Kinderunfälle in Deutschland - Konsequenzen für die Unfallprävention
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Kinderunfälle in Deutschland - Konsequenzen für die Unfallprävention
Verletzungen durch Gewalt bei kleinen Kindern Dr. Gabriele Ellsäßer, Landesgesundheitsamt rielle Risikofaktoren werden in der Literatur als Gründe angeführt: Armut, geringes oder gar kein Einkommen, Arbeitslosigkeit, beengte oder schlechte Wohnverhältnisse (Berufsverband der Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin e. V. Landesverband Brandenburg et al 2002). Diese Familien können die sich auftürmenden Konflikte und Spannungen nicht mehr bewältigen, und so kann sich ein Nährboden für Gewalt entwickeln (Schone 1997). Der Weltbericht „Gewalt und Gesundheit“ stellt darüber hinaus fest, dass Kindesmissbrauch mit fehlendem „Sozialkapital“ zusammenhängt und dass er häufiger ist, wenn die sozialen Netze und die nachbarschaftlichen Beziehungen fehlen. Dabei erhöht sich die Gefahr für ein Kind misshandelt zu werden, wenn es sehr junge Eltern hat, die keine Unterstützung in einer Großfamilie finden (WHO 2003). Gewalt gegen Kinder tritt in den verschiedensten Erscheinungsformen in unserer Gesellschaft auf und betrifft nicht nur körperliche Verletzungen und deren Folgen, sondern auch die psychische Gewalt und Vernachlässigung von Kindern. Dabei kommt die häusliche Gewalt am häufigsten vor. Hintergrund und Ursachen Die Bundesregierung hat mit dem „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ (2000) ein Zeichen gesetzt zur oft tabuisierten Problematik der Gewaltanwendung gegenüber Kindern. Die Kernaussagen sind: Jedes Kind hat ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen oder andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig (GewÄchtG2000). Aber das beste Gesetz gewährleistet noch keine gewaltfreie Kinderwelt. Elternbefragungen zu Disziplinierungsmaßnahmen zeigen, dass Ohrfeigen oder Prügel immer noch im Bereich des normalen Erziehungsverhaltens angesiedelt sind. Eine von den Bundesministerien für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie Justiz in Auftrag gegebene bundesweite repräsentative Studie stellt fest, dass im Jahr 2001 54% der befragten Eltern von Kindern unter 18 Jahren leichte körperliche Strafen einsetzten (konventionelle Erziehung) und 17 % schwere Körperstrafen (wie Tracht Prügel, kräftig Po versohlen) (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Bundesministerium der Justiz 2003). Das Institut für Familien-, Kindheits- und Jugendforschung hat im Land Brandenburg Kinder und Jugendliche zu ihren Gewalterfahrungen befragt. 90% der Befragten gaben an, dass ihre Familienverhältnisse „normal“ bis „ausgesprochen gut“ seien. 10% fühlten sich in der Familie vernachlässigt: „meine Eltern kümmern sich nicht darum, was ich tue“ oder „meine Eltern sind nie da, wenn ich sie brauche“. Seit Jahren unverändert ist nach diesen Studienergebnissen der Anteil der Brandenburger Familien, die körperlich strafen: 2% oft und 7% manchmal (Sturzbecher 2002). Gewalt an Kindern hat viele Gesichter und zeigt ihre Auswirkungen bereits im Säuglingsalter als sogenanntes „Schütteltrauma“ (Erler 2003, 2006). Sie wird physisch, psychisch und sexuell ausgeübt und bedroht existenziell die kindliche Entwicklung. Nach FEGERT ist die psychosoziale Situation ein zentraler Prädiktor für Vernachlässigung und Kindesmisshandlung, insbesondere massive Not in den Familien und nicht die Beziehungsform (Fegert 2004). Unterschiedliche psychosoziale und mate- Daten und Fakten Genaue Zahlenangaben zum Ausmaß körperlicher und sexueller Gewalthandlungen gegen kleine