diplomova prace Stegbauerova
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diplomova prace Stegbauerova
Univerzita Karlova v Praze Filozofická fakulta Ústav germánských studií Funktionen von Körperlichkeit und Erotik in der Literatur der Postmoderne: Elfriede Jelinek, Ignomar Kieseritzky und Thomas Brussig Functions of sexuality and eroticism in the postmodern literature: Elfriede Jelinek, Ingomar Kieseritzky and Thomas Brussig Autor: Šárka Stegbauerová Vedoucí: Prof. PhDr. Jiří Stromšík, DrSc. Praha 2008 1 Prohlašuji, že jsem diplomovou práci vypracovala samostatně s využitím uvedených pramenů a literatury. …………………………………………… 2 Poděkování Za veškeré odborné konzultace a připomínky při vzniku této práce patří můj upřímný dík Prof. PhDr. Jiřímu Stromšíkovi, DrSc. 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 7 2. Ars Erotica in der Geschichte der Literatur 9 2. 1. Die „freie“ Antike oder Alles ist möglich? 9 2. 2. Das Christentum – Tabus, Tabus, Tabus… oder Ist noch etwas erlaubt? 11 2. 3. Und wie geht es weiter? Die Sexualität und die Literatur, Politik, Medizin und Soziologie 16 2. 3. 1. Das 17. und 18. Jahrhundert. Am Ende kommt es – de Sade will nicht schweigen! 16 2. 3. 2. Das 19. Jahrhundert – die Viktorianische Ära oder „Vom Sex wird geschwiegen“ 19 2. 3. 3. Das 20. Jahrhundert – Freud, Surrealismus, die Blumenkinder oder Was für ein Ende kann das haben? 21 3. Postmoderne 30 3. 1. Die Genealogie des Begriffs 30 3. 2. Die charakteristischen Merkmale der Postmoderne 32 3. 2. 1. Moderne versus Postmoderne oder Der ewige Gegensatz? 32 3. 2. 2. Der Romancier ist tot, es lebe der Romancier? Und was ist mit dem Leser? 34 3. 2. 3. Überquert die Grenze, schließt den Graben! 36 3. 3. Postmoderne auf deutsch? 37 4 4. Die Klavierspielerin – eine Horrorgeschichte aus Wien 40 4. 1. Die gestohlene Weiblichkeit oder Die Mutter ist an allem schuld! 44 4. 2. Voyeurismus als Neurose? 48 4. 3. Selbstverletzungen als ein Weg zum Ich? 50 4. 4. Der „anerzogene“ Sadomasochismus 52 4. 5. Versuch eines Inzests oder Ist Erika eine Mutterschänderin? 56 4. 6. Wie wäre es mit einem „normalen“ Sex? Zum Beispiel in der Besenkammer… 58 4. 7. Und eine Vergewaltigung, gnädige Frau? 60 4. 8. Die Grenzen der „schönen“ Literatur oder Ist das Porno? 62 4. 9. Die „Ekelsprache“ als literarisches Mittel? 65 4. 10. Postmoderne als (Lese)hilfe? 68 4. 11. Und Freud? Was macht der da? 69 4. 12. Konzept: Mythenzerstörung 71 5. Helden wie wir – Perversion und Politik 73 5. 1. Die kindliche Sexualität versus allwissende Mutter 77 5. 2. Ferienlager oder Sexualerziehung der sozialistischen Jugend 85 5. 3. Dreimal und Schluss oder „Normal“ geht es nicht! 87 5. 4. Stasi als Brutanstalt der Perversionen? oder Sexuelle Abartigkeiten als Exportartikel 91 5. 5. Der Riesenpenis stürzt die Mauer oder Kann es ein Volk mit einem „zu kleinen Pimmel“ gewesen sein? 95 5. 6. Pornographie ist es nicht oder Auch ein Penis kann zum Romanhelden werden! 97 5. 7. Der „Schelm“ Brussig spielt mit dem Leser… 98 5. 8. Ironie, Witz, Ekel, Perversion und Erotik – das passt genau zu der „DDR-Logik“ 100 5. 9. Brussigs postmoderne Antwort 104 5 5. 10. Der sozialistische „Jugendstil“ 105 5. 11. In der Komik liegt die Würze oder Durch Lachen zur Katharsis? 106 6. Die Liebe im postmodernen Zeitalter 110 7. Summary 115 8. Resumé 118 9. Literaturverzeichnis 121 9. 1. Siglen 121 9. 2. Literatur 121 6 1. Einleitung Im Zentrum der vorgelegten Diplomarbeit steht die Untersuchung der Funktionen von Körperlichkeit und Erotik in der Literatur der Postmoderne, genauer in den Romanen Die Klavierspielerin von Elfriede Jelinek und Helden wie wir von Thomas Brussig. Fokussiert werden das Vorkommen von Themen wie Mann-Frau-Verhältnis, Körperlichkeit, Sexualität, Obszönität in den erwähnten Werken und die Möglichkeiten ihrer literarischen Ausnutzung. Untersucht werden auch die sprachlichen Ebenen der jeweiligen Darstellungen. Die Arbeit umfasst vier Hauptkapitel. Die ersten zwei befassen sich hauptsächlich mit der theoretischen Einführung in die untersuchte Problematik. Das erste Kapitel – Ars Erotica in der Geschichte der Literatur– bringt einen Überblick der Thematisierung der Liebe und Sexualität im Rahmen von einzelnen historischen (literarischen) Epochen. Das zweite Hauptkapitel – Postmoderne – ist gedacht als Darstellung der Genealogie, der Bedeutung und der charakteristischen Merkmale der postmodernen Literatur samt einem kurzen Überblick der Entwicklung dieser literarischen Strömung in den deutschsprachigen Ländern. Die nächsten zwei Kapitel bestehen aus der Zusammenfassung und der anschließenden Analyse der untersuchten Werke. Analysiert werden die Themenkreise, innerhalb derer die erotischen Motive erscheinen, die Ziele, die die Autoren mit Hilfe dieser Mittel erreichen wollen und auch die stilistischen Ebenen der literarischen Darstellung (vor allem ob sich die Autoren der Vulgärsprache, der saloppen Umgangssprache, der Sprache in der Familie oder der neutralen Sprache bedienen, bzw. welche weitere stilistische Mittel in Verbindung mit den Themen der Erotik und Körperlichkeit vorkommen). Thematisiert werden auch die Deutung des jeweiligen Buches unter dem Aspekt der postmodernen Lesart und die Frage, ob es sich bei den Werken um Pornographie handelt, bzw. wie die „pornographischen“ Muster literarisch ausgenutzt werden können und ob sie eventuell „höheren Prinzipien“ dienen können. In dem letzten 7 Hauptkapitel, das unter dem Titel Die Liebe im postmodernen Zeitalter erscheint, werden die beiden Werke bzw. einige ihrer Motive miteinander verglichen, damit eventuelle Gemeinsamkeiten der beiden literarischen Texte festgestellt werden könnten. Nach Übereinkunft mit dem Betreuer der Arbeit wurde das Werk Kieseritzkys in der Endfassung nur am Rande behandelt, bzw. zum Vergleich hereingezogen, weil sich bei näherer Untersuchung seiner Texte erwiesen hat, dass seine Darstellungen einen anderen methodologischen Zugang erforderten und somit über die gewählte Untersuchungsmethode hinausgingen. 8 2. Ars Erotica in der Geschichte der Literatur 2. 