Die Jeans erobert den Osten (1945–1960)
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Die Jeans erobert den Osten (1945–1960)
01_Jeans 15.08.2004 11:14 Uhr Seite 9 Die Jeans erobert den Osten (1945–1960) Rock ’n’ Roll und Nietenhosen West- wie Ostdeutschland hatten bis Ende des Zweiten Weltkrieges kaum eine Jeans gesehen. Umso größer war das Staunen der Deutschen über diese praktischen blauen Baumwollhosen, die die Soldaten der amerikanischen Besatzungsmacht trugen. Ende 1945 wurden die Soldaten der US-Army fast komplett ausgetauscht, so dass die meisten danach in Westdeutschland stationierten Amerikaner nicht an den Kampfhandlungen gegen deutsche Truppen teilgenommen hatten. Anders als englische, französische und sowjetische Soldaten konnten sie den Deutschen dadurch sehr viel unbefangener und offener begegnen. Die jungen Soldaten, die in Amerika keine Erfahrung mit kriegsbedingten Entbehrungen gemacht hatten, müssen den vom Mangel des Krieges geprägten deutschen Jugendlichen wie Vorboten einer besseren Welt erschienen sein. Mit Schokolade und Kaugummi, Jazz und Rock ’n’ Roll, neuen Frisuren und eben Jeans weckten sie die Neugierde der deutschen Jugend, die von ihren Eltern meist noch in rustikale Leder- oder Bundhosen gesteckt wurde. In den von der Sowjetunion besetzten Gebieten sah man allerdings keine Farmerjungen aus dem Mittleren Westen, die sich ihre Jeans überzogen, wenn sie die Uniform ablegten. Die sowjetischen Soldaten, deren Land stark unter der deutschen Kriegsaggression gelitten hatte, verfügten über weniger Auswahl bei ihrer Bekleidung. Da ihnen individueller Ausgang nicht erlaubt war, begegneten sich Deutsche und Sowjetsoldaten zudem nur bei repräsentativen Anlässen, und dort sah man eher folkloristische Trachten der unterschiedlichen Kulturen der Sowjetrepubliken. Bis Mitte der 50er Jahre galt die Jeans auch in Amerika als eine ausgesprochene Arbeitshose, die wegen ihrer praktischen Trageeigenschaften beliebt war. Schließlich hatte der ursprünglich aus dem bayerischen Buttenheim stammende Levi Strauss, der Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika eingewandert war und mit seinen genieteten Hosen bei den Goldgräbern im Westen der USA einen 9 01_Jeans 15.08.2004 11:14 Uhr Seite 10 Verkaufsschlager gelandet hatte, seine Jeans als genau das erdacht: eine Hose, die der Kraft zweier Pferde widerstand. Das entsprechende Emblem findet man noch heute auf den Lederetiketten der Levi’sJeans. Den Stoff, eine besonders feste Baumwolle, führte Strauss aus der französischen Stadt Nîmes ein – daher der Name »Denim«, die amerikanische Variante für das französische »de Nîmes«, »aus Nîmes«. Das Wort Jeans steht im Englischen für einen Baumwollkörper und geht vermutlich auf Gênes, die französische Bezeichnung der norditalienischen Stadt Genua, zurück. Hier befand sich über Jahrhunderte einer der wichtigsten europäischen Umschlaghäfen für Baumwolle. Jeans waren die typische Bekleidung für Cowboys, wie deutsche Jugendliche sie aus amerikanischen Western kannten. Genau deshalb symbolisierten sie für die SED-Ideologen den Klassenfeind. Von amerikanischen Vorbildern inspirierte Kleidung spielte auch bei den Ereignissen des 17. Juni 1953, als Tausende ostdeutscher Arbeiter auf die Straßen gingen, um gegen die zuvor beschlossene Erhöhung der Arbeitsnormen zu protestieren, eine Rolle: Die äußere Erscheinung der Demonstranten, die zum Teil Geschäfte geplündert und angezündet hatten, wurde von der SED als Beweis dafür angeführt, dass die Demonstrationen eine vom Westen initiierte Feindaktion waren. Jugendliche Demonstrationsteilnehmer, die Jeans und so genannte Texashemden trugen, wurden im SED-Parteiorgan Neues Deutschland als »faschistische Handlanger« bezeichnet: »Nebenstehend veröffentlichen wir das Foto eines