechtes Kabarett oder wie
absurdes Theater und du denkst, dass du irgendwie träumst. Aber du
hörst zunächst zu und versuchst milde zu bleiben. Wenn sie denn
zusammenleben wollen, sollten sie es tun, ohne gleich zu heiraten
und erst einmal ohne Kinder. Gar kein Problem, sagen sie dir. Zu einem nächsten Treffen, am Wochenende danach, zu einem Spaziergang im Nymphenburger Park erscheint Eva dann schon komplett
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in einer Art Burka oder Tschador verhüllt und er erzählt dir von
seinem Wunsch, mit dir eines Tages nach Afghanistan, in den Gottesstaat der Taliban, zu reisen. Dort werde auch dir dann die Erleuchtung kommen. Und später erfährst du von Ludmila, dass Eva
wohl schon beim ersten Besuch bei dir schwanger war und dass die
beiden schon in einer Moschee nach muslimischem Ritus geheiratet
haben. Zwei Lügen am Anfang! Tut mir zwar leid, aber so etwas
nicht mit mir. Nach einem ziemlich heftigen Telefonat mit Eva, inzwischen umbenannt in Havva, breche ich den Kontakt zu ihr ab.
So etwas wie ein Paukenschlag mit einem Nachhall bis heute. Aber
trotzdem interessierte mich damals, warum sie plötzlich so abgedriftet war, was das Besondere an dieser muslimischen Version einer
Eingott-Religion sein soll, das sie so mitreißt? Ich versuchte zu verstehen und begann den Koran sehr präzise zu lesen. Aber nach dieser ermüdenden Lektüre verstehe ich sie überhaupt nicht mehr. Was,
um Himmels Willen, treibt so eine junge Frau, der alle Wege offen
stehen, in die Arme einer solch machohaften, nicht nur frauenfeindlichen, sondern auch Hass predigenden Religion, nach der sie nur
halb so viel wert sein soll, wie ihr für mich eher lächerlicher Bettgenosse? Sie, dieses hübsche, intelligente, einst keinem Vergnügen abgeneigte Mädchen. Ein Mädchen, das einst so gerne selbstständig
sein wollte. Nein, ich verstehe es bis heute nicht. Und noch weniger
verstehe ich die provozierende Art, in der sie diese muslimische Religion in der Öffentlichkeit mit ihrer Verhüllung, mit der Kostümierung ihrer inzwischen vier Kinder als kleine „Kümmeltürken“ vor
sich her trägt. Türken seien sie. Wie stellt sie sich eigentlich deren
Zukunft hier vor? Aber darüber werde ich mir den Kopf nicht mehr
zerbrechen. Denn dann würde ich vermutlich zu dem vielleicht unfairen Schluss kommen, dass sie, milde und volkstümlich gesagt, einfach verwirrt ist und sich in ein geistiges Ghetto in einer offensichtlich türkisch dominierten Umgebung zurück gezogen hat. Von mir
aus gerne, obwohl ich wohl nie verstehen werde,was sie wirklich bewegt hat, ausgerechnet das zu tun. Aber richtig gedacht ist sicher,
dass sie auf diesem Weg ihren inzwischen vier Kindern den Weg in
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ein normales Erwachsenwerden in dieser Gesellschaft unheimlich
schwer machen wird. Irgendwie bedauerlich, aber die persönlichen
Dramen für sie werden eines Tages vermutlich erst kommen. Und
ich wünsche ihr, dass sie nicht allzu heftig sein mögen. Armer,
schwarzer Pinguin mit Sehschlitzen und in schwarzen Handschuhen
verhüllten Händen!
Oh ja, meine beiden Kinder sind längst flügge geworden.
Und natürlich müssen sie ihr eigenes Leben leben. Zugegeben! Aber
beide doch so völlig anders, als ich mir das einst als junger Vater
einst vorgestellt hatte. Einer der beiden oder beide, die einmal meine
Firma übernehmen könnten. Die Geschichte eines neuen Familienunternehmens. Ein unerfüllter Traum. Vor vielen Jahren habe ich
daran gedacht. Aber das ist lange erledigt und das Kapitel Kinder für
mich auch abgeschlossen. Zu Stefan und seiner Familie gibt es immer geringer werdende Kontakte, die man als bürgerlicher Opa halt
eben noch so hält. Hallo, wie geht es euch/dir usw. Aber die sind inzwischen genau so tief oder nicht tief gehend, wie die Begegnungen
mit meinen Nachbarn. Eva versucht es gelegentlich immer noch,
aber dazu habe ich einfach keine Lust mehr. Endet fast jedes Gespräch mit ihr ja doch nur im Streit. Sicher gäbe es noch viel mehr
dazu zu erzählen. Dazu, dass Eva keinem Mann außerhalb der Familie die Hand reichen kann. Ihr neuer Glaube verbietet es ihr angeblich. Oder von Davids beinahe nicht geschehener Geburt zum
Beispiel. Dem Gejammere, dass sich Viktoria und Stefan finanziell
kein drittes Kind leisten könnten. Ich bin damals fast aus allen
Wolken gefallen. Mein Sohn sagt so etwas! Und so haben wir dann
einen finanziellen Kompromiss geschlossen und David, diese kleine
Schlitzohr, wurde geboren. Aber was würden all diese ernüchternden
Beispiele oder die schönen Erinnerungen aus der Kindheit der beiden noch bringen? Also lassen wir es gut damit sein! Rezitieren wir
einfach nur einen ansonsten unbekannt gebliebenen römischen General:
„Die Menschen enttäuschen einander, dazu sind sie da. Aus
dem Schlammbad Familie taucht man spät auf als Idiot. Man träumt
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in die Ferne, und dem Kind war doch alles so nah. Immerhin weißt
du, woran du bist jetzt, allein mit dem Tod!“
Damit aber jetzt endgültig genug. Lassen wir Familie Familie sein!
Wahrscheinlich trägst du ja selbst eine gehörige Portion Schuld daran, wie es geworden ist. Aber trotzdem, so gut ist es mir, ist es speziell meinem Kopf unter dem inzwischen doch schon sehr schütteren, grauen Haar seit meiner frühesten Kindheit nicht mehr gegangen. Obwohl mir bei und nach Ralphs Tod zum ersten Mal so richtig klar geworden ist, dass auch die Zeit, die noch vor mir selbst
noch liegt, begrenzt ist und mit jedem Tag unerbittlich schrumpft.
Und vor allem, sie rast inzwischen auch so wahnsinnig schnell dahin.
Im Zorn hat Ludmila vor vielen Jahren einmal zu mir gesagt, ich wäre nie über meine Pubertät hinaus gekommen. Das mag früher einmal gestimmt haben. Ludmila, die Sorgenvolle! Viel Glück im Leben
hat sie wirklich nicht gehabt. Einen letztlich ungeliebten Beruf hat
sie bis zur Pensionierung ausgeübt. Und zu allem Übel hatte sie ausgerechnet mich getroffen. Einen Mann, der nach einigen Jahren sein
Versprechen bricht. Sie sei Schuld daran, wie unsere Kinder sich entwickelt haben und wie sie geworden sind. Redet sie sich völlig unsinnig ein. Aber vermutlich hängen diese, ihre Sorgen auch mit dem
Schicksal ihrer beiden Brüder zusammen. Bei Peter, dem Ältesten,
der sich so gerne als großer, weit gereister, ja welterfahrener Mann
von Welt sah, brach im Alter von etwa vierzig Jahren ein schlimmer
Verfolgungswahn aus. Mit seinem Wagen fuhr er gezielt gegen einen
Baum, um sich das Leben zu nehmen. Ein mitfühlender Polizist an
der Unfallstelle nahm seinen Abschiedsbrief damals aus dem Auto
und steckte ihn Ludmila heimlich zu. Peter überlebte und die Ursache des Unfalls blieb somit im Dunklen. Mit Ludmilas rührender
Hilfe erholte Peter sich im Laufe der Jahre wieder und konnte sogar
wieder arbeiten. Heute lebt er als Rentner, mit einer gefräßigen, von
Neid geplagten Frau verheiratet, in der Gegend von Göttingen.
Nach haltlosen, sehr miesen Beschuldigungen, wie es sie offensichtlich immer wieder in Erbangelegenheiten gibt, hat Ludmila den
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Kontakt zu ihm nun abgebrochen. Und das ist gut so! Ich weiß, dass
sie enttäuscht von diesem Bruder ist, der sich nie um das Schicksal
seiner Eltern geschert hat. Aber es geht hoffentlich nicht mehr besonders tief. Wesentlich tiefer hat sie der Tod ihres zweiten Bruders,
Stefan, getroffen. Mit etwa fünfzig Jahren hat er sich hier in München, damals aus Prag kommend, das Leben genommen. Zu Weihnachten hatte er Ludmila in der Prinzregentenstraße besucht. Und in
der Nacht des 2. Weihnachtsfeiertages brachte er sich nach einem,
wie Ludmila schildert, harmonischen Abend, in seinem Bett mit einem kleinen Küchenmesser um. Abgesehen von all dem Chaos am
„Tatort“ mit blutverschmierten Wänden, Kriminalpolizei, der Suche
nach der zunächst nicht auffindbaren Tatwaffe, seinem Abtransport
zur gerichtsmedizinischen Untersuchung und seiner Überführung
nach Prag. Es muss ein unbeschreiblich tiefer Schock für Ludmila
gewesen sein. Und ich ahne, dass sie ihn heute zwar mehr oder weniger gut verdrängt hat, aber ganz überwunden hat sie ihn wohl nie.
Doch wie kann ich ihr da helfen? Den richtigen Satz habe ich wohl
nicht gefunden. Aber der ist wohl auch objektiv betrachtet nicht zu
finden. Nein, nicht jeder Mensch hat so viel Glück im Leben wie ich.
Der beste Schritt in die richtige Richtung war für Ludmila endlich
vor einigen Jahren ihr Wohnungswechsel in die Elektrastraße. Witziger Weise nur ein Haus von meiner früheren Wohnung entfernt.
Aber wohl auch wegen dieser Geschichten macht sie sich Sorgen um
das Schicksal unserer beiden Kinder. Wie oft habe ich schon versucht, ihr die Unsinnigkeit all ihrer trüben Gedanken auszureden.
Aber wenn überhaupt, dann helfen ihr all diese Worte wohl nur für
den Moment. Danach sind ihre dunklen Gedanken wieder da. Gedanken, die sie mit unendlicher physischer Hilfe für die beiden und
vor allem für ihre inzwischen sieben Enkel zu übertünchen versucht.
Nein, sie macht es sich viel, viel schwerer, als es sein müsste und sie
ist nicht in der Lage, sich von ihnen zumindest innerlich etwas
stärker abzunabeln. Irgendwie hat sie zwar längst begriffen, dass sie
nichts am Verhalten unserer beiden Kinder mehr ändern wird. Doch
all zu viel hilft ihr das wohl auch nicht. Aber wahrscheinlich ist das
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ja ein anderes Kapitel, von dem ich als Vater oder Mann nicht viel
verstehe. Sind doch Muttergefühle etwas ganz anderes als zumindest
die von mir als Vater. Durch die Freundschaft mit Ralph hat sich
mein Charakter dagegen im Lauf der Jahre kontinuierlich verändert.
Hin zum positiven, wie ich hoffe. Obwohl auch das nur relativ sein
kann. Aber wo bitte ist die Grenze zwischen positiv und negativ. Jedenfalls, die Furcht vor allem Möglichen, mein Engagement für alles
Mögliche, meine Ambitionen, die sorgenvolle Beachtung dessen,
was andere Menschen über mich denken könnten, das alles hat sich
immer mehr relativiert. Selbst den ewigen Wunsch, möglichst nichts
in diesem Leben zu verpassen, habe ich schon lange nicht mehr. Ich
denke, ich habe ihn so langsam durchschaut, denn letztlich führt er
die Menschen genau in die falsche Richtung. Etwas in mir sagt mir:
Possart, sei froh! All diese Sensationen hast du inzwischen überstanden. Nicht dass ich mich zurückziehen würde. Aber alles mit mehr
Milde, mit weniger Aufgeregtheit und ohne noch besonders eingebildet zu sein. Wer heute etwas von mir haben will, der kann es gerne bekommen, aber inzwischen auch nur wenn es auch mir selbst
sinnvoll erscheint. Aber fragen wird er dann schon selber müssen.
Zugegeben, da schmeichle ich mir ganz gerne mit Plutarch, der so
etwas schon vor 1.900 Jahren geschrieben hat. Ein Zitat, das Ralph
mir vor Jahren schmunzelnd vorgelesen hat. Ein Zitat, das mir gefällt, obwohl sich unsere Gesellschaft doch ganz anders entwickelt
hat. Wie viel mehr als ich hat Ralph doch gewusst, wie viele Dinge
gab es, die ich von ihm gelernt und die ich durch seinen Einfluss erst
so nach und nach begriffen habe.
„Zu den eigentlichen Vorzügen älterer Männer zählt ihre
Weisheit aus Erfahrung. Und jedes Gemeinwesen beraubt sich ganz
bestimmter Qualitäten, wenn es den erfahrenen Alten nicht mehr die
Möglichkeit gibt, aktiv an ihrer Führung teilzuhaben. Ältere Männer
verfügen neben der Weisheit aus Erfahrung auch über eine größere
Milde und Mäßigung. Ja, sie bilden einen Widerpart zum höheren
Ungestüm der Jugend, insbesondere zu deren größerer Anfälligkeit
für Neid und Ruhmsucht.“
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Überhaupt mein ehrenwerter Kopf! Was ich da in ihm auf einmal
noch so alles wieder entdecke, was da noch so alles an Erinnerungen
in ihm gespeichert ist, ist schon irgendwie erstaunlich. Dinge, an die
ich in der Hast der Jahrzehnte lange nicht nur nicht mehr gedacht, ja
von denen ich sogar geglaubt hatte, ich hätte sie alle schon längst
vergessen gehabt. Aber jetzt, wo ich immer noch mit Ralphs Nachlass beschäftigt bin und offensichtlich nie fertig werde, kommen sie
immer deutlicher in mir hoch. Oh ja, Ralph ist irgendwie unauslöschlich nicht nur bei mir, sondern auch mit mir. Wie er sich während unseres gemeinsamen Frühstücks meist stumm hinter seinem
Zeitungsteil vergraben hat. Und ihn beim Lesen jedes Mal hoffnungslos zerfleddert hat. Schelm, habe ich gedacht, wenn er mir
leicht schmunzelnd dabei zugesehen hat, wie ich ihn ganz konzentriert wieder in eine einigermaßen lesbare Form zu bringen versucht
habe. Nein, kein einziger Tag mit ihm in all diesen Jahren, der dich
genervt hätte. Jetzt, wo du schier endlos dabei bist, immer noch hinter oder besser noch, nach ihm ein letztes Mal aufzuräumen, jetzt
erst merkst du erst so richtig, über wie vieles ihr trotz der vielen
Jahre noch nicht gesprochen hattet. Jetzt wo du all seine hier und da
achtlos in allen möglichen Schubladen versenkten Notizen, all seine
alten Manuskripte noch einmal liest, möchtest du ihn noch so gerne
noch so vieles fragen. So vieles, worüber ihr – warum auch immer –
niemals gesprochen hattet und was du noch so gerne von ihm erfahren hättest. Wir haben ja noch so viel Zeit, habt ihr beide gedacht.
Obwohl du natürlich schon früher begriffen hattest, dass er dir etliche seiner Geschichten in seiner konsequent diskreten Art trotz allen
Bohrens wohl nie erzählt hätte. Einiges gab es in seinem Leben, worüber er nie oder nur in Andeutungen gesprochen hat und es wohl
auch künftig nie getan hätte. Sein pfiffiges, ja hintergründiges
Schmunzeln bei deinen ewigen Fragen und dann eine seiner, dir
unvergesslich gebliebenen Antworten:
„Je mehr man weiß, umso mehr vergisst man. Je mehr man
vergisst, umso weniger weiß man. Je weniger man weiß, umso weni-
130
ger vergisst man. Je weniger man vergisst, umso mehr weiß man!
Aber diese Geschichte erzähle ich dir ein anderes Mal.“
Und noch etwas begreifst du jetzt überhaupt erst so richtig.
So wie du jetzt den Tisch jeden Morgen und jeden Abend nur noch
einmal für dich selbst deckst, wie du nur einmal dieses, nur einmal
jenes tust, wie du allein da hinten in eurem Doppelbett schläfst, jetzt
erst begreifst du erst so richtig, dass mit deinem „ich liebe dich“
nicht nur die Liebe zu diesem einzigartigen Menschen gemeint war.
Nein, in diesen drei Worten steckt bestimmt bei jedem Menschen
auch eine ganz schöne Portion Eigenliebe! Die fehlt dir jetzt an allen
Ecken und Enden, aber sie gibt dir auch die Möglichkeit, dich selbst
mit etwas mehr Abstand, einfach einmal etwas distanzierter zu betrachten. Auch wenn es etwas komisch klingen mag. Um diesen Abstand von dir selbst zu bekommen, wechselst du das Bett in eurer
Wohnung. Ziehst du aus eurem gemeinsamen Schlafzimmer aus, in
das kleine Zimmer mit dem großen, alten Bett, in das sich Ralph
manchmal nachmittags zum Lesen zurückgezogen hatte, weil dort
das Licht angeblich so viel besser war. Und aus dem nach allerspätestens einer halben Stunde sein wundervoll klingendes Schnarchen
drang. Und noch etwas fällt dir überhaupt erst jetzt so richtig auf.
Ihr habt weder bei ihm, in seinem Haus in Kopenhagen noch hier in
München in eurer Wohnung jemals eine Türe hinter euch zu gemacht, wenn sich einer von euch beiden zurückgezogen hat.
Aber wie kann ich diese Liebe zwischen Ralph und mir denn
sonst noch einigermaßen klar, ehrlich und auch richtig beschreiben?
Ich kann es nur versuchen. Dieses einfach niemals versiegende Verlangen nach genau diesem einen Partner? Geschlechtsleben, „Sexus“? Ja doch, das war das eine, euch beide bis zum Ende eures gemeinsamen Lebens, immer wieder aufs neue Erregende. Aber daraus
allein wäre auf Dauer sicher nicht diese unauftrennbare Klammer
geworden, die euch beide dann so nahtlos eng zusammen geschmiedet hat. Ralphs „Eros“, die Kraft seiner Ausstrahlung und seine Anziehung waren es, die diesen „Sexus“ für uns beide fast beliebig, ja
zu einer angenehmen, aber einfach auch dazu gehörenden Neben131
sache gemacht hat. Sein Eros war es, der einfach alles überstrahlte
und der weit über alles Geschlechtliche, über alles Wollen, alles
Werden und Gewordensein hinaus ging. Und wenn ich jetzt wieder
und wieder seine zurück gebliebenen Schnipsel lese, dann bin ich
einfach nur glücklich. Denn Ralph hat es ganz offensichtlich ganz
genau so oder zumindest sehr, sehr ähnlich empfunden. Es war eine
Liebe, die uns irgendwie schon über die Liebe stellte. Selbst das wage
ich, ohne zu übertreiben, zu sagen. So, wie es ja auch eine Freudigkeit gibt, die einen regelrecht berauscht macht und über die sonst
übliche Freude hinaus hebt. Oder eine Trauer, die einem jeden
Schmerz entzieht. Ja, auch die habe ich inzwischen kennenlernen
müssen. Nein, diese Liebe hatte einfach nichts mit unserem Alter
oder mit all unseren unterschiedlichen Erfahrungen zu tun. Sie war
einfach da und wir mussten uns all die Jahre weder etwas bestätigen
noch irgend etwas beweisen. Und sie bestätigte mir nur einmal mehr,
wie viel Glück ich selbst in meinem Leben genießen durfte. Glück,
das mir in all meiner Begrenzt- und Beschränktheit geholfen hat an
allen möglichen Stolpersteinen einfach irgendwie vorbei und einigermaßen gerade aus meinen Weg weiter zu gehen.
132
VI.
Oh ja, natürlich ist nach Ralphs Tod jetzt alles wieder ein bisschen,
nein viel anders, hat mein Leben sich auch grundsätzlich verändert.
Aber nach dem ersten Schock nach seinem so plötzlichen Tod
irgendwie merkwürdiger Weise auch wieder nicht. Ein gutes Jahr habe ich nichts mehr geschrieben. Aber das Bedürfnis, den Menschen
Ralph noch besser, ja ihn noch genauer kennen zu lernen, war
während dieser Zeit unverändert da. Und es hat nicht nur nicht
nachgelassen, es ist möglicherweise sogar intensiver geworden. Nicht
mehr mit dieser Art der physischen Liebe. Das geht leider und natürlich logischerweise nicht mehr. Alles, wirklich alles, was du mit
Ralph erlebt hast war viel zu intensiv und viel zu einmalig. Vielleicht
bist du inzwischen ja schon ein ziemlich einfältiger und dankbarer,
alter Trottel. Aber einmal im Leben durftest du so etwas großartiges
immerhin erleben. Also sei einfach froh darüber! Aber du fühlst
auch, es ist noch längst nicht vorbei. Das war noch nicht der ganze
Ralph, der da bei dir war und mit dem du zusammen gelebt hast.
Manchmal hast du das Gefühl, er hat dich mit Ruth zusammen als
Erben eingesetzt, damit du das in aller Ruhe tun kannst. Aber wohl
nicht nur deshalb. Schließlich war hinter seinem pfiffigen Schmunzeln, war bei ihm immer ein Hintergedanke dabei! Letztlich wollte er
damit wohl auch dafür sorgen, dass alles ordentlich, speziell auch für
seine geliebte Schwester Ruth abgewickelt wird und nicht im Streit
und Chaos endloser Auseinandersetzungen mit seiner und Ruths
Familie untergeht. Wie sich das alles sonst womöglich entwickelt
hätte, wenn er nicht alles so klar dokumentiert hätte, haben dir die
Auftritte von Ruths Tochter Melanie nach Ralphs Beerdigung gezeigt. Dass ausgerechnet du zusammen mit Ruth sein Erbe sein würdest, war bei seiner Testamentseröffnung ein wohltuender, mehr als
schmeichelhafter Schock für dich. Ja doch, ein richtiger Schock!
Zwar hatte Ralph in den letzten Jahren ein paarmal versucht, mit dir
über sein Testament zu reden. Aber du hattest nichts davon hören,
133
dich nicht mit diesem Thema belasten wollen. Weiß der Teufel, wie
man dann denkt. Wirklich, nicht einen Moment hattest du an ein
Erbe gedacht. Als nach seiner Überführung nach Kopenhagen, die
du mit allen Tricks, sogar ohne korrekte Papiere, an der deutschen
Bürokratie vorbei, offensichtlich in Rekordzeit geschafft hattest, sein
letzter Wille von seinem Anwalt Carsten Christiansen verlesen wurde, war das ein einfach nicht zu beschreibendes Gefühl. Ein letztes
Dokument von Ralph, dass er dich ohne jede Einschränkung geliebt
und dass er dir vertraut hat. Du bist aus dem Wohnzimmer nach
oben geflüchtet, damit die anderen nicht sehen konnten, wie dir in
deinem merkwürdig paralysierten Zustand die Tränen in die Augen
gestiegen sind und wie du angefangen hast zu weinen.