1. Die „freie“ Antike oder Alles ist möglich? In seinem Buch Sexualität und Wahrheit befasst sich der französische Philosoph Michel Foucault mit der Geschichte der Sexualität. Seine Untersuchung beginnt in der Antike, wo die Erotik eine wichtige (wobei heute jedoch oft überschätzte) Rolle in der Literatur als auch in dem gesellschaftlichen Leben spielte. Schon die berühmtesten Philosophen dieser Zeit – Sokrates (circa 469–399 vor Christus), Platon (427–347 vor Christus) und Aristoteles (384–322 vor Christus) beschäftigen sich in ihren Werken mit der Sexualität, ihrer gesellschaftlichen Stellung und den möglichen Tabus, die als moralisch verbindend verstanden sein sollten (als deren Empfänger sind jedoch ausschließlich die freien Männer zu verstehen). Nach Foucault war einer der Urheber der ersten sexuellen Tabus Sokrates – er tabuisiert ganz eindeutig den Verkehr der Väter mit ihren Töchtern (bzw. der Mütter mit ihren Söhnen). Als eines der charakteristischen Merkmale der antiken Kultur bezeichnet Foucault (Foucault II, S. 70 f.) die enge Verbindung zwischen der Tisch- und der Sexualkultur, was verschiedene literarische Beschreibungen der Gastmähler bezeugen. Erotik wird auch zum Hauptthema der Dichtung Ars amatoria (Die Kunst der Liebe) von Ovid (geb. 43 vor Christus). Die antiken Schilderungen der Liebesszenen bezeichnet Foucault jedoch als „zurückhaltend“ (ebd., S. 54), was im Gegensatz zu ihren „öffentlichen Vorführungen“ (ebd., S. 54) und den ikonographischen Abbildungen, die sehr „offen“ waren, steht. Als eines der weiteren Beispiele dieser Tendenz führt Foucault Aristoteles´ Schrift Untersuchung der Lebewesen an, wo Aristoteles sehr ausführlich die Geschlechtsorgane der „menschlichen Gattung“ beschreibt, ihr Sexualleben wird jedoch kaum erwähnt. In der Antike entstehen auch viele Abhandlungen über die Diätetik, wo die Sexualität natürlich auch thematisiert wird, es 9 geschieht aber ganz anders, als es später in der christlichen Kultur der Fall war. Wichtige Rollen in diesen Werken spielen zum Beispiel die Bestimmung des optimalen Alters oder der Jahreszeit, wann die Leute Kinder zeugen sollten, die Frage der „richtigen“ Stellung bzw. des „richtigen“ Verkehrs wird aber offen gelassen (ebd., S. 53 f.). Schon während der Antike erscheinen zugleich die ersten Rufe nach sexueller Abstinenz, die von bestimmten Denkern verlangt und „gesund“ gefunden wurde (Foucault III., S. 161). Das Hauptargument der Befürworter war der hohe Wert des Spermas, das während des Liebesaktes „umsonst“ verloren geht. Als Beispiel wäre der Philosoph und Mathematiker Pythagoras (circa 580–500 vor Christus) zu nennen, der behauptete, dass der Geschlechtsverkehr gesundheitsschädlich ist, denn man verliert nicht nur sein Sperma, sondern auch alle seine Kräfte. Ähnliche Ansichten vertraten auch die Stoiker (ab 300 vor Christus), die überzeugt waren, dass die Sexualität an sich gut ist, aber nicht mit allzu viel Sehnsucht und Trieb verbunden sein darf und vor allem zum Zwecke der Fortpflanzung verwendet werden soll (Abbott, S. 48 f.). Der Geschlechtsverkehr wird aber in der antiken Kultur keineswegs als das Böse empfunden, wie es in der christlichen Kultur der Fall sein wird (Foucault III., S. 163 f.). Zugleich entsteht auch das Thema der ehelichen Treue, als strenges Verbot gilt sie jedoch nur für Frauen (Foucault II., S. 26). Die Männer haben auch während der Ehe die Möglichkeit, ganz legal die Dienste der Prostitution zu benutzen (Abbott, S. 49). Obwohl zu der antiken Kultur auch sehr enge „Freundschaftsverhältnisse“ zwischen älteren, erfahrenen und weisen Männern und hübschen Jünglingen gehören, erscheinen zu dieser Zeit auch negative Reaktionen (die dann die öffentliche Meinung für Jahrhunderte beherrschen werden) auf die Homosexualität (Foucault II., S. 28). Die Masturbation (die aber eher zum Privatbereich gehören sollte) wurde positiv gewertet (Foucault III., S. 186). Schon im 1. Jahrhundert warnt jedoch Aretaios vor ihren Vernichtungskonsequenzen, mit denen der ganze Organismus des Onanierenden zu rechnen soll (Foucault II., S. 25). 10 Interessante Zeugnisse der antiken Einsichten zum Thema Sexualleben befinden sich in dem Traumbuch, das im 2. Jahrhundert von Artemidoros geschrieben wurde. Besonders wichtig sind die Tabus, die erwähnt werden – untersagt bleiben nach ihm der Oralverkehr, Verkehr mit Göttern, Tieren und Leichen, die Masturbation, die lesbische Liebe und die einzig mögliche Stellung während des Sexualaktes ist die Missionärstellung (Foucault III., S. 25 ff.). Aus dem oben Genannten können wir erschließen, dass es bestimmte Tabus schon in der „liberalen“ Antike gab. Diese Tendenz setzt in der christlichen Kultur fort, wo sie noch wesentlich intensiviert wird. 2. 2. Das Christentum – Tabus, Tabus, Tabus… oder Ist noch etwas erlaubt? Der erste christliche Text, der sich mit der ehelichen Sexualität befasst, ist nach Foucault (Foucault II., S. 23) die Schrift Der Erzieher, die im 2. Jahrhundert von Klemens von Alexandria verfasst wurde. Hier erscheint schon die Überzeugung, dass Sex als eine Sünde, die sexuelle Abstinenz bzw. eheliche Monogamie als ein Ideal, und Homosexualität als etwas Unnatürliches zu verstehen sind. Das Christentum allgemein verbindet den Geschlechtsverkehr mit dem Bösen, der Sünde, dem Sturz und dem Tod (ebd., S. 22). Die vorbildliche Figur der christlichen Texte ist ein tugendhafter im Zölibat lebende Held, der allen Verführungen mit Ehre widersteht und so die Möglichkeit erhält, die wahre Liebe zu Christus zu erfahren. Hochgeschätzt werden die ewige Jungfernschaft und damit verbundene geistliche Trauung mit Christus (ebd., S. 303 f.). Die Verherrlichung der Jungfräulichkeit hängt mit der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria zusammen, die in der christlichen Religion eine enorm wichtige Rolle spielt (Abbott, S. 62). Zu erwähnen ist auch die Rolle der Frau, die die Körperlichkeit und dadurch auch das Böse repräsentiert. Der Mann verkörpert dagegen die Geistigkeit bzw. das Gute (ebd., S. 59). 