Mitgliedes einer Gruppe Westberliner Provokateure, die bei Ausschreitungen gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung in der Stadt Erfurt von den Sicherheitsorganen unserer Republik dingfest gemacht wurden. Texashemd mit Cowboy, Texaskrawatte mit der Abbildung nackter Frauen, Texasfrisur, Verbrechergesicht – das sind die Ritter der ›abendländischen Kultur‹, die typischen Vertreter der amerikanischen Lebensweise. Dieser Bandit, ein deklassiertes Element aus Erfurt, hat nach einem kurzen Gastspiel auf mehreren Arbeitsstellen in der Republik sich vor längerer Zeit nach Westberlin begeben, weil Gangstertum ihm besser passte als ehrliche Arbeit. Aus den Aussagen der beim offenen Widerstand gegen unsere Machtorgane verhafteten Banditen geht hervor, dass die ganze Gruppe in Westberliner Anlaufstellen kostenlos die Texashemden zur Verfügung gestellt erhielten. Dabei wurde ihnen in Westberlin erklärt: Das alles bezahlt Ernst Reuter!«1 10 01_Jeans 15.08.2004 11:14 Uhr Seite 11 Mitte der 50er Jahre entstand in Amerika mit dem Aufkommen von Rock ’n’ Roll und Boogie-Woogie eine bisher unbekannte Jugendkultur. Auch in amerikanischen Filmen, wie sie im Westen Deutschlands gezeigt wurden, fand sie ihren Ausdruck. Die Stars kopierend, kombinierten die Jugendlichen ihre Jeans, die wegen ihrer Machart bis in die 60er Jahre hinein oft als Niet- bzw. Nietenhose bezeichnet wurde, mit neuen jugendspezifischen Frisuren wie dem »Bürstenschnitt«, der »Tolle« oder dem unvermeidbaren »Entenschwanz«, bei dem die Nackenhaare länger gelassen und kunstvoll zusammengekämmt wurden. Eine Nachkriegsjugend, die die Rebellion gegen die Gesellschaft der Vaterlandspflicht ihrer Väter vorzog, hatte sich ihre eigenen Erkennungsmerkmale geschaffen. Die Filmhelden waren vor allem junge Männer, die zumeist mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein, aber auch rebellischer Melancholie auftraten. Marlon Brando verkörperte in »Die Wilden« von 1955 den Anführer einer Motorrad-Gang in Jeans und Lederjacke und kreierte damit den Look einer anarchistischen und gewaltbereiten Jugend, die die Vorschriften der Autoritäten missachtete und nur ihre selbst geschaffenen Hierarchien akzeptierte. James Dean spielte in dem Film »Denn sie wissen nicht, was sie tun«, der 1956 in der Bundesrepublik (BRD) anlief, einen rebellischen und zugleich melancholischen Außenseiter, der sich in einer Clique durchsetzen muss. Alle jugendlichen Darsteller trugen Jeans, karierte Hemden und Blousons – eine Kombination, die vollkommen neu war und auch von der Jugend in Deutschland begeistert aufgenommen wurde. Jetzt waren es nicht mehr Cowboys, sondern ganz normale Jungen von der Straße, die diese praktischen Arbeitshosen trugen und so zu einem begehrten Modeartikel machten. Die Filmfiguren demonstrierten als rebellische Einzelgänger oder Anführer jugendlicher Banden bislang unbekannte Formen des gesellschaftlichen Aufstiegs. Auch Rock-’n’-Roll-Filme, in denen die Schauspieler zugleich Musiker waren, erfreuten sich in den 50er Jahren großer Beliebtheit. Einer der ersten Jugendfilme dieser Art war »The Blackboard Jungle«, der 1955 unter dem Titel »Saat der Gewalt« in der Bundesrepublik anlief. Der Film zeigt Rock-’n’-Roll-begeisterte Jugendliche in Jeans und T-Shirts, die sich zum Teil brutale Kämpfe mit ihren Lehrern und anderen Autoritätspersonen liefern. Auch in dem Film »Rock around the Clock«, auf Deutsch »Außer Rand und Band«, von 1956 tragen die Jugendlichen Jeans. Für beide Streifen hatte der amerika11 01_Jeans 15.08.2004 11:14 Uhr Seite 12 Horst Hertel Jg. 1936, aufgewachsen in Berlin, Drehermeister, 1953 als angeblicher Rädelsführer des 17. Juni verurteilt, lebt in Hermannsburg/Niedersachsen Eine Jeans war für mich zunächst einmal ein unerfüllter Traum. Ich