Vor Jahren lag einmal einer seiner unvergleichlichen Schnipsel auf eurem Frühstückstisch:
“Sehr geehrter Herr Possart! Wenn es Sie nicht schon gäbe,
müsste man Sie erfinden!“
Auch den habe ich aufbewahrt.
Ralph hat nicht nur sehr erfolgreiche Romane und Bücher
über fremde Länder, sondern auch wunderbare, kleine Geschichten
über seine wohlbehütete, großbürgerliche Kindheit in Kopenhagen
geschrieben. Ich hatte sie eigentlich alle vor langer Zeit schon einmal
gelesen. Aber während ich sie jetzt alle noch einmal gelesen habe,
liegt auf einmal nicht nur seine, sondern plötzlich auch meine eigene
Kindheit wieder vor meinen Augen. Und so kommt auch die Bundesstrasse 12 mit dem Reichertsheimer Berg immer wieder aus ihrer
tiefen Versenkung nach oben, auf der ich einst mit meinem Vater in
einem Holz vergasenden Kleinlaster zu einem Schwarzmarkt in die
Möhlstrasse in München gerumpelt bin. Oder die Holzbaracke des
KZ-Außenlagers, in der meine Mutter mit mir nach dem Zweiten
Weltkrieg gestrandet war. Mit mir konnte Ralph sich über die widerlichen Ausdünstungen von zerquetschten Wanzen unterhalten, die
sich im Dunkel der Nacht auf dich stürzen und deren Geruch und
Gestank irgendwie immer noch auch in meiner Nase sind. Hatte er
sie doch viele tausend Mal dramatischer, ekelhafter und grauenvoller
134
als ich unter den lebensbedrohenden Umständen im KZ Theresienstadt erleben müssen. Überhaupt ein Wunder, wie er nach all seinen
grausamen Erfahrungen mit Deutschland, nach all seinen erbarmungslosen Erniedrigungen und Qualen mit „den“ Deutschen umgegangen ist. Oh ja, auch das habe ich an ihm bewundert. Und dann
meine Frage an ihn, warum ausgerechnet ich als Deutscher? Warum
sind ausgerechnet wir beide Freunde geworden?
„Na ja, weil nichts besseres im Angebot war!“
Oder seine Antwort:
„Man muss schon ein bisschen verrückt sein, um auf dieser
verrückten Welt nicht selbst verrückt zu werden.“
Und dazu sein so unvergleichliches Schmunzeln, für das ich
ihn jedes Mal wieder hätte umarmen mögen. Eines Morgens, kurz
nach seinem 70. Geburtstag fand ich eine Karte von ihm auf dem
Frühstückstisch, die er offensichtlich in seiner schlaflosen Nacht zuvor geschrieben hatte:
„Freitag: Manchmal denke ich, es ist zu gut, um richtige
Wirklichkeit zu sein. Eines Tages wache ich auf – ich hoffe nicht –
und sitze wie Job da mit Asche (Cigaretten?) im Haar. – O.k., ich bin
nicht mehr 69, aber was auch geschieht, kann nichts meine
Freundschaft für Wotan stören. So there. R.O.“
Überhaupt, den tieferen, ja den Hintersinn von manch einem
Satz, den Ralph so nebenbei notiert, später achtlos in einer Schublade versenkt oder einfach nur so nebenbei geäußert hat, begreife ich
jetzt sehr viel leichter. Ja, lieber Ralph, du hast nicht nur mein Leben, du hast mich selbst verändert. Und ich hoffe, ich habe dich nie
enttäuscht und du hast in all unseren Jahren nie Asche in deinem
Haar gefühlt. Aber so, wie ich dich habe kennen lernen dürfen,
hättest du dich in so einem Fall ganz bestimmt, wenn auch in deiner
immer dezenten Art, die Stirn runzelnd und dich räuspernd, bei mir
beschwert. Jawohl Ralph! Für Ruth, für deine Freunde, für mich, für
uns alle lebst du weiter.
„Dann werde ich euch von da oben zuschauen, ob ihr auch
alles richtig macht,“ hast du manchmal im Spaß gesagt. Oder einer
135
deiner Lieblingskommentare, wenn ich wieder einmal eine meiner
für dich irrsinnigen Tankstellenideen mit dir diskutierte und sie realisieren wollte:
„Wir werden es erfahren,“ hast du dann schmunzelnd zu mir
gesagt.
Ich denke, du erfährst es, ob nun da oben, wie du gesagt hast
oder wo immer du jetzt sein magst, jeden Tag. Jedenfalls fühle ich,
dass du immer noch um mich und bei mir bist.
Am 7. Februar 2008 haben wir Ralph beerdigt. Für mich bis dahin
mich nie interessierende, aber dafür dann um so beeindruckendere,
jüdische Rituale, von denen ich bis dahin nie etwas gewusst hatte.
Schließlich hattest du es nie für notwendig erachtet, mir diese Dinge
näher zu bringen oder mir zu erklären. Und danach gedrängt habe
ich mich ja nun auch nicht unbedingt. Das weiße, lange Hemd, das
weiße Tuch vor deinem Gesicht und die jüdische Erde auf dienem
Hemd. Mir wurde die Ehre zuteil, deinen Sarg zu verschrauben, zu
tragen und bei den Rabbinern zu sitzen. Du bist jetzt der älteste
Mann in der Familie hat der Oberrabbiner, Bent Lexner, zu mir gesagt. Die Gesichter von Ralphs restlicher Familie sind zu Stein geworden. Nur Ruth hat still vor sich hin geschmunzelt. Ja und dann
haben Ruth und ich am 19. November 2008 deinen Grabstein allein
enthüllt. Nachdem es uns nicht gelungen war, deinem Wunsch zu
entsprechen, die einzigen bei deiner Beerdigung zu sein, haben wir
das bei der Enthüllung deines Grabsteins getan. Der selbe Oberrabbiner Bent Lexner hat dazu in Hebräisch ein Abschiedsgebet für
dich vor deinem Grab gesprochen. (Außer deinem Namen habe ich
natürlich nichts davon verstanden!) Alle in Kopenhagen haben immer wieder erzählt, er wäre ziemlich orthodox. Das kann ich natürlich nicht beurteilen, aber mir hatte er als seinem „Ehrenjuden“
schon bei deiner Beerdigung die Kipa auf den Kopf gesetzt und
mich nach vorne zu den Rabbinern, auf den Platz des ältesten männlichen Familienmitglieds gezogen. Natürlich hat er genau gewusst,
dass das nicht stimmen konnte. Aber er hat sich souverän einfach
136
darüber hinweg gesetzt. Schon etwas schockierend für den Rest diener, mit Ausnahme von Ruth wenig geliebten Familie und für all die
Trauergäste, die mich in all den Jahren ja immer nur gelegentlich getroffen hatten. Deinen alten Freunden haben Ruth und ich an dem
selben Abend ein Abschiedsdinner zu deinen Ehren gegeben. Hat
ganz gut zu den Ansprüchen gepasst, die du immer an ein gutes
Restaurant und ein gutes Abendessen gehabt hast. Zu deinen Ehren
– und weil ich denke, dass du damit einverstanden gewesen wärest –
habe ich eine Rede in Dänisch verfasst. Der Versuch einer Erklärung
für unsere Liebe. Simon Pasternak hat sie für mich vorgelesen, da
ich meiner grottenschlechten dänischen Aussprache nicht getraut habe. Ja doch, soll alle Welt ruhig wissen, wie sehr wir uns geliebt haben! Auch wenn sicher ein paar darunter sind, die so etwas vermutlich nie begreifen werden. Aber denen kann sowieso nichts und niemand helfen.
Irgendwie wird und muss mein Leben nun ja auch allein weitergehen. Ich habe anfangs gedacht, ja irgendwie sogar ein bisschen
befürchtet, danach würde unsere Beziehung, würde die Erinnerung
daran, würden all meine Erinnerungen an Ralph so langsam im berühmten Grau des Alltag so langsam verschwimmen. Wird möglicherweise das Normalste auf der Welt sein, habe ich gedacht. Aber
das passiert zumindest bisher überhaupt nicht. Zugegeben, etwas
ruhiger ist es nach und nach schon geworden. Aber allein schon der
Testamentsverwalter, Ralphs dänischer Freund und Anwalt Carsten
Christiansen, den er zur Abwicklung seines Testamentes eingesetzt
hat, hat mich lange mit seinem, mich fast wahnsinnig machenden
Schneckentempo in Trab gehalten. Ab und zu hat er sogar Dinge
verbummelt und mich zunehmend bei deren Korrektur nervös gemacht. Aber als Ralph seinen letzten Willen geschrieben hatte, konnte er ja nicht ahnen, dass jetzt leider so ganz langsam wohl Alzheimer bei Carsten Christiansen Einzug hält. Schade, denn letztlich ist
er ein sehr netter und hilfsbereiter Mann! Das und auch meine allabendlichen Telefonate danach mit Ruth haben mich auf Trab und
all das befürchtete Grau fern gehalten.
137
„Lass' uns zusammen die Schönheit dieser Welt zu begreifen
versuchen,“ hat Ralph auf der ersten oder einer unserer ersten gemeinsamen Reisen einmal zu mir gesagt. Ja, das war eines seiner
großen Bedürfnisse, dem er, nachdem er Theresienstadt überstanden
hatte, sein Leben lang mit großer Leidenschaft nachgegangen ist.
Und das ist auch bei mir angekommen!
Asien! Dieser riesige Kontinent war immer so etwas wie das
Salz oder das Pfefferkorn in Ralphs Leben. Dieser Kontinent hat ihn
immer wieder aufs Neue fasziniert. Zahlreiche Reisen dorthin hatte
er schon vor unserer gemeinsamen Zeit unternommen. Erfolgreiche
Bücher hat Ralph darüber geschrieben. Indien, Thailand, Kambodscha, Vietnam. Aber besonders hatte Japan es ihm angetan. Dieses
Land und seine Menschen hat er innig geliebt. Tokio, Osaka mit
Tornado und Erdbeben, Nara, Kobe, Kyoto, dann gemeinsam auch
mit mir. Kyoto war für ihn fast so etwas wie ein zweites Wohnzimmer in seinem Leben. Korrespondent für die dänische Tageszeitung Politiken war er dort einmal für ein Jahr gewesen. Die „shooting guys“, jene überdachten Fußgänger-Passagen mit all den kleinen
Gemischtwarenläden, die Antiquitätenhändler, die dich, lieber Ralph
zum Teil seit Jahrzehnten kannten und später auch mich als deinen
vertrauenswürdigen Begleiter akzeptiert haben. Die kleinen, versteckten Sushi-Lokale, die schwulen Karaokebars. Ja, es ist mir mehr
als leicht gefallen, all das unter seiner unauffälligen Anleitung ebenfalls lieben und schätzen zu lernen. Selbst das grauenvolle Englisch
seines einstigen Liebhabers und alten Freundes Masao dort habe ich
inzwischen ganz gut zu verstehen gelernt. „Last March I had my last
erection,“ hat Masao einmal zu mir gesagt. Ich habe mich ziemlich
gewundert und Ralph gefragt, was das sollte. Schließlich war es
schon September als wir ihn trafen. Ralph hat sich köstlich amüsiert
und mir die Schwierigkeiten der Japaner mit der Aussprache der
Buchstaben „L“ und „R“ erklärt. „Election“ hatte Masao eigentlich
sagen wollen.
Ich habe nie gezählt, wie viele Orte wir im Laufe unserer
Jahre miteinander entdeckt und für uns erobert haben. Es waren so
138
viele, dass es nach so vielen Jahren schwer ist, sie noch einzeln
aufzuzählen. Schade, dass ich damals keine Notizen gemacht habe.
Oder die wunderschönen Sommer in seinem Garten in Gentofte um
die Zeit der Sommersonnenwende. St. Hans mit den unendlich vielen Sonnwendfeuern an der Ostseeküste. Wie viele Wochen habe ich
da in Ralphs verwildertem Garten zugebracht. Über 1.000 qm Wildnis wieder in einen einigermaßen ansehnlichen Zustand zu bringen
hat mir jedenfalls viele Muskelkater beschert.
Berlin, Potsdam, Dresden, Leipzig, Naumburg, Rostock,
überhaupt so ziemlich den ganzen wieder mit uns vereinigten Osten
unserer Gutmenschen – Republik haben wir abgegrast. Dresden, wo
Ralph einen netten, schon etwas vertrottelten, älteren Ehemann auf
einem Schiffsausflug des Bundesverbandes Freier Tankstellen in eine
Diskussion verwickelt und ihn und sich selbst mit ein paar Schnäpschen betrunken gemacht hat. Nur weil er zufällig entdeckt hatte, wie
sich seine ebenfalls nicht mehr so ganz junge Gattin etwas weiter
hinten auf dem Schiff von einem anderen, jüngeren Tankstellenbetreiber gerade fast öffentlich begatten ließ. Edel von Ralph, dem
armen Mann diesen für ihn womöglich tragischen und folgenreichen
Anblick zu ersparen. Ebenso edel von mir, Ralph danach unfallfrei
bis in unser Hotelbett zu lotsen. Bayern kannte er noch kaum. Und
so haben wir es bis in den hintersten Winkel erforscht, da wo die
Leute bei der Arbeit selbst heute immer noch mit dem Kopf anschieben! Der verrückte Wittelsbacher König hatte es Ralph ganz
besonders angetan. Bei schönem Wetter sind wir ab und zu nach
Berg gefahren und zu dem Holzkreuz im Starnberger See gewandert.
Prag, Wien, deine Lieblingsstadt, Bratislava, Budapest, Ljubliana, Tel
Aviv, Jerusalem, Bozen, Verona, Florenz, Rom, Paris, London, wo
deine Schwester Ruth lebte, New York, Boston, Luxemburg, Brüssel, Trier, Kanarische Inseln, Göteborg, Stockholm, Istanbul. Istanbul, wo in unserem Hotel eine mondsüchtige Dame vom Balkon
gefallen war. Und wo erzürnte Taxifahrer unserem Taxi an der Hagia
Sofia leere Blechbüchsen und Steine hinterher geworfen hatten. Weil
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dessen Chauffeur den von uns angebotenen Preis akzeptiert hatte,
der den anderen zu niedrig erschienen war.
In Florenz waren wir einmal auch mit Ruth zusammen ein
paar Tage. Mit meinem Wagen hatten wir uns auf den Weg dorthin
gemacht. Nicht nur dorthin, aber daran erinnere ich mich ganz besonders gut. Denn dort hatten wir ein Hotel namens „Palazzo dal
Borgo“ gebucht. Ein Hotel neben dem anderen sahen wir in dieser
verdammten Einbahnstraße, nur diesen verdammten Palazzo fanden
wir einfach nicht. Drei Mal bin ich im Schritttempo an all diesen
Hotels und auch an diesem Palazzo vorbei gefahren. Quer durch die
engen Gassen und langsam schon verzweifelnd und alle Verkehrsregeln brechend, wieder zurück. Schließlich sind wir völlig entnervt
im absoluten Halteverbot stehen geblieben. Wir haben uns radebrechend durchgefragt und endlich entdeckt, dass unser „Palazzo dal
Borgo“ zur Straße hin mit einer mächtigen Leuchtreklame einfach
nur als „Hotel Aprile“ für sich Werbung machte.
Vieles hatte Ralph, aber manches hatte auch ich vorher
schon gesehen, und jeder wollte es dem anderen unbedingt zeigen.
Sogar in die USA, nach New York sind wir mit einem Überraschungsticket für Ralph geflogen. Wir haben uns einen Wagen gemietet, sind von dort nach Boston und wieder zurück gefahren.
Amerika interessiert mich überhaupt nicht, hatte Ralph immer
gesagt, da will ich ganz bestimmt nicht hin. Und nur mit einer heimlich von mir gebuchten Reise habe ich ihn schließlich doch dort hin
gelockt. Er hatte bis zum Flughafen geglaubt, wir würden auf die
Kanarischen Inseln fliegen. Erst dort habe ich ihm das wahre Ziel
gebeichtet. Er hat zuerst böse blickend den Kopf geschüttelt und
dann gegrinst.
„Wäre schade um das schöne Geld,“ hat er nach kurzer Bedenkzeit lakonisch bemerkt. Und dort in New York hatte Ralph
plötzlich ein Taxi angehalten. Bitte in die 120. Straße hat er gesagt.
Zumindest damals noch eine sogenannte „no go area“ für Touristen.
Aber er wollte unbedingt ganz nah an die Bronx kommen. Der
Taxifahrer hat uns damals vermutlich für zwei Irre gehalten. Doch
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dieses Mal war Ralph der Irre und ich konnte und wollte ihn da doch
nicht alleine gehen lassen. Mit quietschenden Reifen ist der Taxifahrer wieder losgebraust, als wir bezahlt hatten. Und zu Fuß sind
wir dann fast zwei Stunden lang den ganzen Weg bis zurück in unser
Hotel gelaufen. Anfangs hatte ich ein ziemlich mulmiges Gefühl in
diesem zumindest damals noch sehr schwarzen Ghetto, aber Ralph
hat es ganz offensichtlich genossen. Auch diese Überraschungsreise
hat ihm letztlich doch gefallen, auch wenn er danach gesagt hat:
„Und was habe ich eigentlich davon gehabt?“ Ja doch, ich weiß es
noch. Überall dort war der Kaffee grottenschlecht – oder wie er
manchmal gesagt hat, sehr gesund und in Loewes Hotel in New
York hatten ihm die Motten in seinen schönen, neuen, roten Cashmere-Pullover Löcher geknabbert. Oh ja, wir haben noch des
öfteren darüber gelacht!
An Budapest erinnere ich mich auch noch ganz besonders
gut. Hallo Ralph, auch da warst du vorher noch nie gewesen. Erst
neulich war ich wieder einmal geschäftlich dort. Vermutlich ein letztes Mal, zumindest geschäftlich, weil mit den Ungarn in all ihrer
nachsozialistischen Raff- und Geldgier für einen kleinen Mittelständler wie mich nicht mehr viel anzufangen ist. Bestechung ist etwas,
was ich nicht gelernt habe. Dieses Mal also allein. Wir hatten immer
das Hotel Duna, direkt am Ufer der Donau gebucht, wohl eines der
besten dort. Mit unserem Auto sind wir meistens erst spät abends
angekommen. Dieser beeindruckende Lichterglanz am Donauufer
und die Kettenbrücke! Ich weiß nicht mehr, wie lange wir da jedes
Mal spätabends rauchend und bewundernd noch auf dem Balkon
gestanden sind. Und plötzlich war alles irgendwie wie bei unserem
ersten gemeinsamen Besuch damals. Eines dieser identisch eingerichteten Zimmer. Nur habe ich mich diesmal in das Bett an der
Wand zum Badezimmer gelegt, das du sonst immer für dich beansprucht hast. In die Hotelbar bin ich gegangen, um noch einen Absacker zu nehmen. Dort, wo wir uns einmal über diesen angeblich
echten, libyschen Prinzen mit seinen Bodyguards amüsiert haben,
der wie Kojak aussah, dich so verklemmt angehimmelt und uns mit
141
Drinks gelockt hat. Mann, wie gerne wäre dieser Prinz mit auf unser
Zimmer gekommen. „Übernimm´ du ihn,“ hast du lachend im Bett
gesagt, „ich kümmere mich inzwischen um seine Bodyguards.“ Und
dann hast du dich beim einschlafen an mich gekuschelt. Wie oft
haben wir auch über diese seltsamen, morgenländischen Typen noch
gelacht! Als besonderes Markenzeichen dieses Hotels immer noch
das laute Rauschen der Toilettenspülung. Weißt du noch das eine
Mal, als diese verdammte Spülung nicht mehr aufgehört hat zu
rauschen und wir morgens beim Aufstehen plötzlich bis zu den
Knöcheln im kalten Wasser standen? Eines der wenigen Male, das
ich dich ziemlich erregt und laut schimpfend gesehen habe. Wahrscheinlich auch deshalb, weil ich bei diesem Anblick wieder einmal
einen meiner unkontrollierbaren Lachanfälle bekam. Sieht ja auch
ziemlich komisch aus, wenn ein halbnackter Mann da barfuß und
schimpfend im kalten Wasser steht. Von dort aus sind wir zu Fuß
hoch zur Zitadelle gelaufen und sind vergnügt durch die Altstadt
gebummelt. Haben stundenlang im Café Gerbeaud gesessen und
über die Gäste des Cafés gelästert. Mit dir gemeinsam über Leute zu
lästern war überhaupt immer und überall ein besonderes Vergnügen.
Nein, bösartig war es nie, aber es hat immer sehr viel Spaß gemacht.
„Mömlöck!“ St. Endre und Estergom haben wir uns angeschaut.
Einmal hattest du dir dort in Budapest eine fürchterliche Erkältung
eingefangen und wir mussten einen Tag länger bleiben. Doch am
nächsten Tag war das Fieber wieder weg und die Sonne strahlte. Oh
ja, es wurde sogar ein besonders glücklicher Tag.
Aber eigentlich war ja Wien Ralphs Lieblingsstadt. Immer
mehr ist sie zu unserer heimlichen Hauptstadt geworden, unsere oft
genutzte Gelegenheit, schnell einmal für ein verlängertes Wochenende aus unserem Alltag auszubrechen. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie oft wir dort gewesen sind. Das Hotel Kaiserin Elisabeth
oder später das Hotel Beethoven in der Millöckergasse, gleich neben
dem Naschmarkt an der Wienzeile. Die Heumühlgasse mit der gemütlichen, kleinen Kneipe „Alte Lampe“, mit all diesen verrückten,
immer noch lüsternen, alten österreichischen Schwulen, die uns nur
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allzu gern von ihren Abenteuern während der Besatzungszeit erzählten und für die wir fast schon alte Bekannte geworden waren. All die
Antiquitätenläden um das Dorotheum, der samstägliche Trödelmarkt auf dem Naschmarkt mit all den kleinen Schätzen und mehr
oder weniger geschickt gemachten Fälschungen, der Graben mit der
Pestsäule. Oder Ralphs heiß geliebtes Café Dehmel am Kohlmarkt
vor der Hofburg mit all den Massen an Touristen aus aller Welt. Das
war Pflicht. Da hat auch er mir ganz gern und mit strahle den Augen
von seinen wohl nicht immer so ganz so astreinen Abenteuern
seiner jungen Jahre in Wien erzählt. Allerdings immer nur den Anfang und meistens nur bis dahin, wo es spannend geworden wäre.
Oder Jim und sein alter Freund Werner, die ich beide schon seit
Anfang der Achtzigerjahre kannte, diese etwas merkwürdige, aber
amüsante Partnerschaft aus Houston. Werner, mit dem ich damals
hier in München in seinem Hotelbett gelandet war. Da hatte ich
allerdings noch nicht gewusst, dass er mit einem Jim zusammenlebte.