11 Die Strategie, wie den Verführungen zu widerstehen, wird zu einem der beliebtesten Themen der christlichen Literatur (ebd.). Eine wichtige Zäsur in der Entwicklung der christlichen Sexualmoral stellt in der westlichen Kultur das 6. Jahrhundert dar, als in Europa die ersten Klöster entstehen. Der Zölibat wird hier zu einem Muss. Die Masturbation wird als etwas Unnatürliches und Böses verworfen, zu dieser Zeit erscheint ihr erstes schriftliches Verbot in der westlichen Literatur (Foucault III., S. 186), problematisiert werden sogar die Pollutionen der Mönche (Abbott, S. 115 f.). Mit diesem Thema und der Sexualität überhaupt hat sich im 16. Jahrhundert auch der ehemalige Mönch Martin Luther befasst. Er kam zu der Schlussfolgerung, dass die Sexualität (die uns Gott selbst verliehen hat) in Ordnung ist (ebd., S. 116). Einen weiteren wichtigen Moment der christlichen Tradition stellt nach Foucault das 13. Jahrhundert dar – es ist der Anfang der Organisation des Beichtesystems (Foucault II., S. 49). Die Beichte bezeichnet er als das erste wahrheitsgetreue Zeugnis des Sexuallebens der westlichen Zivilisation (Foucault I., S. 80 f.). Was die mittelalterliche literarische Tradition betrifft, muss man sich ihrer Zwiespältigkeit bewusst sein. Auf der einen Seite erscheint in den Anfängen der Dichtung dieser Zeit, im 11. und 12. Jahrhundert, der Minnenbegriff als „der Grundbestandteil ritterlicher >hövescheit<“ (Bahr, S. 107), wo der Wunsch nach körperlicher Vereinigung stets von der Absage begleitet ist, die körperliche Liebe also nur erhofft und erwünscht wird. Das Verhältnis von Mann und Frau erscheint als Spiegelbild des Feudalverhältnisses, wo der Mann „seiner Frau zuliebe“ Dienste verspricht bzw. leistet. Unter den häufigsten Motiven wären die der Entführung und des Liebesversprechens zu nennen. Diese sublimierte Form der Liebe, die eher als eine veredelte Form des gesellschaftlichen Verkehrs verstanden wurde, kam vor allem in der Lyrik, dem sog. Minnesang, zum Ausdruck. Eine besonders wichtige Rolle spielte in dieser Gattung die Metaphorik (die Falkenmetapher repräsentiert zum Beispiel 12 eine Art erotischer Spannung), die das Verständnis der Gedichte nur einem engen Kreis der Leser ermöglichte (ebd., S. 107 ff.). Im späten Mittelalter versuchen sich die Tendenzen zur bestimmten Lockerung der literarischen Verhältnisse durchzusetzen. Im 13. Jahrhundert erscheinen die Gedichte von Neidhart von Reuenthal (gest. nach 1237), die erstens durch ihre Konstituierung im bäuerlichen Milieu von der höfischen Tradition befreit sind, zweitens auch traditionsfrei gestaltet sind. Das Mitwirken der höfischen Tradition, das in den Liedern stets anwesend ist, verleiht manchen Gedichten sogar eine parodistische Wirkung. Das Minnenverhältnis wird umgedreht, indem das Begehren auf die weibliche Person verlegt wird. Es erscheinen keine Dienstvorstellungen mehr, die Partner nennen sich mit ihren Namen. Die Liebesszenerie wird in die bäuerliche „Wirklichkeit“ übertragen (ebd., S. 180). Ein weiterer wichtiger Beitrag zur „Lockerung der Moral“ stellen die Fastnachtspiele dar, die ebenfalls im Spätmittelalter eine große Popularität gewannen (diese Gattung hat sich ursprünglich aus den Fastnachtbräuchen entwickelt). „Fastnacht ist die kurzfristige Umkehr dessen, was die kirchlichen Gebote vorschreiben, um diese dann um so kräftiger wirken zu lassen. Die Umkehr äußert sich im Fastnachtspiel in der Bevorzugung des Bereiches, den die kirchliche Morallehre am schärfsten bekämpft: der Sexualität.“ (ebd., S. 282) Der Hauptzweck dieses Spiels ist nach Bahr die Präsentation des Sexuellen (ebd., S. 282). Die typischen Vertreter dieses Genres waren Hans Rosenplüt (circa 1400–1470) und Hans Folz (1450–1515). Im 16. Jahrhundert hat die Tradition der „liberalen“ Fastnachtspiele Hans Sachs (1494–1576) fortgesetzt, der aber auch eine Reihe von Fastnachtschwänken geschaffen hat, wo die Schilderung der Vulgaritäten durch moralische Absichten begründet wird. Die Lehre wirkt hier „umso eindringlicher, je derber das inszenierte Ereignis ist“ (ebd.). Ähnliche moralisierende Absicht hatte im Mittelalter ursprünglich der Schwank (eine knappe Erzählung einer besonderen derb komischen Begebenheit), der zu einem der wesentlichsten Themenkreise der Volksbücher geworden ist. Im Laufe der Zeit verlor diese Gattung 13 allmählich ihre Zweckgebundenheit, das belehrende Exempel trat in den Hintergrund, thematisiert wurden vor allem die Relativierung der gültigen Bindungen und der herrschenden Sitten und das Profanieren des (allgemein geachteten) Religiösen. Nach Bahr sind die dominanten Motive dieser Werke die Bereiche des Stoffwechsels und der Erotik (ebd., S. 290 ff.). Neben dem Werk von Hans Sachs erscheinen die Motive des Schwanks im Werk von Jörg Wickram (circa 1505–1560), bei dem jedoch die moralisierende Tendenz die Hauptrolle spielt. In der Zeit der Renaissance und des Barocks setzt sich die Dichotomie des Mittelalters fort. Die Liebe, Körperlichkeit und Erotik erscheinen sowohl in einer sublimierten als auch in einer nicht-sublimierten Form. In der Kunst der Renaissance (der Malerei und Bildhauerei vor allem) erscheint der nackte Körper (unterstützt von neuen Erkenntnissen aus der Anatomie) als ein Spiegelbild der Herrlichkeit Gottes. Es entstehen die ersten Aktgemälden in der modernen Kunst. Leidenschaft, Sehnsucht und Körperlichkeit kommen zum Ausdruck (Frontisi, S. 163 ff.). Man muss jedoch zwischen der „anatomisch begründeten“ Nacktheit (Michelangelo, Dürer), der „anmutigen, verführenden“ Nacktheit (Botticelli, Tizian, Tintoretto) und der „didaktischen“ Nacktheit (Cranach, Grien) unterscheiden. Im Barock wird die Ausdrucksweise noch expressiver, die Anzahl der „erlaubten Dinge“ vergrößert sich. Die Be- bzw. Verurteilung der menschlichen Leidenschaften wird neu bewertet (diese liberale Tendenz sehen wir zum Beispiel bei den Vertretern der sog. zweiten schlesischen Schule). Es erscheinen auch Wertskalen, „die mit dem christlichen Dogma nicht zu versöhnen sind“ (Bahr, S. 335). Als typisches Beispiel dieser Lockerung in der deutschen Literatur wäre Christian Hoffmann von Hofmannswaldau (1616–1679) zu nennen, der neben den zeittypischen geistlichen Gedichten sein „eigentliches Interesse der Darstellung menschlicher Leidenschaften, speziell der erotischen“ (ebd., S. 373) widmete. Er ersetzt die christlichen Modelle der Leidenschaftsüberwindung und -entwertung durch eine „kunstvolle 14 Darstellung der passio erotica“ (ebd., S. 374). Eberhard Haufe charakterisiert seine erotischen Sonette als eine „pikante Vergegenwärtigung von Sinnlichkeit vor der düsteren Folie von Vergänglichkeit, Tod und Ewigkeit“ (Haufe, S. 410). Trotz seines literarischen Muts, wagte Hofmannswaldau jedoch nicht, seine Gedichte während seines Lebens zu veröffentlichen. Es geschah erst sechs Jahre nach seinem Tod, dank dem (unternehmerisch sehr erfolgreichen) Entschluss von Benjamin Neukirch (1665–1729), einem Dichter, der zusammen mit David Schirmer (1623–1687), ein Nachfolger von Hofmannswaldau, vor allem in Sachen Erotik, war. In der Barockzeit erscheint in der deutschen literarischen Tradition