Die Jeans erobert den Osten (1945–1960)

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Die Jeans erobert den Osten (1945–1960)
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Die Jeans erobert den Osten
(1945–1960)
Rock ’n’ Roll und Nietenhosen
West- wie Ostdeutschland hatten bis Ende des Zweiten Weltkrieges
kaum eine Jeans gesehen. Umso größer war das Staunen der Deutschen über diese praktischen blauen Baumwollhosen, die die Soldaten der amerikanischen Besatzungsmacht trugen. Ende 1945 wurden die Soldaten der US-Army fast komplett ausgetauscht, so dass
die meisten danach in Westdeutschland stationierten Amerikaner
nicht an den Kampfhandlungen gegen deutsche Truppen teilgenommen hatten. Anders als englische, französische und sowjetische
Soldaten konnten sie den Deutschen dadurch sehr viel unbefangener
und offener begegnen. Die jungen Soldaten, die in Amerika keine
Erfahrung mit kriegsbedingten Entbehrungen gemacht hatten, müssen den vom Mangel des Krieges geprägten deutschen Jugendlichen
wie Vorboten einer besseren Welt erschienen sein. Mit Schokolade
und Kaugummi, Jazz und Rock ’n’ Roll, neuen Frisuren und eben
Jeans weckten sie die Neugierde der deutschen Jugend, die von ihren
Eltern meist noch in rustikale Leder- oder Bundhosen gesteckt wurde.
In den von der Sowjetunion besetzten Gebieten sah man allerdings
keine Farmerjungen aus dem Mittleren Westen, die sich ihre Jeans
überzogen, wenn sie die Uniform ablegten. Die sowjetischen Soldaten, deren Land stark unter der deutschen Kriegsaggression gelitten hatte, verfügten über weniger Auswahl bei ihrer Bekleidung. Da
ihnen individueller Ausgang nicht erlaubt war, begegneten sich
Deutsche und Sowjetsoldaten zudem nur bei repräsentativen Anlässen, und dort sah man eher folkloristische Trachten der unterschiedlichen Kulturen der Sowjetrepubliken.
Bis Mitte der 50er Jahre galt die Jeans auch in Amerika als eine
ausgesprochene Arbeitshose, die wegen ihrer praktischen Trageeigenschaften beliebt war. Schließlich hatte der ursprünglich aus
dem bayerischen Buttenheim stammende Levi Strauss, der Ende des
19. Jahrhunderts nach Amerika eingewandert war und mit seinen
genieteten Hosen bei den Goldgräbern im Westen der USA einen
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Verkaufsschlager gelandet hatte, seine Jeans als genau das erdacht:
eine Hose, die der Kraft zweier Pferde widerstand. Das entsprechende Emblem findet man noch heute auf den Lederetiketten der Levi’sJeans.
Den Stoff, eine besonders feste Baumwolle, führte Strauss aus der
französischen Stadt Nîmes ein – daher der Name »Denim«, die amerikanische Variante für das französische »de Nîmes«, »aus Nîmes«.
Das Wort Jeans steht im Englischen für einen Baumwollkörper und
geht vermutlich auf Gênes, die französische Bezeichnung der norditalienischen Stadt Genua, zurück. Hier befand sich über Jahrhunderte einer der wichtigsten europäischen Umschlaghäfen für Baumwolle.
Jeans waren die typische Bekleidung für Cowboys, wie deutsche
Jugendliche sie aus amerikanischen Western kannten. Genau deshalb symbolisierten sie für die SED-Ideologen den Klassenfeind. Von
amerikanischen Vorbildern inspirierte Kleidung spielte auch bei den
Ereignissen des 17. Juni 1953, als Tausende ostdeutscher Arbeiter
auf die Straßen gingen, um gegen die zuvor beschlossene Erhöhung
der Arbeitsnormen zu protestieren, eine Rolle: Die äußere Erscheinung der Demonstranten, die zum Teil Geschäfte geplündert und
angezündet hatten, wurde von der SED als Beweis dafür angeführt,
dass die Demonstrationen eine vom Westen initiierte Feindaktion
waren. Jugendliche Demonstrationsteilnehmer, die Jeans und so
genannte Texashemden trugen, wurden im SED-Parteiorgan Neues
Deutschland als »faschistische Handlanger« bezeichnet: »Nebenstehend veröffentlichen wir das Foto eines Mitgliedes einer Gruppe
Westberliner Provokateure, die bei Ausschreitungen gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung in der Stadt Erfurt von den Sicherheitsorganen unserer Republik dingfest gemacht wurden. Texashemd mit
Cowboy, Texaskrawatte mit der Abbildung nackter Frauen, Texasfrisur, Verbrechergesicht – das sind die Ritter der ›abendländischen
Kultur‹, die typischen Vertreter der amerikanischen Lebensweise.