Dann hätte die Geschichte so vermutlich nie stattgefunden. Aber
das erfuhr ich so ganz nebenbei, als Jim plötzlich ins Hotelzimmer
kam und sich offensichtlich nicht daran störte, Werner und mich da
nackt im Bett vorzufinden. Werner, der mich damals liebend gerne
zu sich nach Texas geholt hätte. Sein Geschäft hätte ich dort
übernehmen sollen. Aber das wollte ich keinen Moment. Jim, viele
Jahre später dann mit seinem einarmigen Wiener Nebenfreund
Gabriel. Den zweiten Arm hatte der als Soldat im Zweiten Weltkrieg
verloren. Und dieser Gabriel hatte ihm eingeredet, dass ein echtes
Wiener Schnitzel aus Schweinefleisch zubereitet werde. Nicht einmal
durch die Kellner in den besten Wiener Restaurants war er davon
abzubringen gewesen. Aber vielleicht hatte er es ja auch nur falsch
verstanden, da selbst ein zweimonatiger Deutschkurs bei Berlitz nur
für ein „Guten Tag, wie geht es ihnen“ gereicht hatte. Diesen Nebenfreund haben wir dann ja auch niemals zu Gesicht bekommen,
da er, laut Jim, die Deutschen wegen des Dritten Reiches nicht
leiden konnte. Und irgendwie ist die ganze Beziehung schließlich
auch ganz eingeschlafen. Dänemark kam auf der Landkarte dieses
143
Gabriel offensichtlich nicht vor. Oh ja, diese scheinheiligen, immer
charmanten Österreicher. Kein Hitler, kein Eichmann wurde dort
jemals geboren.
„Einen Handkuss der gnädigen Frau und ein kräftiges Heil
Hitler dem Herrn Gemahl,“ wie wir als Gymnasiasten auf unseren
Fahrten nach Österreich gerne geblödelt hatten.
Ralph hätte ihm jedenfalls die Augen öffnen, ihm zum Beispiel über Theresienstadt oder den Eichmann-Prozess erzählen können, bei dem er Berichterstatter für die dänische Tageszeitung B.T.
gewesen war. Na ja, wir sind auch ohne jemals seine Bekanntschaft
gemacht zu haben, dort jederzeit bestens über die Runden gekommen.
Und jetzt? Inzwischen wäre schon Ralphs 84. Geburtstag
gewesen! Vor einem Jahr habe ich auf den gedeckten Frühstückstisch noch ein Brieflein für ihn gelegt, das ich in dem ganzen Durcheinander seines Nachtschränkchens inzwischen wieder gefunden
habe. Und an dem Abend sind wir damals in das italienisches Lokal,
Cleopatra in der Landsbergerstraße, zum Essen gegangen. Dort war
ich seitdem übrigens bis heute nie mehr wieder. Klingt vermutlich
etwas dumm, aber irgendwie scheue ich einfach davor zurück. Ich
möchte dort nicht alleine sitzen. Am Abend seines Geburtstages saß
ich diesmal mit zwei Gläsern Sekt, im Bademantel, eingegraben in
seinem großen Ohrensessel im Wohnzimmer und habe mit ihm
angestoßen. Ein Glas für ihn, ein Glas für mich! Nach so vielen
Jahren ein erstes Mal wieder allein. Ganz habe ich die Flasche
allerdings dann doch nicht geschafft. Auch Ralphs Verehrerinnen
haben offensichtlich so intensiv an ihn gedacht, so dass ich kaum
noch vom Telephon weggekommen bin. Vor vielen Jahren, in
meinen allerersten Briefen an ihn habe ich noch geschrieben: „jai
elska dai“. Himmel, wie lange ist das jetzt her? Ralph hat vermutlich
still geschmunzelt, aber es nicht korrigiert. Aber damals hatte er ja
auch bestimmt noch nicht damit gerechnet, dass ich tatsächlich einmal Dänisch lernen würde. Aber das war wie ein Zwang, als ich das
Buch seiner Mutter Melanie über Theresienstadt in die Finger be144
kommen hatte und so bruchstückhaft erahnte, was sie da in einer
fremden Sprache erzählt hatte. Das wollte, das musste ich einfach
ins Deutsche übersetzen. „Theresienstadt – Die Menschenfalle.“
Also habe ich angefangen Dänisch zu lernen! Zuerst aus einem alten
Wörterbuch, das mir Ralph geschenkt hatte. Heute kann ich Dänisch
immerhin so einigermaßen. Schon gar nicht perfekt und bestimmt
nicht fehlerfrei, aber immerhin doch so gut, dass ich ihm immer
noch schreiben könnte: Ich liebe dich unendlich – „jeg elsker dig
uendelig!“ Und plötzlich war er mir wieder so unbeschreiblich nah,
dass er alles andere überragt hat. Aber irgendwie habe ich auch immer noch im Ohr, dass er bestimmt etwas dagegen hätte, wenn ich
nun für den Rest meiner Jahre allein bliebe. Er hat es in den letzten
Jahren sogar manchmal wiederholt und mich damit sogar ein bisschen wütend machen können. Nein, das wollte ich einfach nicht von
ihm hören!
Na ja, nach einem guten Jahr nach seinem Tod habe ich während
des Münchner Faschings einen gar nicht so vorsichtigen, im Nachhinein eher ziemlich blöden Schritt, in diese Richtung getan. Zufällig
hieß dieser Mann, den ich aus einer schwulen Kneipe mit nach Hause genommen hatte, auch Werner. Ich hatte ihn vorher überhaupt
nicht gekannt. Aber so etwas sollte man wohl besser nicht tun. Er
wirkte zunächst auch ganz sympathisch. Doch sehr schnell wurde
mir dann klar, dass da gar nichts zusammen passte, nichts von dem,
was ich von einer Freundschaft erwarte. Ralph hat mich da wohl viel
zu sehr verwöhnt. Überhaupt erstaunlich für mich, welch innerlich
zerrissene, ältere Figuren, die mit ihren Gefühlen nicht zurecht
kommen da in diesem schwulen Milieu verzweifelt ihre späte
Erfüllung suchen. Da habe ich inzwischen auf meine alten Tage
noch einiges dazu lernen können und begreifen müssen, dass ich,
wenn ich denn überhaupt will, dann doch einige Abstriche machen
muss.
In meinem Geburtstagsglückwunsch für Ralph zu seinem 83.
Geburtstag habe ich noch geschrieben:
145
„Und ich bin sicher, in wenigen Wochen schon wirst Du
Dein Tief schon völlig überwunden haben. Dann werden wir nicht
mehr nur über Rom und Zypern reden, sondern unsere Reisen dorthin schon konkret planen und buchen.“ Manchmal möchte ich immer noch alles gegen die Wand werfen! Wieso, zum Teufel, musste
ausgerechnet er, ein so wunderbarer Mensch, so plötzlich gehen?
Ralphs Haus ist nun endlich zu Ruths großer und ich muss
auch sagen zu meiner Erleichterung endgültig verkauft worden.
Wahrscheinlich um einiges unter seinem Wert, aber schließlich haben wir derzeit ja offensichtlich eine weltweite Finanzkrise. Aber
irgendwann muss man einfach einen Schlussstrich ziehen können!
Obwohl Ralph in seinem Testament bestimmt hat, dass es verkauft
werden muss, hätte ich es gerne für Ruth behalten. Als BenzinKontor hätte ich es für sie sogar kaufen dürfen, versteht sich. Das
wäre sogar seriös gewesen und hätte nicht einmal gegen sein Testament verstoßen. Diese Idee hätte ihm ganz bestimmt auch gefallen.
Aber Ruth wollte in ihrem Alter nicht noch einmal den Wohnort
wechseln, obwohl sie in Kopenhagen mehr Freunde als in London
hätte. Das Geld ist schließlich zum 1. Juli 2009 geflossen. Immerhin
fast eineinhalb Jahre nach Ralphs Tod. Trotz einer Bankbürgschaft
war Ruth bis dahin skeptisch. Aber es hat dann doch reibungslos geklappt. Am 3. Februar war ich für einen Tag zu Ralphs Grab nach
Kopenhagen geflogen. Ich hatte mir diesen Tag einfach frei genommen. Mit der Frühmaschine hin und abends wieder zurück. Außer
Ruth habe ich niemandem etwas davon erzählt. Einfach saumäßig
kalt war es, der Wind von der Ostsee hat mir dort eiskalt um die
Nase gepfiffen und der Regen meine schüttere Frisur geglättet, als
ich da vor seinem Grab gestanden bin. Gefroren habe ich wie ein
Schneider, aber sein Grab verlassen wollte ich auch nicht. Also
musste ich irgendetwas tun. Und so habe ich mir schnell drei Zitronen gekauft, um den Grabstein seiner Eltern zu säubern. Ziemlich
verwittert hat er schon ausgesehen. Aber jetzt sieht er wieder fast
genauso glänzend und genau so schön aus wie der von Ralph.
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Am 27. Januar 2008 hatte Ralph sich noch auf dem, seit einigen Jahren stattfindenden, Auschwitz-Gedenkabend in der HannsSeidel-Stiftung mit einem ziemlich verschrumpelten, israelischen
Hauptreferenten dieses Abends unterhalten. Einem Herrn Dr. Nathan Durst, einem aus Berlin gebürtigen Psychotherapeuten, der den
Holocaust als Kind irgendwo auf dem Land versteckt in Holland
überlebt hatte. Über die physischen und psychischen Spätschäden
ehemaliger KZ-Häftlinge hatte er da einen Vortrag gehalten. „Und
dann, kurz nach dem Kriegsende kamen wir in einem Kindertransport völlig abgemagert, ja fast verhungert in Dänemark an. Eine
Frau Oppenhejm nahm uns damals dort am Ufer in Empfang,“ hat
der ihm da im Foyer erzählt. „Das war meine Mutter“, hat Ralph
ihm freudig und zu dessen Erstaunen erwidert. Die beiden haben
sehr interessiert ihre Visitenkarten getauscht und sicher hätten sie
sich noch viel mehr zu erzählen gehabt. Doch sieben Tage später hat
Ralph sich für immer verabschiedet. „Tut mir sehr leid,“ musste ich
Herrn Nathan Durst bei seinem ersten Anruf hier sagen, „das geht
leider nicht mehr.“ Manche Geschichten sind wirklich so merkwürdig, ja irgendwie fast so unglaublich, dass man sie einfach kaum
glauben mag.
Und auch dieses Jahr hatte ich wieder so eine Einladung zu
diesem Auschwitz-Gedenkabend. Dieses Mal fand er sogar in dem
prunkvollen Senatssaal des Bayerischen Landtags statt, da oben, hinter der Isar, ganz nah an der Möhlstraße. Ohne Ralph war es zu Beginn irgendwie sogar etwas beklemmend. Aber dann hat mich plötzlich Dr. Lamm, sein Operateur, in Beschlag genommen und mich
unbedingt neben seiner Gattin platzieren wollen. Na ja, es war irgendwie ganz nett und zugegeben auch gut gemeint. Aber besonders
beeindruckend waren all die Reden dort nicht gerade. Viel zu viel
Selbstbeweihräucherung dieser konfessionsübergreifenden, christlichen „Initiative 27. Januar“, wie sie sich selbst nennt und deren
Zweck es ist, israelische Überlebende des Holocaust zu unterstützen.
„Schmeckte irgendwie nach Kuhfladen und nach Selbstbeweihräucherung,“ hätte Ralph all die Reden vermutlich kommentiert.
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Solche Treffen sind ja in Ordnung, aber warum muss das
eigentlich bei derartigen Veranstaltungen jedes Mal so voller Moral
triefend sein? Ich bin sicher, Ralph hätte bestimmt viel treffender
gelästert, als ich es gegenüber Frau Lamm getan habe. Irgendwie
fehlt er mir auch bei solchen Anlässen. Als Partner, der eine viel, viel
spitzere Zunge als ich hatte und der den Kern auch immer viel besser und haargenau traf! Wenn ich es mir ganz in Ruhe überlege,
werde ich wahrscheinlich nicht noch einmal dort hin gehen.
Oh ja, Rom, die ewige Stadt mit all ihren wortgewaltigen,
tänzelnden, Haare schneidenden „Artistas“, hatten wir beide schon
früher – in unserem noch nicht gemeinsamen Vorleben einmal besucht. Wäre mit ihm und seinem reparierten Herzen bestimmt wieder genau so schön geworden. Aber Zypern! Diese Insel wäre ein
völlig neues Ziel für uns beide gewesen. Vielleicht fliege ich irgendwann in diesem Jahr einmal dort hin. Mal sehen, wie sich dieses Jahr
überhaupt noch entwickelt, habe ich anfangs gedacht. Aber so ganz
ohne Ralph? Er hat die Menschen nur ansehen oder sie in seiner
verschmitzten Art anlächeln müssen und schon waren sie fasziniert
von ihm gewesen. So wie ich vom ersten Moment an. Ohne ihn wird
das so schnell wohl doch nichts werden.
Na ja, und dann hatte ich mir da im Fasching ziemlich gedankenlos auch noch diesen älteren Mann, eben diesen Werner, aus
einer dieser Schwulenkneipen mit nach Hause genommen. Einfach
mal raus aus dem Einzeltrott, hatte ich gedacht. Anfangs war das
irgendwie ja auch ganz amüsant und auch ganz angenehm mit ihm!
Ein bisschen den physischen Druck loswerden. Aber am Ende der
wenigen Wochenenden mit ihm waren es dann doch immer acht
oder neun leere Bierflaschen, nach denen er sich abends mehr oder
weniger angetrunken ins Bett verkrümelt hat! Das wird, dezent ausgedrückt, dann doch sehr schnell ziemlich ermüdend, wenn so gar
nichts anderes kommt, wenn sich so überhaupt nichts weiter entwickelt. Da fragst du dich dann sehr schnell, was das eigentlich bringen soll. Nein! Und ich will auch nicht mehr die notwendige Zeit,
die notwendige Geduld oder das notwendige Gespür für irgendet148
was Hoffnungsloses verplempern. Oh nein, es hat nicht sehr lange
gedauert, bis mir das selbst so richtig klar geworden ist. Jeder vorsichtige Versuch einer ernsthafteren Diskussion mit ihm endete
schließlich nur damit, dass er sich immer vernebelter zuerst in sich
und dann ins Bett zurück zog. Zugegeben, nicht gerade sehr nett
und eher sogar ziemlich barsch, habe ich diese relativ kurze, nicht
einmal Freundschaft zu nennende Bekanntschaft, ohne großartige
Begründung wieder aufgekündigt. Irgendwie schon ziemlich ungeduldig und möglicherweise auch nicht ganz fair. Aber auf Dauer war
das sicher besser. Gut, da war ich egoistisch. Aber vermutlich wird
so eine Beziehung dann sehr schnell sowieso zu einem Gewürge,
fängt an zu einem Lügengebäude, ja zu einer Belastung, letztlich
dann auch für beide Seiten, zu werden. Nur für ein bisschen körperliche Lust an die Nerven gehenden Krampf und womöglich Streit
einhandeln, der sich aus so etwas dann womöglich entwickelt? Nein,
das brauche ich ganz bestimmt nicht. In so etwas lasse ich mich
nicht hinein ziehen. Na ja, so wie Ralph gerne gesagt hat, man lernt
im Leben eben nie aus.
„Manchmal denkt Herr Possart ziemlich langsam,“ hat Ralph
manchmal, verschmitzt hinter seiner Zeitung hervor schmunzelnd,
gesagt, wenn es wieder einmal mehr als offensichtlich war, dass ich
mich mit einem Problem, sei es geschäftlich oder familiär, herum
gequält oder darin verbissen habe. Stimmt ja auch, aber meistens war
Herr Possart dann auch konsequent, wenn er mit seinen Gedanken
zu einem Ergebnis, zu einem Schlusspunkt gekommen war. Nein,
ich bin auf keiner Suche. Sollte sich etwas ergeben, werde ich nicht
davor weglaufen und mich dann auch ehrlich bemühen. Aber wenn,
dann muss es auch wirklich passen.
„Bis dass der Tod euch scheidet!“
Genau so heißt es doch in diesen das Herz rührenden, kitschigen, christlichen Trauungszeremonien vor den kirchlichen Altären. Aber mit jedem neuen Tag merke ich, dass er nicht einmal das
bei Ralph und mir schafft. Jedes von Ralphs Hemden, jedes seiner
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Sakkos, jedes Paar seiner Socken, all diese, seine Sachen habe ich
sehr sorgfältig zwischen meinen Sachen eingereiht. Und wenn sie
mir morgens in meinem Schrank als nächstes begegnen und ich sie
anziehe oder wenn ich ein Paar seiner Schuhe anziehe, das ich zufällig als nächstes aus dem Schrank heraus hole, das alles ist jedes
Mal wie eine Begrüßung, ein beinahe fröhliches „Hallo, wie geht es
dir heute?“ Ich gebe ja zu, es klingt albern und ein bisschen verrückt,
aber es ist jeden Morgen ein stilles Glücksgefühl für mich. Denn
irgendwie ist Ralph immer noch da, ist er überall in dieser Wohnung
um mich herum. Nach all der Verwirrung und Unkonzentriertheit
im letzten Jahr wieder dieses sichere Gefühl, mich durchaus wieder
richtig einordnen zu können. Eine Erkenntnis, zu der ich ja schon
einmal durch ihn und mit ihm gekommen war. Eine angenehme
innere Ruhe und Sicherheit! Wie vieles habe ich doch von ihm und
irgendwie auch gemeinsam mit ihm gelernt, ohne dass er jemals den
Lehrer gespielt, ohne dass er jemals belehrend den Finger gehoben
hätte. Überhaupt dieses ganze Jahr 2009! Auch ohne seine physische
Anwesenheit war es bestimmt durch ihn, durch die eher etwas mühsame Abwicklung seines Testamentes und natürlich auch durch seine Schwester Ruth. Und, als wäre das nicht genug, funktionierte
meine Mannschaft, liefen meine Geschäfte, lief mein Baby, Benzin –
Kontor, traumhaft gut, ja sogar besser als jemals zuvor. Langsam
kommt es mir schon richtig erwachsen vor! Ja, an manchen Tagen
erfasst mich wieder, so wie früher, ein wohltuendes Gefühl der Beschwingtheit und Leichtigkeit und das Bedürfnis, es im Geschäft, in
dieser Branche, noch einmal richtig krachen zu lassen!
Irgendwann einmal, vor etlichen Jahren schon, ja fast so nebenbei, wie es so oft seine Art war, hatte Ralph mich gebeten, ich
solle mich um seine Schwester Ruth kümmern. Für den Fall, dass
ihm einmal etwas passieren sollte. Ich habe es ihm natürlich ohne zu
zögern versprochen. Aber damals hielt ich es eher für reine Theorie,
denn ich habe mir einfach nicht vorstellen können, dass es irgendwann Realität werden könnte. Ich habe es einfach zur Seite gelegt.
Schließlich war Ruth ja vier Jahre älter als er selbst. Aber nun ist alles
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völlig anders gekommen und selbstverständlich habe ich ihm diese
Bitte ohne weiter nachzudenken erfüllt. Nach dem so gern verwendeten Kinderspruch: Versprochen ist versprochen und wird nicht
gebrochen. Und obwohl es zunehmend schwieriger mit ihr wurde,
war es doch ganz leicht und ich habe es wirklich gerne getan. Vielleicht ist es auch ein bisschen so, dass mich mein anerzogenes preußisches oder ostpreußisches Pflichtbewusstsein gerufen hat. Aber
Ruth war einfach auch eine unglaublich starke Persönlichkeit mit
einem ganz eigenen Charme und trockenen Humor. Und ein reines
Zuckerschlecken war ihr Leben bestimmt auch nicht, wenn ich so an
all die Geschichten denke, die sie mir manchmal über den Zweiten
Weltkrieg, über ihre nach einem Rosenkrieg geschiedene Ehe mit
Professor Lewis und über ihre Kinder erzählt hat. Die Verpflichtungserklärung als „Power of Attorney“ war ich nach Ralphs Tod im
letzten Sommer in Kopenhagen mit ihr zunächst durchgegangen
und habe ihr diese Vollmacht für mich schließlich auch gern unterschrieben. Natürlich habe ich da schon in Etwa geahnt, dass sie
mich damit als eine Art Schutzschild gegen ihre eigenen, beiden Kinder einbauen wollte. Doch in diesem Jahr wurde es tatsächlich offensichtlich, ja so kann man es sagen, bittere Notwendigkeit für sie.
Nach dem Bruch eines Oberschenkels, als sie in diesem Frühjahr so
nach und nach immer hilfsbedürftiger wurde, wollten ihre lieben
Kinderlein sie hinter ihrem Rücken entmündigen lassen und in ein
Heim abschieben. Aber ohne meine Zustimmung ging das nun nicht
mehr. Und zu versuchen die einzuholen, haben sie schließlich nicht
mehr gewagt. Oh ja, ich hoffe, ich habe für Ruth getan, was ich
konnte. Mit ihrer Anwältin war ich laufend in Kontakt und mit Ruth
habe ich seit Ralphs Tod praktisch jeden Tag telefoniert. Ich habe
sie mehrfach in London besucht, um eine klare Linie – vor allem
gegen ihre Tochter Melanie für sie zu ziehen. Und natürlich habe ich
versucht, ihren Lebensmut zu erhalten, sie wieder dazu zu bringen
die positiven Seiten des Lebens zu sehen, obwohl das in ihrem
schwächer werdenden Zustand immer schwieriger wurde.
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Ja, und dann am 13. und 14. August war ich ein nächstes Mal
in Kopenhagen. Hauptzweck des Fluges war es dieses Mal, Carsten
Christiansen, Ralphs Anwalt und Testamentsverwalter, wie ich hoffte, zur Endabrechnung des Erbes zu treffen. Aber das war immer
noch nichts! Er umarmt mich inzwischen übrigens jedes Mal so intensiv, dass ich mich manchmal schon frage, ob er wohl auch? Aber
ehrlicherweise bin ich da überhaupt nicht neugierig. Es interessiert
mich nicht im Geringsten. Immerhin scheint er in zweiter Ehe ganz
glücklich verheiratet zu sein. Nein, ich wollte einfach nur sehen, wie
weit er mit der Abwicklung von Ralphs Erbe ist. Es geht unendlich
langsam voran. Alles in allem hat Ralph Ruth und mir eine erstaunliche Erbschaft hinterlassen. Letztes Jahr, bei der Eröffnung seines
Testamentes, war ich ja einfach nur überwältigt. Nicht nur dass er
überhaupt an mich gedacht hatte, sondern dass er mich mit Ruth zusammen als Alleinerben eingesetzt hatte. Seine Versuche mit mir
über sein Testament zu reden, hatte ich immer strikt abgelehnt.
Weiß der Teufel, was man denkt, wenn man erst einmal den Inhalt
kennt. Da war ich unerbittlich stur, denn ich denke, so etwas wird
dann eine Belastung für beide. Aber dass es zudem nun auch noch
so viel ist! Ruth hat mich inzwischen manchmal gefragt, wie Ralph
das alles geschafft hat. Und ich selbst weiß, ehrlich gesagt, bis heute
nicht, wann und wo und wie er da mit seinen Wertpapieren spekuliert hat. Über Geld oder Vermögen haben wir beide uns in all unseren Jahren eigentlich nie ernsthaft unterhalten. Es war kein Thema
zwischen uns. Da habe ich in all diesen Jahren einen letztendlich
wohlhabenden Mann geliebt, ohne über seine finanzielle Situation
wirklich Bescheid zu wissen. Eigentlich habe ich all die Jahre immer
das Gefühl gehabt, er würde so gerade über die Runden kommen.