auch eine ganz neue Gattung – das satirisch-zeitkritische Epigramm, wo „sich die gegen alle Stände gerichtete Sittenkritik fast immer auch mit der Lust am Witzig-Obszönen verband“ (ebd., S. 411). In der barocken Malerei erscheinen auf der einen Seite stark religiös aufgeladene Gemälde, anderseits kommen auch naturalistische oder erotisierende Tendenzen (Caravaggio, Rembrandt) zum Ausdruck. Diese anscheinend unversöhnlichen Themenkreise können auch im Werk eines Künstlers vorkommen, wie es z. B. in den Gemälden von Rubens der Fall war, deren größer Teil mit starker erotischer Sinnlichkeit geladen ist. Schon in der Barock- und der nachfolgenden Rokokozeit entstehen die galanten Romane von Christian Friedrich Hunold (1680–1721), dessen Satyrischer Roman (1706) wegen seiner Frivolitäten einen Skandal erregte. Die Kunst von Rokoko allgemein brachte weitere Lockerung der schon während des Barocks zum Teil liberal gewordenen öffentlichen Moral. Zum Hauptthema der Dichtung dieser Zeit gehörte die Suche nach Glück und damit verbundener Befriedigung von (auch erotischen) Sehnsüchten. In die Kunst dringen kokette oder sogar laszive Motive ein. Es erscheinen Künstler wie Boucher, Watteau oder Fragonard, deren Werke zu dieser Zeit sehr beliebt waren, zugleich aber wegen ihrer moralischen Mängel und Geschmacklosigkeit oft kritisiert wurden (Frontisi, S. 298 f.). 15 2. 3. Und wie geht es weiter? Die Sexualität und die Literatur, Philosophie, Medizin und Soziologie. 2. 3. 1. Das 17. und 18. Jahrhundert. Am Ende kommt es – de Sade will nicht schweigen! Nach Foucault war die Situation am Anfang des 17. Jahrhunderts, was die Sexualität betrifft, ganz positiv eingestellt – das Sexualleben fand fast in der Öffentlichkeit statt, die Sprache wagte es, offene Beschreibungen zu schaffen und obwohl es Verbote bzw. verbotene Handlungen gab, war man ihren Verletzungen gegenüber vorwiegend tolerant (Foucault I., S. 9). Im Laufe des 17. Jahrhunderts kommt es zu einem wichtigen Wendepunkt in der Rezeption der Sexualität. Zu dem wichtigsten Repräsentanten des Dispositivs der Sexualität wird die Familie und in ihrem Rahmen die Eltern, das Ehepaar. Nur diese „erwachsene“ und eheliche Sexualität wird anerkannt. Ihre anderen Formen (Sexualität der Kinder, der Homosexuellen, die außereheliche Sexualität) wurden, unterstützt von Ärzten und Pädagogen, verboten (ebd., S. 129). Foucault nennt dieses Ereignis „die Geburt der großen Verbote“ (ebd., S. 135). Die sexuelle Abstinenz ergreift wieder ihre imperativische Rolle, die körperlichen Bedürfnisse sollten durch Verstand zurückgedrängt werden. Auch die Sprache wird verschleierend und allgemein „moralisch“ (ebd.). Das 18. Jahrhundert bringt bestimmte Lockerung mit sich. Die Sexualität wird zum Gesprächsthema, jedoch nicht in der schönen Literatur, sondern als Objekt der Analyse und Mathematisierung in den Analysen der Politik bzw. Ökonomie (ebd., S. 30). „Die Sexualität wird zur Angelegenheit der ´Polizei´.“ (ebd., S. 32) Die bisher verschwiegene Sexualität der Kinder wird zu einem der Hauptthemen der Pädagogik (ebd., S. 122). Die Entdeckung von den Gesetzen der Erblichkeit lässt eine Reihe von Werken über Hygiene und Eugenik 16 entstehen. Im Jahre 1758 veröffentlicht der schweizerische Arzt Samuel A. Tissot eine Abhandlung über Onanie, in der er (schon wieder) für sexuelle Abstinenz plädiert. Sein Argument ist (schon wieder) der hohe Lebenswert des Spermas (Abbott, S. 216). Am Ende des 18. Jahrhunderts erscheint ein weiteres Thema, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der Medizin, Pädagogik und Literatur besprochen wird – das onanierende Kind, genauer Schüler einer Internatschule bzw. Sohn reicher Eltern umgeben von Hauspersonal und Privatlehrern. Als literarische Beispiele wären Der Hofmeister oder die Vorteile der Privaterziehung (1774) von Lenz zu nennen oder hundert Jahre früher Tartuffe (1664) von Molière. Am Ende des 18. Jahrhunderts erscheinen auch die Werke des französischen Adeligen Donatien Alfonse François de Sade. Diese kontroverse Person mit anscheinend bisexuellen Tendenzen, die in vielen Skandalen ihrer Zeit die Hauptrolle spielte, wurde mehrmals im Gefängnis oder im Irrenhaus interniert. Sein literarisches Primat stellte Justine oder Das Unglück der Tugend (1791) dar, 1795 erschien die Philosophie im Boudoire oder die lasterhaften Lehrmeister, das Buch Die hundertzwanzig Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung bleibt unvollendet. Dank seiner „revolutionären“ Bücher wurde de Sade im Laufe der Zeit zum Synonym der böswilligen Sinnlichkeit und genusssüchtigen Grausamkeit. De Sade lehnt eine von der Gottesordnung gelenkte Welt ab, in seine Welt gehören dagegen Morde, Diebstähle, Vergewaltigungen, Sodomie, Inzest und Prostitution (Thomas, S. 14). Foucault bezeichnet den von de Sade beschriebenen Sex als einen Sex ohne jegliche Norm oder Regeln, der ausschließlich dem Gesetz der Macht unterliegt (Foucault I., S. 172). Der Surrealist Maurice Heine charakterisiert in seinem Nachwort zur Philosophie im Boudoir dieses Werk als einen Versuch der Spezifizierung der sexuellen Anomalien, außer anderen des Sadismus (dessen Name tatsächlich von de Sade abgeleitet wurde; diese Perversion wurde wissenschaftlich von dem deutschen Psychiatern Krafft-Ebing im 17 19. Jahrhundert beschrieben). Das Buch Die hundertzwanzig Tage von Sodom beschreibt nach Donald Thomas eine ziemlich häufige literarische Situation, nämlich die Orgien junger Männer mit schönen Frauen, die gehorsam ihre Befehle erfüllen, in dem Roman Philosophie im Boudoir sieht er wiederum den ironischen Entwurf einer Republik, wo Morde, Vergewaltigungen, Inzest oder Sodomie nicht bestraft werden. Ihm zufolge handelt es sich um eine Beschreibung der moralischen Anarchie, die zu dieser Zeit in Neapel herrschte (Thomas, S. 182). Nach M. Heine, einem „Fan“ von de Sade, befindet sich in de Sades erstem Buch kein einziges unanständiges Wort und die „heiklen“ Situationen werden angeblich immer verschleiert, denn wichtiger als Erotik sei dem Autor die Vermittlung seiner philosophischen Überzeugungen (Heine, S. 232). Diese Annahme ist aber äußerst naiv. Auch wenn die Beurteilung der „Unanständigkeit“ der Sprache freilich eine sehr subjektive Sache ist, sind die Beschreibungen der sexuellen Aktivitäten „ganz objektiv“ sehr offen und roh, was auch in seinen anderen Werken der Fall ist. Das Werk von de Sade beeinflusste die Philosophie der sog. poètes maudits („Um die natürlichen Äußerungen der Menschheit und das Wesen des Bösen zu begreifen, muß man zu Sades Werk immer wieder zurück kehren.