Die Herrenmoral des Demian - Lund University Publications

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Die Herrenmoral des Demian - Lund University Publications
 Die Herrenmoral des Demian
Von: Emil Bigsten
C-Aufsatz, Universität Lund, 2012
Sprachen- und Literaturcentrum
Betreuer: Alexander Bareis
Inhaltsverzeichnis
Einleitung und Fragestellungen
3
Methode
4
Frühere Forschung
4
Materialien
5
1. Teil – Die Moralphilosophie Nietzsches
Die Herren- und die Sklavenmoral
7
Die Umwertung aller Werte
9
Das Ja-sagen zum Leben
12
2. Teil – Die Herrenmoral des Demian
Kain und Abel
14
Die lichte und die dunkle Welt
17
Die Versuchungen der dunklen Welt
19
Die Gottheit Abraxas – Jenseits von Gut und Böse
20
Die Herrenmoral der Kainsgezeichneten
21
Die Bejahung des Schicksals
24
Zusammenfassung
26
Literaturverzeichnis
28
2 Einleitung und Fragestellungen
Der erste Weltkrieg ist eine der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Millionen von
Menschen starben in den Schützengräben, an Bajonetten, an Maschinengewehren, an
Granaten, an Giftgas. Man kann aber auch sagen, dass die christlich-humanistischen Werte
der europäischen Zivilisation in den Schützengräben starben. Sie hatten nicht den Krieg
verhindern können. Und sie waren nach dem Krieg vollständig diskreditiert und nichts
anderes als leere Worte. Aber womit konnte man die christlich-humanistischen Werte
ersetzen? Welche Werte sollten an die Stelle der alten treten?
Deutschland nach dem Krieg war ein großes Chaos. Unmittelbar nach dem Friedensschluss
kam die misslungene Novemberrevolution, dann kamen Aufstände und Straßenschlachten.
Was konnte daraus geschaffen werden? Demian als ein Versuch Hesses der jungen
Generation Leitung in dieser Situation zu geben, ist eine durchaus mögliche
Betrachtungsweise.1 Man kann auch sagen, dass Demian eine Antwort auf die geistige Krise,
die auf den Krieg folgte, war. Ich werde mich in diesem Aufsatz für die Moral, wofür Hesse
in Demian plädierte, interessieren.
Ich bin der Meinung, dass Hesse sich an Nietzsche wendete, um eine neue Ethik schaffen
zu können. Dem Anschein nach führte Hesse, ähnlich wie Nietzsche im 19. Jahrhundert, eine
Umwertung aller Werte in Demian durch. Hesse scheint in Demian, wieder wie Nietzsche,
eine Herrenmoral jenseits von Gut und Böse zu vertreten. Die Absicht dieses Aufsatzes ist
diese Herrenmoral und den Einfluss Nietzsches auf jene Moral darzulegen. Die in diesem
Aufsatz zu beantwortenden Fragen sind: Was für eine Herrenmoral findet man in Demian?
Wie sieht sie aus? Wie verhält sie sich zu der Moralphilosophie Nietzsches? Was ist mit
dieser ähnlich und was unterscheidet sich?
1 Dass die junge Generation tatsächlich Leitung in Demian fand, kann wohl nicht bestritten werden.
Hier sind die oft zitierten Worte Thomas Manns anzuführen: „Unvergeßlich ist die elektrisierende
Wirkung, welche gleich nach dem Ersten Weltkrieg der ‚Demian‘ jenes mysteriösen Sinclair
hervorrief, eine Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf und eine ganze
Jugend, die wähnte, aus ihrer Mitte sei ihr ein Künder ihres tiefsten Lebens entstanden (während es
schon ein Zweiundvierziger war, der ihr gab, was sie brauchte), zu dankbarem Entzücken hinriß.“ –
Thomas Mann, zitiert nach Jahnke, Walter, Hermann Hesse, Demian: Ein er-lesener Roman,
Schöningh, Paderborn; München; Wien; Zürich, 1984, S. 52. Siehe auch die Worte der Lulu von
Strauß und Torney: „In dieser inneren Not kam dem einen oder anderen der ‚Demian‘ in die Hände. Er
las, und es war ihm, als werde ihm eine Binde vom Auge genommen. Las und fand – sich selber.“ –
Lulu von Strauß und Torney, zitiert nach ebd., S. 149
3 Methode
In diesem Aufsatz werde ich also die Ethik des Demian darlegen aber auch Nietzsches
Moralphilosophie muss kurz dargestellt werden. Natürlich wird die Betonung der Analyse auf
der Ethik des Demian liegen. Nietzsches Moralphilosophie wird nur interpretiert, um den
Einfluss Nietzsches auf die Ethik des Demian feststellen zu können. In sich ist die
Moralphilosophie Nietzsches für uns nicht interessant, nur in Bezug auf Demian. Die Ethik
des Demian wird durch eine werkimmanente Analyse dargelegt und der Einfluss Nietzsches
wird durch eine vergleichende Analyse zwischen der Moralphilosophie Nietzsches und dem
Demian dargelegt. Ich werde zuerst Nietzsches Moralphilosophie ganz kurz darstellen und
danach werde ich die Spuren dieser Moralphilosophie Nietzsches in Demian untersuchen,
parallel mit der Darlegung der Ethik des Demian.
Frühere Forschung
Das Hauptthema der Demian-Forschung ist immer der Einfluss der Psychoanalyse von C. G.
Jung auf Demian gewesen.2 Die Frage von dem Einfluss Nietzsches auf Demian ist immer in
der Peripherie der Forschung geblieben, weshalb es nicht allzu viel Forschung darüber gibt.
Heinrich Mettler hat jedenfalls in einem Artikel, mit dem Namen Hesses „Demian“:
Wandel der Tugend und des Begriffs der Tugend, eine „Umwertung aller Werte“ unter dem
Vorzeichen Nietzches?, über die Umwertung aller Werte in Demian und ihre Beziehung zu
Nietzsche geschrieben. Der ungarische Germanist Lászlo V. Szabó hat eine Dissertation über
Der Einfluss Friedrich Nietzsches auf Hermann Hesse: Formen des Nihilismus und seiner
Überwindung bei Nietzsche und Hesse geschrieben. In dieser Dissertation ist ein Kapitel dem
Thema von „Jenseits von Gut und Böse: ‚Demian‘“ gewidmet.3 Walter Jahnke schreibt in
seinem Buch Hermann Hesse: Demian, Ein er-lesener Roman über literarischen Vorbildern
in Demian und über den Einfluss anderer Bücher und anderer Schriftsteller auf diesen Roman.
Unter anderem schreibt er über den Einfluss Nietzsches und des Also Sprach Zarathustra auf
Demian und er kann sogar auf mögliche Textparallelen zwischen Also Sprach Zarathustra
und Demian zeigen. Auch Theodor Ziolkowski hat über die Anwesenheit nietzscheanischer
2 Szabó, László V., Der Einfluss Friedrich Nietzsches auf Hermann Hesse: Formen des Nihilismus
und seiner Überwindung bei Nietzsche und Hesse, Universitätsverlag Veszprém und Praesens Verlag,
Wien, 2007, S. 216 f. 3 Ebd., S. 215-237. 4 Ideen in Demian geschrieben. In seinem Buch The Novels of Hermann Hesse trägt ein
Abschnitt eines Kapitels, das dem Demian gewidmet ist4, der Name The Nietzschean Goal.
Ein Kapitel in dem Buch Begegnungen: Studien zur Literatur der klassischen Moderne von
Lothar Blum ist dem Thema Nietzsche-Rekurs in Demian gewidmet.5 Und in Friedrich
Nietzsche’s Impact on Modern German Literature des amerikanischen Germanist Herbert W.
Reichert findet man einen Essay über „the Impact of Nietzsche on Hermann Hesse“.6
Ich habe jedoch keine systematische Auseinandersetzung mit der Ethik des Demian
ausfindig machen können. Das Thema dieses Aufsatzes scheint also kaum ausschöpfend
untersucht worden zu sein, weshalb der vorliegende Aufsatz motiviert ist.