Ein ganz besonderer Bonvivant oder Lebenskünstler, geprägt durch
seine außergewöhnliche und ganz besondere Vergangenheit. Bloß
keine Schulden machen, habe ich Einfaltspinsel ihm immer gepredigt und ihm guten Glaubens finanziell ausgeholfen, vor allem wenn
die enormen jährlichen Steuern für sein Haus fällig wurden. Das habe ich jedenfalls immer gedacht und war einfach nur zufrieden mit
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mir. Und Ralph hat vermutlich die ganzen Jahre nur still in sich hinein geschmunzelt. Nein, er hat mich nie um etwas gebeten oder womöglich etwas von mir gefordert. Er hat bei solchen Gelegenheiten
nur geschmunzelt, es leise widersprechend zugelassen, es angenommen, sich artig bedankt und das Geld dann, wenn ich nicht da war,
still und leise angelegt. Und ich war all die Jahre richtig stolz und
glücklich, ihm, meinem Freund und Lebenspartner, helfen zu können. Dabei hat er es offensichtlich nicht im Geringsten nötig gehabt!
Und jetzt bekomme ich viel mehr als das zurück. So hat er es wohl
haben wollen. Ralph mit seinen nie so ganz durchschaubaren Hintergedanken! Dass er immer ein nicht so ganz kleines Schlitzohr war
wusste ich ja. Aber so! Manchmal denke ich, er grinst von da oben
jetzt einfach nur zufrieden und verschmitzt auf mich herunter.
Ja, mein lieber Ralph und natürlich habe ich auch wieder
dein Grab besucht. Drei Mal war ich in diesen beiden, herrlich sonnigen Tagen im August auf dem Friedhof. Überhaupt dieser jüdische
Friedhof in Kopenhagen, gegenüber der Carlsberg-Brauerei! Er wird
mit jedem Besuch geheimnisvoller und wirkt beinahe schon mystisch
auf mich. Nicht nur du weißt, wie ablehnend mein Verhältnis zu Religionen ist. Aber jedes Mal wenn ich jetzt dort, an dieser Kopenhagener Synagoge vorbei, da nach hinten zu deinem Grab gehe, erfasst
mich ein schwer zu beschreibendes, sehr tief gehendes Gefühl von
Ehrfurcht. Ja, Ehrfurcht! Die Erinnerung an dein Bestattungsritual
ist dann wieder ganz nah. Irgendwie schwer zu beschreiben. All
diese Namen auf den Grabsteinen. Koloschinsky, Leibowitz, Hertz,
Samuelson, Feinberg, Isachsen, Kahn, Bloch, Nussbaum, Weinstein,
Meyer. Wie viel Historie, wie viele Geschichten und welche privaten
Schicksale mögen sich hinter all diesen Grabsteinen verbergen? Jedenfalls dein Grab und auch das deiner Eltern sind allerbestens in
Ordnung. Frau Storgaard aus der Friedhofsgärtnerei hat deine Seite
sehr schön mit Buxbäumchen eingegrenzt. Sie ist jetzt fast symmetrisch mit der Seite deiner Eltern. Als nächstes soll sie zwischen euren Grabsteinen und links neben deinem Grabstein zwei Rosensträucher setzen. Rechts neben dem Grab deiner Eltern hat wohl
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Ruth vor etlichen Jahren schon einen Strauch setzen lassen. Mögen
diese zwei Rosenbüsche jeden, der daran vorbei kommt, darauf
aufmerksam machen, wie sehr Herr Ralph Oppenhejm Rosen geliebt
hat. Und als ich da vor deinem Grab gestanden bin, habe ich mich
plötzlich wieder erinnert. Auf unseren Reisen ist mir das zwar aufgefallen, ich bin mitgegangen, aber ich habe nie nachgefragt und dem
auch nie etwas besonderes beigemessen. In vielen Städten, die wir
besucht haben, haben wir auch die jüdischen Friedhöfe besucht. Ob
in Prag, der Stadt Oppenheim am Rhein oder in Hanau, Budapest
oder, oder, oder. Irgendetwas hat dich daran offensichtlich fasziniert, obwohl es ja nicht darum ging, das Grab eines Angehörigen zu
besuchen. Eines Angehörigen, der dort seine letzte Ruhe gefunden
hat. Ein ziemlich blöder Ausdruck dieses „letzte Ruhe“, gebe ich zu.
Ruhe hast du hoffentlich immer ausreichend bei mir gefunden.
Komisch, aber jetzt auf einmal kann ich deine Gefühle viel, viel
besser nachempfinden. Diese Grabsteine, all diese Namen darauf,
dieser jüdische Friedhof und dann weiter hinten dein Grabstein und
daneben der Grabstein deiner Eltern. Es ist merkwürdig, ja irrational, aber zugegeben inzwischen sogar angenehm. Da vor deinem
Grabstein finde ich Ruhe. Alles andere verblasst dann, ist plötzlich
meilenweit entfernt. So ähnlich müssen wohl deine Gefühle gewesen
sein, warum du all diese Friedhöfe so gerne besucht hast. Nein, ich
träume jetzt nicht mehr so oft und auch nicht mehr so intensiv von
dir. Nur noch manchmal wache ich mitten in der Nacht auf. Dann
habe ich dich plötzlich wieder im Traum dort im Augustinum auf
der Intensivstation auf deinem Bett liegen gesehen. Dein Mund ist
geöffnet und du willst mir irgend etwas sagen. Und obwohl ich mich
anstrenge, kann ich einfach nicht verstehen, was du mir da sagen
willst. Oder aber du stehst da plötzlich ernst und stumm vor mir,
eine Hand in der Hosentasche, deinen Hut auf dem Kopf, deinen
roten Cashmere-Schal locker um den Hals geworfen und den Kragen deines Sakkos hochgeschlagen.
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Ruth habe ich in diesem Jahr insgesamt vier Mal besucht. Das erste
Mal Ende Mai im Londoner Stadtteil Camden, in einem Pflegeheim,
in das sie für die Dauer von sechs Wochen zur Heilung ihres
gebrochenen Oberschenkels gebracht worden war. Da war sie noch
sehr interessiert und schien auch noch recht fit zu sein. Die letzten
drei Male dann bei ihr zu Hause, mit einem noch ziemlich neuen
Bekannten, Horst Hamann, der ganz gern nach London wollte. Das
mit ihm kann eine ganz neue, zwar ganz andere, aber wenn ich es
richtig einzuschätzen vermag, letztlich auch eine ganz sinnvolle
Freundschaft werden. Nach ihrem Oberschenkelbruch kam Ruth
oder Ruthi, wie ihre Freunde sie genannt haben, einfach nicht mehr
so richtig auf die Beine. Es war immer weniger dieser Knochen in
ihrem Oberschenkel. Der war offensichtlich ganz gut verheilt. Immer stärkere physische Schmerzen bereiteten ihr die zunehmend
größer werdenden, offenen Wunden an ihren Schienbeinen. Das
heißt, im Endeffekt hielt sie sich nur noch in ihrer Wohnung auf,
denn Schuhe konnte sie nicht mehr anziehen. Sie wurde zunehmend
schwächer und mit ihrem Rollator war sie selbst in der Wohnung
ausgesprochen unsicher. Und dann war da noch diese schreckliche
Eisentreppe von ihrer hübschen Souterrain-Wohnung aus zur Gloucester Avenue hinauf. Für sie allein einfach ein nicht mehr zu überwindendes Hindernis. In dieser erzwungenen Einsiedelei verlor sie
nicht nur immer stärker das Interesse an dem, was draußen in der
Welt passierte, sondern auch so langsam jedes Zeitgefühl. In den
Wochen, die ich dort mit ihr verbracht habe, ging es eigentlich immer sehr, sehr fröhlich zu. Ich habe Ordnung in ihre Papiere gebracht, habe alltägliche Dinge für sie erledigen können, Termine für
sie organisiert und wir haben viel dabei gelacht. Ralph hätte sicher
seine Freude daran gehabt. Ich bin im Taxi mit ihr zu ihrem Friseur,
„Darling“ Michael, gefahren. Das war für sie zwar jedes Mal eine
enorme Anstrengung, aber es war schön zu sehen, wie gut sie sich
danach mit ihrer aufgefrischten Frisur und den frisch gefärbten Haaren fühlte. Horst hat sie vom ersten Treffen an akzeptiert. „Now
you belong to the family,“ hat sie ihn sogar geadelt, nachdem er ihr
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beim Anziehen und in ihr Kleid geholfen hatte. Mit ihrer neuen
Freundin Ophelia zusammen, die für sie die täglichen Einkäufe tätigte, sind wir zum Abendessen in ein schickes, italienisches Restaurant
gefahren. Zwei alte Damen und zwei alte Männer! Eine enorme
Anstrengung für Ruth, aber es wurden stimmungsvolle Abende für
sie! Horst hat sich den ganzen Abend rührend um Ruth bemüht. Sie
lebte auf und hat es sichtlich genossen einfach mal wieder selbst im
Mittelpunkt zu stehen. Und auch mir ist Horst dadurch, ohne dass er
es darauf angelegt hatte, näher gekommen. Oh ja, dieser Horst!
Unser Start war eigentlich ganz unkompliziert. Unkompliziert, weil
wir wohl beide zunächst nichts oder nichts besonderes von einander
erwartet haben. Etwas komplizierter wurde es erst, als wir uns so
nach und nach etwas näher kamen. Komplizierter wohl vor allem für
Horst. Ich hatte im Internet rumgespielt und gesehen, dass es eine
Gruppe, Gay & Gray, für ältere Schwule gibt, die sich jeden Montag
in der Müllerstraße trifft. Dort hatte ich Horst getroffen. Einfach
wieder mal etwas anderes sehen, hatte ich gedacht und war nach fast
eineinhalb Jahren ein erstes Mal zu deren montäglichem Treff gegangen. Nur so, einfach um mal zu sehen, was diese älteren Männer
eigentlich noch so anstellen. Und da war auch er. Ich hatte mich auf
den noch freien Stuhl neben ihm gesetzt. Ein auf den ersten Blick
pfiffiger, alter Mann in Nato-Kampfhosen! Meine Krawatte und
meine Hosen mit Bügelfalten hatten es ihm angetan. Ob ich ein
pensionierter Banker sei, war seine erste Frage. Ob man ihn mit
seinen Kampfhosen im Zweiten Weltkrieg vergessen habe, meine
Antwort. Er heiße Horst. Wir haben den ganzen Abend gelacht und
ein bisschen herum geblödelt. Und zunächst war es das auch schon.
Er sei nicht beziehungsfähig und längst schon eingerostet, hat er
anfangs gemeint. Aber das hat sich inzwischen ziemlich gegeben.
Heute würde ich sagen, gut, er ist ein ziemlicher Egozentriker, der
gerne alles allein bestimmen möchte. Aber er ist nicht nur beziehungsfähig, sondern inzwischen auch bemüht, nicht nur für sich
selbst, sondern auch für mich in dieser Beziehung einen Sinn zu finden. Der wirklich absolute Gegensatz zu Ralph. Wie das zwischen
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den beiden funktioniert hätte, wäre eine spannende Frage. Möglicherweise hätten der Schriftsteller und der Kunstmaler sogar schneller als wir beide zusammen gefunden. Und da, wo Ralph morgens in
der Küche in aller Ruhe seine Zeitung gelesen hat, sitzt an den Wochenenden inzwischen Horst. Allerdings ohne eine Zeitung. Er
selbst ist jetzt die Zeitung und aus ihr liest er mir oft stundenlang
vor. Vierzig Jahre seines Lebens hat er in Südafrika verbracht. Als
Rentner ist er wieder nach Deutschland zurück gekehrt. In Südafrika
letztlich betrogen um seinen Rentenanspruch. Vierzig Jahre hat er
dort zwar einbezahlt, aber seine Rente sollte er nur bekommen,
wenn er die südafrikanische Staatsbürgerschaft angenommen hätte.
Das wollte er dann doch nicht. Immerhin hat er während all dieser
Jahre auch die Mindestbeiträge in die deutsche Rentenversicherung
einbezahlt. So erhält er hier eine kleine Rente, die allerdings zum Leben nicht ausreicht. Uns so ist er auf die Zuzahlungen des Sozialbürgerhauses angewiesen. Aber mit kleinem Geld zaubert er sich
wirklich geschickt durch den Alltag.
Ja und Anfang November hat Ruth dann einen Schlaganfall
bekommen. Schon nach wenigen Tagen ist sie in einem Londoner
Krankenhaus dann an einem zusätzlich hinzu gekommenem Nierenversagen gestorben. Und ihr letzter Wunsch, auch auf dem jüdischen
Friedhof in Kopenhagen beerdigt zu werden, ist in Erfüllung gegangen. Zwar nicht ganz so, wie sie und Ralph sich das vorgestellt hatten, denn eigentlich sollte der noch freie Platz neben Ralphs Grab
der ihre sein. Aber ihre Schwester Edith, die Jüngste, mit der Ralph
seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr gehabt hatte und die ich erst
bei Ruths Beerdigung ein erstes Mal gesehen habe, hat ihr diesen
Platz mit Lügen klammheimlich weggenommen. Möge sie denn damit glücklich werden! Ralph hatte den Platz für Ruth reservieren lassen und dafür auch bezahlt. Aber mit der frechen Lüge, Ruth sei
nicht mehr an diesem Platz interessiert, hatte Edith ihn klammheimlich für sich selbst umschreiben lassen. Und bezahlt war der Platz ja
auch schon! Und die jüdische Gemeinde hatte weder bei Ruth noch
bei Ralph nachgefragt, ob das denn überhaupt stimme. Entdeckt
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hatten Ruth und ich das erst nach Ralphs Tod, als wir dort die üblichen Formalitäten nach seiner Beerdigung erledigten. Ruth musste
sich sogar als Mitglied der Gemeinde wieder neu eintragen lassen.
Und so liegt Ruths Grab nun etwa fünfzig Meter entfernt vom Grab
Ralphs und dem ihrer Eltern. Zu ihrem Begräbnis waren auch ihre
Kinder aus den USA angereist. Bent Lexner, der Oberrabbiner, hat
mich wieder wie ein Mitglied der Familie begrüßt. Auch dieses Mal
war ich einer der Sargträger. Natürlich war es diesmal ganz anders.
Und irgendwie war ich sogar froh, dass Ruth gestorben war. Waren
ihre Leiden doch immer unerträglicher geworden und was hätte sie
womöglich noch ertragen oder über sich ergehen lassen müssen,
wenn sie noch einmal zu sich gekommen wäre. Und auch, was für
ein Streitpotential zwischen ihren Kindern, speziell Melanie, und mir
wäre da womöglich noch entstanden. Denn meine Vorstellungen für
Ruth wären sicher ganz andere gewesen als die Melanies. Aber dazu
ist es nun ja nicht mehr gekommen. Und sicher ist vor allem Melanie
froh darüber, dass der Zwangskontakt mit mir damit nun wohl
endgültig beendet ist.
Und gute zwei Wochen später war ich dann noch einmal, ein
viertes Mal im Jahr 2009 in Kopenhagen, zu Ralphs Geburtstag am
10. Dezember. Ein erstes Mal zusammen mit Horst. Das wäre genau
jener Tag gewesen, an dem wir in Kyoto Ralphs 85. Geburtstag hatten feiern wollen. Zusammen mit Horst war ich an seinem Grab.
Horst, der so gerne sagt, Ralph sei es, der uns beide zusammen gebracht habe. Wir haben kleine Sträußchen auf seinem Grab, auf dem
seiner Eltern und einen kleinen Teddy auf dem noch frischen Erdhaufen vor Ruths Grab abgelegt. Der Anflug war etwas dramatisch
für Horst, aber an diesem Tag war er ansonsten ein ausgesprochen
angenehmer Begleiter. Wir sind dann noch den Strandvej, entlang an
der Ostsee bis Helsingoer gefahren und hatten unterwegs ein wirklich schönes Buffet mit Meeresblick. Horst war richtig begeistert von
Dänemark. Kopenhagen selbst war voller Polizei. Das Vorspiel zu
der großmächtig angekündigten Klimakonferenz, von der uns die
Kaste all dieser neunmal klugen Politiker so viel versprochen hatte.
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Aber wie nicht anders zu erwarten, hat sie nichts als vollmundige
Reden gebracht. Wie denn auch? Mit all den Informationen die wir
haben, können unsere klugen Wissenschaftler nicht einmal das reale
Wirtschaftswachstum für das nächste halbe Jahr richtig berechnen.
Aber dass die Welt im Jahr 2050 untergeht, wenn die Erde sich um
mehr als weitere zwei Grad Celsius erwärmt, das wissen sie über
vierzig Jahre zuvor schon ganz genau. Wie heißt es so schön, wenn
auch satirisch? Prognosen sind schwierig, vor allem dann, wenn sie
auf die Zukunft gerichtet sind. Der Tag darauf mit Horst wurde
dann allerdings um einiges disharmonischer. Horst war schon etwas
missgelaunt und säuerlich aufgestanden, weil ihm das Hotel Mercure, in dem wir übernachtet hatten, nicht besonders behagte. Das
Badezimmer war kalt, das Frühstück nicht besonders. Und weil er
das Cafe zu früh verlassen hatte, hat er bei Sturm und Regen auch
noch auf der Straße auf mich warten müssen. Selbst Schuld, aber
mein Termin bei Carsten Christiansen hatte eben länger als geplant
gedauert. Horst war richtig wütend. Na ja, er ist darüber hinweg
gekommen, denn so langsam hatte ihn schon wieder seine Flugangst
gepackt. Aber auch diese, für ihn am Ende wohl eher nicht unbedingt gelungene, Reise hat uns, glaube ich, zumindest, wieder ein
Stückchen enger zusammen gebracht. Vielleicht wird es mit ihm
zusammen ja ein ganz neues Kapitel in meinem Leben.
Eine Katze hat ja angeblich sieben Leben. Ludmila hat zwar immer
gemeint, in meinem früheren Leben sei ich ein Hund gewesen, weil
ich so gerne Suppenknochen abnage. Aber vielleicht war ich ja eine
Katze. Dann wäre ich jetzt bei Kapitel fünf. Und dann, ja dann lägen
noch zwei weitere Kapitel vor mir!
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VII.
In das Jahr 2010 bin ich, mich selbst überraschend, wie es so schön
heißt, tatsächlich wieder mit einem Begleiter hinein „gerutscht“, wie
es so schön heißt. Hätte ich mir vor einem Jahr bestimmt nicht
vorstellen können. Besonders winterlich war das Wetter diesmal
nicht gerade. Nicht so, wie das Jahr zuvor. Da hatte ich nicht die
geringste Lust zu so etwas. Einfach hinein geschlafen bin ich da.
Nein, diesmal bin ich mit Horst Hamann zusammen ausgegangen.
Nach acht Monaten ist unsere Freundschaft schon relativ stabil geworden. Wir hatten zu Hause gut zu Abend gegessen und waren
dann mit einem Taxi in die Teddy Bar gefahren. Wie so manches mit
ihm allerdings erst nach leicht dramatischer und kontroverser
Diskussion. Er wollte Silvester, so wie er es in den letzten Jahre immer gewohnt gewesen war, ganz ruhig zu Hause verbringen. Und ich
wollte nach fast drei Jahren ein erstes Mal wieder in die Teddy Bar,
in der Ralph und ich den Start ins neue Jahr so oft bis ins Morgengrauen hinein absolviert hatten. Es ist allerdings nicht mehr dieselbe
Bar. Nach einer Hausmodernisierung in der Hans-Sachs-Straße
musste sie in die Pestalozzistraße umziehen. Erst nachdem ich Horst
wohl ziemlich überzeugend vorgespielt hatte, dass ich absolut entschlossen sei, auch alleine, sprich ohne ihn, dort hin zu gehen, lenkte
er ein und kam, immer noch leicht mürrisch und vor sich hin brummend, doch mit. Und siehe da, er hat sich dort bestens in Szene
gesetzt und vor allem für ihn selbst überraschend, gut amüsiert. Die
Bar dort war dann die ganze Nacht seine Bühne! Gegen vier Uhr
morgens sind wir dann, beide leicht und angenehm beschwipst und
in bester Stimmung, wieder zu Hause gelandet. Oh ja, Horst ist auf
seine Art wirklich ein ganz besonderer Mensch. Manchmal ist er
schon etwas schrill und etwas lautstark, zumindest nach außen. Aber
dann auch wieder mit sehr ruhigen, nachdenklichen, ja sehr
bedächtigen Momenten und immer ist er sehr wissbegierig. Und
auch immer darauf bedacht, sich und seinem Körper nur Gutes zu
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tun, angefangen bei all seinen Cremes, über die richtige Ernährung
und endend bei den „richtigen“ Pillen. Nein, Horst braucht absolut
niemanden, der ihn lobt. Das besorgt er schon ganz allein. Am
liebsten würde er gerne alles um sich herum allein bestimmen. Das
hat nur manchmal den Haken, dass er dann völlig sprunghaft seine
Meinung ändert und damit eher sich selbst als seine Umwelt überrascht und verwirrt. Ich habe mich jedenfalls locker daran gewöhnt.
Das wirkt manchmal wie die reinste Situationskomik, über die wir
inzwischen beide schon schmunzeln können. Oh ja, es hat schon
einige Zeit gedauert. Aber wir sind uns Schritt für Schritt näher gekommen. Und so langsam dürften wir dem Punkt schon ziemlich
nahe gekommen sein, an dem wir dann nicht mehr von einander
lassen mögen. Und ich denke, das ist dann auch ganz gut für uns
beide.
Am 3. und 4. Februar war ich dann ein erstes Mal in diesem
Jahr in Kopenhagen. Dieses Mal wieder ohne Horst, denn der hatte
noch von seiner ersten Reise dorthin noch absolut genug. Zu stürmisch war der Flug und zu schlecht war das Wetter gewesen. Dieses
Mal herrschte erst recht wirkliches Gruselwetter. Schnee- und totales
Verkehrschaos an Ralphs zweitem Todestag. Und alle Autoverleiher
am Kopenhagener Flughafen hatten wahnsinniger Weise nur Wagen
mit Sommerreifen anzubieten. Also bin ich mit so einem Gefährt,
ich glaube einem Ford, als erstes zum jüdischen Friedhof eigentlich
mehr gerutscht als gefahren. Aber offensichtlich war ich bei weitem
nicht der einzige, der sein Glück da im Kopenhagener Schnee auf
Sommerreifen versuchte. Bis zu den Waden in den Schnee einsinkend, bin ich schließlich mit Blumen zu Ralphs und dem Grab seiner
Eltern gestapft. Dann im tiefen Schnee noch die Suche nach Ruths
Grab, das ja noch keinen Grabstein hat. Kein Mensch weit und
breit. Wieder hat mich dort diese merkwürdige und angenehme
Ruhe gefangen genommen. Ja, es war irgendwie schwer, sich von
Ralphs Grab wieder zu trennen. Aber irgendwann begannen meine
Beine so langsam zu Eisklumpen zu mutieren. Und so bin ich zurück ins Zentrum in mein Hotel, um Hosen, Socken und Schuhe zu
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wechseln. Danach der obligatorische Besuch in Carsten Christiansens Büro. Langsam, ja zäh geht es mit Ralphs Erbschaft voran. Eigentlich kaum zu glauben, aber ganz offensichtlich arbeitet nicht nur
dieser Carsten Christiansen so langsam, sondern auch das für Erbangelegenheiten zuständige Erbschaftsgericht in Lyngby sogar noch
langsamer. Zum Abendessen hatte Carsten mich dann zu sich nach
Hause eingeladen. Wieder eine Rutschpartie zu seinem sehr hübschen und geschmackvoll eingerichteten Haus nahe dem Strandvej
in Hellerup und zu seiner sehr charmanten Gattin. Eine ausgesprochen nette, zurückhaltende, ja fast schüchterne, aus Polen stammende Frau, der ich an diesem Abend zum ersten Mal begegnet bin. Ihre
Lebensgeschichte zu hören war sogar überraschend interessant für
mich. Ihre Flucht aus dem damals kommunistischen Polen und dann
ihre ersten Schritte in dem neuen, fremden Land, irgendwie erinnerte mich einiges ein bisschen an Ludmilas Geschichte. Schlicht gesagt
ein netter und interessanter Abend. Am nächsten Morgen dann noch
einmal zum jüdischen Friedhof, um noch ein paar neue Aufnahmen
von allen drei Gräbern im tiefen Schnee zu machen. Am Nachmittag
zuvor hatte ich mir noch schnell eine Kamera gekauft, da ich meine
dummerweise in München vergessen hatte. Somit besitze ich jetzt
zwei Digitalkameras. Und dann mit nassen Schuhen und Socken
zurück zum Flughafen. Auf der Toilette nochmal Schuhe und Socken gewechselt und ab in den Flieger. Zurück im Münchner Schnee
dann die erneute Bestätigung, dass sich ein Auto mit Winterreifen
doch wesentlich sicherer und um einiges besser fahren lässt.