weiß heute nicht mehr, was die gekostet haben, aber das Geld hatte ich eigentlich nicht. Ich bin im Berliner Arbeiterbezirk Friedrichshain groß geworden. Meine Mutter arbeitete bei Minol, der Tankstellenvertretung, deshalb hat sich meine Oma viel um mich gekümmert. Mein Vater war Verkehrspolizist. Anfang der 50er Jahre, als ich 16 war, bin ich mit meinen Freunden immer nach Westberlin gefahren. In der Woche vier-, fünfmal, wenn nicht jeden Tag. Wir sind bei der Schillingbrücke über den so genannten offenen Übergang rüber. Da sind wir ins Kino gegangen, für 25 Pfennig West. Sie zeigten Filme mit John Wayne und Gary Cooper, das war was für uns. Dazu hat man sich noch ein paar Kaugummis gekauft, die klebte man unter den Sitz. Am meisten waren wir am Potsdamer Platz in den Kinos »Camera« und »Aladin«. Wir waren hellauf begeistert, und als wir rauskamen, haben wir uns stark gefühlt, weil wir von den Filmen so beeindruckt waren. Ich habe auch immer diese alten Wildwest-Romane gelesen und sie an meine Freunde weitergegeben, und so haben wir uns damals vergnügt. Jeans waren ja eine richtige Welle: Die kamen aus Amerika, dort waren Cowboys, und die hatten ja auch alle Levi’s- oder Lee-Jeans an. Und die Cowboys hatten wir im Film gesehen. Das mussten wir einfach haben. Nur, wie kamen wir an die Hosen? Von den Eltern konnte man kein Geld erwarten, und erst recht kein Westgeld. Wir haben es uns dann regelrecht zusammengegaunert, z. B. beim Klimpern auf der Straße. Dabei warf man ein Geldstück, und wer am nächsten an die Wand traf, der hatte gewonnen. Wir haben natürlich nicht um Ost-, sondern um Westgeld gespielt, das waren keine Riesengewinne, sondern ab und zu mal 50 Pfennig. Also haben wir zusätzlich noch in den Trümmern gekramt, dabei stießen wir 12 01_Jeans 15.08.2004 11:14 Uhr Seite 13 mitunter auf Buntmetall, das wir dann in Westberlin verkauft haben. Für das Kilo bekamen wir 4,50 Mark West. Das war doch viel Geld! Irgendwann hatte ich mir die Jeans zusammengespart, jedenfalls hatte ich die als Erster. Für mich durfte das nicht irgendeine sein, sondern sie musste schwarz und mit Kupfernieten beschlagen sein. Das war der Knüller überhaupt, und als ich die endlich hatte, bin ich aus der Hose nicht mehr ausgestiegen, weder am Tage noch nachts. Die habe ich bewacht, als hätte ich sie im Tresor. Ich wollte mit den Hosen etwas darstellen. Heute trägt die ja jeder, aber damals war das eindeutig westlich. Je mehr ich bestaunt wurde, desto mehr bin ich innerlich gewachsen, und alle waren neidisch in der Clique. Eins wussten wir damals schon: Jeans mussten erst mal eng werden. Und so haben wir die immer wieder eingeweicht, damit sie zu einer richtigen Röhre wurden. Vor allem unten hatten Jeans ganz eng zu sein. Dadurch hat man die natürlich schwer ausgekriegt. Man musste sie richtig über die Hacken ziehen, immer ganz langsam. Wenn das eine Stunde gedauert hätte, wäre es auch egal gewesen. Die Jeans war das Wichtigste von allem. Jetzt brauchte man aber natürlich noch das passende Hemd dazu, das über der Hose getragen werden musste. Mit dem Hemd war das Outfit schon fast perfekt. Dann fehlten noch die Ringelsocken und dazu Baseballschuhe. Die band man auf eine besondere Art, das war eine Wissenschaft für sich. Ich hatte damals einen Spitznamen: Igel, weil die Haare ganz kurz waren und schön nach oben standen. Als ich alles zusammen hatte, war ich der Star bei uns im Osten. Nach und nach haben sich die anderen aus meiner Clique auch solche Klamotten beschafft, und wir liefen durch die Straßen wie John Wayne persönlich. 