Materialien
Die Primärliteratur dieses Aufsatzes ist natürlich Demian – Die Geschichte von Emil Sinclairs
Jugend von Herman Hesse. Von Friedrich Nietzsche werden drei Bücher verwendet, und
zwar Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral und Also Sprach Zarathustra. Die
Moralphilosophie Nietzsches wird hauptsächlich in den ersten zwei Büchern dargestellt,
weshalb sie in der Analyse der Moralphilosophie Nietzsches einbezogen werden müssen. Also
sprach Zarathustra wird in dem Aufsatz verwendet, da Demian große Ähnlichkeiten mit
diesem Buch trägt. Die Romanfigur Demian ähnelt Nietzsches Zarathustra sehr7 und man
kann sogar Textparallelen zwischen den zwei Büchern finden.
Die Artikel und Bücher, die im letzten Kapitel genannt sind, werden als Sekundärliteratur
verwendet. Außerdem werde ich The Changes of Cain von Ricardo J. Quinones verwenden.
Dieses Buch setzt sich mit dem Mythos von Kain und Abel auseinander, unter anderem mit
der Umwandlung dieses Mythos in Demian.8 Frederick Alfred Lubich schreibt in seinem
Artikel Bachofens „Mutterrecht“, Hesses „Demian“ und der Verfall der Vatermacht über
den Einfluss Bachofens und dessen Theorie von dem Mutterrecht auf Demian. Robert C.
4 Ziolkowski, Theodor, The Novels of Hermann Hesse, Princeton University Press, Princeton, New
Jersey, 1974, S. 87-145. 5 Blum, Lothar, Begegnungen: Studien zur Literatur der klassischen Moderne, Veröffentlichungen des
Germanistischen Instituts Nr. 10 Universität Oulu, S. 85-98. 6 Reichert, Herbert W., Friedrich Nietzsche’s Impact on Modern German Literature, The University
of North Carolina Press, Chapel Hill, 1975, S. 88-116. 7 Siehe z.B. Jahnke, Walter, Hermann Hesse, Demian: Ein er-lesener Roman, S. 95 ff.
8 Quinones, Ricardo J., The Changes of Cain: violence and the lost brother in Cain und Abel
literature, Princeton University Press, Princeton, New Jersey, 1991, S. 122-134. 5 Conrad hat einen Artikel über Socio-Political Aspects of Hesse’s „Demian“ geschrieben. Der
Artikel handelt von den faschistischen Zügen des Romans und wird auch behilflich sein.
Ich werde auch Sekundärliteratur über Nietzsches Philosophie verwenden müssen. Diese
Literatur ist: Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens von Karl
Jaspers und Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen von Karl Löwith.
Auch Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten von C. G. Jung und Die
Psychologie von C. G. Jung von Jolan Jacobi werden zur Anwendung kommen.
6 1. Teil -- Die Moralphilosophie Nietzsches
Zum Anfang muss vielleicht die Frage, ob es überhaupt eine Moralphilosophie Nietzsches
gibt, gestellt werden. Die Feindschaft gegen das Christentum und dessen Moral taucht einem
unmittelbar im Bewusstsein auf, wenn man an Nietzsche denkt. Aber er war kein Nihilist, was
manche Leute wohl glauben. Stattdessen wollte er, wie wir später im Aufsatz sehen werden,
den Nihilismus seiner Zeit überwinden. Wir werden auch sehen, dass er die Sklavenmoral des
Christentums mit einer Herrenmoral ersetzen wollte. Eine Moralphilosophie Nietzsches gibt
es also sehr wohl und wie Szabó konstatiert, gehe sie „von der Unterscheidung zwischen
Herren-Moral und Sklaven-Moral aus“.9 Deshalb wird dieses Teil des Aufsatzes von dieser
Unterscheidung zwischen Herren- und Sklavenmoral bei Nietzsche anfangen. Danach werden
auch die Themen von der Umwertung aller Werte und von dem Ja-sagen zum Leben
behandelt. Die Spuren dieser Themen in Demian werden dann im 2. Teil untersucht.
Die Herren- und die Sklavenmoral
Nach Nietzsche sei die Welt Ausgelegtsein, d.h. die Welt ist nicht einfach da, sondern muss
immer ausgelegt werden. Nietzsche selbst legt die Welt als Wille zur Macht aus, d.h. das
Dasein sei ein Kampf um Macht. 10 Es gebe jedoch keineswegs einen unbedingten
Zusammenhang zwischen dem Rang eines Menschen und der Macht eines Menschen. Die
starken Menschen hätten nicht notwendigerweise die gesellschaftliche Macht, sie könne
durchaus bei den schwachen Menschen liegen, was im Abendland in der Tat der Fall sei.11
In dem Abendland hat nämlich das Christentum die gesellschaftliche Macht inne. Und das
Christentum ist die Religion der Schwachen und die Moral des Christentums ist eine
Sklavenmoral. Gegenüber der Moral der Schwachen steht die Herrenmoral der Starken.
Nietzsche unterscheidet jedoch „zwischen faktischer, äußerlicher Macht und eigentlicher
Wesensmacht [...]“. 12 Die Schwachen mögen die gesellschaftliche, äußerliche Macht im
Abendland besitzen, aber die Wesensmacht liegt bei den Starken. Gegenüber den Starken sind
die Schwachen eigentlich ohnmächtig, diese sind eigentlich jenen unterlegen. „Die
9
Szabó, László V., Der Einfluss Friedrich Nietzsches auf Hermann Hesse, S. 216.
Jaspers, Karl, Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, de Gruyter, Berlin;
New York, 1981 [1936], S. 300, 306.
11 Ebd., S. 303. 12
Ebd., S. 307.
10
7 welthistorisch wirksamste Verkleidung der Ohnmacht, die zur Macht will, ist für Nietzsche
die Moral, die als Sklavenmoral in ursprünglicher Wesensverschiedenheit der Herrenmoral
gegenübersteht.“13 Was denn zeichnet die Herrenmoral bzw. die Sklavenmoral aus?
Nach Nietzsche gebe es einen Überschuss von misslungenen Menschen, d.h. den
Schwachen. Die gelungenen Menschen, die Starken, dagegen seien
die Ausnahme. 14
Nietzsche schreibt in Jenseits von Gut und Böse darüber:
Wie verhalten sich nun die genannten beiden größten Religionen [das Christentum und das
Buddhismus] zu diesem Überschuss der mißlungenen Fälle? Sie suchen zu erhalten, im Leben
festzuhalten, was sich nur irgend halten läßt, ja sie nehmen grundsätzlich für sie Partei, als
Religionen für Leidende, sie geben allen denen recht, welche am Leben wie an einer Krankheit
leiden, und möchten es durchsetzen, daß jede andre Empfindung des Lebens als falsch gelte und
unmöglich werde.15
Er setzt fort:
Alle Wertschätzungen auf den Kopf stellen – das mußten sie [das Christentum und das Buddhismus]! Und die Starken zerbrechen, [...] die ganze Liebe zum Irdischen und zur Herrschaft über
die Erde in Haß gegen die Erde und das Irdische verkehren – das stellte sich die Kirche zur
Aufgabe und mußte es sich stellen [...].16
Ein entscheidender Gegensatz zwischen den Schwachen und den Starken liegt also in der
Haltung zum Leben. Die Schwachen, die „am Leben wie an einer Krankheit leiden“,
verneinen das diesseitige Leben zugunsten des jenseitigen Lebens. Die Starken dagegen, die
das Irdische lieben, bejahen das diesseitige Leben. Die Sklavenmoral des Christentums, das
eine Religion der Leidenden sei, hasst also die Erde und das Irdische. Sie ist eine Verneinung
des Lebens. Die Herrenmoral dagegen ist eine Bejahung des Lebens.
Die Starken und die Schwachen unterscheiden sich auch dadurch, dass jene auf
moralischem Gebiet von „gut“ und „schlecht“, während diese von „gut“ und „böse“ sprechen.
Nietzsche schreibt in Zur Genealogie der Moral, dass die höhere Art Mensch, der
13
Jaspers, Karl, Nietzsche, S. 307 f. Die Kursive hier, und in sämtlichen Zitaten des Aufsatzes, im
Original. 14 Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse/Zur Genealogie der Moral, Anaconda, Köln, 2006
[1886/1887], S. 74.
15 Ebd., S. 74.
16 Ebd., S. 75. 8 Herrenmensch, sich selbst und was er tut „gut“ heiße. Und nachdem er sich selbst „gut“
geheißen habe, nenne er den Sklaven, die niedere Art Mensch, „schlecht“. Weiter sei „gut“,
nach Nietzsche, etymologisch mit Wörtern wie „edel“ und „vornehm“ verwandt, während
„schlecht“ und „schlicht“ identisch seien.17 „Gut“ ist also identisch mit dem Herrenmenschen
und „schlecht“ identisch mit dem gemeinen Menschen, dem Sklaven.