Nach etlichen, ja sogar ziemlich vielen, langen Wochenendgesprächen mit Horst über Ralph, über Politiker und deren Politikverständnis, über Religionen und deren oft üble Auswirkungen, über
Juden und über Palästinenser, schließlich unser Entschluss, wir fliegen einfach mal gemeinsam nach Israel. Ich hatte plötzlich Sehnsucht, dieses Land wieder einmal zu sehen. Deshalb war ich froh,
dass Horst Lust dazu hatte. Für Horst noch ein völlig unbekanntes
Land. Da ich ihn mit seinen zweiundachtzig Jahren nicht überfordern wollte, diesmal nur Tel Aviv, Jaffa, Jerusalem und auf seinen
162
besonderen Wunsch Totes Meer. Seiner juckenden Haut zuliebe. Im
Mai war es dann so weit und es wurde wirklich so etwas wie der Höhepunkt des Jahres. Abflug in München vom fast versteckten und
streng bewachten Terminal A 2, wo uns der Kontrolleur trotz unterschiedlicher Adressen dann doch als „Lebenspartnerschaft“ akzeptierte und uns gemeinsam abfertigte. Und es wurde für uns beide
eine ganz besonders faszinierende Reise. Sicherlich ein bisschen
auch deshalb, weil wir dort mit Schlomo und Steve zwei meiner alten Bekannten aus meinen Zeiten mit Ralph wieder trafen. Der Arzt
Steve, der eigentlich Israel heißt, aber im Ausland mit einem englischen Namen glaubt, nicht als Jude erkannt zu werden und der alte
Haudegen Schlomo Gross, der inzwischen größte Probleme mit der
schwindenden Sehkraft seiner Augen hat und sich trotzdem faszinierend, fast wie ein Sehender, bewegt. Steve war von Beginn an so
enorm fasziniert von Horst, dass wir uns selbst noch am Toten Meer
jeden Abend mit ihm und seinem Freund Matti treffen mussten.
Und Schlomo ist mit seinen 85 Jahren immer noch derselbe, alte
Schelm, der von mir immer noch gerne schwule Geschichten hören
mag. Kann man ja zur Not auch schnell ein paar neue hinzu erfinden! Bei unserer Ankunft in Tel Aviv erfuhren wir zudem, dass
Horst als Deutscher mit dem Geburtsjahr 1928 wegen möglicher
Verstrickungen in das Naziregime eigentlich ein Einreisevisum gebraucht hätte. Das hatte uns niemand gesagt. Aber sehr höflich hat
man ihn nach einem Blick in den Computer dann nach wenigen
Minuten problemlos passieren lassen. In Tel Aviv hatten wir uns in
einem kleinen Hotel nahe dem Meer und dem stillgelegten, alten
Hafen eingemietet. Ein ziemlich guter Ausgangspunkt, um uns dort
mit Schlomo und Steve zu treffen und um die Stadt zu Fuß und
auch Alt-Jaffa mit seinen Festungsanlagen und Trödelmärkten ein
bisschen näher kennen zu lernen. Während Horst morgens noch tief
und fest schlief, konnte ich von dort aus noch vor der Hitze am
Strand entlang joggen. Der morgendliche Zigarillo auf der Dachterrasse des Hotels war danach natürlich ein ganz besonderer Genuss für mich. Auch wenn mir der Herzspezialist Dr. Scheinpflug in163
zwischen sehr freundlich erklärt hat, ich solle stattdessen morgens
nach dem Laufen lieber einen Schnaps trinken, das sei weniger gesundheitsschädlich. Nur, wie würde ich dann ausschauen? Aber
schon da, noch vor sechs Uhr morgens, konnte man die Spannungen spüren, in denen dieses Land tagtäglich lebt. Militärflugzeuge
starteten lautstark vom einem nicht weit entfernten Flughafen aus
und Helikopter flogen in Formationen den Strand entlang. Und keinen der Passanten in den Straßen schien das irgendwie zu interessieren. Für die Menschen dort gehört das ganz offensichtlich längst
zum gewohnten Alltag. Zugegeben, in dem hektischen Verkehrstrubel, dem Lärm und Menschengewirr während des Tages fällt das
dann auch kaum noch auf. Tel Aviv da drüben auf der anderen Seite
des Mittelmeers und gerade einmal einhundert Jahre alt, könnte ich
mir inzwischen auch genau so gut als typisch westliche Großstadt
irgendwo anders im Süden am Mittelmeer in Frankreich, Spanien,
Italien oder Griechenland vorstellen.
Den eigentlichen Wahnsinn, das absolut Bizarre, ja eher
schon Schizophrene dieses für alle Eingott-Religionen so „heiligen“
Landes, erlebt man dann aber am besten und hautnah in Jerusalem.
Und eigentlich wird einem das mit jedem Mal klarer. Denn dort wird
einem erst richtig klar, welch ein Widersinn in diesen drei monotheistischen Weltreligionen steckt. Aber, so eingebildet es klingen
mag, das war mir irgendwie schon nach meinem ersten Besuch mit
Ralph klar. Horst und ich waren mit einem der alle zwanzig Minuten
fahrenden öffentlichen Busse von Tel Aviv aus dorthin gekommen.
Allein schon die Fahrt ist ein beeindruckendes Erlebnis. Überall die
deutlich sichtbaren Spuren, wie die Israeli dieses trockene und halb
verdorrte Land offensichtlich erfolgreich wieder einiger Maßen urbar
machen. Aber dann die Altstadt von Jerusalem! Fünf Tage haben wir
uns da herum getrieben. Es war wieder irrwitzig interessant. Irrwitzig
ist wohl genau der richtige Ausdruck für all das, was all diese Eingott-Religionen aus unserer Welt und speziell aus dieser mehrfach
zerstörten Stadt gemacht haben. In Jerusalem kannst du es wie
durch ein Brennglas sehen. Als ich mit Ralph hier war, begegnete
164
uns ein „Jesus“, auf einem Esel reitend, der uns segnete. Obwohl es
eigentlich bitter traurig war, wirkte es irgendwie unfreiwillig komisch
und animierte zum Lachen. Aber damals war die Atmosphäre auch
noch sehr viel entspannter. Für Juden, Muslime und Christen ist es
ihre heilige Stadt. Alle drei dann auch noch in allen möglichen Ausprägungen, die sich zudem nicht nur gegenseitig, sondern auch
untereinander spinnefeind sind und die jeweils anders Gläubigen am
liebsten ausradieren würden. Schweigend, sich höchstens eines abschätzigen Blickes würdigend, laufen sie aneinander vorbei. Haben
jeweils doch nur sie selbst den richtigen Glauben. Und oben drauf
natürlich die Erkenntnis, dass man an so einem geschichtsträchtigen,
faszinierenden Ort auch wunderbar Geschäfte machen kann. All die
kleinen Gassen vollgepfropft mit kleinen Läden. Zwar sind immer
einige geschlossen. Am Freitag die muslimischen, am Samstag die jüdischen, am Sonntag die christlichen. Ein wahres Paradies für Horst,
der mit einem vollbärtigen, griechisch-orthodoxen Perlendreher
schon kurz vor dem Freundschaftsschwur war. Stundenlang haben
wir uns dort in seinem Laden aufgehalten. Aber das war nur der kleinere Teil. Von der Klagemauer über die Via Dolorosa zur Grabeskirche, in der sich Touristen und Verzückte gegenseitig von der angeblichen Grabstätte Jesu wegschieben. Und am letzten Tag noch
der Felsendom und die Al Aqsa Moschee, zwei Bauwerke von zeitloser Schönheit. Man darf das Plateau, auf dem sie liegen, inzwischen nur noch an bestimmten Tagen stundenweise, nach eingehenden Kontrollen und durch einen langen, von Militär bewachten
Holzaufgang betreten. Nach vielen freundlichen Gesprächen in der
Altstadt dort vor den Moscheen das erste Mal spürbarer Hass auch
uns beiden gegenüber. Von Toleranz keine Spur mehr. Nein, diese
architektonisch wunderbaren und für Muslime so heiligen Moscheen
durften wir nicht betreten. Die Wächter davor spuckten regelrecht
Gift und Galle gegen uns. Irgendwie ja auch wieder verständlich,
wenn man die Situation der Palästinenser dort betrachtet. Eingepfercht zwischen selbstbewussten Juden und christlichen Touristen.
Israelisches Militär, das auffällig unauffällig, fast lautlos, in Vierer165
und Fünfergruppen überall in der Altstadt patrouilliert. Und jeder
dort fühlt sich selbst als der Gute, der jeweils andere ist der Böse.
Und irgendwann wird dir klar, dass es die nackte Angst ist, die hier
alles beherrscht. Die Palästinenser, denen die Juden ihr Land mit
äußerst fadenscheinigen Begründungen immer weiter rauben, um
neue, moderne Siedlungen für orthodoxe Juden zu bauen. Sie, die
nach zweitausend Jahren wieder ihr von ihrem Gott zugesagtes Land
in Besitz genommen haben, das sie selbst den Kanaanitern vor mehr
als dreitausend Jahren mit Mord und Totschlag geraubt hatten. Na
ja, mit einem göttlichen Auftrag geht so etwas dann ja auch viel
leichter! Die Juden, deren Alltag, ja deren ganzes Leben heute geprägt ist von palästinensischen, persischen und arabischen Drohungen, zurück ins Meer geworfen zu werden. Und dazwischen die
Beduinen, die sich mit ihren Viehherden all dem, was um sie herum
geschieht, nicht anpassen wollen. Und dazu die Kommentare all der
europäischen Gutmenschen und sogenannten Friedensaktivisten.
Zumindest was den Staat Israel angeht, wird hier mit zweierlei Maß
gemessen. Was so an Gemetzeln in der übrigen Welt, in Afrika, in
Asien vor sich geht, scheint sie kaum oder überhaupt nicht zu interessieren. Der böse Bube auf dieser Welt für sie ist offensichtlich
dieses Israel. In Gesprächen mit älteren Israelis konnte man spüren,
dass sie sich durchaus der eigenen, täglichen Ungerechtigkeiten bewusst sind. Aber auch der klare Wille war zu spüren, sich gegen jeden Angriff auf ihren jungen Staat zu verteidigen. Nicht die Palästinenser sehen sie als ihre Hauptfeinde an. Ohne die alltägliche Hetze
in all den arabischen Medien könnte man sie sich durchaus als Nachbarn vorstellen. Doch wie mit ihnen zu einem vernünftigen Gespräch kommen, wenn dies nicht einmal mit dem orthodoxen Teil
ihrer eigenen Landsleute möglich ist, die diesen „weltlichen“ Staat
ablehnen, obwohl sie dessen finanzielle Wohltaten und Unterstützungen sehr gerne einkassieren? Immerhin, als Gegenleistung studieren sie Talmud und Tanach und zeugen möglichst viele Kinder. Für
sie ist das Jahves Land, in dem außer ihnen niemand etwas zu verloren hat. Jahve werde bald kommen und dann den richtigen, den
166
Gottesstaat bauen. So wie das hier läuft, wird es in hundert Jahren
noch nichts mit einer Versöhnung, war einst Ralphs Prophezeiung.
Abneigung und Hass schon den Kindern eingeimpft bleibt wohl das
ganze Leben. Irgendwie hatte ich das ja bei meinem Vater auch noch
in seinen späten Jahren spüren können, wenn es um die USA ging.
Und ich denke, damit hatte Ralph Recht. Zunächst einmal ist da die
Hamas im Süden, dort abgeblockt durch Israels Militär in Gaza. Leid
können einem nur die Zivilisten Gazas tun. Sie sind regelrecht in
diesem Territorium eingekerkert und die wahren Opfer dieser Hasskultur. Keine Fluchtmöglichkeit nach Ägypten oder über das Meer.
Doch der eigentliche, der viel ernster zu nehmende Feind, die Hizbullah, sitzt im Norden, im Libanon. Ihn fürchten die Israelis mehr.
Hoch gezüchtet mit iranischen Waffen und an der libanesischen Regierung beteiligt, predige die Hizbulla nicht nur den Untergang
Israels, sondern bereite sich auch sehr ernsthaft auf ihn vor. Ein sehr
netter, älterer israelischer Journalist schilderte uns seine Sicht der
nächsten Zukunft sehr eindringlich. Egal was letztlich der Auslöser
sein werde, es werde sehr bald einen nächsten, grausamen Krieg geben. Danach werde zwar im Libanon kein Stein mehr auf dem anderen stehen, aber auch Israel werde fürchterlich zu leiden haben.
Nur, und da war er sich ganz sicher, Israel werde es überleben. Der
völlige Gegensatz dazu allerdings die israelische Jugend. Sie feiert
offensichtlich all diese Bedrohungen ganz locker weg. So, als gäbe es
sie überhaupt nicht und alles wäre Party. Wir hatten unser Quartier
in der zwölften Etage des Jerusalem Tower Hotels, mit einem relativ
großen, freien Platz davor. Jede Nacht Gesänge, Gelächter und Gläserklirren bis in die frühen Morgenstunden. Horst musste seine
Ohrstöpsel einsetzen, um überhaupt Schlaf zu finden. Und zu guter
Letzt bekam er noch eine ziemlich böse Erkältung. Dass sich so
etwas bei ihm zum Drama steigern kann, daran habe ich mich nach
drei Londonbesuchen mit ihm ja schon gewöhnt. Argumente oder
Beruhigungsversuche haben da keinen Sinn. Und so bin ich ganz
brav mit ihm in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses
gewandert. Mit dem ärztlichen Befund in der Tasche, dass er keine
167
Lungenentzündung habe, war das Drama danach auch relativ schnell
wieder beendet. Mit einem ärztlich verordneten Medikament und
einer entsprechenden Bescheinigung in der Tasche, dass er durchaus
flugfähig sei, haben Steve und sein Freund Matti uns abgeholt und
sind mit uns hinunter zum Toten Meer gefahren. Sechshundert Meter unter dem Meeresspiegel! Komischer Weise hatte das Ralph und
mich nie interessiert.
Auf der Fahrt dorthin machten wir dann noch bei dem ehemaligen Lebensgefährten von Steve einen kurzen Zwischenstopp.
Ronley, ein schlanker, sehr attraktiver, aus Südafrika eingewanderter
IT-Fachmann mit jüdischen Wurzeln hatte nach einigen Jahren, so
wie er es erzählte, den alltäglichen, beruflichen Stress dieser Branche
und das hektische Leben Tel Avivs um ihn herum mehr als satt. Mit
der finanziellen Unterstützung einer sehr wohlhabenden Tel Aviver
Dame startete er kurz vor den Toren Jerichos, in absoluter Abgeschiedenheit und weit ab von jeglicher Zivilisation sein neues Glück
als Dattelzüchter. Seine jungen, palästinensischen Arbeiter kommen
jeden Morgen aus der Stadt Jericho und fahren abends, nach getaner
Arbeit, wieder dorthin nach Hause zurück. Er selbst darf als Israeli
Jericho nicht betreten. Also haust er da draußen mit einem Esel zusammen ganz allein in einer kleinen Hütte. Jetzt sei er endlich glücklich, sagt er. Aber es ist wohl nur ein geliehenes Glück. Denn genauer betrachtet liegt seine Dattelfarm ja eindeutig auf palästinensischem Territorium, das dereinst zum Staate Palästina gehören soll.
Meine Bedenken allerdings quittierte er nur mit einem Kopfschütteln und einem grinsenden „let’s wait and see!“ Oh ja, wir oder besser er werden es eines Tages sehen! Während ich ganz gerne noch
mit ihm weiter diskutiert hätte, war Horst von dieser zugegeben
ziemlich trostlosen Einöde und der fast unerträglichen Hitze dort
schon so genervt, dass er unbedingt weiter wollte. Noch zweihundert Meter tiefer hinunter zu unserem Ziel Totes Meer. Durch eine
Steinwüste, vorbei an den berühmten Höhlen von Qumram, die ich
noch ganz gerne besichtigt hätte. Aber meine drei Weggefährten
168
hatten leider absolut keine Lust dazu und so sind wir weiter gefahren. Irgendwie schade!
Allerdings waren die drei Tage dort unten am Toten Meer
dann doch etwas zu viel des Guten, vor allem für den armen Horst.
Zwar hatten wir ein gut klimatisiertes Hotel, aber mit ziemlich missgelauntem Servicepersonal und ausgesprochen muffigen und unfreundlichen Gästen, die wohl alle als Krankenkassentouristen aus
Russland kamen, um hier ihre Haut zu pflegen. Offensichtlich die
neue Mittelklasse dort, gefräßig, ziemlich verfettet und ohne jegliche
Manieren. Alle schriftlichen Hinweise im Hotel zudem in hebräisch
und kyrillisch. Zwei- oder höchstens dreimal am Tag zwanzig Minuten baden in der warmen Salzlauge des Toten Meeres bei über vierzig Grad im Schatten, der guten Haut wegen. Mehr ist dann schädlich. Anfangs ist es ja noch ganz lustig, in dieser eher pisswarmen
Lauge nicht untergehen zu können. Aber am dritten Tag hat Horst
dann endgültig gestreikt. Er hatte genug und wollte nur noch an den
Swimming-Pool des Hotels. Ein echtes Erlebnis für mich selbst war
allerdings die Besteigung der einstigen Felsenfestung Massada, die
etliche hundert Meter aus der Landschaft herausragt und für den
jungen Staat Israel ein Symbol ist. Symbol für Widerstand und Tapferkeit der jüdischen Zeloten bis in den Tod. Steve und Matti hatten
mich um vier Uhr morgens im Hotel abgeholt und in der Dunkelheit
sind wir die verschlungenen, steilen Pfade nach oben gewandert. Ein
wirkliches Erlebnis aber auch, wie Matti da oben seinen Gebetsriemen mit dem kleinen Kästchen angeblich heiliger Texte für sein
Handgelenk samt Kipa aus dem Rucksack holte und seine fünfundsiebzig Gebete und Gesänge in der hinter dem Toten Meer aufgehenden Sonne dort oben absolvierte. Ich fand es jedenfalls beeindruckend. Noch bewundernswerter allerdings die technischen Fertigkeiten, mit denen die Menschen schon vor zweitausend Jahren dort auf
diesem schier unzugänglichen Berg wohnliche, ja fast luxuriöse Verhältnisse geschaffen hatten. Und wie an so manch anderer Stelle in
Israel der deutliche Hinweis darauf, dass die Muslime das alles
zerstört hätten. Obwohl das eindeutig so nicht stimmen kann, denn
169
schließlich hatten doch römische Legionäre die Festung dort oben
erobert und wie der Schriftsteller Josefus berichtet, die fast eintausend fanatisch gläubigen Bewohner dort oben in einen ausgesprochen makabren Massenselbstmord getrieben.
„Nie wieder Totes Meer,“ meinte Horst danach wild entschlossen, als wir mit einem völlig überfüllten Linienbus nach Tel
Aviv zurück gefahren sind.
Und da in diesem Bus war es plötzlich über Stunden kein
Problem für Beduinen, Soldaten mit Maschinenpistolen, Juden und
Palästinenser eng beieinander zu sitzen oder im Zwischengang nebeneinander zu liegen. Nach einem sehr ausgiebigen Bad von Horst
im Mittelmeer und einem letzten Treffen mit Schlomo nach gut zwei
Wochen dann die Rückreise nach München. Um sechs Uhr morgens
sollte unsere Maschine starten und wir wegen der Kontrollen schon
drei Stunden vorher am Flughafen sein. Um zwei Uhr holte uns unser Taxi ab. Und die Kontrollen begannen bereits etliche Kilometer
vor dem Flughafen Ben Gurion auf der um diese Zeit fast schon
verstopften Autobahn. Jedes Richtung Flughafen fahrende Auto
wurde von Militärs untersucht. Ich hatte um diese Uhrzeit eigentlich
einen ziemlich verschlafenen Flughafen erwartet. Aber um drei Uhr
morgens drängten sich da Menschenmassen durch die verschiedenen
Kontrollpunkte, wie ich sie am Flughafen in München noch nie
erlebt habe. Wiederum lief alles sehr freundlich und ohne jede Gereiztheit ab, trotz der frühen Morgenstunde. Mit einer Stunde Verspätung flogen wir dann endgültig ab. Und als Ergebnis all dieser
Kontrollen konnten wir dann in München neben unserem Taxi fünf
verschiedene Aufkleber von unseren Koffern entfernen. Oh ja, alles
an dieser Reise war wieder ein Erlebnis und wieder neu, nicht nur
für Horst, sondern irgendwie auch wieder für mich selbst.
Mein Benzin-Kontor läuft nun schon seit ein paar Jahren wirklich
erstaunlich gut. Bereits das dritte Jahr in Folge machen wir gute Gewinne. Offensichtlich haben wir jetzt die richtige Größe erreicht.