“ Baudelaire – hier zitiert nach Thomas, S. 311) und viele Dichter, die am Anfang des 20. Jahrhunderts tätig waren. Apollinaire, der sich für die Veröffentlichung des Werks von de Sade eingesetzt hat, hat ihn als „den freiesten Geist, der je die Erde betreten hat“ (Thomas, S. 318) bezeichnet. Positiv gewertet wurde de Sade auch von Marcel Proust und Albert Camus. Nach dem Ersten Weltkrieg war de Sade eine der Einflusspersonen des Surrealismus, der unter anderem auch die „heiligen“ Symbole der bürgerlichen Gesellschaft in Frage gestellt hat (ebd., S. 319). De Sade bot den Surrealisten ein Vorbild, wie man die Fesseln der Familie, Moral und Religion loswerden kann (Nadeau, S. 20). Die „sexuologischen“ Theorien von de Sade werden von manchen als Vorwegnahme 18 der späteren Theorien von Krafft-Ebing und Sigmund Freud hochgeschätzt (Thomas, S. 186 f.). Wie provokativ die Bücher von de Sade noch im 20. Jahrhundert empfunden wurden, bezeugt die Tatsache, dass der französische Herausgeber Pauvert, als er im Jahre 1953 das Buch Die hundertzwanzig Tage von Sodom publizieren wollte, wegen der Verletzung der öffentlichen Moral angeklagt wurde. Der Erotismus von de Sade war kaum vergleichbar mit der Erotik der kommerziellen Pornographie der 50er Jahre, die Texte wurden für so destruktiv gehalten, dass sie die Grundsteine der Zivilisation und Gesellschaft zu bedrohen schienen (ebd., S. 9 f.). Pauvert selbst hat die Obszönität bestätigt, argumentierte jedoch mit der Publikationsfreiheit, und es gelang ihm später, die Veröffentlichung einer begrenzten Auflage durchzusetzen. Der Import dieser Bücher nach Großbritannien und in die USA wurde jedoch verboten. Nach Donald Thomas wird de Sade ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Bestandteil der Massenkultur. 2. 3. 2. Das 19. Jahrhundert – die Viktorianische Ära oder „Vom Sex wird geschwiegen“ Das 19. Jahrhundert könnte nach Foucault als Dämmerung der Sexualität bezeichnet werden. Die Sexualität und alle ihre Äußerungen werden aus dem öffentlichen Leben und auch aus der Sprache ausgedrängt. Toleriert werden diese Aktivitäten nur in den Freudehäusern und Sanatorien (Foucault I., S. 10). Der Rest der Gesellschaft wird vollkommen puritanisiert (ebd., S. 11). Nach Foucault geschieht es hauptsächlich deswegen, weil die Sexualität mit der allgemeinen und intensiven Arbeitsaktivität unvereinbar ist (ebd., S. 12). Die einzige erlaubte Form der Sexualität ist das „schon bekannte“ zeugende Ehepaar. Während des 19. Jahrhunderts wird die Scientia Sexualis geboren (im Jahre 1846 öffnete Heinrich Kaan mit seinem Werk Psychopathia Sexualis das medizinisch- 19 -psychiatrische Gebiet der Perversionen), die von jetzt an intensiv die Pädagogen, Ärzte und vor allem Psychiater beschäftigen wird. Die „christliche“ Beichte wird zu einem Bestandteil der „Therapie“ (ebd., S. 80 f.). Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erscheint aber zugleich die dekadente Philosophie der poètes maudits, die unter anderen von den Franzosen Arthur Rimbaud, Stéphane Mallarmé, Paul Verlaine, Charles Baudelaire und Comte de Lautréamont repräsentiert wurden. Gemeinsam für ihr Werk waren der Mut, die gesellschaftlichen Tabus und Konventionen zu verletzen, und der Überdruss an der damaligen bürgerlichen Kultur. Pessimismus, Mystizismus, Morbidität – so können ihre Gedichte und Prosawerke charakterisiert werden. Zu ihrem Leben gehörten Alkohol, freier Sex und Exzentrizität. Als einer ihrer typischen Vertreter wäre der Dichter Lautréamont zu nennen, der im Jahre 1869 seine wohl bekannteste Prosa, Die Gesänge des Maldoror beendigte (die aber erst 1874, vier Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde; der Grund war der „ungenügende“ Mut der Herausgeber). Ludvík Kundera charakterisierte dieses Werk als einen „wahnsinnigen Monolog“ und eine „öffentliche Erklärung von allem Gewaltigen, Vergewaltigenden und Sinnlichen“ (Kundera, S. 5 f.). Es ist ein typisches Beispiel der Zerstörung von Tabus – der Leser wird mit rohen Beschreibungen vom Foltern und unglaublichen Obszönitäten konfrontiert. Ein Teil des Werkes besteht aus der Verherrlichung der Päderastie, deren „Aktivitäten“ (zum Beispiel Vergewaltigung eines Jungen) der Autor ganz anschaulich und, wie schon gesagt, obszön beschreibt. Vertreten sind auch Zoophilie, Nekrophilie und Inzest. Wie de Sade benutzt Lautréamont Gewalt und Grausamkeit als Hauptthemen. Die Sprache bleibt jedoch unter Umständen „anständig“, wird nicht vulgär. 20 2. 3. 3. Das 20. Jahrhundert – Freud, Surrealismus, die Blumenkinder oder Was für ein Ende kann das haben? Um die Jahrhundertwende (genauer seit 1895) erschienen die ersten Werke von dem österreichischen, vor allem in Wien tätigen, Psychiater Sigmund Freud (1856–1939). Die von ihm erfundene Methode der Psychoanalyse (und damit verbundene Entdeckung des Gebiets des Unbewussten) hat geholfen, viele Tabus durchzubrechen und viele Erscheinungen und Probleme der Sexualität zu benennen. Der erste Skandal, den ein sich um die Sexualität interessierende Wissenschaftler freilich ausrufen musste, hing mit der Psychoanalyse einer seiner Patientinnen namens Dora zusammen (veröffentlicht wurde dieser Fall 1905 in dem Bruchstück einer Hysterie-Analyse). Während der Analyse wurden auch sexuelle Fragen diskutiert, wobei zwei „moralisch inakzeptable“ Probleme zum Ausdruck kamen: einerseits hat Freud die Geschlechtsorgane mit ihren wissenschaftlichen Namen benannt (also im Gegensatz zu den verschleiernden Phrasen der damaligen gesellschaftlichen Norm), zweitens kannte die Patientin Sachen, die für ihr Alter und für die Epoche skandalös waren. Dieser Skandal wurde jedoch durch die Veröffentlichung der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1. Auflage – 1905) überwunden. Dieses Buch hat den Glauben an die sexuelle „Unschuld“ der Kinder bezweifelt, oder besser gesagt, negiert. Freud behandelt hier die sexuellen Triebe der kleinen Kinder und bezeichnet sie als Ursprung aller Perversionen der Erwachsenen (dank der Amnesie, die fast alle Kinder durchmachen, erinnert sich der Erwachsene an seine Kindheitsgedanken nicht). Freud war natürlich nicht der Begründer der Sexualwissenschaft, vor ihm erschienen zum Beispiel die Werke von Richard