Der Sklave, der schwache Mensch, unternimmt dann eine Umwertung dieser Werte. Was
früher „gut“ war, wird jetzt „böse“ genannt; und was „schlecht“ war, wird jetzt „gut“ genannt.
Die Werturteile der Kriegerkaste (die Herrenmoral) stünden den Werturteilen der
Priesterkaste (die Sklavenmoral) gegenüber, schreibt Nietzsche. Er fährt fort und behauptet,
dass die Priester die ohnmächtigsten Menschen seien und deshalb seien auch die großen
Hasser der Geschichte immer Priester gewesen. Und das priesterliche Volk vor allen anderen
seien die Juden. Diese Kaste der jüdischen Priester sei es, die die Werte der aristokratischen
Kriegerkaste umgewertet habe; „er [der Mensch des Ressentiments, der Schwache] hat ‚den
bösen Feind‘ konzipiert, ‚den Bösen‘, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als
Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen ‚Guten‘ ausdenkt – sich selbst! ...“18 Mit
dieser Umwertung sei „der Sklavenaufstand in der Moral“ begonnen.19 Der Erbe dieser
Umwertung der Werte der vornehmen Menschen ist natürlich das Christentum. Nietzsche
seinerseits will eine neue Umwertung der Werte durchführen.
Die Umwertung aller Werte
Die Werte sind also veränderbar, sie sind nicht ein für allemal gegeben. Jaspers schreibt
darüber:
Weil der Mensch das schätzende, messende, wertende und darin schaffende Wesen ist, gibt es
nicht die absoluten Werte, die bestehen wie ein Sein und nur zu entdecken sind [...] Sie sind nie
endgültig, sondern müssen jeweils geschaffen werden. Daraus entspringt für Nietzsche im
gegenwärtigen weltgeschichtlichen Augenblick die Aufgabe der „Umwertung aller Werte“.20
17 Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse/Zur Genealogie der Moral, S. 240, 242. 18 Ebd., S. 254.
19 Ebd., S. 245-248.
20 Jaspers, Karl, Nietzsche, S. 153. 9 Diese Aufgabe der „Umwertung aller Werte“ entspringt aus dem Tod Gottes, welchen
Nietzsche oft in seinen späteren Werken kundgab. Wenn der christliche Gott tot ist, sind auch
die christlichen Werte dahin. Jaspers weist darauf hin, dass Nietzsche mit seiner Behauptung
vom Tod Gottes „einen Befund der gegenwärtigen Wirklichkeit“ festzustellen meine.21 Gott
ist tot, auch wenn niemand das wahrhaben will. Man kann wählen entweder an dem Glauben
an Gott trotzdem festzuhalten oder Gott fahrenzulassen. Beides führt zum Nihilismus:
[E]ntweder ist die fingierte „wahre Welt“ [die jenseitige Welt] als Fiktion preiszugeben, dann
ist alles, was Wert hatte, hinfällig; oder es ist die Wirklichkeit, die ich faktisch bin,
preiszugeben, dann kann ich nicht leben. Welchen Weg wir also in dieser Situation auch
wählen, in beiden Fällen wäre der Nihilismus da, sei es als Verneinung der Werte, sei es als
Verneinung des Lebens.22
Nietzsche wählt das Leben und verneint also die (christlichen) Werte. Aber Nietzsche ist kein
Nihilist. Er will den Nihilismus überwinden. Er will neue Werte schaffen.
In Also sprach Zarathustra spricht Zarathustra von drei Verwandlungen des Geistes.
Zuerst werde er zum Kamel, das alles Schwere trage. Danach verwandle sich das Kamel in
einen Löwen. Die dritte Verwandlung sei zu einem Kind, das ein „heiliges Ja-sagen“ sei.23
Von dem Löwen heißt es:
Seinen letzten Herrn sucht er [der Löwe] sich hier: feind will er ihm werden und seinem letzten
Gotte, um Sieg will er mit dem großen Drachen ringen.
Welches ist der große Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heißen mag? „Du-sollst“
heißt der große Drache. Aber der Geist des Löwen sagt „ich will“.24
Das „Du-sollst“ soll also mit einem „Ich will“ ersetzt werden. Jeder Mensch soll sein eigener
Gesetzgeber sein. Es gibt nämlich keine moralischen Urteile, die für alle gültig sind, sondern
jeder Mensch ist im Moralischen auf sich selbst gestellt. „‚Mein Urteil ist mein Urteil: dazu
hat nicht leicht auch ein andrer das Recht‘“, heißt es in Jenseits von Gut und Böse. 25
Anderswo in demselben Buch sagt Nietzsche, dass „es unmoralisch ist zu sagen: ‚was dem
21 Jaspers, Karl, Nietzsche, S. 247. 22 Ebd. S. 249. 23 Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra, Anaconda, Köln, 2005 [1883-1885], S. 18 f. 24 Ebd., S. 18. 25 Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse/Zur Genealogie der Moral, S. 54. 10 einen recht ist, ist dem andern billig‘“.26 Freilich sind es nur die höheren Menschen, die neue
Werte schaffen können. „Die vornehme Art Mensch [...] ist werteschaffend“ und „es ist das
eigentliche Herrenrecht, Werte zu schaffen“ heißt es im „neunten Hauptstück“ des Jenseits
von Gut und Böse.27
Zarathustra predigt, dass der, der Schöpfer im Guten und Bösen sein müsse, ein Vernichter
und Schöpfer zugleich sein müsse. Er müsse zuerst die alten Werte zerbrechen, um danach
neue schaffen zu können. Das höchste Böse und das höchste Güte gehörten also zusammen.28
Und dass es überhaupt Gut und Böse gibt, ist der Verdienst des Schaffenden:
Diese Schlaferei störte ich auf, als ich lehrte: was gut und böse ist, das weiß noch niemand – es sei
denn der Schaffende!
– Das aber ist der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn gibt und ihre
Zukunft: dieser erst schafft es, dass etwas gut und böse ist.29
Und zu diesen Menschen sagt Zarathustra „[z]erbrecht, zerbrecht mir, ihr Erkennenden, die
alten Tafeln!“30 Und als Ersatz für diese alten Tafeln sollen dann neue Tafeln, mit neuen
Werten, geschrieben werden. Wenn man in Nietzsches Moralphilosophie einen Wert, der für
alle Menschen gültig ist, finden will, ist dieser im folgenden Zitat zu finden: „Das
Vergangene am Menschen zu erlösen und alles ‚Es war‘ umzuschaffen, bis der Wille spricht:
‚Aber so wollte ich es! So werde ich’s wollen –‘“.31 Dieser Wert ist das Ja-sagen zum Leben
oder zum Dasein, wie es ist, war und immer sein wird. Er ist das Ja-sagen zur ewigen
Wiederkunft des Gleichen. Jaspers schreibt über Nietzsches Ethik:
Es ist wie ein neuer ethischer Imperativ, der fordert, alles, was ich fühle, will, tue, bin, unter den
Maßstab zu stellen, ob ich es so vollziehe, daß ich es unendliche Male immer wieder so vollziehen
möchte; anders ausgedrückt, ob ich wollen kann, daß dies Dasein immer wieder so sei. [...] Die
Bejahung, in der Umkehr aus der verzweifelnden Verneinung, wird, wenn sie nur einen
Augenblick gelingt, nach Nietzsche notwendig ein Ja zu allem, auch den unerwünschten und
schmerzvollen Dingen.32
26 Ebd., S. 142 . 27 Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse/Zur Genealogie der Moral, S. 193, 197. 28 Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra, S. 88.
29 Ebd., S. 150 f. 30 Ebd., S. 154. 31 Ebd., S. 152. 32 Jaspers, Karl, Nietzsche, S. 356. 11 Und Löwith schreibt von einem kategorischen Imperativ der ewigen Wiederkunft des
Gleichen, und zwar: „in jedem Augenblick so zu leben, daß man ihn immer wieder
zurückwollen könnte.“ 33 Dieser neue ethische oder kategorische Imperativ sagt nichts
darüber, wie man handeln soll. Aber er sagt wie man leben soll, und zwar soll man so leben,
dass man Ja zum ganzen Dasein sagen kann und will. Und wenn man einmal Ja zum Dasein
gesagt hat, wenn auch nur einen kurzen Augenblick, hat man zum ganzen Dasein der ewigen
Wiederkunft des Gleichen Ja gesagt. Aber was denn ist eigentlich die ewige Wiederkunft des
Gleichen?