Schade, dass Ralph das in dieser Form nicht mehr erleben und es
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mit mir genießen kann. Aber es ist gut, wenn ich mir immer vor
Augen halte, dass es zwischendurch auch durchaus andere Zeiten
gab, vermutlich auch irgendwann wieder einmal Jahre geben wird,
die nicht so gut laufen. Also heißt es wachsam zu bleiben und nicht
übermütig zu werden. Oh nein, all die eher kümmerlichen Jahre habe ich nicht vergessen. Irgendein junger, dynamischer, neuer SuperManager bei einem der Öl-Multis wird bestimmt wieder auf die Idee
kommen, das Überangebot an Tankstellen in Deutschland auf seine
Weise zu reduzieren. Wäre ja nicht das erste Mal. Und da schielen
diese gedrillten Superhirne dann immer auf den Mittelstand. Wenn
wir als diese Quälgeister nicht mehr wären, wäre für sie ihr Unternehmensziel, sprich Gewinnmaximierung, wesentlich leichter zu
erreichen. Immerhin geht es da um einen Marktanteil von etwa
25 Prozent in einem langsam immer weiter schrumpfenden Markt!
Aber bisher haben sie unsere Zähigkeit unterschätzt. Im Gegenteil,
es ist uns sogar gelungen, ihnen eine ihrer früheren Waffen, die
Gestaltung ihrer Abgabepreise an uns, stumpfer zu machen. Das
Kartellrecht hat der Bundestag zu unseren Gunsten geändert. § 20,
Abs. 4, GWB! Und das war am Ende des Gesetzgebungsweges eher
eine lustige Geschichte. Unser Berater, Professor und pensionierter,
ehemals leitender Jurist im Bundeskartellamt und der leitende Jurist
im Wirtschaftsministerium hatten sich bei einer Besprechung mit
dem verantwortlichen Federführer des Koalitionsausschusses, der
über mögliche Änderungen beschließen sollte, im Vorfeld der Bundestagsabstimmung ein gigantisches, juristisches Wortgefecht geliefert, bei dem es uns als beigeladenen Diskussionsteilnehmern immer
mehr die Sprache verschlug. Am Ende gab der Mann aus dem Wirtschaftsministerium klein bei und unserem juristischen Berater Recht.
Zumindest sah das für uns alle, als immer staunendere Zuhörer so
aus. Doch an dem von uns organisierten parlamentarischen Abend,
nachdem die Gesetzesänderung zu unseren Gunsten beschlossen
worden war, standen die beiden, schon leicht alkoholisiert, einträchtig beieinander und umarmten sich lachend.
171
„Diesen politischen Wichtigtuern haben wir mal wieder richtig gezeigt, was eine Harke ist!“
Beide waren sich offensichtlich schon vor ihrem Zusammentreffen einig gewesen, dass man uns „armen“ Mittelständlern unbedingt helfen müsse. Und ihre ganze Redeschlacht war somit ein klug
ausgedachtes, abgekartetes Schauspiel zu unseren Gunsten gewesen,
mit dem sie diese Volksvertreter überzeugt hatten. Und mit leisem
Stolz kann ich sagen, dass ich es gewesen bin, der dieses beinahe irreale und letztlich alles entscheidende Zusammentreffen der beiden
geschafft hatte. Überhaupt diese ganze Tätigkeit für den Bundesverband freier Tankstellen. Vor mehr als elf Jahren bin ich da in den
Vorstand gewählt worden. Damals ein bisschen gefürchtet oder verschrien als Kritiker aus dem Publikum und eher als Kompromisskandidat, weil die damaligen Vorstandsmitglieder untereinander total
zerstritten waren, keiner von ihnen mehr dem anderen traute und
sogar ernsthaft ein Zerbrechen des Verbandes drohte. Immerhin
geht es da aber auch um ein bisschen leicht verdientes Geld für mein
Benzin-Kontor, aber das habe ich wirklich erst nach meiner Wahl
bemerkt. Und dieser Gedanke sitzt eher im Langzeitgedächtnis. Ist
die eigentliche Tätigkeit doch rein ehrenamtlich. Nein, es macht einfach riesigen Spaß, Politiker kennen und beeinflussen zu lernen und
ihnen die Situation und die Wichtigkeit des Mittelstandes, von der
sie Sonntags so gerne reden, nahe zu bringen. In dieser Spezies zwischen klug und ehrgeizig und dumm und ehrgeizig unterscheiden zu
lernen, sich in ihre Ängste um den Erhalt ihres Mandats nach den
nächsten Wahlen hinein zu denken, ist jedes Mal ein Erlebnis. Jedenfalls ist es für mich bis heute so interessant und spannend, dass ich
durch aus gewillt bin in 2011 noch einmal zu kandidieren und noch
einmal drei Jahre anzuhängen. Das wäre dann bis 2014. Dann kann
ich auch weiterhin mein „Grob gesagt“ für unsere Verbandszeitschrift schreiben. Und mein Ziel ist es, mein Benzin-Kontor zumindest bis dahin noch selbst verantwortlich weiter zu betreiben. Wenn
möglich auch noch ein bisschen länger. Aber das wird wohl sehr
172
stark davon abhängen, wie stark vor allem mein Geist und wie stark
mein Körper dann noch sein werden.
„Wir werden es erfahren,“ wie Ralph immer so schön gesagt
hat. Und natürlich hoffe ich sehr, dass diese Erfahrung dann auch
positiv sein wird.
Ende August sind Horst und ich ein erstes Mal mit unserer Gruppe
„Gay&Gray“ dann zu einem verlängerten Wochenende nach Erfurt
gefahren. Wir haben die Wartburg besucht, Horst hat dort vergeblich nach Luthers Tintenfleck gegen den Teufel gesucht und wir
waren beeindruckt von der unerwarteten Schönheit der Stadt Erfurt
und sind der Pflicht nachgekommen, die Goethestadt Weimar zu besichtigen. Es ist schon eine seltsame, irgendwie etwas merkwürdige
Truppe schwuler, sagen wir es freundlich, älterer Männer, die sich da
ansonsten einmal in der Woche im Sub in der Müllerstrasse trifft.
Eine Mischung von alten Männern, die ihr Leben lang offen schwul
gelebt haben, einige, denen man ihre Veranlagung kilometerweit
ansieht und die auch immer noch Wert darauf legen, dass man sie
ihnen ansieht, bis hin zu ehemals verheirateten Männern, die auf ihre
alten Tage nun ihre lange verdrängten, schwulen Träume noch auf
den letzten Drücker auszuleben versuchen. Bloß auf die Schnelle
funktioniert das nicht. Einige von ihnen sind sogar immer noch
verheiratet. Und obwohl all diese Männer ganz offensichtlich das
Bedürfnis nach Nähe haben, existiert doch eine merkwürdige Distanz zwischen ihnen, ja zwischen einigen mit ihren schwurbeligen
Ansichten sogar offene Abneigung gegeneinander. Mit einigen haben wir versucht, etwas näher in Kontakt zu kommen, vor allem,
weil Horst sie ja nun schon über viele Jahre kennt. Wir haben sie zu
mir zum Essen oder zum Kaffee eingeladen und sind gelegentlich
von ein paar von ihnen auch wieder eingeladen worden. Aber irgendwie besonders herzlich oder näher ist das Verhältnis praktisch
zu keinem geworden. Mag sein, dass es auch daran liegt, dass ich
arbeite und während der Woche keine Zeit für irgendwelche gemeinsamen Unternehmungen habe. Jedenfalls, wenn ich ganz ehrlich sein
173
soll, würde ich keinen von ihnen jemals vermissen. Ja und so gehen
Horst und ich fast regelmäßig einmal in der Woche an den Montag
Abenden dorthin und sind, ehrlich gesagt, eher froh, wenn es wieder
vorbei ist.
Überhaupt dieser Horst Hamann, dieses kleine, runde, ewig
in Bewegung befindliche Energiebündel. Sein Alter, seine gut über
achtzig Jahre sieht man ihm nicht nur nicht an, man kann sie wirklich nur ganz, ganz selten spüren. Und wir kommen uns so langsam
immer näher. Freitag Abend bis Sonntag Abend sind nun unsere
gemeinsamen Tage. Ich hätte inzwischen absolut nichts dagegen,
wenn er ganz bei mir einziehen würde. Aber er liebt sein hübsches
Appartement in der Klugstrasse einfach zu sehr. Und für seine ewigen, für mich eher sinnlosen Aktivitäten in der Stadt ist es natürlich
auch viel verkehrsgünstiger gelegen als die Pretzfelderstrasse. Also
wird es wohl auch in Zukunft so bleiben. Wahrscheinlich ist das
auch ganz gut so. So kommen wir jedenfalls nicht in die Gefahr, uns
gegenseitig irgendwann auf die Nerven zu gehen. Er kann seine
überschüssigen Kräfte tagsüber in der Stadt ausleben und ich kann
abends so lange in der Firma arbeiten, wie ich es für notwendig halte. Ja, es macht inzwischen schon richtigen Spaß, mit ihm zusammen
zu sein. Ihn, diesen ausgeprägten Langschläfer, morgens um sieben
Uhr zu wecken und ihn völlig verschlafen an den gedeckten Frühstückstisch tapsen zu sehen. Ihm am Vormittag bei seinen Geschichten rund um sein Leben in Afrika zuzuhören, ihm manchmal Dinge
zu erklären und ab und an auch vorsichtig seine sehr vereinfachenden Ansichten zu korrigieren. Wenn er mir nach vielem wenn und
aber schließlich irgendwie doch zuhört. Ganz so einfach ist das
manchmal nicht. Aber selbst das habe ich inzwischen ganz gut gelernt. Man muss nur einfach etwas Geduld mit ihm haben. Und ich
habe auch begriffen, dass mir dieser kleine Egoist wirklich schon ans
Herz gewachsen ist.
Ein zweite Mal im Juli und dann ein drittes Mal am 10. Dezember, zu Ralphs 86. Geburtstag habe ich Kopenhagen sein und
Ruths Gräber und das seiner Eltern besucht. Oh ja, diese beiden
174
Oppenhejms bleiben jedenfalls unauslöschlich in mir! So albern es
auch klingen mag, aber dieser jüdische Friedhof ist mir inzwischen
regelrecht ans Herz gewachsen. Ich kann dort endlose Stunden verbringen, in denen vor allem Ralph und ein bisschen auch Ruth mir
ganz nah sind. Von Kopenhagen selbst habe ich beide Male eigentlich nur noch den Flughafen gesehen. Ist ja auch niemand sonst
mehr da, den ich unbedingt besuchen möchte. Aber es ist schließlich
auch nicht die Stadt, die ich besuche, obwohl ich noch sehr viele
schöne Erinnerungen an sie habe.
Kurz nach diesem Dezemberbesuch in Kopenhagen sind
Horst und ich dann noch mit zwei von Horsts alten Bekannten, Peter und Klaus, für eine Woche nach Gran Canaria, zur Playa del Ingles geflogen. Es war ursprünglich unsere Idee gewesen. So, wie ich
es früher mit Ralph gemacht hatte, um dem alljährlichen Weihnachtsrummel zu entgehen und wir hatten den beiden dummerweise
davon erzählt. Sie waren spontan hell begeistert von dem Gedanken
und wollten unbedingt mit uns kommen. Besonders klug mit ihnen
zu reisen war das, im Nachhinein betrachtet, allerdings nicht.
Schließlich sollte man doch immer zu Kompromissen bereit sein. Im
Prinzip eigentlich keine besonders schwere Aufgabe. Aber wenn
einer der vier, in diesem Fall Klaus, von ganz etwas anderem träumt,
nämlich von dem angeblich so ungezügelten Sexleben in den Dünen
der sogenannten Schweinebucht, es uns gegenüber aber nicht offen
auszusprechen wagt und dann meist nur lustlos und schweigend mit
uns trottet, ist es auch für die anderen drei kein wirkliches Vergnügen mehr. Vor allem für seinen Lebenspartner Peter war es sicher etwas unangenehm. Und so haben wir nach ein paar Tagen, außer den
abendlichen Barbesuchen, praktisch nichts mehr gemeinsam mit den
beiden unternommen. Hoffentlich hat der arme Klaus sich dann in
der Schweinebucht all das geholt, wovon er schon zu Hause geträumt hatte. Halt stopp! Nur fast nichts mehr, denn am vorletzten
Tag unseres Urlaubs haben wir uns einen Wagen ausgeliehen und
sind zu viert in die wunderschönen, malerischen Berge dieser Insel
hinein gefahren. Auf die andere Seite dieser wunderschönen Insel
175
wollten wir. Allerdings wurde es ein Horrortrip für meinen Freund
Horst. Seine Flugangst kenne ich inzwischen ja schon zur Genüge.
Aber dass ihn auch auf Bergstraßen, auf deren Serpentinen, auch
solch panische Ängste packen, wusste ich bisher noch nicht. Er wurde blass und blässer. Wir mussten die Fahrt schließlich abbrechen
und schnell wieder in die Ebene zurück. Also werde ich so etwas
künftig bestimmt nicht mehr mit ihm versuchen. Und wahrscheinlich werden wir es künftig auch unterlassen, mit irgendwelchen Bekannten von Horst gemeinsam in Urlaub zu fahren. Zumindest sollten sie offener sein und vor allem sollten wir sie und vor allem ihre
speziellen Wünsche schon vor dem Reiseantritt doch besser kennen,
um uns dann in Ruhe entscheiden zu können.
Ja, und dann in der Silvesternacht zu 2011 ging es ein zweites
Mal mit Horst zusammen wieder in diese neue Teddybar. Dieses Mal
voller Vorfreude und ohne vorheriges Jammern von Horst. „The
same procedure as every year“, sagte er bestens gelaunt. Und in seiner ausgelassenen Stimmung verlor Horst dort dieses Mal bei einer
seiner Posen für sein Publikum sogar sämtliche Hemdknöpfe und
kokettierte da vergnügt den Rest der Nacht mit seinem offenem
Hemd. Oh ja, drei Jahre nach Ralphs Tod ist es für mich wieder ein
ziemlich normales, fast ebenso positives Leben wie zuvor geworden.
Mit ein paar kleineren Tiefen zwischendurch noch, aber es gibt auch
wieder Höhen, so wie in all den wunderschönen Jahren zuvor, gemeinsam mit Ralph! Insgesamt war es wieder ein sehr schönes und
sehr rundes Jahr. Wie ich denke, sicher auch für Horst. Und so
denke ich, wir sind schon mitten im meinem fünften Lebenskapitel
angelangt. Mit dem Niederschreiben meiner Befindlichkeiten werde
ich deshalb jedenfalls erst einmal aufhören. Zu viel ist schließlich
auch nicht gut. Vielleicht, aber nur ganz vielleicht werde ich versuchen, demnächst einen Kriminalroman zu schreiben. Eine Idee und
einen, nein sogar mehrere passende Mörder und den Aufklärer dazu
hätte ich immerhin schon. Mal sehen, ob irgendwann dann auch
etwas daraus wird!
176
VIII.
Die Idee eines Kriminalromans geistert nun schon seit fast zwei
Jahren in meinem Kopf herum. Etwas mehr als dreißig Seiten dazu
habe ich inzwischen sogar schon geschrieben, aber zufrieden bin ich
damit irgendwie überhaupt nicht. Nein, diese Geschichte ist mir bisher noch etwas zu einschichtig und irgendwie auch noch zu durchsichtig. Ich müsste mir einfach etwas mehr Zeit dafür nehmen und
wahrscheinlich noch einmal ganz von vorn anfangen! Aber jetzt ist
einfach nicht die richtige Zeit für so etwas, denn andere Dinge sind
jetzt wichtiger. Dieses Gefühl, wieder schreiben zu müssen, ist wieder in mir. Denn nach einem ruhigen, ja ausgesprochen harmonischen Jahr 2011 ist das Jahr 2012 zu einem regelrechten Horrorjahr
für Horst geworden. Mein Baby, mein Benzin-Kontor habe ich mit
einem neuen Lieferanten mit russischem Hintergrund ausstatten
können und mein junger Prokurist Volker Graul mausert sich zu einem tollen Kollegen. Vielleicht ist er ja der Richtige, um mein Baby
einmal zu übernehmen. Die Politik mit ihren manchmal unsinnigen,
populistischen, unendlich dummen Forderungen erforderte in der
Verbandsarbeit unsere Gegenwehr als Branche. Ein Wirtschaftsminister Rösler, der als Privatmann wahrscheinlich nicht einmal in der
Lage wäre, eine private Arztpraxis zu führen, hatte eine Schnapsidee,
von der er glaubte, dass sie ihn endlich populär machen würde. Hat
sie aber nicht. Immerhin mehr als die Hälfte seines neuen bürokratischen Blödsinns einer Markttransparenzstelle haben wir verhindern können. Dazu ein vor Eitelkeit fast platzender bayerischer
FDP-Wirtschaftsminister Zeil, der, so wie ich ihn kennen gelernt habe, genau so unfähig ist. Nur, da er weder bei meiner wiederholten,
erneuten Kontaktsuche noch sonst in der Medienwelt überhaupt
vorkommt, wage ich das nicht endgültig zu beurteilen. Beides Freie
Demokraten, die es mir unsinnig erscheinen ließen, für diese Partei
noch länger aktiv zu sein. Eine meiner Kunstfiguren aus früheren
Jahren, Kokoschinsky, fiel mir da wieder ein:
177
Kokoschinsky war schlau
Und ging in die Politik.
Oft zeigte er seiner Frau
Jedes Prozent als persönlichen Sieg.
Bald schon war er im Parlament.
Hinterbänkler, wie man es nennt.
Und was man zur Genüge kennt:
Er hat manche Sitzung verpennt.
Jedenfalls löckte er nie
Gegen den Stachel der Leiter.
Und keiner weiß genau wie,
Jedenfalls kam er schnell weiter.
Die Chefin, die konnte ihn brauchen.
Der kriegt jetzt ein Ministeramt.
Den kann ich in der Pfeife rauchen
Und außerdem ist er charmant.
Da war er platt
Und völlig hingerissen.
Selbst das Gehalt war satt.
Doch was müssen Minister wissen?
Eigentlich nichts oder wenig.
So ist es immer gewesen.
Drum blieb Kokoschinsky auch tränig.
Das war bald in der Presse zu lesen.
Die Prozente schrumpften rasant
Und die Neuwahl wurde zur Pleite.
So wurde sein Posten vakant
Und er suchte schleunigst das Weite.
178
Einen ganz besonderen Reiz,
Sagte er seiner Frau ganz leise,
Hat für uns ab jetzt die Schweiz.
Denn seine Karriere war kurz und nur Sch....!
Ich habe ziemlich lange darüber nachgedacht, wo bei diesen beiden
Herren die Grundidee des Liberalismus geblieben ist. Aber am Ende
ist mir der Austritt aus der FDP nach so vielen Jahren ehrlichen Engagements sogar viel leichter als gedacht gefallen. Aber das ist fast
schon zur Nebensache geworden, als zudem noch mein privates Leben, mein immer engeres Zusammenrücken mit Horst in diesem
Jahr in zunehmendem Maße aus den Fugen geraten ist.
Letztes Jahr noch haben wir an seiner Biographie geschrieben und
sie in Buchform erscheinen lassen. Zugegeben, es war ein teilweise
ziemlich mühevoller Prozess für den armen Horst, all seine Erinnerungen da mit mir zusammen zu Papier zu bringen. Über Monate
sind wir jedes Wochenende stundenlang an meinem PC gesessen. Er
hat erzählt, ich habe geschrieben, nachgefragt, formuliert und korrigiert. Es war sicher nicht immer leicht für ihn. Über seine traurige
Kindheit und seine verlorene Jugend zu erzählen hat alte Wunden
bei ihm aufgerissen, obwohl er so etwas ungern zugibt. Aber als das
Buch schließlich gedruckt vor ihm lag, war er glücklich und hat es
voller Stolz an seine Freunde und die Bekannten verteilt, die ihm
etwas bedeuten!
Noch im März waren wir auf Kosten der FDP in Berlin und
mit Ludmila zusammen haben wir im Juni eine Woche Wellness in
Bad Füssing genossen. Dazu hatten die beiden mich überredet. Ludmila generös das Einzelzimmer fordernd, weil ihr Mann doch angeblich so laut schnarche. Das erste Mal in meinem Leben, dass ich
mich massieren ließ. Allerdings tat mir der Rücken dann immer nach
der Massage weh. Darauf werde ich bei einem möglichen nächsten
Mal ganz sicher verzichten.
179
Später dann waren Horst und ich ein zweites Mal in Israel.
Das Land hat es ihm inzwischen sehr angetan. Wir haben Schlomo
und dessen Frau Shula wieder besucht, die für uns eine richtig kleine
Party mit Gästen zu irgend einem jüdischen Feiertag veranstaltet
hatten. Dieses Mal war die ganze Reise mit Horst sogar ausgesprochen harmonisch. Kein Drama, kein Krankheitsanfall. Wir haben
diesmal mit dem Bus zusätzlich auch Haifa besucht. Haifa wegen
seiner traumhaft schönen Bahai-Gärten. Vor der geplanten Führung
die siebenhundert Treppen hinab bis zu dem in deren Zentrum gelegenen Bahai-Tempel, hatte er zunächst Bedenken. Wie so oft zuerst sein „ja“, dann sein „glaubst du, dass ich es kann“ und dann sein
„ich kann das nicht!“ Aber als er die Gruppe der Touristen betrachtete, die auch an der Führung teilnehmen wollten, war er doch überzeugt. „Natürlich schaffe ich das auch!“ Und nicht nur das hat er
mühelos geschafft. Wir sind dann sogar noch die übrigen siebenhundert Treppen bis ganz hinunter zum Hafen, an der „German
Colony“ vorbei, gelaufen und mit der lustigen U-Bahn, dem „Karmelit“ wieder hinauf zu unserem Hotel, mit dem herrlichen Blick
hinunter auf den großen Übersee-Hafen, gefahren. Diese Bahai-Gärten in Haifa sind wirklich fast unwirklich schön. Ohne irgendwelche
staatlichen Zuschüsse werden sie von den weltweit verstreuten Anhängern dieser Glaubensgemeinschaft unglaublich gut in Schuss gehalten. Der Glaube der Bahai ist vor etwa einhundertfünfzig Jahren
aus dem Islam entsprungen. Und genau deswegen werden diese absolut friedlichen Menschen im Iran als Ketzer noch heute bis hin zur
Todesstrafe verfolgt. Für mich Bestätigung und nur ein weiteres
Beispiel dafür, was für schäbige Kreaturen all diese Religionen aus
uns Menschen machen können! Bei einem späteren Besuch des zwischen Hügeln gelegenen Tiergartens haben wir uns dann hoffnungslos verlaufen. Denn als wir genug gesehen hatten, hatten wir die
allergrößte Mühe, den Ausgang wieder zu finden. Wunderbar dann
auch der Ausblick von dem hoch über dem Meeresspiegel gelegenen
Observatorium. Oh ja, diese eher ohne erkennbares System in die
Berghänge gebaute Stadt ist etwas ganz Besonderes. Saftige Berghän180
ge, der Berg Karmel, auf dem angeblich einst schon der Prophet
Elias meditiert und gegen den Gott der Heiden, Baal, gewettert hat,
wenn er aus seiner Höhle kam und seine Schafe weidete.
In Jerusalem hatten wir diesmal durch Zufall unser Quartier
im palästinensischen Ostteil der Stadt, im American Colony-Hotel.