Dieser Bandit, ein deklassiertes Element aus Erfurt, hat nach einem
kurzen Gastspiel auf mehreren Arbeitsstellen in der Republik sich
vor längerer Zeit nach Westberlin begeben, weil Gangstertum ihm
besser passte als ehrliche Arbeit. Aus den Aussagen der beim offenen
Widerstand gegen unsere Machtorgane verhafteten Banditen geht
hervor, dass die ganze Gruppe in Westberliner Anlaufstellen kostenlos die Texashemden zur Verfügung gestellt erhielten. Dabei wurde
ihnen in Westberlin erklärt: Das alles bezahlt Ernst Reuter!«1
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Mitte der 50er Jahre entstand in Amerika mit dem Aufkommen von
Rock ’n’ Roll und Boogie-Woogie eine bisher unbekannte Jugendkultur. Auch in amerikanischen Filmen, wie sie im Westen Deutschlands gezeigt wurden, fand sie ihren Ausdruck. Die Stars kopierend,
kombinierten die Jugendlichen ihre Jeans, die wegen ihrer Machart
bis in die 60er Jahre hinein oft als Niet- bzw. Nietenhose bezeichnet
wurde, mit neuen jugendspezifischen Frisuren wie dem »Bürstenschnitt«, der »Tolle« oder dem unvermeidbaren »Entenschwanz«, bei
dem die Nackenhaare länger gelassen und kunstvoll zusammengekämmt wurden. Eine Nachkriegsjugend, die die Rebellion gegen die
Gesellschaft der Vaterlandspflicht ihrer Väter vorzog, hatte sich ihre
eigenen Erkennungsmerkmale geschaffen.
Die Filmhelden waren vor allem junge Männer, die zumeist mit
einem ausgeprägten Selbstbewusstsein, aber auch rebellischer Melancholie auftraten. Marlon Brando verkörperte in »Die Wilden«
von 1955 den Anführer einer Motorrad-Gang in Jeans und Lederjacke und kreierte damit den Look einer anarchistischen und gewaltbereiten Jugend, die die Vorschriften der Autoritäten missachtete und nur ihre selbst geschaffenen Hierarchien akzeptierte. James
Dean spielte in dem Film »Denn sie wissen nicht, was sie tun«, der
1956 in der Bundesrepublik (BRD) anlief, einen rebellischen und
zugleich melancholischen Außenseiter, der sich in einer Clique
durchsetzen muss. Alle jugendlichen Darsteller trugen Jeans, karierte Hemden und Blousons – eine Kombination, die vollkommen neu
war und auch von der Jugend in Deutschland begeistert aufgenommen wurde. Jetzt waren es nicht mehr Cowboys, sondern ganz normale Jungen von der Straße, die diese praktischen Arbeitshosen
trugen und so zu einem begehrten Modeartikel machten. Die Filmfiguren demonstrierten als rebellische Einzelgänger oder Anführer
jugendlicher Banden bislang unbekannte Formen des gesellschaftlichen Aufstiegs.
Auch Rock-’n’-Roll-Filme, in denen die Schauspieler zugleich
Musiker waren, erfreuten sich in den 50er Jahren großer Beliebtheit.
Einer der ersten Jugendfilme dieser Art war »The Blackboard Jungle«,
der 1955 unter dem Titel »Saat der Gewalt« in der Bundesrepublik
anlief. Der Film zeigt Rock-’n’-Roll-begeisterte Jugendliche in Jeans
und T-Shirts, die sich zum Teil brutale Kämpfe mit ihren Lehrern und
anderen Autoritätspersonen liefern. Auch in dem Film »Rock
around the Clock«, auf Deutsch »Außer Rand und Band«, von 1956
tragen die Jugendlichen Jeans. Für beide Streifen hatte der amerika11
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Horst Hertel
Jg. 1936, aufgewachsen in Berlin, Drehermeister,
1953 als angeblicher Rädelsführer des 17. Juni verurteilt,
lebt in Hermannsburg/Niedersachsen
Eine Jeans war für mich zunächst einmal ein unerfüllter Traum.