Kinder sind schwer möglich, weil viele Vorkommnisse nicht angezeigt oder gar nicht erfasst werden. Gelangt beispielsweise eine Straftat zur Anzeige, gibt es eine klare Differenzierung in Abhängigkeit von der Täter-Opfer-Beziehung. Die Anzeigequote für unbekannte Täter bei kindlichen Opfern von Missbrauch liegen nach der polizeilichen Kriminalstatistik bei etwa 60%, bei bekannten Personen bei 23%, bei Tätern aus dem familiären Bereich sogar nur bei 6-7% (Wetzels 1997). Die Brandenburger Kriminalstatistik weist für das Jahr 2004 folgende Deliktsbereiche aus, die bei Kindern unter 6 Jahren straftatsrelevant waren: 7 „Straftaten gegen das Leben“ (z. B. Totschlag), 97 „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ und 20 Straftaten, die die Gewaltkriminalität betrafen. 1 Einen völlig anderen Ansatz liefert uns die amtliche Krankenhausdiagnosestatistik. Hier werden unter der Kategorie „Misshandlung“ (T 74) die Kinder ausgewiesen, die wegen eines körperlichen, psychischen oder sexuellen Missbrauchs bzw. wegen Vernachlässigung stationär behandelt werden mussten. Im Land Brandenburg waren dies nur wenige Kindern unter 5 Jahren (im Zeitraum 2000 – 2004 zwischen 2 und 11 Fälle). Hinter diesen sehr niedrigen Fallzahlen verbirgt sich ein gravierendes Erfassungsproblem. Die Krankenhausdiagnosestatistik verschlüsselt Krankheits- und Verletzungsdiagnosen und die Diagnose einer Vernachlässigung oder auch Misshandlung liegt häufig nicht auf der Hand, sondern verbirgt sich „hinter“ anderen Ereignissen. So können beispielsweise Verbrühungen oder auch Stürze gewaltbedingt sein und werden von Eltern als „Unfälle im Haushalt“ angegeben. Auch wird ein Schütteltrauma in der Regel nicht als solches dem Arzt vorgestellt, sondern Säuglinge kommen als Notfälle mit einem Schädel-HirnTrauma in die Klinik und Eltern machen ganz andere, wiederum unfallbezogene Angaben. Des Weiteren können sich hinter kinderpsychiatrischen Symptomen auch Traumatisierungen durch Misshandlung, Vernachlässigung oder auch Missbrauch der Kinder verbergen. Werden Verletzungen in Kinderkliniken systematisch erfasst und dazu das Personal zur Thematik intensiv geschult, steigen die erkannten Fälle deutlich an. Dies konnte zum Beispiel das Unfallmonitoring in der Kinderklinik in Delmenhorst zeigen, wo die Fallzahlen von Kindesmisshandlung um das Dreifache anstiegen, nachdem das Klinikpersonal intensiv geschult und ein spezielles Erfassungsmoduls zu Verletzungen durch Gewalt eingeführt wurde. Ähnliche Erfahrungen machte die Kinderklinik des CarlThiem-Klinikums in Cottbus bezogen auf das Jahr 2005, wo allein ca. 6 % aller verletzten Kinder als „Gewaltfälle“ erkannt wurden. Auf Grund der erheblichen Dunkelziffer und lückenhafter Datenlage führte das Landesgesundheitsamt in 2003 eine Befragung der ambulant und stationär tätigen Kinderärzte u.a. zur Einschätzung der Fälle von Gewalt durch. 82 von 92 (89,1%) antwortenden Kinderärzten hatten mindestens einen Fall von Gewalt gegen Kinder im Verlauf des Jahres 2003 gesehen. Sie gaben allein 904 sichere und 945 Verdachtsfälle von Kindern mit Gewalterfahrung an. Bei den „sicheren“ Gewaltfällen waren über die Hälfte durch körperliche Misshandlung bzw. Vernachlässigung verursacht, ein Drittel durch emotionale Misshandlung und ca. 7 % durch sexuellen Missbrauch (Ellsäßer, Cartheuser 2006). Diese Fakten im Land Brandenburg zeigen, dass Gewalt gegen Kinder mit psychischen und physischen Verletzungsfolgen deutlich häufiger vorkommt, als in den amtlichen Statistiken ausgewiesen ist. Es ist daher von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen. Abb. 1 Gewaltleitfaden