Das Ja-sagen zum Leben
Die Antwort auf die Frage, was die ewige Wiederkunft des Gleichen ist, können wir z. B. in
Also sprach Zarathustra finden. Dort sagen Zarathustras Tiere zu ihm folgendes:
Siehe, wir wissen, was du [Zarathustra] lehrst: dass alle Dinge ewig wiederkehren, und wir selber
mit, und dass wir schon ewige Male da gewesen sind, und alle Dinge mit uns.
Du lehrst, dass es ein großes Jahr des Werdens gibt, ein Ungeheuer von großem Jahre: das muss
sich, einer Sanduhr gleich, immer wieder von neuem umdrehn, damit es von neuem ablaufe und
auslaufe: –
– so dass alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Größten und auch im Kleinsten, so dass wir
selber in jedem großen Jahre uns selber gleich sind, im Größten und auch im Kleinsten.34
Nietzsche lässt Zarathustra hier eine Lehre der griechischen Antike predigen. Die Lehre sagt
also, das alles immer wieder wiederkehrt. Was jetzt ist, ist schon ewige Male gewesen und
wird ewige Male wiederkehren, durch und durch gleich. Nach Löwith sei diese Lehre
zwiespältig, sie sei nämlich eine Einheit von einer „atheistischen Religion“ und einer
„physikalischen Metaphysik“. D.h. sie gebe „den wollenden Menschen“ ein neues ethisches
Ziel und fungiere als Ersatz für die christliche Unsterblichkeitslehre. Aber sie sage auch etwas
über die Wirklichkeit aus, die ewige Wiederkehr sei eine „Feststellung einer realen
Tatsache“.35 Und indem diese Lehre den Menschen ein neues Ziel gibt, ist sie auch die
33 Löwith, Karl, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Verlag Die Runde,
Berlin, 1935, S. 85.
Friedrich, Also sprach Zarathustra, S. 171. 35 Löwith, Karl, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, S. 83. 34 Nietzsche,
12 Überwindung des Nihilismus; sie ist „die Umkehr des Willens zum Nichts – des ‚Nihilismus‘
– zum Wollen des Seins der ewigen Wiederkunft des Gleichen.“36
Am Ende des Also sprach Zarathustra hielt der hässlichste Mensch, ein von den höheren
Menschen, eine Rede, die folgendermaßen lautet:
„Meine Freunde insgesamt“, sprach der hässlichste Mensch, “was dünket euch? Um dieses Tages
willen – ich bin’s zum ersten Male zufrieden, dass ich das ganze Leben lebte.
Und dass ich so viel bezeuge, ist mir noch nicht genug. Es lohnt sich auf der Erde zu leben: ein
Tag, ein Fest mit Zarathustra lehrte mich die Erde lieben. ‚War das – das Leben‘ will ich zum Tode sprechen. ‚Wohlan! Noch einmal!‘
Meine Freunde, was dünket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum Tode sprechen: war das – das
Leben? Um Zarathustras willen, wohlan! Noch einmal!“–37
Dieser Spruch („War das – das Leben? Wohlan! Noch einmal!“), wie Zarathustra anderswo
erklärt38, schlage den Tod tot und damit auch den Nihilismus, indem er Nein zum Selbstmord
und Ja zum Leben sagt.39 Und dieses ewig wiederkehrende Leben der ewigen Wiederkunft
ersetzt also das ewige Leben des Christentums. Das ewige Leben des Christentums liegt im
Jenseits; das ewige Leben der ewigen Wiederkunft dagegen liegt im diesseitigen Leben. Und
der Wille zur ewigen Wiederkunft des Gleichen lehrt also das Leben zu bejahen, indem er Ja
zu allem Dasein, das war, ist und sein wird, sagt. Und dieser Wille läuft in der Amor fati
(Liebe zum Schicksal) aus. Man soll also nicht nur das Sein im Allgemeinen bejahen, sondern
auch sein eigenes Schicksal.40
36 Ebd., S. 26. 37 Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra, S. 247. 38 Ebd., s. 119. 39 „Der Wille zur ewigen Wiederkunft des Daseins, mit allem, was da ist, sein wird und war, ist also
eine letzte ‚Selbstüberwindung des Nihilismus‘, weil in ihm der Mensch den Gedanken an das letzte:
den Selbstmord, das ist ‚die Tat des Nihilismus‘, überwindet.” – Löwith, Karl, Nietzsches Philosophie
der ewigen Wiederkunft des Gleichen, S. 60.
40 „Das Ja zum Sein als eins mit dem Ja zu meinem wollenden Sein nennt Nietzsche amor fati.“ –
Jaspers, Karl, Nietzsche, S. 363. 13 2. Teil – Die Herrenmoral des Demian
In Richerts Essay über „The Impact of Nietzsche on Hermann Hesse“ können wir folgendes
Zitat finden:
In its manifold use of archetypal symbolism, dream analysis and introspection, Demian (1917) is
structurally indebted to the psychoanalytic theories of Carl Jung; the ethical ideas expressed in the
novel, however, are a reformulation of Nietzsche’s views.41
Dies ist auch die Meinung dieses Aufsatzes, wenn auch Einflüsse auf die Ethik des Demian
auch in Jungs Psychoanalyse und anderswo zu finden sind. Aber die Philosophie Nietzsches
ist bestimmend für die Ethik von Demian. Das Ziel dieses Teils des Aufsatzes ist diese Ethik
des Demian und den Einfluss Nietzsches darauf darzulegen.
Dieses Teil ist parallel mit und in Bezug auf das vorhergehende organisiert. Zuerst wird die
Gegenüberstellung der Herren- und Sklavenmoral in Demian dargestellt, dann folgt die
Umwertung aller Werte im Roman und danach wird zuletzt auch das Ja-sagen zum Dasein des
Kainsgezeichneten (des höheren Menschen) dargelegt. Das erste Kapitel wird von Hesses
Umkehrung des Mythos von Kain und Abel handeln. Kain wird hier ein Repräsentant der
Herrenmoral und Abel ein Repräsentant der Sklavenmoral. Diese Umdeutung ist für den
ganzen Roman bestimmend. Dann folgen zwei Kapitel über die zwei Welten, die das Böse
bzw. das Gute symbolisieren, und Emil Sinclairs Ringen damit. Danach folgt ein Kapitel über
die Gottheit Abraxas, die jenseits von Gut und Böse ist, und die Umwertung aller Werte im
Roman. Letztlich kommen zwei Kapitel, die von der Herrenmoral des Romans bzw. dem Jasagen des Kainsgezeichneten handeln. Aber zuerst also – das Mythos von Kain und Abel in
Demian.
Kain und Abel
In Demian unternimmt Hesse also eine Umkehrung des Mythos von Kain und Abel. Aber
bevor diese Umkehrung beschrieben werden kann, muss der biblische Mythos rekapituliert
werden, damit wir wissen was Hesse umkehrt. Kain ist der erste Mörder der Geschichte, laut
der Bibel (und dem Koran). Aus Neid schlug er seinen Bruder Abel tot, nachdem Gott das
41 Reichert, Herbert W., Friedrich Nietzsche’s Impact on Modern German Literature, S. 97.
14 Opfer Kains abgewiesen, aber das Opfer Abels angenommen hatte. Als Strafe für diese Tat
wurde Kain von Gott verstoßen, aber er wurde auch mit einem Zeichen (das Kainsmal) als
Schutz versehen, damit niemand (d.h. seine Eltern Adam und Eva) ihn totschlug. Das
Kainsmal war also ein Stigma und Schutzzeichen zugleich.
Was Hesse tut, ist dass er dieses Mal in eine Auszeichnung verwandelt. Kain wird in dieser
Deutung zu einem höheren Menschen. Kain ist also der Vertreter der Herrenmoral und Abel
als der Gegensatz Kains ist der Vertreter der Sklavenmoral. Hierüber schreibt Szabó:
Abschließend lässt sich über HESSEs Demian Folgendes sagen: Wie das Leitmotiv des KainZeichens es deutlich macht, entwirft der Roman das Ethos der Werte setzenden Starken, denen die
Herrenmoral NIETZSCHEs entspricht. Dieses neue Ethos – das sich nach NIETZSCHEs
Moralkritik nicht mehr als „Moral“ bezeichnen lässt – liegt jenseits der überlieferten Kategorien
von Gut und Böse, hinter denen sich das Ressentiment der Schwachen und Kleinen erkennen
lässt.42
Aber wie denn führt Hesse diese Umkehrung tatsächlich durch?