Ich weiß heute nicht mehr, was die gekostet haben, aber das
Geld hatte ich eigentlich nicht. Ich bin im Berliner Arbeiterbezirk Friedrichshain groß geworden. Meine Mutter arbeitete
bei Minol, der Tankstellenvertretung, deshalb hat sich meine
Oma viel um mich gekümmert. Mein Vater war Verkehrspolizist.
Anfang der 50er Jahre, als ich 16 war, bin ich mit meinen
Freunden immer nach Westberlin gefahren. In der Woche
vier-, fünfmal, wenn nicht jeden Tag. Wir sind bei der Schillingbrücke über den so genannten offenen Übergang rüber. Da
sind wir ins Kino gegangen, für 25 Pfennig West. Sie zeigten
Filme mit John Wayne und Gary Cooper, das war was für uns.
Dazu hat man sich noch ein paar Kaugummis gekauft, die
klebte man unter den Sitz. Am meisten waren wir am Potsdamer Platz in den Kinos »Camera« und »Aladin«. Wir waren
hellauf begeistert, und als wir rauskamen, haben wir uns stark
gefühlt, weil wir von den Filmen so beeindruckt waren. Ich
habe auch immer diese alten Wildwest-Romane gelesen und
sie an meine Freunde weitergegeben, und so haben wir uns
damals vergnügt.
Jeans waren ja eine richtige Welle: Die kamen aus Amerika,
dort waren Cowboys, und die hatten ja auch alle Levi’s- oder
Lee-Jeans an. Und die Cowboys hatten wir im Film gesehen.
Das mussten wir einfach haben. Nur, wie kamen wir an die
Hosen? Von den Eltern konnte man kein Geld erwarten, und
erst recht kein Westgeld. Wir haben es uns dann regelrecht
zusammengegaunert, z. B. beim Klimpern auf der Straße.
Dabei warf man ein Geldstück, und wer am nächsten an die
Wand traf, der hatte gewonnen. Wir haben natürlich nicht um
Ost-, sondern um Westgeld gespielt, das waren keine Riesengewinne, sondern ab und zu mal 50 Pfennig. Also haben wir
zusätzlich noch in den Trümmern gekramt, dabei stießen wir
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mitunter auf Buntmetall, das wir dann in Westberlin verkauft
haben. Für das Kilo bekamen wir 4,50 Mark West. Das war
doch viel Geld! Irgendwann hatte ich mir die Jeans zusammengespart, jedenfalls hatte ich die als Erster. Für mich durfte
das nicht irgendeine sein, sondern sie musste schwarz und
mit Kupfernieten beschlagen sein. Das war der Knüller überhaupt, und als ich die endlich hatte, bin ich aus der Hose nicht
mehr ausgestiegen, weder am Tage noch nachts. Die habe ich
bewacht, als hätte ich sie im Tresor. Ich wollte mit den Hosen
etwas darstellen. Heute trägt die ja jeder, aber damals war das
eindeutig westlich. Je mehr ich bestaunt wurde, desto mehr
bin ich innerlich gewachsen, und alle waren neidisch in der
Clique. Eins wussten wir damals schon: Jeans mussten erst mal
eng werden. Und so haben wir die immer wieder eingeweicht, damit sie zu einer richtigen Röhre wurden. Vor allem
unten hatten Jeans ganz eng zu sein. Dadurch hat man die
natürlich schwer ausgekriegt. Man musste sie richtig über die
Hacken ziehen, immer ganz langsam. Wenn das eine Stunde
gedauert hätte, wäre es auch egal gewesen. Die Jeans war das
Wichtigste von allem. Jetzt brauchte man aber natürlich noch
das passende Hemd dazu, das über der Hose getragen werden musste. Mit dem Hemd war das Outfit schon fast perfekt.
Dann fehlten noch die Ringelsocken und dazu Baseballschuhe.
Die band man auf eine besondere Art, das war eine Wissenschaft für sich. Ich hatte damals einen Spitznamen: Igel, weil
die Haare ganz kurz waren und schön nach oben standen. Als
ich alles zusammen hatte, war ich der Star bei uns im Osten.
Nach und nach haben sich die anderen aus meiner Clique
auch solche Klamotten beschafft, und wir liefen durch die Straßen wie John Wayne persönlich.
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nische Rock-’n’-Roll-Star Bill Haley die Musik geliefert. Einer der
berühmtesten singenden Schauspieler war neben Haley sicherlich
Elvis Presley, der in dem Film »Jailhouse Rock« als Darsteller eines
unbedarften Farmerjungen ebenfalls in Jeans auftrat.