Brandenburg 2 Abb. 2 Tödliche Verletzungen durch Unfälle und Gewalt; Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik, Dr. Ellsäßer, eigene Berechnungen Zu altersbezogenen Risikogruppen lassen sich jedoch nur - wegen der kleinen Fallzahlen in Brandenburg - über die bundesweiten Daten aus der Todesursachen- und Krankenhausdiagnosestatistik differenzierte Aussagen machen. Die epidemiologische Aufbereitung der Daten zeigt eindrucksvoll, dass bereits Säuglinge und kleine Kinder eine Hochrisikogruppe sind (Abb. 2) Doch dies betrifft nicht nur Deutschland, sondern ist weltweit festzustellen. Der Welt- bericht der WHO führt hierzu aus: „Kinder der Altersgruppe 0-4 Jahre sind mehr als doppelt so häufig Opfer von Tötungsdelikten als Kinder zwischen 5 und 14 Jahren (5,2 pro 100.000 vs. 2.1 pro 100.000). Die üblichsten Todesursachen sind Kopfverletzungen, Unterleibsverletzungen und absichtlich herbeigeführter Erstickungstod“. Auch die Daten zu den stationär behandelten Kindern zeigen bundesweit, dass wiederum bei Säuglingen die höchsten Hospitalisierungsraten vorkommen. (Abb. 3) Krankenhausfälle von Kindern wegen Misshandlung in Deutschland je 10.000 der Altersgruppe 3,0 2,5 unter 1 Jahr 1 bis 4 Jahre 2,0 5 bis 14 Jahre 1,5 1,0 0,5 0,0 2000 2001 2002 2003 2004 Abb. 3 Hospitalisierungsraten bei Kindern wegen Misshandlung:Deutschland 2000-2004 Quelle: Statistisches Bundesamt, Krankenhausdiagnosestatistik, Dr. Ellsäßer, eigene Berechnungen 3 Handlungsschwerpunkt für die Prävention Die oben beschriebenen Fakten zeigen, dass der Schwerpunkt der Gewaltprävention bei Kindern schon vor und spätestens mit der Geburt des Kindes erfolgen sollte. Die WHO empfiehlt insbesondere folgende vier Maßnahmen der Primärprävention: die Schwangerschaftsfürsorge und perinatale Betreuung von Müttern sowie vorschulische und soziale Entwicklungsprogramme für Kinder und Jugendliche, die Vorbereitung der künftigen Eltern auf ihre Elternrolle und eine vernetzte Zusammenarbeit. Studien konnten zeigen, dass ein gut funktionierendes Hilfesystem mit verbindlichen Kooperationen entscheidend für die erfolgreiche Betreuung von Risikofamilien und deren Kinder ist – also gewaltpräventiv wirkt. Zudem unterstützt dieses System maßgeblich die Früherkennung von Gewalt gegen Kinder. Es gilt: Frühe Hilfen und ernetztes Reagieren. Eine Analyse des Landesgesundheitsamtes in 2005 zu regionalen Netzwerken für den Kinderschutz in den Brandenburger Landkreisen und kreisfreien Städten zeigte, dass eine systematische Vernetzung zwischen Jugendamt, Betreuungsund Bildungseinrichtungen und Gesundheitssektor (Kinderärzte, Kinderklinik, Gesundheitsamt, Hebammen, Therapeuten etc.) besser als bisher geregelt werden müsste. Insbesondere ist in den Arbeitskreisen der Gesundheitsbereich stärker mit einzubeziehen (Kinderärzte, Kinderklinik, Hebammen, Gesundheitsamt etc.). Darüber hinaus fehlen zum Teil vor Ort noch Arbeitskreise für den Kinderschutz. Akteure im Hilfesystem und ihre Ressourcen Jugendamt Gesundheitsamt - Kind- und familienbezogene Hilfen - Eingriffsbefugnisse - Koordination der Hilfen - Aufsuchende Gesundheitsfü rsorge - Medizinische Beurteilung Kinderarzt Schule Kita Hilfesystem Kinder - u. Jugendpsychiater Sozialp ä d . Zentrum Hebamme Frü Frühfö hförderstelle Frauen - und Kinderschutzeinrichtung Kinderklinik Erziehungs -/ Familienbera tungsstellen Abb. 4 Hilfesystem 4 Ziele und Maßnahmen im Land Brandenburg Die Landesregierung empfiehlt zur Verbesserung der Kooperation beim Kinderschutz die Bildung von Arbeitsgemeinschaften auf der Ebene von Landkreisen bzw. kreisfreien Städten. Arbeitsgemeinschaften zum Kinderschutz