Demian, „[d]as Symbol der Auserwählten, der ‚höheren Menschen‘ im Sinne
NIETZSCHEs“43 und „unter eigenen Gesetzen lebend“44, teilt Emil Sinclair früh in dem
Roman seine Umdeutung des Mythos von Kain und Abel mit.45 Demian erzählt Sinclair, dass
es zuerst einen Mann mit etwas im Gesicht gebe. Dieses Etwas mache den anderen Angst. Es
sei jedoch nicht ein tatsächliches Zeichen in seinem Gesicht, sondern eher etwas
Unheimliches. Dieser Mann habe Macht und die anderen Leute hätten sich deshalb vor ihm
gescheut. Sie hätten vor ihm und den Kainskindern Furcht. „Also erklärte man das Zeichen
nicht als das, was es war, als eine Auszeichnung, sondern als das Gegenteil.“46 Man sagte
dann, dass diese Kainskinder unheimlich seien. Furchtlosen seien sie auch. Danach hängte
man „diesem Geschlecht einen Übernamen und eine Fabel an, um sich an ihm zu rächen
[...]“.47 Demian erzählt weiter, dass die Geschichte von dem Totschlag wahr sei. Es handle
nicht notwendigerweise um einen Brudermord, was ohnehin nicht wichtig sei, da wir ja alle
Brüder seien. Der Mord sei von einem Starken begangen, der einen Schwachen erschlagen
42 Szabó, László V., Der Einfluss Friedrich Nietzsches auf Hermann Hesse, S. 235. 43 Ebd., S. 235.
44 Hesse, Hermann, Demian– die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend, Suhrkamp Verlag, Frankfurt
am Main, 1974 [1919], S. 59. 45 Ebd., S. 35-37. 46 Ebd., S. 36.
47 Ebd., S. 36.
15 habe. Nach dieser Tat seien die Schwachen voller Angst. Diese Feiglinge seien jedoch zu
feige, um den Starken totzuschlagen. Sie gestünden sich aber dies nicht ein, sondern
stattdessen sagen sie, dass man ihn nicht totschlagen könne, weil Gott ihn gezeichnet habe.
Etwa so sei der Schwindel entstanden, schließt Demian ab. „Kain ein edler Mensch, Abel ein
Feigling! Das Kainszeichen eine Auszeichnung“, so fasst Sinclair Demians Rede
zusammen.48
Schon Hesses Terminologie zeigt die Verwandtschaft mit Nietzsche. Wie dieser spricht
Hesse von Starken und Schwachen. Und in Demians Deutung des biblischen Mythos kann
man auch „den Sklaven-Aufstand in der Moral“ wiedererkennen. Die Schwachen hatten vor
diesem Menschen mit Macht Angst und aus Ressentiment und als Rache hatten sie ihm „einen
Übernamen und eine Fabel“ angehängt und seine Auszeichnung in das Gegenteil verwandelt.
Weiter lässt sich sagen, dass dieser starke Mensch „gut“ („ein edler Mensch“ nach Sinclairs
Worte) ist, und dass die Schwachen „schlecht“ sind. Und dass Kain den Schwachen ohne
weiteres totschlägt, zeigt dass er jenseits von Gut und Böse (des christlichen Gottes) steht. Die
zwei Hauptfiguren des Romans Emil Sinclair und Max Demian und auch dessen Mutter Frau
Eva sind solche Kainsgezeichnete („Kainskinder“). Aber warum wählte Hesse Kain als
Symbol für den höheren Menschen?
Nach Frederick Alfred Lubich sei „das gnostische Kains-Mal“ ein „matriarchales MutterMal, in dessen Zeichen Sinclair nun dem Vater und mehr noch dem Vater-Gott den Kampf
ansagt“; und Demians Umdeutung des biblischen Mythos erkenne sich jetzt als
„Bachofen’scher Kains-Mythos“.49 Kain sei der Lieblingssohn der Eva, die Ur-Mutter, und
der Herausforderer des Gott-Vaters des Alten Testaments. Die matriarchale Religion sei eine
„Vereinigung patriarchaler Gegensätze“ und Abraxas, die gnostische Gottheit jenseits von
Gut und Böse (und die im Roman eine wichtige Rolle spielt), sei ein Symbol des
Matriarchats.50 Und die Mutter-Gottheit der ursprünglichen matriarchalen Religionen vereint
„in sich Gut und Böse, Schöpfung und Zerstörung“.51
Kain ist also ein Repräsentant des Matriarchats, dessen Anführer er ist in dem Aufstand
gegen die Autorität der Vatermacht des christlichen Gottes. Die matriarchale Religion ist die
Überwinderin der Einteilung der Welt in Gut und Böse, da sie alle Gegenteile in sich schließt
und versöhnt. Kain ist also ein sehr treffendes Symbol für den höheren Menschen, da er ja den
48 Hesse, Hermann, Demian, S. 37.
49 Lubich, Frederick Alfred, „Bachofens Mutterrecht, Hesses Demian und der Verfall der
Vatermacht“, The Germanic Review 65 (1990), S. 152.
S. 152.
51 Ebd., S. 153.
50 Ebd.,
16 Aufstand gegen die Werte des patriarchalen Christentums symbolisiert. In diesem Aufstand
gegen Gott und die herkömmlichen Werte müssen auch neue Werte geschaffen werden; „The
king is dead, God himself is dethroned, and the structure of authority is badly shaken; into
this vacuum of authority Cain enters as one who is not only searching for values but who is
actively seeking to create new values“ schreibt Quinones über den Kain des Demian.52 Und
Reichert schreibt folgendes über diese neuen Werte: „As is evident from his use of the Cain
leitmotif, Hesse was concerned in the novel with proclaiming a new morality beyond good
and evil.“53 Kain fordert also die alten Werte heraus und schafft zugleich neue jenseits von
Gut und Böse, genau wie der höhere Mensch Nietzsches. Aber diese Themen werden erst
später im Aufsatz behandelt werden. Zunächst ist das Thema von den zwei Welten in Demian
zu untersuchen.
Die lichte und die dunkle Welt
Das Kind Emil Sinclair lebt am Anfang des Romans in einer Welt, die in zwei geteilt ist; es
gibt die lichte bzw. die dunkle Welt. Ziolkowski weist darauf hin, dass diese Welten etwa Gut
und Böse der christlichen Vorstellungswelt repräsentieren.54 Diese Welt ist also eine Welt der
patriarchalen Gegensätze, eine Welt diesseits von Gut und Böse. Sinclair ist am Anfang des
Romans noch völlig ein Teil der lichten Welt. Die dunkle Welt öffnet sich für ihn ganz und
gar, und wie ein Abgrund, erst als er Franz Kromer begegnet und ihm eine Räubergeschichte
erzählt.
Dem älteren Volksschüler Kromer erzählt Sinclair eine erfundene Geschichte von einem
Apfeldiebstahl, um ihm zu imponieren. Er erzählt ihm, wie er zusammen mit einigen
Kameraden zwei Säcke Äpfel aus einem Garten bei der Eckmühle gestohlen habe. Aber statt
Beifall bei Kromer zu finden, droht er Sinclair anzuzeigen, da tatsächlich Äpfel aus jenem
Garten gestohlen worden sind und der Besitzer des Gartens eine Belohnung von zwei Mark
demjenigen versprochen hat, der den Schuldige findet. Um nicht angezeigt zu werden, wird
Sinclair eine Art Sklave des Kromer und wird jetzt ganz und gar in die dunkle Welt
verwickelt. Er wird erst aus Kromers Klauen erlöst, als Demian ihm hilft und Kromer
wegjagt.
52 Quinones, Ricardo J., The Changes of Cain: violence and the lost brother in Cain und Abel
literature, S. 124.
Herbert W., Friedrich Nietzsche’s Impact on Modern German Literature, S. 98. 54 Ziolkowski, Theodor, The Novels of Hermann Hesse, S. 96.
53 Reichert,
17 Diese ganze Geschichte bedeutet eine erste Entfernung aus der lichten Welt. Sinclair
schwört falsch „[b]ei Gott und Ewigkeit“55, als er Kromer beteuert, dass die Geschichte wahr
sei. Als er heimgekehrt ist, kommt die nächste Sünde, da er seinen Vater nicht ehrt. Er fühlt
sich ihm überlegen, da der Vater nicht ahnen kann, was für ein Verbrechen der Sohn
begangen hat. „Es war ein erster Riß in die Heiligkeit des Vaters“ 56 erklärt Sinclair.