Im Anschluss an die Filmvorführungen von »Rock around the
Clock« kam es in der gesamten Bundesrepublik zu Ausschreitungen.
Die jugendlichen Kinobesucher tanzten und grölten auf der Straße
oder lieferten sich mit der Polizei wilde Schlachten. Auch nach dem
Konzert von Bill Haley and his Comets am 26. Oktober 1958 im
Westberliner Sportpalast gab es Randale, die die DDR-Presse als
Beweis dafür anführte, dass die amerikanischen Einflüsse nur ein
Ziel hatten, nämlich die Vernichtung der deutschen Jugend: »… und
Hunderte junge Menschen begannen zu zucken, zu toben, im wahnsinnigen, ewig gleichförmigen Rhythmus jenes teuflischen Rock ’n’
Roll, der nichts neben sich duldet als Stumpfsinn und Raserei; der
den Verstand zum Kopfe hinausjagt und in den Ohren nichts anderes klingen lässt als das Geheul eines Besessenen. […] Im Trancezustand kennt er nur noch eines: brüllen, toben, zerstören, vernichten! Und ist schon selbst innerlich zerstört, vernichtet …«2
Tatsächlich trugen die in »Rock around the Clock« dargestellten
Jugendlichen ihre Konflikte mit Autoritätspersonen sehr brutal aus.
Sie stammten aus einem proletarischen Milieu und lebten in einer
Großstadt mit ihren spezifischen Problemen, wie auch die meisten
jungen Kinobesucher. Mit ihren Krawallen verlangten die Halbstarken der Welt der Erwachsenen höchst wirksam mehr Respekt
und Aufmerksamkeit für ihre Wünsche und Probleme ab.
Mit der zunehmenden Verbreitung neuer Medien in der Bundesrepublik wurden Informationen über Stars und Moden auch in die
hintersten Winkel der DDR getragen. Neben jugendspezifischen
Radiosendungen im RIAS, dem Sender der amerikanischen Besatzungsmacht, oder auf Radio Luxemburg kamen auch Zeitschriften
wie die Bravo, die sich direkt an eine jugendliche Zielgruppe richteten, auf. Westliche Jugendmagazine wurden auch in der DDR gelesen, obwohl Herstellung, Einfuhr oder Verbreitung solcher »Schundund Schmutzerzeugnisse« unter Androhung von bis zu zwei Jahren
Haft verboten waren.
Die Schüler- bzw. Jugendsendungen, die nach der Aufnahme des
Fernsehbetriebs 1952 in der DDR ausgestrahlt wurden, waren dagegen streng ideologisch ausgerichtet und hießen »Junge Pioniere lieben ihre Heimat« oder »Die jungen Erbauer des Sozialismus«. Die
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Nach dem Auftritt des Rock-’n’-Roll-Sängers Johnnie Ray kam es
1958 im Westberliner Sportpalast zu Ausschreitungen von Halbstarken
in Jeans und Lederjacke.
erste jugendorientierte Fernsehfilmreportage von 1954 war »Wer ist
überall der erste? Das ist Fritz, der Traktorist«. Solche Titel zeigen:
Die Partei hatte den Anspruch, besonders die Jugend der Arbeiterklasse am Aufbau des Sozialismus teilhaben zu lassen, sie aber auch
erzieherisch in die Pflicht zu nehmen, was viele Jugendliche abschreckte. In der DDR-Jugendschutzverordnung von 1955 wird ausdrücklich vor der »im Adenauer-Staat propagierten amerikanischen
Lebensweise« gewarnt.
Erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, auf dem
der Generalsekretär der sowjetischen kommunistischen Partei, Nikita
S. Chruschtschow, erstmals die Verbrechen Stalins öffentlich angeprangert hatte, war auch in der DDR eine Diskussion über Dogmatismus und Personenkult in Gang gekommen und ein vorsichtiges
»Tauwetter« eingeläutet worden. Mit der Strategie, amerikanische
Moden und Musik schlicht zu verbieten, hatte die sozialistische
Jugendorganisation FDJ viele potentielle Mitglieder vergrault. In
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Ansätzen versuchte man nun, die Strategie zu ändern und ging dazu
über, die unverbesserlichen Jugendlichen mit erzieherischen Argumenten zu überzeugen.