Das von uns gebuchte Hotel Ambassador war überbucht und so hat
man uns dort, schräg gegenüber, eingebucht. Ein toller Tausch! Der
reinste Luxus, mit Frühstück in einem zauberhaften Innenhof,
Swimming-Pool und einer Moschee gleich nebenan. Wenn der Mufti
dort um fünf Uhr früh krächzend vom Minarett aus seine Schäfchen
zum Gebet rief, hat Horst empört das Fenster geschlossen, das ich
dann ein oder zwei Stunden später wieder geöffnet habe, um meinen
morgendlichen Zigarillo zu genießen, während er noch schlief und
während die palästinensischen Straßenarbeiter mit fast vorsintflutlichen Geräten die Zufahrt zum Hotel zu verbessern versuchten. Zudem war in diesen Tagen gerade die Jerusalemer Straßenbahn fertig
geworden und die ersten vierzehn Tage kostenlos benutzbar. Natürlich haben wir das ausgiebig genutzt und sind bis zur Endstation
Yad Vashem gefahren. Yad Vashem, diese unheimlich beeindruckende, irgendwie deprimierende, ja niederschmetternde Gedenkstätte. den Theodor Herzl Gedächtnispark daneben, den jüdischen
Viktualienmarkt und natürlich die Altstadt haben wir besucht. Wieder drei oder vier Tage dort in der Altstadt zwischen all diesen Verrückten. Dort fand Horst seinen pfiffigen, griechischen Perlendreher
wieder. Einem jungen Amerikaner hat er in dem kleinen Laden dabei
so nebenbei zwei Halsketten verkauft. Fluchtartig hat der junge
Mann danach den kleinen Laden verlassen. Wahrscheinlich hatte er
Angst, Horst womöglich noch eine dritte Kette abkaufen zu müssen.
Den Weihnachtsabend haben wir dann sehr beschaulich zusammen
mit Ludmila in ihrer Wohnung verbracht. Ludmila, die immer mehr
für ihre Enkel lebt und mit der wir inzwischen, wenn sie denn Zeit
hat, gelegentlich nach dem Sonntagskaffee bei ihr Scrabble spielen.
Offensichtlich fast eine Sucht der beiden.
181
Und in das Jahr 2012 sind Horst und ich dann in einer
Kneipe, Cook oder Cock, in der Augsburger Straße sehr ausgelassen
hinein gerutscht, denn auch die Teddybar existiert inzwischen gar
nicht mehr. Die monatliche Miete in der Pestalozzistraße wurde dem
Betreiber Friedl zu viel. Und die Alternative Ochsengarten, die er
noch zu bieten hat, ist einfach zu versifft und zu finster. Schade,
denn für ältere Schwule gibt es damit wohl kaum noch einen Platz in
dieser Stadt, an dem sie in Ruhe ein Bierchen unter Gleichgesinnten
genießen können. Alles, ja alles schien für Horst und mich in Ordnung. Alles ging seinen gewohnten Gang und wir hatten unsere Reisepläne für das Jahr schon festgelegt. Zu Ostern wollten wir nach
Prag, in Ludmilas Wohnung. Aber eine Blasenentzündung und eine
nicht stattgefundene Harnröhrenerweiterung im Krankenhaus der
Barmherzigen Brüder vereitelten diese Reise, für die wir schon Busfahrkarten gekauft hatten. Wie schnell kann doch so etwas Unerwartetes passieren, haben wir gedacht. Und so haben wir beschlossen,
uns gegenseitig Generalvollmachten zu erteilen. Ludmila kam mit ins
Boot und so verfüge ich jetzt über zwei Vollmachten für den Fall
des Falles. Im Juli dann hatte Horst eine kleine Vernissage für seine
neuen Bilder in der Kanzlei unseres Anwalts Keller, bei der er –
Triumph – fünf oder sechs Bilder verkaufte. Doch da hatte schon
Horsts Kurzatmigkeit begonnen, immer kürzere, von mir fast erzwungene Spaziergänge mit ihm. Bis, ja bis ein Ereignis alles in ganz
neuem Licht erscheinen ließ. So hatte Horst den ganzen Sommer
schon darüber geklagt, dass er des öfteren einen schmerzhaften
Druck in der Brust verspüre, der ihm den Atem raube. Das ist bestimmt das Wetter, dieser etwas verrückte Sommer mit den über
dreißig Grad heißen, schwülen Tagen und den dann plötzlich über
Nacht einbrechenden Kälteschocks bei nur noch zwölf oder dreizehn Grad am nächsten Tag. Horst wollte das nicht glauben. „Ich
bin doch nicht plötzlich alt geworden“, beklagte er sich. Doch ein
Besuch bei einem Kardiologen und dessen gründliche Untersuchung
Ende August brachten schließlich Klarheit. Er hat es „am Herzen“,
wie es volkstümlich so schön heißt. Einen „Stent“ zur Erweiterung
182
seiner Arterien sollte er eingesetzt bekommen und vorher dürfe
Horst in kein Flugzeug mehr. Jedenfalls fiel damit auch die geplante
Reise nach Rom flach, für die wir ebenfalls schon gebucht hatten.
Das macht nichts. Wenn sie erst den Stent haben, können sie Ende
September problemlos nach Israel fliegen. Denn diesen Urlaub gemeinsam mit unseren Freunden Franz und Christian hatten wir auch
schon komplett gebucht. Diesmal auch See Genezareth. Aber der
Versuch, den Stent in der Müllerschen Klinik zu setzen, scheiterte.
Es war leider schlimmer. Denn seine Arterien waren dummer Weise
oberhalb des Herzens verengt und da passt kein Stent. Also schnell
Verlegung in die benachbarte Rinecker-Klinik. Horst brauchte ByPässe, um sein Herz wieder in den richtigen Rhythmus zu bringen.
Vier By-Pässe sind es am Ende der Operation dann geworden. Und
die Operation wurde von einem Dr. Kilian aus dem Team um
Dr. Lamm durchgeführt. Noch genau das selbe Team, das am 30. Januar 2008 Ralphs Operation im Augustinum durchgeführt hatte.
Das war für mich im ersten Moment fast so etwas wie ein böses
Omen, ja wie ein dunkler Schatten. Natürlich habe ich Horst nichts
von meinen dunklen Gedanken erzählt. Aber dann ist doch alles gut
gegangen. Besser, ja viel, viel besser als ich gedacht hatte. Schnell
kam Horst aus der Intensivstation wieder heraus! Und Horst ist
wirklich ein Kämpfer. Dort in der Klinik habe ich dann überraschend auch Herrn Dr. Lamm an Horsts Bett wieder getroffen. Länger als eine Stunde hat er sich mit uns in Horsts Krankenzimmer
über seinen Weg aus dem Augustinum in die Rinecker-Klinik unterhalten. Und plötzlich sprach er da auch wieder über Ralphs Herzoperation. So wie Dr. Lamm es schilderte, war diese Operation für
ihn so etwas wie ein Trauma geworden. Nie wieder Herzoperationen
mit der Herz-Lungen-Maschine, habe er sich anschließend an diese
Operation geschworen. Er habe schon sehr lange über Möglichkeiten getüftelt, wie man Herzoperationen bei schlagendem Herzen
und natürlicher Atmung vornehmen könne. Und er habe sie gefunden. Allerdings habe er sie dort im Augustinum nicht durchführen
dürfen und so habe sein Weg in die Rinecker-Klinik geführt. Hier sei
183
er jetzt Chefarzt und seine Methode ein echter, medizinischer Fortschritt, den seit neuestem nun auch das Augustinum selbst anwende.
Wieder ein seltsamer Zusammenhang zwischen Ralph und Horst.
Ralphs Operation führte zu einem totalen Umdenken bei Dr. Lamm.
Und seine neue Methode hat offensichtlich Horst das Leben gerettet. Manchmal schon sehr erstaunlich, welch unerwartete Überraschungen das Leben für einen so bereit hält!
Aus unserer dritten Reise in diesem Jahr, mit Franz und
Christian nach Israel wurde damit nun jedenfalls auch nichts mehr.
Sei es drum. Hauptsache Horst wird wieder richtig fit, haben wir gesagt. Nach Israel können wir ja auch nächstes Jahr wieder fliegen!
Und so wurde es stattdessen für Horst ein dreiwöchiger Aufenthalt
in einer Reha-Klinik, dem Reithof in Bad Feilnbach. Zwölf Tage davon habe ich dort sogar das Zimmer, Tag und Nacht mit ihm geteilt,
mit ihm zusammen die Mahlzeiten eingenommen und während er
sein Fitness-Programm absolvierte konnte ich an der Mangfall entlang wunderbar joggen. Er hat viel geschimpft und voller Verachtung dort jeden Tag in das Ergometer getreten. Doch am Ende dieser drei Wochen war er schon fast wieder der alte Horst, schlagfertig
und frech wie zuvor. Von seinem in der Rinecker-Klinik gefassten
Entschluss, nun endgültig und ganz mit mir zusammen zu ziehen,
machte er nach unserer Rückkehr aus Bad Feilnbach dann allerdings
einen halben Rückzieher. Das sei einfach zu kompliziert für ihn.
Aber zumindest die meiste Zeit wolle er in Zukunft mit mir in der
Pretzfelderstraße verbringen. Begeistert von diesem Rückzieher war
ich natürlich nicht gerade, denn ich hatte mich wirklich ehrlich gefreut und schon das hintere Zimmer unserer Wohnung für all die
Sachen leer geräumt, die er aus der Klugstraße mitbringen wollte.
Überhaupt die Beziehung zwischen Horst und mir! Sie ist
gewachsen und sie ist Stück für Stück leiser und inniger geworden.
Ralph würde staunen. Manchmal kann Horst sich zwar aufführen
und stur wie ein richtig dickköpfiger, kleiner Junge sein. Aber es gehört nun einfach mal zu seinem Naturell, sich mit Radikalvorschlägen zur Lösung der Probleme dieser Welt zu äußern. Aber seltsamer
184
Weise hat mich das von Anfang an überhaupt nicht gestört. Denn
wenn er erst einmal zur Ruhe kommt, ist er der fürsorglichste
Freund, den man sich überhaupt vorstellen kann. Er ist sogar, was
sich wohl sonst kaum jemand, der ihn nur so kennt, vorstellen kann,
ein feinfühliger und sehr sensibler Mensch. Und relativ schnell hatte
sich nach seiner Rückkehr aus Bad Feilnbach unser neues Zusammenleben eingespielt. Tapfer hat er sich von mir um halb sieben Uhr
morgens wecken lassen, um mit mir zu frühstücken, obwohl ihm das
schon etwas schwer gefallen ist. Danach legte er sich zwar noch
einmal hin. Aber tagsüber war er längst schon wieder mit allen möglichen Dingen beschäftigt, spulte im Wohnzimmer konsequent seine
sechs Kilometer auf seinem neu erworbenen Ergometer ab, hatte in
der Stadt dies und jenes zu erledigen und hatte schon sein erstes Bild
in der Pretzfelderstraße gemalt. Und jeden Abend, wenn ich aus
meinem Büro zurück kam, hatte ich schon ein schönes Abendessen
auf dem Tisch stehen. Schließlich ist er sehr stolz darauf, ein guter
Koch zu sein. Ich selbst, so qualifiziert er mich ab, sei ja nur ein
Pfannenkoch. Manchmal servierte er das Essen so schnell, dass ich
kaum noch dazu kam ein bisschen abzuspannen. Und obwohl Horst
gern viele Worte macht, waren wir dabei, uns in vielen Dingen fast
schon wortlos zu verstehen. Aber es wurde zu einem leider nur sehr
kurzen Glück.
Denn dann kam dieser schreckliche Montag, der 26. November
2012! Oh ja, das Leben kann wirklich ungerecht sein! Eigentlich war
es ein ganz normaler Tag. Ich war gerade dabei, unsere Tankstelle
Nummer 29 in Schondorf am Ammersee zu realisieren und war
frühmorgens dorthin gefahren. Am Nachmittag holte ich unseren
neuen Wagen, einen Toyota RAV 4, bei unserem Tankstellen-Partner Kolbeck in Großmehring ab. Zwei Wochen zuvor hatten Horst
und ich diesen Wagen dort Probe gefahren und Horst hatte sich
darin ganz wohl gefühlt. Also haben wir ihn gekauft und meine alte
Liebe, meinen PT Cruiser dort in Zahlung gegeben. Selbst Schuld
Chrysler, warum auch produzierst du dieses schöne Fahrzeug nicht
185
mehr weiter! Immerhin habe ich diese Modelle weit mehr als zehn
Jahre gefahren. Für den Abend hatten sich Horst und ich im neuen
Sub in der Müllerstraße zum Gruppenabend von Gay & Gray verabredet. Wie meistens üblich war es eher langweilig. Also sind wir nach
dessen Ende schnell nach Hause gefahren und haben zu Abend gegessen. Und während die Spätausgabe der Tagesschau lief und Horst
gerade noch über den neuen, ägyptischen Präsidenten Mursi in altgewohnter Manier geschimpft hatte, sank er plötzlich unvermittelt
vornüber auf den Esstisch. Während er plötzlich zu fabulieren begann, versuchte ich, ihn wieder aufzurichten. Aber das war kaum
noch möglich und zudem drohte er seitlich von seinem Stuhl abzurutschen. Es ist schon seltsam wie man in solch einer Situation reagiert. Der Schreck ist zwar da, aber man reagiert wie ferngesteuert.
112 ist die telefonische Notrufnummer. Horst mit einem Arm festhaltend habe ich sie, ohne überhaupt nachzudenken, gewählt. Und
es hat schnell geklappt. Kaum zehn Minuten später war der Notarzt
da und kurz darauf auch schon der Krankenwagen. Abfahrt ins Pasinger Krankenhaus, wo man mit einem aggressiven Blutverdünnungsmittel noch versuchte, den Blutpfropfen aus seiner Gehirnader
wieder heraus zu schießen. Als das nicht gelang, Weitertransport ins
Klinikum Großhadern. Erneutes Röntgen und dann die Hiobsbotschaft eines Dr. Sauter. Horst hatte einen schweren Gehirnschlag erlitten. Die rechte Hälfte seines Gehirns sei absolut tot und habe zusätzlich eine Einblutung und eine zunehmende Schwellung, die inzwischen drohe, auch die linke Gehirnhälfte zu zerstören. Was das
bedeute, müsse er mir ja nicht besonders erklären. Danach Horsts
Abtransport in die „Stroke Unit“ F 8 im 8. Obergeschoss dieses
fürchterlichen, architektonischen Labyrinths. Da ich an dieser Einquartierung auf keinen Fall teilnehmen sollte, habe ich meine Telefonnummern hinterlassen und mir um sechs Uhr morgens an der
Pforte ein Taxi rufen lassen. Sieben oder acht Stunden, in denen
deine Hoffnungen, deine innigsten Wünsche für ihn so nach und
nach immer deutlicher zerbrechen. Plötzlich ist da nur noch Leere in
dir. Was sollst du jetzt noch denken? Zu Hause habe ich geduscht
186
und bin in die Firma gefahren. In die Firma, um dort alles zu regeln,
denn ich wollte so schnell wie möglich zurück. Zurück nach Großhadern, um bei Horst zu sein! Da lag er nun in Windeln in einem
Zweibettzimmer auf der Intensivstation, mit Infusionsschläuchen in
der Nase und im Arm, einem Blasenkatheder und an einen Monitor
angeschlossen. Halb im Koma, aber dazwischen auch mit erstaunlich
hellen Momenten. Er erkannte mich zwar sofort, aber er begriff
überhaupt nicht, was mit ihm da geschehen und wo er war. Sein
linker Arm und sein linkes Bein waren total gelähmt. Immerhin, die
Blutung in seinem Gehirn hatte aufgehört und auch die Schwellung
im Zentrum war nicht weiter fortgeschritten. Drei Tage wanderte er
so auf einem schmalen Grad zwischen Leben und Tod. Und in meinem Gehirn begann es zu rumoren. Was ist wohl das Beste für deinen Horst? Sollst du ihm denn überhaupt noch wünschen, dass er
diesen grauenhaften Schlaganfall überlebt. Was wird er dann denn
noch vom Leben haben? Die Prognosen der Ärzte klangen jedenfalls
ziemlich düster. Und mit all deinen, die wildesten, Purzelbäume
schlagenden, Gedanken bist du jeden Abend halb betäubt und leer
wieder aus dem Krankenhaus nach Hause gefahren. Weg mit all diesen düsteren Gedanken, hast du schließlich beschlossen. Horst soll,
ja er muss leben! Egal wie es werden wird, du brauchst ihn doch inzwischen genau so, wie er dich jetzt braucht! Nein, es darf nicht einfach vorbei sein! Auf jeden Fall wirst du ihm beistehen, so gut du
kannst und alles für ihn tun, was möglich ist! Und siehe da, nach vier
Tagen begann die Schwellung in seinem Kopf endlich leicht zurück
zu gehen. Und endlich, nach zehn Tagen war sein Zustand so weit
stabilisiert, dass er am 7. Dezember zur Früh-Reha in die Schön-Klinik in Bad Aibling gebracht werden konnte. Die Schön-Klinik, ein
sehr gelungen in die hügelige Landschaft integrierter Rundbau. Im
Rettungswagen, an einem Tag, noch dazu bei dem bisher einzigen,
heftigen Schneetreiben in diesem Winter und einer verstopften Autobahn war das für Horst ein neuer Schreck. Wo er doch schon bei
ganz normalen und täglichen Autofahrten nicht unbedingt ein ruhiger Beifahrer ist. Und so verging der letzte Monat des Jahres für
187
mich mit täglichen Autofahrten an den Stadtrand von Bad Aibling.
Seine Rekonvaleszenz ging irrsinnig langsam voran. Aber sie ging
immerhin voran. Jeden Tag ein Millimeter sind nach zehn Tagen
auch ein Zentimeter. Nach fast einem Monat künstlicher Ernährung,
am 23. Dezember, durfte Horst ein erstes Mal wieder selbst etwas
Nahrung zu sich nehmen. Zum Trinken sollte die Nasensonde allerdings noch bleiben. Aber die hatte er sich in der Nacht zum Heiligen Abend selbst entfernt. Ein ekelhaftes, wohl über einen Meter
langes Ding, das bis in den Magen hinunter reichte. Wie er es geschafft hat, daran konnte er sich allerdings nicht mehr erinnern.
Doch da während der Weihnachtsfeiertage kein entscheidungsbefugter Arzt in dieser Klinik zur Verfügung stand, ließen die Pflegerinnen ihn zwangsläufig eben selbst trinken. Und siehe da, in kleinen
Schlückchen zwar, aber auch das funktionierte wieder einigermaßen.
Ein erster, zwar noch kleiner, aber enorm wichtiger Etappensieg für
ihn! Weihnachten, Silvester, Neujahr. Das alles rauschte bei frühlingshaftem Wetter einfach so an uns vorbei. Ein paar Amateurauftritte im Eingangsbereich der Klinik. Es war fast so, als würde das
alles überhaupt nicht stattfinden. Langsam, sehr langsam ging es für
Horst voran. Selbst kleine Dinge, wie das Drehen des Kopfes, das
nach vorne beugen des Oberkörpers, das rechte Bein anwinkeln
oder strecken, mit seiner rechten Hand halten oder loslassen, das
alles musste er langsam erst wieder lernen, musste sich wieder in seinem Gehirn einprägen. Alles objektiv kleine, mühsam erkämpfte,
aber enorm wichtige Erfolge in seinem wirklich mehr als tapferen
Kampf. Horst ist ungeduldig. Es quälte ihn enorm, dass seine linke
Körperhälfte gelähmt ist, dass er immer noch Windeln trug und
diesen verdammten Blasenkatheder hatte, dass er den Kommandos
anderer, fremder Menschen Folge leisten sollte. Er, der doch so gerne alles selbst bestimmt. Aber das war im Moment nicht so wichtig.
Wichtig war letztlich nur eines: Horsts Wiedergenesung! Es würde
wohl seine Zeit dauern. Aber es ging, wenn auch langsam, voran!
Und in 2013 wird er wieder zu Hause sein! Dessen war ich mir inzwischen ganz sicher. Nicht mehr in der Klugstraße, das würde,
188
wenn ich es richtig einschätzte, zumindest die ersten Monate schon
rein technisch nicht gehen, sondern mit mir zusammen in der Pretzfelderstraße. Darauf freute ich mich – und zwar ganz ehrlich! Aber
natürlich machte ich mir auch Gedanken, wie das Ganze wohl werden würde. Am besten einfach nicht groß daran denken. Lasse es
einfach auf dich zukommen, dann würde es schon irgendwie werden!
Inzwischen war es fast schon Mitte Januar geworden. Und
ich hoffte, dass es ein Jahr nicht nur neuer Hoffnungen, sondern
auch ein Jahr erfüllter Hoffnungen, vor allem für Horst werden würde! Begonnen hatte es damit, dass ich Horsts Umzug in die Pretzfelderstraße Schritt um Schritt realisierte. Die zunächst wichtigsten
Schritte, Sozialbürgerhaus und AOK waren schnell und problemlos
geschafft. Immerhin kann Horst wieder selbst unterschreiben. Aber
auch Horst selbst kam Schritt für Schritt wieder vorwärts. Auch
wenn es nur winzig kleine Schritte waren. Endlich nach fast fünfzig
Tagen und einer leichten Harnröhrenentzündung war er endlich sein
Blasenkatheder losgeworden. Zwar klappte das Urinieren in die Flasche eher noch selten, aber es war eine deutliche Erleichterung für
ihn. Dass man das nach so vielen Tagen wieder neu lernen muss,
wusste ich bis dahin auch nicht. Für jemanden, der einen solch heroischen Kampf noch nicht begleitet hat, mag es ziemlich albern
klingen. Aber ich empfand Glücksgefühle, wenn sein Urin in der
Flasche, der Stuhlgang in der Pfanne landete oder Horst fünf Minuten ohne große Hilfe auf der Bettkante saß. Auch seine geistige Anwesenheit hielt von Tag zu Tag länger. Nach den täglichen vier oder
fünf Anwendungen war er allerdings ehrlich dann so erschöpft, dass
er fast schon eingeschlafen war, wenn ich mich so nach halb sieben
Uhr abends von ihm verabschiedete. Inzwischen war der Winter mit
massiven Schneefällen ein- oder ausgebrochen. Teilweise wurden es
ziemlich mühselige Fahrten nach Bad Aibling. Aber es machte mir
nichts aus, ich wollte täglich, wenigstens halbtags, bei Horst sein. Ich
denke schon, dass ihm das Mut machte. Tapfer ist er ja ohne Zweifel, aber er war zunehmend unzufrieden und unglücklich über seine
189
Situation. Die Anwendungen waren es nicht, die ihn unzufrieden
machen, die akzeptierte er und da wollte er ja auch wirklich vorwärts
kommen. Es war die mangelnde Betreuung durch das absolut überforderte Pflegepersonal. Drei oder vier Pflegekräfte für mehr als
dreißig Frühreha-Patienten, zuständig für alles, inclusive Ausgabe
der Essen, Überwachung, dass gegessen wird und Abräumen des
Geschirrs. Das scheint mir objektiv zu viel und dabei kommt dann
der unterschiedliche Charakter dieser Menschen zur Geltung. Bei einigen merkte man, dass es ihre Berufung ist. Sie waren nett, mitfühlend und gingen rührend auf ihre Pfleglinge ein. Aber einigen merkte
man doch an, dass es für sie nur ein Job wie jeder andere ist, den es
galt, möglichst schnell zu bewältigen. Dann wurde eben behauptet,
die Windel sei noch trocken und schnell wieder zugemacht, obwohl
sie nass war. Dann blieb der Patient eben ein paar Stunden länger in
seiner nassen Windel liegen. Und ihm den Hintern noch einzucremen, dafür war dann offensichtlich schon überhaupt keine Zeit
mehr. So hatte Horst plötzlich ein stark gerötetes Hinterteil, das ihm
nach längerem Sitzen im Rollstuhl zunehmend Schmerzen bereitete.