Ziolkowski freilich ist der Meinung, dass es der Diebstahl sei, der Sinclair aus das Paradies
der lichten Welt seiner Kindheit austreibt, obwohl er nur gedichtet ist.57 Aber wie Sinclair
sagt:
Ob nun mein Verbrechen ein Diebstahl war oder eine Lüge (hatte ich nicht einen falschen Eid bei
Gott und Seligkeit geschworen?) – das war einerlei. Meine Sünde war nicht dies oder das, meine
Sünde war, daß ich dem Teufel die Hand gegeben hatte.58 Nachdem Demian Sinclair errettet hat, kehrt dieser jedoch wieder in die Welt seiner Eltern zurück: Aus dem Jammertal meiner Verdammung, aus der furchtbaren Sklaverei bei Kromer floh ich mit
allen Trieben und Kräften meiner geschädigten Seele dahin zurück, wo ich früher glücklich und
zufrieden gewesen war: in das verlorene Paradies, das sich wieder öffnete, in die helle Vater- und
Mutterwelt, zu den Schwestern, zum Duft der Reinheit, zur Gottgefälligkeit Abels.59
Das Wichtige der Geschichte mit Kromer ist indessen, dass die dunkle Welt sich Emil
Sinclair wie eine Knospe erschlossen hat. Obwohl er diese Welt abgründig fand kann er nicht
in der alten Welt zurück, wenn auch er dies versucht. Wir werden zunächst sehen, wie er den
Versuchungen der dunklen Welt nicht widerstehen kann.
55 Hesse, Hermann, Demian, S.16.
56
Ebd., S. 23.
57 Ziolkowski,
Theodor, The Novels of Hermann Hesse, S. 127.
Hermann, Demian, S. 22. 59 Ebd., S. 53.
58 Hesse,
18 Die Versuchungen der dunklen Welt
Gleich am Anfang des dritten Kapitels steht folgendes zu lesen:
Immer kamen diese Anstöße von der „anderen Welt“, immer brachten sie Angst, Zwang und böses
Gewissen mit sich, immer waren sie revolutionär und gefährdeten den Frieden, in dem ich gern
wohnen geblieben wäre.60
Diesmal kommen die Anstöße der dunklen Welt von dem erwachenden Geschlechtstrieb der
Pubertät. Und Sinclair konstatiert, dass „[w]as einst Franz Kromer gewesen war, das stak nun
in mir selber.“61 Aber es ist erst als er konfirmiert worden ist und in eine neue Stadt, um dort
zu studieren, gezogen ist, das er ganz Teil der dunklen Welt wird. Nach einem Jahr in der
neuen Stadt, ein Jahr voll von Einsamkeit, geht er einmal in eine Kneipe mit dem älteren
Schulkameraden Alfons Beck, imponiert ihm und wird einer der Anführer der Kneipenhelden
des Gymnasiums. Er wird beinahe von der Schule entlassen wegen seines Benehmens. „Ich
gehörte wieder einmal ganz der dunkeln Welt, dem Teufel an, und ich galt in dieser Welt als
ein famoser Kerl“ schreibt Sinclair darüber.62 Erst als ein Mädchen, das er Beatrice nennt,
ihm auffällt und das ein neues Ideal für ihn wird, kann er die Bummelei hinter sich lassen.
„The ideal of Beatrice“ nennt Ziolkowski „a synthesis of the two poles [d.h. die lichte und die
dunkle Welt]“.63 Und über die Zeit der Bummelei schreibt er:
[T]his plunge into the abyss of the “dark” world is in its way just as constricting and false as his
previous sojourn at the opposite pole of the “light” world. [...] In the first part of the book he
[Sinclair] has learned that a commitment to either pole of his nature exclusively is a false road.64
Demian hat schon während des Konfirmationsunterrichts mit Sinclair darüber gesprochen:
Aber ich meine, wir sollen Alles verehren und heilig halten, die ganze Welt, nicht bloß diese
künstlich abgetrennte, offizielle Hälfte! Also müssen wir dann neben dem Gottesdienst auch einen
Teufelsdienst haben. Das fände ich richtig. Oder aber, man müßte sich einen Gott schaffen, der
60 Hesse, Hermann, Demian S. 57. 61 Ebd., S. 58. 62 Ebd., S. 88.
63 Ziolkowski, Theodor, The Novels of Hermann Hesse, S. 100. 64 Ebd., S. 99 f.
19 auch den Teufel in sich einschließt, und vor dem man nicht die Augen zudrücken muß, wenn die
natürlichsten Dinge von der Welt geschehen.65
Einen solchen Gott gibt es schon und sein Name ist Abraxas. Dieser Gott schließt in sich das
Gute und das Böse ein und in dieser Versöhnung liegt auch ihre Transzendierung. Abraxas ist
jenseits von Gut und Böse und das Thema des nächsten Kapitels.
Die Gottheit Abraxas – Jenseits von Gut und Böse
Sinclair fängt an zu malen, nach dem Erlebnis mit Beatrice. Eines der Bilder stellt einen
Vogel dar, der sich aus einem Weltkugel oder aus einem Ei heraufarbeitet. Dieses Bild schickt
Sinclair an Demian. Von Demian bekommt er auch einen Zettel als Antwort. Demian schreibt
in diesem Zettel folgendes:
Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt
zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.66
Einige Seite später heißt es von Abraxas, dass er „die symbolische Aufgabe hatte, das
Göttliche und das Teuflische zu vereinigen“.67 Jahnke hat eine Textparallele zu den Worten
von Demians Zettel in Also Sprach Zarathustra gefunden.68 Diese Textstelle ist die folgende:
Aber eine stärkere Gewalt wächst aus euren Werten und eine neue Überwindung: an der
zerbricht Ei und Eierschale.
Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen:
wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen.
Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische.69
Man kann hier leicht die Gemeinsamkeiten sehen: das Symbol von dem Ei, das zerstört wird
und das Schöpferische, das aus dem Vernichten stammt. „Auch in der Rolle des
Vernichtenden, der damit neues schafft, steht Demian der Denkweise Nietzsches nahe“
65 Hesse, Hermann, Demian, S. 73. 66 Hesse, Hermann, Demian, S. 107. 67 Ebd., S. 109.
68 Jahnke, Walter, Hermann Hesse, Demian: Ein er-lesener Roman, S. 98.
69 Nietzsche, Friedrich, Also Sprach Zarathustra, S. 88.
20 schreibt Jahnke.70 Was in Also sprach Zarathustra zerstört wird, sind die alten hinfälligen
Werte, damit neue geschaffen werden können. Man kann die Parallele zwischen den zwei
Textstellen weiter ziehen und annehmen, dass in der Textstelle des Demian die Zerstörung der
alten christlichen Werte symbolisiert wird. Die Welt, die das Ei ist und die zerstört werden
muss, ist die Welt von Abel, die Welt von Gut und Böse. Um geboren zu werden, muss man
erst die Welt von Gut und Böse zerstören und danach seine eigenen Gesetze, seine eigenen
Werte schaffen. Wenn man das gemacht hat, „fliegt“ man zu der Gottheit Abraxas, die „das
Göttliche und das Teuflische“ vereinigt und die jenseits von Gut und Böse ist, d.h. dann ist
man selber jenseits von Gut und Böse.
In der römischen Antike, laut Bachofen, sei das Ei auch ein Symbol der zwei Pole der
Welt, die lichte und die dunkle, schreibt Ziolkowski.71 Er setzt fort: „The parallel is quite
detailed. It is not simply the ‚world‘ that Sinclair smashes, but specifically the world of false
polarities.“72 Wir können also sagen, dass der Vogel, der das Ei zerstört, die Welt der
patriarchalen Gegensätze zerstört. Man kann auch sagen, dass das Symbol von dem Vogel
und dem Ei ein Symbol für die Umwertung aller Werte ist. Diese neuen Werte sind das
Thema des nächsten Kapitels.