1956 erschien der von der ostdeutschen DEFA produzierte Film
»Berlin – Ecke Schönhauser«, der unter der Regie von Gerhard Klein
gedreht worden war und trotz großer Bedenken einiger FDJ-Funktionäre in die Kinos kam. Im Zentrum der Handlung steht eine Jugendclique aus dem Berliner Arbeiterviertel Prenzlauer Berg, die sich
unter den U-Bahn-Brücken trifft, um gemeinsam amerikanische
Tänze zu tanzen. Die Darsteller tragen Symbole amerikanischer Jugendkultur: Jeans, Lederjacke und so genannte Texas-Anhänger, ein
Halsschmuck, bei dem ein Lederband durch ein Stück gestanztes
Metall gezogen wurde. Dieter, verkörpert von Ekkehard Schall, wird
als verantwortungsbewusster Arbeiter vorgestellt, der sich aber der
FDJ verweigert. Er trägt in der ersten Szene Jeans. Auch seine Freundin Angela (Ilse Pagé) ist mit Caprihosen und engem Rollkragenpulli
nach westlichen Modevorbildern angezogen. Ihr Traummann, sagt
sie in einer Szene, solle aussehen wie Marlon Brando. In einer Auseinandersetzung zwischen Dieter und seinem älteren Bruder, der bei
der Volkspolizei arbeitet und überzeugter Sozialist ist, fordert Dieter
mehr Toleranz für seine Begeisterung für amerikanische Musik und
Mode ein: »Warum kann ich nicht leben, wie ich will? Warum habt
ihr lauter Vorschriften? Wenn ich an der Ecke stehe, bin ich halbstark. Wenn ich Boogie tanze, bin ich amerikanisch. Und wenn ich
das Hemd über der Hose trage, ist es politisch falsch.« Bezeichnend
ist der Erfolg des Films bei Jugendlichen in der DDR. In den ersten
drei Monaten hatte er über anderthalb Millionen Zuschauer. Die
Journalistin Jutta Voigt erinnerte sich zwanzig Jahre später, dass der
Film auch ihr jugendliches Lebensgefühl traf: »›Berlin – Ecke Schönhauser‹ war mein Film. Mit 16 trug ich dreiviertellange schwarze
enge Hosen, tanzte Rock ’n’ Roll immer da, wo ›Offen tanzen verboten‹ dranstand, kannte die Billigbuden am Gesundbrunnen ziemlich
genau und besuchte aus verschiedenen Gründen öfter das Kino …
Da habe ich 1957 den neuen DEFA-Film ›Berlin – Ecke Schönhauser‹
gesehen, der mich restlos begeisterte […]. Ich fühlte mich verstanden, es war die Welt, in der ich lebte, und ich heulte, als Kohle [einer
der jugendlichen Protagonisten, d. A.] im Durchgangslager Marienfelde an einer Mixtur aus Tabakblättern und Tee starb.«3
Die DDR-Presse berichtete zunächst positiv über den Film, da er
die Probleme Ostberliner Jugendlicher glaubhaft darstellte und die
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Die ersten Jeansträger auf ostdeutscher Leinwand. Halbstarken-Bande
aus »Berlin – Ecke Schönhauser« (1956).
geläuterte Hauptfigur am Ende auf die »richtige« Seite des Eisernen
Vorhangs zurückkehren ließ. So hob die BZ am Abend hervor, dass
Dieter »ein junger Mann [ist], wie wir ihn alle kennen, aber keine
jener grell gepinselten Schablonen, die so oft lediglich durch Nietenhosen, unflätige Allüren undifferenziert und absurd gekennzeichnet
werden«4. Der Streifen blieb trotz seines großen Erfolges unter den
jugendlichen Zuschauern bei den Ideologen in der DDR heftig umstritten. Hier würden nur problematische und negative Erscheinungen in den Mittelpunkt gestellt werden, lautete der Vorwurf.
Die Aufrufe zur Selbstkritik vom XX. Parteitag beantwortete vor
allem die Intelligenz in der DDR mit der Forderung nach Presse- und
Meinungsfreiheit. Erst nach dem Aufstand in Ungarn im Winter
1956, der von sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagen worden war, konnten sich die Hardliner in der Partei schnell wieder
durchsetzen. Auf der 2. Filmkonferenz der SED im Juli 1958 wurde
die Kritik an »Berlin – Ecke Schönhauser« erneuert. Die gezeigten
Figuren wären anormal, so hieß es jetzt, und entsprächen der Kunstauffassung der bürgerlichen Dekadenz. Die Partei hielt an ihrer nur
kurz erschütterten Vorstellung fest, Jeans und Rock ’n’ Roll wären
mit einem sozialistischen Weltbild nicht zu vereinbaren.
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