Freiherr Krafft-Ebing oder Henry Havelock Ellis. Seine Vorgänger berichteten aber lediglich über pathologische Formen der Sexualität und gaben ihnen die Namen. Sie gingen von der Vorraussetzung eines „normalen Instinkts“ aus, der der Sexualität zugrunde liegt. Bei Freud gibt es diese Normalität nicht – 21 „Der sexuelle Trieb (…) hat weder ein natürliches Objekt noch einen natürlichen Zweck, und die normale Sexualität muß sich auf der Grundlage von Partialtrieben konstituieren, von denen jeder das repräsentiert, was man eine Perversion nennt … Die Partialtriebe gehen niemals in einer Resultanten, die man ´normal´ nennen kann, völlig auf; es bleibt immer ein R e s t . Dieser Rest besteht aus einem ´perversen´ Trieb, aber das entscheidet nicht darüber, was aus dem Rest wird. Es kann ein Zustand der Perversion entstehen oder – genauer – bestehenbleiben, oder es können sich neurotische Symptome daraus entwickeln oder aber ´Reaktionsbildungen´ (der Ekel, die Scham, die Moral) … Diese Reaktionsbildungen sind die Grundlage der Sublimierung.“ (Mannoni, S. 88 f.) Dank der Sublimierung (Umformung der sexuellen Neigungen in andere Aktivitäten) unterstützt dieser perverse Trieb die psychische Tätigkeit (z. B. künstlerische) und ist auch der Anfang der Charakterformung. Freuds Zeitgenossen waren von dieser Theorie von Gleichsetzung der Laster mit den Tugenden (die 1915 in Triebe und Triebschicksale noch erweitert erschien) natürlich empört. Freud war jedoch in seinen Bemühungen, die sexuelle Sphäre zu enttabuisieren oder wenigstens zu beschreiben, nicht allein. Sexuelle (und skandalöse) Themen finden wir auch bei dem Wiener Schriftsteller und Dramatiker Arthur Schnitzler (1862–1931). Die Gleichsetzung der Liebe mit dem Liebesspiel, die typisch für Schnitzlers männliche Figuren ist, brachte dem Autor den Vorwurf der Amoralität und auch einige Skandale. Den größten von ihnen verursachte das Drama Reigen (geschrieben 1896–1897, veröffentlicht 1903). Die öffentliche Moral konnte sich mit der Schilderung von zehn Liebesdialogen (immer vom Liebesakt begleitet) nicht abfinden und Schnitzler (und das Theater) wurde wegen der „Verletzung der öffentlichen Moral“ angeklagt (Stromšík, S. 92). Auch in der Malerei dieser Zeit (um 1900) gab es Häretiker – zum Beispiel die Österreicher Gustav Klimt (1862–1918) und Egon Schiele (1890–1918). Beide haben durch ihre Auffassung und offene Darstellung der erotischen Thematik die damalige Gesellschaft provoziert. Schiele wurde wegen seiner 22 Zeichnungen, die als Pornographie bezeichnet wurden, sogar zu drei Tagen Arrest verurteilt. Die stark erotischen Aktgemälden der beiden Maler wurden mit den damaligen Augen als vulgär gesehen. Nach dem Ersten Weltkrieg, genauer 1919, erscheint in Frankreich eine künstlerische Strömung, die über zwanzig Jahre die Kultur in fast ganz Europa beeinflussen wird, der Surrealismus. Sein Programm lässt sich folgenderweise zusammenfassen – „Protest gegen alle Konventionen des bürgerlichen Lebens und ihre ideologischen Rechtfertigungen und künstlerischen Ausdrucksformen und gegen alle Formen institutionalisierter Unterdrückung des Menschen“ (Barck, S. 729). Die surrealistischen Künstler (unter anderen sind es André Breton, Paul Eluard, Salvador Dalí, Luis Aragon) bieten uns eine Ästhetik des Wunderbaren, die Aufhebung der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit und die Methode der automatischen Schreibweise an (welche die von Freud „entdeckte“ Schicht des Unbewussten zum Ausdruck bringt). Zu dem gesellschaftlichen Protest gehört freier Umgang mit den bisherigen Tabus, auch mit dem wohl am meisten tabuisierten Thema, der Sexualität – „Erotik und Liebe sind für die Surrealisten elementare und praktische Akte der Befreiung von sozialen Zwängen, Handlungen der Selbstbefreiung (…) von den internationalisierten Regeln einer christlich-bürgerlichen Moral.“ (ebd., S. 726) Nach Maurice Nadeau sind sich die Surrealisten der Wichtigkeit der Triebe und Sehnsüchte und deren Befriedigung im Leben des Menschen bewusst und behandeln dieses Thema auch oft in ihren Werken (Nadeau, S. 19). Liebe und Erotik sind wichtige Inspirationsquellen der surrealistischen Künstler. Die „bürgerliche“ in den Regeln der Ehe verhaftete Liebe wird verneint. Verlangt wird eine freie Möglichkeit, die erotische Sehnsucht (nach Freud der Hauptinhibitator des menschlichen Denkens) zu realisieren, was die damalige Gesellschaft dem Einzelnen nicht erlauben wollte. Kritisiert wurden auch die Praktiken der Kirche, die ihre pervertierte Erotik hinter 23 verschiedensten Symbolen verbergen sollte – fast nackter Christus, sadistisches Foltern der Märtyrer, masochistische Visionen der Hölle (ebd., S. 99). Erotische Themen bzw. Sexualität lassen sich in vielen Texten der surrealistischen Dichter entdecken. Aragon befasst sich in seinem Bauer in Paris mit der Frage der Prostitution, wobei er sie als eine „Möglichkeit einer solidarischen und mythischen Kommunion mit der Masse“ (Barck, S. 727) entdeckt. In Irène, dem klassischen Text surrealistischer Erotik (ebd., S. 726), wagt Aragon einen sehr mutigen Versuch einer Beschreibung der Liebesszene „mit allem drum und dran“. Der Leser wird zu einem Voyeur, dessen Vorstellungskraft mit sehr genauen (jedoch nicht allzu vulgären) Beschreibungen (außer anderem des Oralverkehrs) geweckt wird. André Breton und Paul Eluard listen in ihrem Aufsatz Die unbefleckte Empfängnis wiederum die 32 möglichen Lagen des Geschlechtsverkehrs auf. Orgasmus wird zum Thema des Phänomens der Ekstase, das von Salvador Dalí verfasst wurde. Zum Teil bewahren die surrealistischen Texte aber doch noch bestimmte gesellschaftliche Tabus – „Die phallokratische Erotik der Surrealisten bleibt bei aller Revolte gegen bürgerliche und spießige Sexualmoral und ihr christlich bigottes Gegenbild der ´reinen´ Familie durch die unaufgehobene traditionelle Rollenverteilung der Geschlechter noch immer in Grenzen dieser Moral gefangen.