dienen der Institutionalisierung von Kooperation. Für ihre Gründung bedarf es der Initiative einer der mit dem Thema Kinderschutz befassten Institutionen (vor allem Jugendamt, Gericht, Polizei). [siehe Empfehlungen zum Umgang und zur Zusammenarbeit bei Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung sowie bei entsprechenden Verdachtsfällen (Umsetzung des Landtagsbeschlusses vom 12. Mai 2004 „Stärkung des Kinderschutzes gegen Gewalt – Drs. 3/7469 - B)] Auf der 3. Fachtagung „Bündnis Gesund Aufwachsen in Brandenburg“ im April 2004 hat das Land Brandenburg folgendes Gesundheitsziel zur Gewaltprävention festgelegt: Kinder und Jugendliche in Brandenburg können sich unter gewaltfreien Bedingungen entwickeln. Dieses Ziel ist mit drei Teilzielen untersetzt: 1 Kinder, die Gewalt erfahren mussten, werden früh und sicher erkannt, und es steht ihnen ein interdisziplinäres Hilfesystem zur Verfügung 2 Kinder in Kitas und Schulen wenden keine Gewalt untereinander an 3 Häusliche Gewalt wird öffentlich geächtet Darüber hinaus wurden die Teilziele über Maßnahmen konkretisiert und auch die Akteure zur Umsetzung benannt. Folgende Maßnahmen wurden als vorrangig empfohlen: - Organisation von berufsübergreifenden Veranstaltungen und Fortbildungen in Zusammenarbeit mit dem Landesjugendamt, dem Landesgesundheitsamt und der Landesärztekammer. - Bildung von regionalen Arbeitskreisen in den Landkreisen und kreisfreien Städten. - Gewalt gegen Kinder wird in den Landesaktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen integriert, da Kinder immer auch Betroffene sind. 5 Literatur Berufsverband der Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin e. V. Landesverband Brandenburg, Ministerium für Arbeit, Gesundheit, Soziales und Frauen, Verband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes des Landes Brandenburg e.V., Techniker Kasse (Hrsg.) (2002) Leitfaden Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Bundesministerium der Justiz (2003) Gewaltfreie Erziehung. Eine Bilanz nach Einführung des Rechtes auf gewaltfreie Erziehung. Ellsäßer G (2006) Epidemiologische Analyse von Unfällen bei Kindern unter 15 Jahren in Deutschland – Ausgangspunkt für die Unfallprävention. Das Gesundheitswesen 68: 421-428 Ellsäßer G, Cartheuser C (2006) Befragung zur Wahrnehmung von Gewalt gegen Kinder und zur Nutzung des Leitfadens „Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ durch Brandenburger Kinderärzte. Das Gesundheitswesen 68: 265-270 Erler T (2003) Schütteln Sie nie ein Baby! Frühe Kindheit der ersten sechs Jahre. Der Notarzt 2: 26-27 Erler T (2006) Ärztliche Aufgaben bei einem Verdacht auf Kindesmisshandlung. Brandenburgisches Ärzteblatt 6: 205-207 Fegert JM (2004) Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch. In: Eggers Ch, Fegert JM, Resch F (Hrsg.) Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Springer, Berlin Heidelberg, 498-518 Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung (GewÄchtG) 2000 Schone R (1997) Was braucht ein Kind? Kriterien der Basisfürsorge und Folgen der Vernachlässigung von Kindern. In: Institut für soziale Arbeit e.V. (Hrsg.) Familien in Krisen, Kinder in Not. Eibenverlag, Münster, 74-88 Sturzbecher D (Hrsg.) (2002) Jugendtrends in Ostdeutschland: Bildung, Freizeit, Politik, Risiken. Leske und Budrich, Opladen Weltgesundheitsorganisation (2003) Weltbericht Gewalt und Gesundheit, Zusammenfassung (World report on violence and health: Summary). Kopenhagen Wetzels P (1997) Gewalterfahrungen in der Kindheit: Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und deren langfristige Konsequenzen. Baden-Baden: Nomos-Verlag 6