Die Herrenmoral der Kainsgezeichneten
Heinrich Mettler schreibt folgendes von den neuen Tugenden des Romans:
Tugend als Tauglichkeit, zum Schöpfer seiner selbst zu werden, der sich aus dem eigenen
Überfluss auch zu verausgaben, zu verschenken vermag, wie es Hesse als Schriftsteller in seinem
Schreiben auslebt, erlebt und gestaltet.73
Die letztere Tugend interessiert uns nicht, nur die erste. Mettler nennt also die „Tauglichkeit,
zum Schöpfer seiner selbst zu werden“ eine Tugend. Ich nenne „seiner selbst zu werden“ das
ethische Ziel der Herrenmoral des Romans, und zwar ein Selbst, das man eigentlich schon ist
aber nicht verwirklicht hat. Und dieses Selbst, das man schon ist, ist das Schicksal jedes
70 Jahnke, Walter, Hermann Hesse, Demian: Ein er-lesener Roman, S. 98. 71 Ziolkowski, Theodor, The Novels of Hermann Hesse, S. 114. 72 Ebd., S. 115.
73 Mettler, Heinrich, Hesses „Demian“: Wandel der Tugend und des Begriffs der Tugend, eine
„Umwertung aller Werte“ unter dem Vorzeichen Nietzsches?, Ethische Perspektiven: Wandel der
Tugenden (1989), S. 251.
21 Menschen. Man kann nicht ein beliebiges Selbst wählen aber man kann vor seinem Selbst
fliehen.74 Man ist gleichsam was man ist. Sinclair denkt darüber nach:
Es gab keine, keine, keine Pflicht für erwachte Menschen als die eine: sich selber zu suchen, in sich
fest zu werden, den eigenen Weg vorwärts zu tasten, einerlei wohin er führte. [...] Wahrer Beruf für
jeden war nur das eine: zu sich selbst zu kommen. Er mochte als Dichter oder als Wahnsinniger, als
Prophet oder als Verbrecher enden – dies war nicht seine Sache, ja dies war letzten Endes
belanglos. Seine Sache war, das eigene Schicksal zu finden, nicht ein beliebiges, und es in sich
auszuleben, ganz und ungebrochen.75
Die Pflicht des „erwachten Menschen“ ist also „sich selber zu suchen“ und „[v]on sich selber
wegkommen ist Sünde“76, wie Demian einmal sagt. Statt der Geschichte von Emil Sinclairs
Jugend könnte man sagen, dass Demian die Geschichte von Emil Sinclairs Individuation77 ist.
Was Demian im Grunde genommen darstellt, ist ja Emil Sinclairs Suche nach sich selbst und
seinem Schicksal.78 Das ethische Ziel des Emil Sinclair, oder des Kainsgezeichneten, ist also
die Individuation, d.h. sich selbst zu werden. Dieses ethische Ziel hat Hesse nicht von
Nietzsche übernommen, sondern, meiner Meinung nach, von C. G. Jung. Die Individuation ist
das Ziel der Psychoanalyse Jungs, es ist sogar das Lebensziel jedes Menschen, nach Jung.
Lothar Blum schreibt außerdem, dass Hesse in einem Brief geschrieben hat, dass Demian die
Inkarnation einer Lehre sei und „[d]iese ‚Lehre‘ ist stark bestimmt durch den Einfluss der
Psychologie Carl Gustav Jungs und dessen Theorie der Individuation“, nach Blum.79 Meines
Erachtens drückt sich also dieser Einfluss in dem ethischen Ziel des Romans aus. Demian,
den man wohl Sinclairs Ideal nennen kann, ist ein schon individualisiertes Individuum und
Sinclair ahmt ihn nach.
Wie definiert Jung die Individuation? Folgendermaßen: „Individuation bedeutet: zum
Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und
74 „Überall Gemeinsamkeit, überall Zusammenhocken, überall Abladen des Schicksals und Flucht in
warme Herdennähe“ - Hesse, Hermann, Demian, S. 156.
Hermann, Demian, S. 150. 76 Ebd., S. 77.
77 Dieser Begriff stammt aus Jungs Psychologie und bedeutet, was wir bald sehen werden, „zum
eigenen Selbst werden“ oder halt sich selbst zu werden.
78 „Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war
das so sehr schwer?“ steht ja als Motto für diesen Roman. (Hesse, Hermann, Demian, S. 7).
79 Blum, Lothar, Begegnungen: Studien zur Literatur der klassischen Moderne, S. 90.
75 Hesse,
22 unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden.“80 Und das Selbst, das
Ergebnis der Individuation, definiert Jung als das Ziel des Lebens: „So ist das Selbst auch das
Ziel des Lebens, denn es ist der völligste Ausdruck der Schicksalskombination, die man
Individuum nennt, und nicht nur des einzelnen Menschen, sondern einer ganzen Gruppe, in
der einen den andern zum völligen Bilde ergänzt.“81 Jolan Jacobi nennt, in ihrem Buch über
Jungs Psychologie, das Selbst „ein ethisches Postulat, ein Verwirklichungsziel“.82 Und nach
meiner Meinung teilt Hesse dieses „ethische Postulat“ mit Jung. Aber es gibt noch eine Frage
zu beantworten, und zwar: Wie soll man handeln? Oder anders ausgedrückt: Welche
Handlungen sind erlaubt? Sind alle Handlungen erlaubt? Was sagt eigentlich der Roman
darüber?
Er scheint zu sagen, dass alle Handlungen wirklich erlaubt sind. Auf Sinclairs Ausruf, dass
man „nicht einen Menschen umbringen [darf], weil er einem zuwider ist“ antwortet Pistorius
„[u]nter Umständen darf man auch das“; und er fügt lakonisch hinzu: „Es ist nur meistens ein
Irrtum.“83 Verboten ist es jedoch nicht. Pistorius sagt auch folgendes: „Man darf nichts
fürchten und nichts für verboten halten, was die Seele in uns wünscht.“84 Und wie, meint
Demian, soll Sinclair Franz Kromer loswerden? Durch Totschlag! „Wenn es gar nicht anders
geht, dann schlage ihn tot!“85 schlägt er vor. Und, wie wir schon gelesen haben, ist es einerlei
und belanglos ob man Dichter oder Wahnsinniger, Prophet oder Verbrecher wird. Was von
Belang ist, ist das man sich selbst wird. Wie man danach handelt scheint belanglos zu sein;
oder besser – wenn man gemäß seiner Natur handelt, ist alles erlaubt. Robert C. Conrad,
scheint es mir, ist von gleicher Meinung: „To him [Sinclair] there is no morality for man but
to become one with the design of nature in himself. [...] To be immoral, therefore, is to fail to
live according to this unerring internal guide.“86 Und er zieht die äußersten Konsequenzen
davon: „Following this reasoning, even Hitler who pursues his demon is the most moral of
men because to submit to one’s personal destiny is the only morality.“87 Es wäre natürlich
völliger Unsinn, Hesse als Nationalsozialisten zu bezichtigen. Gleich unsinnig wäre es zu
80 Jung, C. G., Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, Rascher Verlag, Zürich,
1945, S. 91.
C. G., Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten , S. 206.
82 Jacobi, Jolan, Die Psychologie von C. G. Jung, Rascher Verlag, Zürich, 1949, S. 223.
83 Hesse, Hermann, Demian, S 132. 84 Ebd., S. 131. 85 Ebd., S. 49.
86 Conrad, Robert C., Socio-Political Aspects of Hesse’s Demian in Bauschinger, Sigrid und Reh,
Albert [Hrsg.], Hermann Hesse: Politische und Wirkungsgeschichtliche Aspekte [14. Amherster
Kolloquium zur deutschen Literatur], Francke Verlag, Bern, 1986, S. 161.
87 Ebd., S. 161. 81Jung,
23 behaupten, dass der Hesse, der Demian schrieb, Hitler einen tugendhaften Mann nennen
würde. Aber wenn man die äußersten Konsequenzen der Herrenmoral des Romans zieht, bin
ich auch der Meinung, dass man Hitler tugendhaft nennen müsste, wenn er gemäß seiner
Natur gehandelt hätte.
Gleich wie Nietzsche sagt Hesse also nicht wie man handeln soll, sondern nur wie man
leben soll. Keine Handlung ist in sich verboten. Die Werte des Christentums sind hinfällig.
Nietzsche und Hesse unterscheiden sich jedoch darin, wie man leben soll. Nietzsche sagt, dass
man so leben soll, dass man dieses Leben immer wieder leben möchte. Hesse sagt, dass man
so leben soll, dass man sich selbst wird und sein Schicksal verwirklicht. Und das noch zu
untersuchende Thema dieses Aufsatzes ist das Thema des Schicksals in Demian.