“ (ebd., S. 727) Nach Barck kehren die „surrealistischen Motive des Protests und der Provokation“ (ebd., S. 719) in der Protestbewegung wieder, die im Jahre 1968 angefangen hat. Eine enge, obwohl beiderseits kritische Beziehung zu der surrealistichen Bewegung hatte auch der französische Schriftsteller, ein konvertierter Katholik, George Bataille (1897–1962), der mit dem Text Die Geschichte eines Auges (1928) den Boden der Literatur betrat. Das Hauptthema seiner Werke (Madame Edwarda – 1941, Die Mutter – 1966, Der Gestorbene – 1967) ist radikalisierte obszöne Sexualität, die die ganze Skala der vorstellbaren Perversionen abdeckt. Ganz entscheidend sind für Batailles Werk die Verbindung vom Sex 24 und Tod und der Tod Gottes. Unter seine philosophischen Vorbilder gehören de Sade, Nietzsche und Freud. In seiner Sehnsucht nach Erkenntnis der Ganzheit des menschlichen Daseins kommt Bataille zu der Ansicht, dass diese nur durch eine Grenzsituation zu erfahren ist, also zum Beispiel mit Hilfe eines obszönen, alle Tabus brechenden Sexualerlebnisses. Dazu gehören Homosexualität, Masturbation, Prostitution, Oralverkehr, Beschreibung der Entleerung, Koprophilie und das alles geschieht in einer vulgären „pornographischen“ Sprache. Láďa Šerý sieht als Hauptthema von Batailles Texten den Gegensatz zwischen dem Körperlichen (Animalischen) und dem Geistigen im Menschen. Erotik wird zu einem Abenteuer des Geistes und des Körpers zugleich, einem Abenteuer, das zum Tod führt. Den Tod versteht Bataille als „den Höhepunkt unseres erotischen Suchens“ (Šerý, S. 98 ff.). In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erschienen auch zwei Werke, die in Großbritannien und den USA zuerst verboten wurden bzw. „aus Zensurgründen gekürzt und ´gereinigt´“ (Kindlers Neues Literatur Lexikon, X, S. 77) werden mussten. Veröffentlicht werden konnten diese Bücher in den oben genannten Ländern erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um den Roman Lady Chatterley´s Lover (erschienen 1928) von dem Engländer David Herbert Lawrence und Wendekreis des Krebses (erschienen 1934), den autobiographischen Roman des Amerikaners Henry Miller. Das erste Buch verdiente seinen Skandalruf dank der Freizügigkeit, mit der die sexuellen Beziehungen des Zentralpaares geschildert werden. Man warf Lawrence Obszönität und Verherrlichung des Ehebruchs vor (ebd., S. 78). Henry Miller hat sich in seinem Roman von der „klassischen“, Tabus respektierenden Literatur, abgewandt. Statt dessen konfrontiert er die Leser mit schrankenlosen Schilderungen aller Art sexueller Beziehungen. Beide Werke haben jedoch die Tatsache gemeinsam, dass Sexualität und ihre Schilderungen nicht zum primären und wichtigsten Thema werden. Bei Lawrence handelt es sich um eine Gesellschaftskritik von 25 England der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, Miller schuf wiederum ein anarchistisches Loblied auf die Stadt Paris. Einen weiteren wichtigen Augenblick in der Auffassung der Sexualität bringt die „Revolution“ mit sich, die im Jahre 1968 gipfelte. Die neu entstandene Situation fasst Hermann Glaser in seinem Buch Die Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland folgendermaßen zusammen: „Drop out. Do your own thing. Leave society as you may have known it. Wer ´draußen´ ist, ist drinnen, wer die Gesellschaft verläßt, ihren Ritualen und Lügen entfließt, ist ´hip´, ´in the known´ – weiß Bescheid: daß es nämlich jenseits der Repression Hippieland gibt, beautiful and peaceful, ein künstliches Arkadien, das in anarchistischer Ekstase und enthebendem Rausch explodiert wird. Nacktheit, oft zerfließend androgyn, wird der Verhüllungsideologie demonstrativ entgegengestellt…“ (Glaser, S. 22 f.) Angegriffen wurde die „Krawattenkultur“ bzw. das „vermarktete Kulturleben“ insgesamt (ebd., S. 57). Nach Glaser waren die charakteristischsten Eigenschaften dieser vorwiegend studentischen Protestbewegung die „sexuelle Schranklosigkeit“ (ebd., S. 22) und die Negation der „rationellen“ bürgerlichen Gesellschaft. „Die Phantasie an die Macht!“ – das war eine der damaligen Forderungen (ebd., S. 37). Die Provokation, ihre Ziele und ihre Form charakterisiert Glaser folgenderweise: „Die Funktion der Provokation sollte es sein, Normen, Regulationen, Attitüden, Tabus, Stereotype ´besinnungslos´ gewordener etablierter Ordnung in Denken und Handeln (repressive Strukturen) aufzubrechen, um auf diese Weise den Boden für die intentionale Aktion vorzubereiten … Der Schock, unterstützt von ´unordentlicher´ Kleidung, skandierendem Sprechchor, obszönem und fäkalischem Jargon (mit ´Scheiße´ als Entreebillet in den linken Underground) brach verhältnismäßig rasch Systemzwänge und Mechanismen auf.“ (Glaser, S. 39) Die Funktion der vulgären Sprache war nach Glaser die Bemühung, „sich dem Glamourglanz der Warenästhetik und dem ´hygienischen Leistungsdruck´ zu entziehen“. (ebd., S. 42) Auch die Sphäre der „bürgerlichen“ Literatur 26 wird bezweifelt: „Protestiert wird gegen die traditionellen Formen der Literatur, des Literaturkonsums sowie der Literaturkritik; der ´harmlose´ und zweckfreie Umgang mit der sogenannten schönen Literatur wird entlarvt als ein Versuch, von der Wirklichkeit (den gesellschaftlichen und politischen Problemen) mit Hilfe von ´Interpretationsideologien´ abzulenken.“ (ebd., S. 70) In Deutschland wurde zu einem der Symbole der sexuellen Enthemmung die Kommune 1 (K1), die Ende 1966 in einer alsbald demolierten Berliner Dachwohnung des nach USA gereisten Schriftstellers Uwe Johnson entstanden war. Ihre Mitglieder waren Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann und Rainer Langhans. Hermann Glaser beschreibt diese „WG“ wie folgt: „Fritz Teufel und seine Kommunarden … praktizierten eine Lebensweise, die von der im Sekundärtugendsystem eingeschliffenen Gesellschaft (ausgerichtet auf Ordnung und Sauberkeit, Anpassung und Jasagertum) verabscheut, zugleich aber, tiefenpsychologisch gesehen, als Befreiung ersehnt wurde. Spott auf die Justiz (…), Pornographie, Unsauberkeit, vor allem aber Gruppensex.“ (ebd., S. 42) Dieser „Wunsch nach Befreiung“ akzentuierte in der BRD die Zeitschrift konkret, die „einen Teil ihres Geschäfts damit [machte], daß sie die Kombination von Politik und Sexualität, Sozialkritik und Pornographie reichhaltig narrativ aufarbeitete und farbig bildete. Im Stil eines alternativen Herrenmagazins befriedigte sie auf diese Weise sowohl die bourgeoisen Voyeurinteressen wie das linksromantische Prostitutionsbedürfnis.