13 01_Jeans 15.08.2004 11:14 Uhr Seite 14 nische Rock-’n’-Roll-Star Bill Haley die Musik geliefert. Einer der berühmtesten singenden Schauspieler war neben Haley sicherlich Elvis Presley, der in dem Film »Jailhouse Rock« als Darsteller eines unbedarften Farmerjungen ebenfalls in Jeans auftrat. Im Anschluss an die Filmvorführungen von »Rock around the Clock« kam es in der gesamten Bundesrepublik zu Ausschreitungen. Die jugendlichen Kinobesucher tanzten und grölten auf der Straße oder lieferten sich mit der Polizei wilde Schlachten. Auch nach dem Konzert von Bill Haley and his Comets am 26. Oktober 1958 im Westberliner Sportpalast gab es Randale, die die DDR-Presse als Beweis dafür anführte, dass die amerikanischen Einflüsse nur ein Ziel hatten, nämlich die Vernichtung der deutschen Jugend: »… und Hunderte junge Menschen begannen zu zucken, zu toben, im wahnsinnigen, ewig gleichförmigen Rhythmus jenes teuflischen Rock ’n’ Roll, der nichts neben sich duldet als Stumpfsinn und Raserei; der den Verstand zum Kopfe hinausjagt und in den Ohren nichts anderes klingen lässt als das Geheul eines Besessenen. […] Im Trancezustand kennt er nur noch eines: brüllen, toben, zerstören, vernichten! Und ist schon selbst innerlich zerstört, vernichtet …«2 Tatsächlich trugen die in »Rock around the Clock« dargestellten Jugendlichen ihre Konflikte mit Autoritätspersonen sehr brutal aus. Sie stammten aus einem proletarischen Milieu und lebten in einer Großstadt mit ihren spezifischen Problemen, wie auch die meisten jungen Kinobesucher. Mit ihren Krawallen verlangten die Halbstarken der Welt der Erwachsenen höchst wirksam mehr Respekt und Aufmerksamkeit für ihre Wünsche und Probleme ab. Mit der zunehmenden Verbreitung neuer Medien in der Bundesrepublik wurden Informationen über Stars und Moden auch in die hintersten Winkel der DDR getragen. Neben jugendspezifischen Radiosendungen im RIAS, dem Sender der amerikanischen Besatzungsmacht, oder auf Radio Luxemburg kamen auch Zeitschriften wie die Bravo, die sich direkt an eine jugendliche Zielgruppe richteten, auf. Westliche Jugendmagazine wurden auch in der DDR gelesen, obwohl Herstellung, Einfuhr oder Verbreitung solcher »Schundund Schmutzerzeugnisse« unter Androhung von bis zu zwei Jahren Haft verboten waren. Die Schüler- bzw. Jugendsendungen, die nach der Aufnahme des Fernsehbetriebs 1952 in der DDR ausgestrahlt wurden, waren dagegen streng ideologisch ausgerichtet und hießen »Junge Pioniere lieben ihre Heimat« oder »Die jungen Erbauer des Sozialismus«. Die 14 01_Jeans 15.08.2004 11:14 Uhr Seite 15 Nach dem Auftritt des Rock-’n’-Roll-Sängers Johnnie Ray kam es 1958 im Westberliner Sportpalast zu Ausschreitungen von Halbstarken in Jeans und Lederjacke. erste jugendorientierte Fernsehfilmreportage von 1954 war »Wer ist überall der erste? Das ist Fritz, der Traktorist«. Solche Titel zeigen: Die Partei hatte den Anspruch, besonders die Jugend der Arbeiterklasse am Aufbau des Sozialismus teilhaben zu lassen, sie aber auch erzieherisch in die Pflicht zu nehmen, was viele Jugendliche abschreckte. In der DDR-Jugendschutzverordnung von 1955 wird ausdrücklich vor der »im Adenauer-Staat propagierten amerikanischen Lebensweise« gewarnt. Erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, auf dem der Generalsekretär der sowjetischen kommunistischen Partei, Nikita S. Chruschtschow, erstmals die Verbrechen Stalins öffentlich angeprangert hatte, war auch in der DDR eine Diskussion über Dogmatismus und Personenkult in Gang gekommen und ein vorsichtiges »Tauwetter« eingeläutet worden. Mit der Strategie, amerikanische Moden und Musik schlicht zu verbieten, hatte die sozialistische Jugendorganisation FDJ viele potentielle Mitglieder vergrault. In 15 01_Jeans 15.08.2004 11:14 Uhr Seite 16 Ansätzen versuchte man nun, die Strategie zu ändern und ging dazu über, die unverbesserlichen Jugendlichen mit erzieherischen Argumenten zu überzeugen. 