Schon klar, dass er dann nervös und zunehmend unkonzentrierter
wurde. Aber wie konnte ich das ändern? Immerhin hatte ich inzwischen erreicht, dass er alleine im Zimmer essen durfte, wenn ich anwesend war. Das dauerte natürlich etwas länger, aber wir hatten ja
genügend Zeit. Zeit, um auch etwas zu mogeln, da er all die durchpassierte Kost nicht mochte. Und es nahm ihm ein bisschen das Gefühl, hinten in der engen Essecke nur schnell, schnell vollgestopft zu
werden, obwohl er weder Hunger noch Durst verspürte. Er aß ohne
jeglichen Appetit und er war schon deutlich abgemagert. Und er
trank viel zu wenig. Mehr als vierzehn Änderungen im Zusammenhang mit Horsts Wohnungswechsel hatte ich inzwischen schon erledigt. Da merkt man schnell, wie kurz der Tag ist und wie wenig
man an einem Tag, noch dazu zwischen Horst und Büro erledigen
kann. Dann nach dem 20. Januar ein erschreckender Rückschlag.
Horsts Resturin in der Blase war angeblich zu hoch, er bekam von
der nicht unbedingt besonders kommunikativen Oberärztin Dr.
190
Steinlein erneut ein Blasenkatheder verordnet, gegen das ich mich
zur Wehr setzte. (Später erfuhr ich durch einen Versprecher von der
Assistenzärztin, dass man ihm noch dazu offensichtlich ein falsches
Medikament verordnet hatte.) Die zwei Tage später hinzu gezogene
Urologin bestätigte dann meine Auffassung. Der Katheder musste
schnellstens wieder entfernt werden. Doch mit Einmalkathedern,
mit denen sie Horsts Resturin aus der Blase entfernen wollten, verletzen die damit offensichtlich überforderten Pflegerinnen und Pfleger auch noch seine Harnröhre. Horst pinkelte Blut und zog sich erneut eine Infektion der Blase zu. Praktisch genau zwei Monate nach
seinem Schlaganfall bekam er regelrechte Krämpfe und eine Art
Schüttelfrost, dazu Fieber und er begann zu phantasieren. Eine regelrechte Katastrophe! Zwischen Traum und Wirklichkeit konnte er
kaum noch unterscheiden. Ja, er begann zeitweise in einer Traumwelt zu leben. Plötzlich hatte er fürchterliche Angst, wahnsinnig zu
werden, wurde depressiv, für meine sachlichen Argumente kaum
noch ansprechbar und er begann seine Träume und die Realität unentwirrbar zu vermischen. Ein bitterer Rückfall! Da wurde mir klar,
es gibt nur einen einzigen Weg, ihn wieder zu einem ruhigen und
selbstbewussten Menschen werden zu lassen, der er immer war. Er
musste einfach schnellstens nach Hause zurück. Hier zu mir in die
Pretzfelderstraße, Nummer 2, die er ja schon gut genug kennt. Und
das habe ich dann, wenn auch mit Ärger und Drohungen, so schnell
wie möglich durchund in die Tat umgesetzt.
Aber gut zwei Wochen hat es dann doch noch gedauert. Am
7. Februar ist es endlich so weit. Zumindest diesen Schritt haben wir
also geschafft! Horst wird bei Schneetreiben mit Blaulicht und völlig
entnervt in sein neues, ihm ja wohl bekanntes, neues Heim in der
Pretzfelderstraße gebracht. Und noch einmal wird mir die mangelnde Pflege der Klinik vor Augen geführt, als der ambulante Pflegedienst ihn frisch macht und reinigt. Apis, ein ambulanter Pflegedienst, hier aus der Limesstraße. Dessen Chefin, Helga Buysan, eine
kräftige, kompakte, sehr direkte und sehr sympathische Person, ist
zumindest leicht entsetzt. Und als unser Hausarzt, Herrn Dr. Karl
191
Beck, die Medikation der Schönklinik durchsieht, erfahren wir, dass
Horst in Bad Aibling ganz offensichtlich mit Medikamenten „ruhig“
gestellt wurde.
„Wenn du oder ich diese Medikamente bekommen hätten,
dann wüssten wir auch nicht mehr, wo oder wer wir sind!“
Das erklärt mir so einiges an seinem Verhalten dort in Bad
Aibling im Nachhinein wesentlich besser. Und Horst erholt sich
enorm schnell. Schon nach der ersten Nacht weiß er wieder genau,
wo er ist. Natürlich gibt es hier in der Pretzfelderstraße einige, nicht
unwesentliche, Umstellungen. Mein altes Reservebett habe ich in das
sogenannte Ankleidezimmer rücken lassen. Dort schlafe ich jetzt. So
lange jedenfalls, das habe ich Horst versprochen, bis wir wieder
unser Doppelbett im Schlafzimmer gemeinsam benutzen können,
wenn er wieder so weit ist. Mit Wanda haben wir eine polnische Betreuerin für Horst engagiert, die das hintere Zimmer, nun ausgestattet mit dem Mobiliar aus Horsts Appartement aus der Klugstraße,
bewohnt. Horst selbst schläft in dem kleinen Zimmer, mit dem
japanischen Wächter im Fenster, in einem Pflegebett. Die Wohnung
ist längst Barriere frei. Horst hat neben seinem Pflegebett einen
Rollstuhl, einen Toilettenstuhl und einen Duschstuhl, den er allerdings noch nicht ein einziges Mal benutzt hat. Den Kunststoffrahmen um die Dusche habe ich zwar entfernen und durch einen
Vorhang ersetzen lassen. Aber der Fußtritt in die Dusche ist noch zu
hoch, um ihn ohne größeres Risiko in die Duschkabine zu hieven.
Das Urinieren in die Bettflasche funktioniert nach und nach immer
besser, auch den Toilettenstuhl benutzt er inzwischen fast schon
regelmäßig, obwohl der Transfer da hinauf, ihn, Wanda und mich
schon noch gehörig Kraft kostet. Aber der Stress um Horst herum
ist doch noch enorm. All die wenig spektakulären Dinge sind es, die
unendlich viel Zeit kosten. Die endgültige Auflösung des Appartements in der Klugstraße, das Beschaffen von diesem oder jenem
Rezept, das dann womöglich sogar noch einmal geändert werden
muss. Ich weiß nicht mehr genau, sind es nun zwanzig, fünfundzwanzig oder noch mehr Dinge, die ich in die Wege geleitet und für
192
ihn geändert habe. Wahrscheinlich schon mehr! Die Organisation
der Anwendungen für ihn. Da ist die eine Therapeutin plötzlich
krank, die andere noch in Urlaub. Und Horsts Tage sind unterschiedlich. Natürlich ist es fürchterlich langweilig und wohl auch
frustrierend, die ganzen Tage und Nächte nur zwischen Bett und
Rollstuhl zu verbringen. Nachts hat er noch immer die Träume von
den schwarzen Dobermännern, die vor seinem Bett liegen. Sein
Körper schmerzt. Sein Po tut nach kurzer Zeit in dem geliehenen
Rollstuhl weh. Das ist nach dem Monate langen Liegen verständlich.
Und er nimmt es je nach Tagesform unterschiedlich. Fast zwei Wochen ist Horst nun hier. Ab und zu ist er sich offensichtlich selbst zu
viel. Sein ganzer Körper schmerzt. An solchen Tagen beginnt mich
die Sorge um zu treiben, er könnte seinen heroischen Kampf
aufgeben und einfach nicht mehr wollen. Das Gefühl, dass ihm die
Fortschritte, die ja ohne Zweifel da sind, zu wenig sind und dass er
alles eigentlich nur stoisch über sich ergehen lässt. Ohne noch das
Ziel, das aufrechte Sitzen und das wieder stehen können vor Augen
zu haben. Manchmal ergeht er sich in Tagträumen, er wolle für einen
Capuccino und ein Eis zum Ammersee oder schnell mal zu Rewe
oder Aldi zum einkaufen fahren. Es ist dann schwierig, ihm seine
aktuelle Situation, überhaupt unsere gemeinsame Situation klar zu
machen. Und in unkontrollierten, doch schon ziemlich genervten
Momenten tue ich das leider manchmal zu barsch. Ich muss mich
besser kontrollieren und einfach noch lernen, mit dieser Situation
richtig und vor allem beherrschter umzugehen. Ganz leicht ist das
nicht immer. Vor allem dann, wenn du weißt, dass in der Firma jemand oder etwas auf dich wartet. Doch dann, nach beinahe drei
Wochen hier, so etwas wie eine kleine Sensation. Horst wird mit
einem Mal wieder aktiv! Es ist, als ob ein leck geschlagenes Schiff so
langsam wieder Fahrt aufnehmen würde. Er ist an den Übungen
interessiert und macht aktiv dabei mit. Das Sitzen in der Senkrechten
scheint ihm immer weniger Mühe zu bereiten. Und plötzlich hat er
wieder Durstgefühle und er zeigt auch wieder Interesse am Essen.
Zuerst am Kochen. Er sitzt in der Küche auf seinem Rollstuhl und
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gibt der armen Wanda Anweisungen, was und wie sie es zu kochen
hat. Und er überwacht es nicht nur ganz genau, er isst auch selbst
wieder klitzekleine Portionen. Früher hätte er darüber gelacht. Aber
immerhin, er isst wieder freiwillig und es schmeckt ihm sogar wieder
ein bisschen! Das Urinieren in die Flasche klappt auch fast schon
perfekt, seine Verdauung allerdings noch nicht unbedingt und eher
gelegentlich. Und er ermüdet noch relativ schnell. Sich über längere
Phasen zu konzentrieren, fällt ihm immer noch ziemlich schwer.
Verständlich, geht doch alles über seine linke Gehirnhälfte, während
der beschädigte rechte Teil nur langsam und wohl auch nur bis zu
einem gewissen Grad regeneriert. Anfang März spielen wir ein erstes
Mal wieder Scrabble. Noch nicht so besonders aufregend, aber es
geht eine ganze Weile gut. Nach einer guten Stunde lässt seine Konzentration nach. Horst sitzt inzwischen auf einem richtigen Sessel.
Einem den wir gemeinsam für sein Appartement gekauft hatten. Da
hat er mehr Bewegungsfreiheit als auf dem Rollstuhl. Da scheint er
sich wohler zu fühlen und vor allem tut ihm sein Po zumindest nicht
so schnell weh.
Offensichtlich beachten wir über Tage nicht genügend, dass
Horst keinen Stuhlgang mehr hatte. Er versucht es zwar, aber fünf
oder sogar sechs Tage Fehlanzeige. Er beklagt sich, sein Bauch würde platzen. Nachdem selbst Zäpfchen nicht wirken, greife ich zur
Gewaltmethode, Klistier, für die mich Dr. Beck nachträglich lobt.
Und sie funktioniert grausam gut. Nach stundenlanger Darmentleerung ist Horst restlos erschöpft. Der Tag jedenfalls ist im Eimer.
Aber bereits am nächsten Tag ist er wieder oben auf. Für sein Bett
bekommen wir eine Dekubitus-Matratze, die ihn endlich ohne
plötzlich auftretende Schmerzen im Rückenbereich ruhen und schlafen lässt. Und wir bestellen für das Doppelbett in unserem großen
Schlafzimmer einen Einsatz, der wie ein Pflegebett funktionieren
soll. Und es funktioniert. Es funktioniert sogar sehr gut. Der Einsatz
ist manövrierbar, so wie der in seinem Pflegebett. Und so schlafen
wir seitdem gemeinsam, wie ein altes Ehepaar, in unserem Doppelbett. Die Ärgernisse für Horst, dass ich ihn während der Nacht nicht
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oder zu spät gehört habe, sind vorbei. Zwei oder drei Mal in der
Nacht höre ich sein Kommando „Flasche bitte“ und das Pinkeln
klappt meistens ohne Probleme. Manchmal rauchen wir danach
noch eine und dann schlafen wir weiter. Ein Zustand, der uns wohl
beide weniger nervös und auch entspannter werden lässt. Und nach
einigen Eingewöhnungsschwierigkeiten hat sich dabei sogar ein
gewisser Rhythmus verfestigt. Ein erstes Mal die Flasche gegen halb
eins und ein Uhr morgens, dann ein zweites Mal so um drei Uhr, das
ist die Zeit in der wir dann gelegentlich eine rauchen, und das dritte
Mal so etwa um fünf Uhr. Dann noch mal ein kurzes Nickerchen,
bis der Wecker dann um halb sechs Uhr morgens klingelt. Aber
meistens bin ich dann schon wach und stelle ihn schon vorher ab.
Horsts Körper ist sehr Schmerz empfindlich. Da muss man schon
sehr aufpassen. Die morgendlichen und abendlichen Wasch- und
Reinigungsaktionen durch den Pflegedienst sind für ihn, wenn er
schlechter Laune ist, deshalb manchmal der reine Horror. Fröhlichen Tagen folgen Tage, in denen ihm offensichtlich alles zu viel ist.
Dann ist selbst das Rasieren ein schmerzhaftes Unterfangen für ihn,
bei dem er sich schon zerschnitten und mit spritzendem Blut besudelt sieht. Um das Frühstück etwas angenehmer zu gestalten, hole
ich inzwischen morgens um halb sieben jetzt immer frische Brötchen. Seine Sternsemmel mit Butter und Marmelade und sein Joghurt, mit Beeren verfeinert, isst er nicht nur klaglos, es scheint ihm
immer besser zu schmecken.
Den polnischen Pflegedienst haben wir inzwischen gekündigt und mit Klaus einen ausgesprochen geduldigen Betreuer tagsüber gefunden, während ich im Büro bin. Das ist jedenfalls sehr
beruhigend. Er ist ein Ausbund an Geduld, ja Gutmütigkeit. Oder
wie es so schön heißt, einfach eine Seele von Mensch. Nachts sind
Horst und ich inzwischen also wieder allein. Und das ist wesentlich
angenehmer. Natürlich mache ich mir Gedanken, wie das Ganze
wohl weiter gehen wird. Aber am besten ist es wohl, nicht großartig
darüber nachzudenken und es auf Horst und mich zukommen zu
lassen. Es gibt gute Tage und dann wieder weniger gute Tage für
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Horst. Doch eines fühle ich immer deutlicher. Es ist längst noch
nicht vorbei und schon gar nicht zu Ende. Im Gegenteil, es geht
weiter, immer weiter und ich werde noch etliches zu erledigen haben. Sei es familiär, geschäftlich oder auch sonst.
Und irgendwie ist auch Ralph immer mit uns. So sentimental
und kitschig es auch klingen mag. Besonders Horst erwähnt ihn oft
und er meint, Ralph wäre es, der uns beide so eng zusammen gebracht hat und der sich da oben jetzt vermutlich amüsiert, wenn er
auf uns herunter sieht und uns bei unserem alltäglichen Gewurstel
betrachtet.
Rasend schnell verfliegt die Zeit
Und schnell ist sie Vergangenheit.
Ich weiß es, es ist manchmal hart.
Das Spiel mit unsrer Gegenwart.
Ich hab’ ein bisschen Zeit gebraucht.
Bin hin und wieder abgetaucht.
Doch eines will ich nicht verhehlen,
Ich kann es euch sogar empfehlen.
Packt zusammen allen Mut.
Ihr werdet sehen, es tut gut.
Genießt den Tag, genießt die Zeit.
Denn das Morgen ist nicht weit!
Trotz all der kleinen Alltagssorgen,
Ich freue mich schon sehr auf morgen!
Na ja, ein Dichter wird auf meine alten Tage wohl nicht mehr aus
mir werden, obwohl ich schon immer ganz gern kleine Verslein geschmiedet habe. Aber was soll´s! Auch ohne sie ist es ja bisher ganz
gut weiter gegangen.
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IX.
Inzwischen lebt Horst nun schon eineinhalb Jahre gemeinsam mit
mir in der Pretzfelderstrasse. Pendelnd zwischen Zimmer Nr. 1 und
Nr. 3 hat ein sehr ruhiges Leben begonnen. Horst hat die Zimmer
so benannt. Nr. 1 ist unser gemeinsames Schlafzimmer, Nr. 3 sein
Tagesbett. Eine Nr. 2 gibt es nicht, so hat Horst es beschlossen. Es
ist nicht immer ganz einfach mit ihm. Er hat gute, richtig kämpferische Tage, an denen er wieder malt. Einige seiner neuen Bilder
hängen inzwischen in meinem Büro. Doch dann sind da auch wieder
Tage, an denen er lustlos vor sich hin dämmert. Wir haben einen
Treppenlift, den er nur mit Zetern und Zagen benutzt, und so
kommt er auch nur relativ selten aus der Wohnung. Aber ganz im
Gegensatz zu anderen Leuten in ähnlichen Umständen setzt es in
mir Kräfte frei. Kräfte, über die ich manchmal selber staune. Kräfte,
die mich Horsts Rechte verteidigen lassen. So hat es offensichtlich
eine Sachbearbeiterin des Sozialbürgerhauses in Pasing darauf abgesehen, Horst die Zuzahlungen zu seiner kleinen Rente zu streichen.
Über Monate zog sich diese Affaire hin, zu deren Beginn sie mir mit
„Knast“ drohte, weil ich Abhebungen von Horsts Konto vorgenommen hatte, die nicht erkennbar zu Horsts Bedürfnissen des täglichen
Lebens dienten. Ja, glauben solche Leute denn, Horst ernährt sich
mit himmlischem Manna? Sicher lag ein Teil des Problems auch bei
mir, weil ich mich nicht über all die blödsinnigen Vorschriften kundig gemacht hatte. Aber letztlich musste die Dame klein beigeben.
Obwohl ich sicher bin, dass sie auch weiterhin an Stolpersteinen
oder Fallen gegen uns bastelt. Soll sie! Ich bin jedenfalls darauf
vorbereitet.
Eigentlich wollte ich ja mein Amt im Vorstand des bft diesen
Sommer aufgeben. Zwölf Jahre im Amt und inzwischen siebzig!
Aber als ich das kund tat, protestierten meine Vorstandskollegen.
Nein, auf mich könnten sie angeblich nicht verzichten. Hat mir ganz
gut getan! Obwohl ich natürlich auch weiß, dass sie das Nachrücken
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eines unbequemen, jungen Protestierers damit auf angenehme Weise
verhindern wollten. Und so habe ich mich noch einmal für drei Jahre wählen lassen. Mit Beifall und einstimmig. Dann bin ich dreiundsiebzig – und dann ist es wirklich genug. Vielleicht ist Volker Graul
dann ja schon so weit. Über eine Aktienoptionsvereinbarung ist er
inzwischen mit zwei Prozent an der Firma beteiligt. Wir haben den
Wert der Firma festgeschrieben und aus den ihm versprochenen,
jährlichen Tantiemen kann er seine Beteiligung sukzessive bis zu einem Anteil von zehn Prozent ausbauen. Wird zwar etwas dauern,
aber ich denke, das können wir in absehbarer Zeit schaffen. Wie es
dann weiter geht, werden wir sehen.
Am 29. Juli war ich endlich wieder einmal an Ralphs und Ruths
Grab in Kopenhagen. In etwas mehr als vier Monaten wäre Ralphs
Geburtstag. Neunzig Jahre wäre er dann geworden. Ich habe die Rosen an seinem und dem Grab seiner Eltern gegossen. Brütend heiß
war es. Aber alles war so schön und friedlich. Fast zwei Stunden saß
ich da auf der Grabeinfassung seiner Gegenüber, Frau Channe und
Herr Wulf Dron. Ihr schmuckloses Grab ist schon über fünfzig Jahre alt. Und plötzlich kam da eine Geschichte in mir hoch, als ich so
in Gedanken an die alten Zeiten da saß. Herr Rammeskov, der alte
Architekt und begnadete Hobbymaler. Ein knorriger, wettergegerbter, hagerer, groß gewachsener Typ. So ein richtiger alter Wikinger.
Mit seiner schon sehr gebrechlichen Frau lebte er in seinem Haus in
Torbaek, direkt am Strand der Ostsee, mit eigenem Badesteg, den
auch ich gerne nutzte. Zudem war er ein begeisterter und begabter
Segler, mit einem großen, eigenen Boot. Und mir wollte er unbedingt das Segeln beibringen. Hoffnungslos! Ralph bog sich vor Lachen, wenn ich da im Schlingerkurs über die Ostsee kurvte. Mit mir
alleine würde er nie in ein Segelboot steigen, grinste er frech! Doch
als wir im nächsten Jahr wieder vor Rammeskovs Haus standen, war
es verschlossen und das Türschild abgeschraubt. Niemand aus der
irgendwo in Spanien lebenden, übrigen Familie hatte daran gedacht
Ralph zu informieren. Alle unsere Versuche herauszufinden, was
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geschehen war, blieben vergeblich. Und so war das Ehepaar auf einmal verschwunden, verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen.
Seltsam, dass mir solche Geschichten immer ausgerechnet an Ralphs
Grab einfallen. Nein, Ralph bleibt bei mir! In einer nie erwarteten
Symbiose mit Horst. Mit „meinem“ Horst, wie ich inzwischen sage.
Und damit höre ich jetzt endgültig mit meiner Schreiberei
auf. Ein kleines Verslein habe ich allerdings noch, dessen richtiges
Ende ich mir allerdings für später, für den richtigen Zeitpunkt aufheben werde.
Gern hab’ ich grob gesagt gespielt
und gab diverse Vorlagen.
Hab’ mich durch viele Themen gewühlt.
Ich hoffe, man hat es deutlich gefühlt,
Das Kerlchen will uns was sagen.
Hab’ mich lustig über Angie gemacht
Und brachte den Altkanzler Schmidt.
Ich hoffe, man hat manchmal gelacht.
Und immer hab’ ich dabei gedacht.
Vielleicht macht einer mal mit.
Sagt all diesen Pfeifen doch mal ins Gesicht,
Wie wenig sie euch noch vertreten.
Geht mit ihnen mal hart ins Gericht,
Denn ihr seid das viel größ’re Gewicht.
Also tretet sie mal in die Gräten!
Noch ist das Spiel nicht ausgereizt.
Noch lass ich die Hosen nicht runter.
Vielleicht hab’ ich manchmal verkehrt gereizt.
Zwar habt ihr nie mit Applaus gegeizt.
Doch wurd’ einer von euch wirklich munter?
Kollegen, noch wird hier nicht Schluss gemacht.
Erst später werd’ ich der Schließer.
Hab’ aus grob gesagt niemals ein Muss gemacht.
Und bevor mich einst einer von euch verlacht,
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Sag’ ich Ciao,
liebe Freunde und Spießer!
Oh ja, das Leben geht hoffentlich noch ein Stückchen weiter. Im
Zusammenleben mit Horst lerne ich immer wieder auch die andere,
die unruhige und manchmal auch weniger schöne Seite des Lebens
kennen. Aber wenn er mich nach einer ruhigen Nacht am Morgen
zufrieden anlächelt, dann ist das eine neue, irgendwie schwer zu beschreibende Erfahrung, die ich speichern und die ich versuchen werde, nie mehr zu vergessen. Egal, wie es kommen wird. Jedenfalls bin
ich richtig gespannt und immer noch neugierig darauf, wie es mit
uns, wie es überhaupt weiter gehen wird.
„Wir werden es erfahren,“ wie Ralph immer so schön gesagt
hat.
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