Die Bejahung des Schicksals
Als Sinclair im vorletzten Kapitel Demian wiedergefunden hat und in der Halle dessen
Hauses steht und auf Demian und dessen Mutter Frau Eva, sein Traumbild, wartend kann er
sein ganzes Leben gutheißen:
Ergriffen blieb ich stehen – mir war so froh und weh ums Herz, als kehre in diesem Augenblick
alles, was ich je getan und erlebt, zu mir zurück als Antwort und Erfüllung. Blitzschnell sah ich
eine Menge von Bildern an meiner Seele vorüberlaufen; das heimatliche Vaterhaus mit dem alten
Steinwappen überm Torbogen, den Knaben Demian, der das Wappen zeichnete, mich selbst als
Knaben, angstvoll in den bösen Bann meines Feindes Kromer verstrickt, mich selbst als Jüngling,
in meinem Schülerzimmerchen am stillen Tisch den Vogel meiner Sehnsucht malend, die Seele
verwirrt ins Netz ihrer eigenen Fäden – und alles, und alles bis zu diesem Augenblick klang in mir
wider, wurde in mir bejaht, beantwortet, gutgeheißen.88
Sinclair sagt zu diesem Augenblick Ja und wenn man einmal Ja zum Dasein gesagt hat, muss
man zu allem Dasein Ja sagen, sowohl das vergangene als auch das zukünftige Dasein. Wir
finden hier die Lehre des Amor fati wieder. Und Reichert schreibt folgendes über den Amor
fati des Demian: „Demian reveres the principle of amor fati more strongly even than Kuhn [in
Hesses Roman Gertrud]“89. Conrad weist darauf hin, dass es in Demian zwei verschiedene
Schicksale gibt. Es gibt einerseits ein individuelles Schicksal, „fidelity to one’s nature“, und
88 Hesse, Hermann, Demian, S. 163. 89 Reichert, Herbert W., Friedrich Nietzsche’s Impact on Modern German Literature, S. 98. 24 andrerseits ein kollektives Schicksal, „the movement of history“. Nur sehr selten fallen sie
zusammen.90 Sinclair schreibt folgendes:
Und wir empfanden einzig das als Pflicht und Schicksal: daß jeder von uns so ganz er selbst werde,
so ganz dem in ihm wirksamen Keim der Natur gerecht werde und zu Willen lebe, daß die
ungewisse Zukunft uns zu allem und jedem bereit finde, was sie bringen möchte.91
Und was die Zukunft ihnen bringt ist der Krieg. Und es ist in dem Krieg, wo das individuelle
und das kollektive Schicksal zusammenfallen:
Wie sonderbar war dies alles, und wie schön im Grunde! Nun sollte ein Krieg kommen. Nun sollte
das zu geschehen beginnen, was wir oft und oft geredet hatten. Und Demian hatte so viel davon
vorausgewußt. Wie seltsam, daß jetzt der Strom der Welt nicht mehr irgendwo an uns vorbeilaufen
sollte –, daß er jetzt plötzlich mitten durch unsere Herzen ging, daß Abenteuer und wilde
Schicksale uns riefen und das jetzt oder bald der Augenblick da war, wo die Welt uns brauchte, wo
sie sich verwandeln wollte. Demian hatte recht, sentimental war das nicht zu nehmen. Merkwürdig
war nur, daß ich nun die so einsame Angelegenheit „Schicksal“ mit so vielen, mit der ganzen Welt
gemeinsam erleben sollte. Gut denn!92
Der Krieg ist also das Schicksal sowohl des Sinclair als auch der ganzen Menschheit oder der
Weltgeschichte. „Es kämpfte sich ein Riesenvogel aus dem Ei, und das Ei war die Welt, und
die Welt mußte in Trümmer gehen“93 heißt es am Ende des Romans. Das alte Europa ist
todgeweiht und durch den Krieg soll es neugeschaffen werden. Sinclair heißt dieses Schicksal
gut.
90 Conrad, Robert C., Socio-Political Aspects of Hesse’s Demian, S. 161. 91 Hesse, Hermann, Demian, S. 171. 92 Ebd., S. 188. 93 Ebd., S. 190 f.
25 Zusammenfassung
Das Thema dieses Aufsatzes war also die Herrenmoral in Hesses Roman Demian. Diese Ethik
sollte dargelegt werden und gleichzeitig sollte auch Nietzsches Einfluss auf diese Ethik
untersucht werden. Die These war, dass Nietzsches Moralphilosophie ein entscheidender
Einfluss auf die Herrenmoral des Romans hatte. Deshalb fing der Aufsatz mit einer kurzen
Analyse von Nietzsches Moralphilosophie an. Erst danach wurde Demian zum Thema des
Aufsatzes. Drei Teile von Nietzsches Moralphilosophie wurden untersucht. Zuerst die
Unterscheidung zwischen Herren- und Sklavenmoral, dann die Umwertung aller Werte und
zuletzt das Ja-sagen zum Leben.
Der starke Mensch gehört mit der Herrenmoral zusammen und der schwache Mensch mit
der Sklavenmoral. Die Sklavenmoral ist eine Verneinung des diesseitigen Lebens, während
die Herrenmoral das diesseitige Leben bejaht. Der Starke nennt sich selbst und was er tut
„gut“ und den Schwachen nennt er danach „schlecht“. Der Schwache wertet dann diese Werte
um und nennt sich selbst „gut“ und den Starken nennt er „böse“. Dies ist der sogenannte
Sklavenaufstand in der Moral. Die Werte sind also veränderbar und Nietzsche will eine
Umwertung der christlichen Werte durchführen. Gott ist tot und die Werte des Christentums
sind dahin. Jeder Mensch muss sein eigener Gesetzgeber sein und im Moralischen selbst
wählen. Der neue Wert, den man in Nietzsches Moralphilosophie finden kann und der für alle
gültig ist, ist das Ja-sagen zum Leben oder zum Dasein – er ist das Ja-sagen zur ewigen
Wiederkunft des Gleichen. Nietzsches Moralphilosophie sagt aber nicht wie man handeln
soll, sondern nur wie man leben soll. Und zwar soll man so leben, dass man Ja zur ewigen
Wiederkunft des Gleichen sagen kann und will. Diese ewige Wiederkunft lehrt, dass was jetzt
ist, schon ewige Male gewesen ist und ewigevMale wiederkehren wird. Diese Lehre
überwindet den Nihilismus indem sie Ja zum Leben sagt. Sie lehrt auch den Menschen das
Leben zu bejahen und sein Schicksal zu lieben.
Danach wurde gezeigt, dass man diese drei Bestandteile von Nietzsches Moralphilosophie
in Demian wiederfinden kann. Die Unterscheidung zwischen den Starken und den Schwachen
bzw. Herren- und Sklavenmoral kann man im Roman in der Unterscheidung zwischen Kain
und Abel wiederfinden. Hesse unternimmt in Demian eine Umdeutung des biblischen Mythos
von Kain und Abel. Kain wird in dieser Deutung ein Repräsentant der Starken und der
Herrenmoral und Abel ein Repräsentant der Schwachen und der Sklavenmoral. Emil Sinclair,
Max Demian und dessen Mutter Frau Eva sind solche Starken oder Kainsgezeichneten.
Demian ist die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. Dieser Sinclair lebt in einer Welt, die in
26 eine lichte bzw. eine dunkle Welt geteilt ist. Er erfährt nach und nach, dass er weder nur in
der lichten noch nur in der dunklen Welt leben kann. Er muss beide Seiten der Welt bejahen.
Die Gottheit Abraxas ist ein Symbol dafür. Abraxas schließt in sich sowohl die lichte als auch
die dunkle Welt ein, Abraxas ist jenseits von Gut und Böse. Und Sinclair kommt zu der
Einsicht, dass er die Welt von Gut und Böse zerstören muss. Er muss jenseits von Gut und
Böse leben. Und jenseits von Gut und Böse findet Sinclair den neuen Wert oder das ethische
Ziel seines Lebens. Dieses ethische Ziel der Herrenmoral des Romans ist die Individuation.
Man soll sich selbst werden. Diese Herrenmoral sagt aber nicht wie man handeln soll. Wenn
man gemäß seiner Natur handelt ist nämlich alles erlaubt. Abschließend gibt es in diesem
Roman zwei verschiedene Schicksale – es gibt ein individuelles und ein kollektives Schicksal.
In dem ersten Weltkrieg laufen sie zusammen. Sinclair bejaht dieses Schicksal, das er im
Krieg findet.
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