1956 erschien der von der ostdeutschen DEFA produzierte Film »Berlin – Ecke Schönhauser«, der unter der Regie von Gerhard Klein gedreht worden war und trotz großer Bedenken einiger FDJ-Funktionäre in die Kinos kam. Im Zentrum der Handlung steht eine Jugendclique aus dem Berliner Arbeiterviertel Prenzlauer Berg, die sich unter den U-Bahn-Brücken trifft, um gemeinsam amerikanische Tänze zu tanzen. Die Darsteller tragen Symbole amerikanischer Jugendkultur: Jeans, Lederjacke und so genannte Texas-Anhänger, ein Halsschmuck, bei dem ein Lederband durch ein Stück gestanztes Metall gezogen wurde. Dieter, verkörpert von Ekkehard Schall, wird als verantwortungsbewusster Arbeiter vorgestellt, der sich aber der FDJ verweigert. Er trägt in der ersten Szene Jeans. Auch seine Freundin Angela (Ilse Pagé) ist mit Caprihosen und engem Rollkragenpulli nach westlichen Modevorbildern angezogen. Ihr Traummann, sagt sie in einer Szene, solle aussehen wie Marlon Brando. In einer Auseinandersetzung zwischen Dieter und seinem älteren Bruder, der bei der Volkspolizei arbeitet und überzeugter Sozialist ist, fordert Dieter mehr Toleranz für seine Begeisterung für amerikanische Musik und Mode ein: »Warum kann ich nicht leben, wie ich will? Warum habt ihr lauter Vorschriften? Wenn ich an der Ecke stehe, bin ich halbstark. Wenn ich Boogie tanze, bin ich amerikanisch. Und wenn ich das Hemd über der Hose trage, ist es politisch falsch.« Bezeichnend ist der Erfolg des Films bei Jugendlichen in der DDR. In den ersten drei Monaten hatte er über anderthalb Millionen Zuschauer. Die Journalistin Jutta Voigt erinnerte sich zwanzig Jahre später, dass der Film auch ihr jugendliches Lebensgefühl traf: »›Berlin – Ecke Schönhauser‹ war mein Film. Mit 16 trug ich dreiviertellange schwarze enge Hosen, tanzte Rock ’n’ Roll immer da, wo ›Offen tanzen verboten‹ dranstand, kannte die Billigbuden am Gesundbrunnen ziemlich genau und besuchte aus verschiedenen Gründen öfter das Kino … Da habe ich 1957 den neuen DEFA-Film ›Berlin – Ecke Schönhauser‹ gesehen, der mich restlos begeisterte […]. Ich fühlte mich verstanden, es war die Welt, in der ich lebte, und ich heulte, als Kohle [einer der jugendlichen Protagonisten, d. A.] im Durchgangslager Marienfelde an einer Mixtur aus Tabakblättern und Tee starb.«3 Die DDR-Presse berichtete zunächst positiv über den Film, da er die Probleme Ostberliner Jugendlicher glaubhaft darstellte und die 16 01_Jeans 15.08.2004 11:14 Uhr Seite 17 Die ersten Jeansträger auf ostdeutscher Leinwand. Halbstarken-Bande aus »Berlin – Ecke Schönhauser« (1956). geläuterte Hauptfigur am Ende auf die »richtige« Seite des Eisernen Vorhangs zurückkehren ließ. So hob die BZ am Abend hervor, dass Dieter »ein junger Mann [ist], wie wir ihn alle kennen, aber keine jener grell gepinselten Schablonen, die so oft lediglich durch Nietenhosen, unflätige Allüren undifferenziert und absurd gekennzeichnet werden«4. Der Streifen blieb trotz seines großen Erfolges unter den jugendlichen Zuschauern bei den Ideologen in der DDR heftig umstritten. Hier würden nur problematische und negative Erscheinungen in den Mittelpunkt gestellt werden, lautete der Vorwurf. Die Aufrufe zur Selbstkritik vom XX. Parteitag beantwortete vor allem die Intelligenz in der DDR mit der Forderung nach Presse- und Meinungsfreiheit. Erst nach dem Aufstand in Ungarn im Winter 1956, der von sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagen worden war, konnten sich die Hardliner in der Partei schnell wieder durchsetzen. Auf der 2. Filmkonferenz der SED im Juli 1958 wurde die Kritik an »Berlin – Ecke Schönhauser« erneuert. Die gezeigten Figuren wären anormal, so hieß es jetzt, und entsprächen der Kunstauffassung der bürgerlichen Dekadenz. Die Partei hielt an ihrer nur kurz erschütterten Vorstellung fest, Jeans und Rock ’n’ Roll wären mit einem sozialistischen Weltbild nicht zu vereinbaren. 17