“ (ebd., S. 42) Neben der Entstehung der Grünen, der Frauenbewegung und mancher Bürgerinitiativen brachte die Protestbewegung, die Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ihr Ende nahm, eine bestimmte Lockerung in der Sache Sexualität mit sich: „Die Liebesbeziehungen und die Formen ihrer sexuellen Befriedigungen seien selbstverständlicher und vielfältiger geworden; bei vielen Jugendlichen könne man eine Entgrenzung ihrer Sinnlichkeit wahrnehmen; die traditionellen Tabuschwellen verlören ihren Schrecken … Die 27 Jugendlichen gewinnen ein aufmerksameres und freundlicheres Verhältnis zu ihrem Körper und seinen Ausdrucksmöglichkeiten. Die Körper bewegen sich freier und stehen nicht mehr unter dauerndem genitalem Überdruck. Narzißtische Bedürfnisse werden offener zugelassen und lustvoll ausgelebt. Selbstbefriedigung wird angstfrei genossen und kann eher mit sexuellen Partnerbeziehungen verbunden werden … Die heterosexuelle Normierung verliert an Härte … Kurz: die jugendliche Sexualität gewinnt an polymorphen Ausdrucksformen.“ (ebd., S. 114) Einer der Hauptphilosophen dieser revolutionären Zeit war der Soziologe Herbert Marcuse, der, unterstützt von seiner Interpretation des Werkes von Sigmund Freud, in seinem Werk Triebstruktur und Gesellschaft (im Original Eros and Civilisation) die Aufhebung der Unterjochung der menschlichen Triebe fordert, die die Kultur und Zivilisation mit sich bringen. „Die freie Befriedigung der Triebansprüche des Menschen ist unvereinbar mit einer zivilisierten Gesellschaft: Triebverzicht und Aufschub der Befriedigung sind die Voraussetzungen des Fortschritts.“ (Marcuse, S. 11) Die Kultur in ihrer „alten“ Auffassung sollte abgeschafft und durch ihre „neuen Formen“ (ebd., S. 12) ersetzt werden. Die Umformung des Lustprinzips in das Realitätsprinzip, wie es unsere Gesellschaft von uns verlangt, muss aufgehoben werden – „Der Mensch gelangt zu der traumatischen Einsicht, daß die volle und schmerzlose Befriedigung seiner Bedürfnisse unmöglich ist. Nach dieser Erfahrung der Enttäuschung tritt ein neues Prinzip der seelischen Funktionen in Erscheinung. Das Realitätsprinzip verdrängt das Lustprinzip: der Mensch lernt, augenblickliche, ungewisse und zerstörerische Lust zu Gunsten einer späteren, beschränkten, aber ´gesicherten´ Lusterfüllung aufzugeben.“ (ebd., S. 20 f.) Diesen Augenblick betrachtet Marcuse als das größte traumatische Ereignis in der menschlichen Entwicklung, sowohl aus der Sicht der Phylogenese als auch der Ontogenese (hier wird die negierende Kraft der Kultur durch Eltern und Erziehungspersonen ersetzt). Als einen der Gründe der Modifikation der Triebstruktur der 28 heutigen Gesellschaft sieht er den ökonomischen Aspekt – Sex soll von Arbeit ersetzt werden. Die Arbeit bringt (so Marcuses Interpretation des Werkes von Freud) dem Menschen keine Befriedigung, macht ihn dagegen immer unglücklich, ist mühevoll, unlustvoll, schmerzlich (ebd., S. 74). Deswegen verdankt die Kultur ihre Entstehung nur dem Sexualtrieb, durch dessen Sublimierung die kulturelle bzw. gesellschaftliche Arbeit möglich sei. Als weiteres „Unterdrückungsinstrument“ der Triebe bezeichnet Marcuse die Vernunft (ebd., S. 139). Nach Freud (laut Marcuse) existiert aber auch eine andere Wahrheit als die vernunftvolle. Die Phantasie (Vorstellungskraft) kann dem Menschen die Erfahrung der wahren Erfüllung leisten, seiner gewaltlosen Vereinung mit der Natur, wie man es zum Beispiel in den surrealistischen Werken erleben kann (ebd., S. 139 ff.). Um eine Kultur ohne Unterdrückung und Verdrängung zu entwickeln, ist es nach Marcuse nötig, die Beziehung zwischen Trieben und Vernunft neu zu gestalten, „ein neues Realitätsprinzip“ (ebd., S. 170) zu schaffen. Damit hängt auch die Neubewertung des wichtigsten Triebes – der Sexualität – zusammen. 29 3. Die Postmoderne 3. 1. Die Genealogie des Begriffs In seinem Aufsatz Postmoderne. Genealogie und Bedeutung eines umstrittenen Begriffs untersucht Wolfgang Welsch die Geschichte dieser ursprünglich literaturwissenschaftlichen Bezeichnung, die sich im Laufe der Jahre auch in Bereichen wie Architektur, Malerei, Soziologie und Philosophie etabliert hat. Die Ergebnisse seiner Forschungen lassen sich folgenderweise zusammenfassen. Zum ersten Mal erscheint der Ausdruck Postmoderne in der Literaturgeschichte im Jahre 1917 in dem Buch Die Krisis der europäischen Kultur von dem deutschen Schriftsteller und Philosophen Rudolf Pannwitz. Postmoderne ist für ihn der „bevorstehende Höhenkamm nach dem Wellental der Moderne“ (Welsch 1991, S. 12). Bei seiner Beschreibung des postmodernen Menschen handelt es sich nach Welsch jedoch um eine an Kitsch grenzende (allerdings gut gemeinte) Paraphrase des Werks Nietzsches (v. a. seiner Theorie des Übermenschen). Im Jahre 1934 benutzt den Begriff Postmoderne der spanische Literaturwissenschaftler Federico de Oniz als Bezeichnung für eine kurze literarische Periode der spanischen und ibero-amerikanischen Dichtung (1905–1914), die auf den Modernismo folgte. Im englischen Sprachraum erscheint das Wort Postmoderne zum ersten Mal im Jahre 1947 in der D. C. Sommerwells Kurzfassung der Enzyklopädie von Arnold Toynbee A study of history. Als „post-modern“ wird hier die gegenwärtige Phase der abendländischen Kultur bezeichnet, die 1875 angefangen hat und durch den Umkehr der Politik von der national-staatlichen Denkweise zu einer globalen Interaktion charakterisiert werden kann. Wie man sieht, erschien dieser Begriff in der Geschichte sehr disparat, ohne jeglichen kausalen oder begrifflichen Zusammenhang. 30 Eine wichtige Zäsur kam im Jahre 1959, als in den USA die Diskussion über die literarische Postmoderne in dem heutigen Sinn des Wortes beginnt. Die Hauptfigur dieses Ereignisses ist Irwing Howe: „Howe konstatiert (…), daß die Literatur der Gegenwart im Unterschied zur großen Literatur der Moderne – der Literatur der Yeats, Eliot, Pound und Joyce – durch Erschlaffung, durch ein Nachlassen der innovatorischen Potenz und Durchschlagskraft gekennzeichnet sei. In diesem Sinn wird sie als ´post-modern´ bezeichnet.“ (ebd., S. 13) Howe bezeichnet also Postmoderne als etwas Negatives, nach Welsch handelt es sich um eine „Diagnose eines tristen Wellentals nach den fulminanten Gischtkämmen der Moderne“. (ebd.) Laut Welsch handelte es sich dabei keineswegs um eine Anklage, vielmehr um Konstatierung des Faktes, dass die Sturmphase der Moderne ganz natürlich von einer „ruhigeren“ Zeitperiode gefolgt wird. Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts kam es jedoch zu einer positiven Neubewertung der postmodernen Literatur. Es treten die amerikanischen Literaturkritiker Leslie Fiedler und Susan Sontag auf, die durch das Aufgeben der ausschließlichen Orientierung am Maßstab der klassischen Moderne die kulturpessimistischen Töne loswerden und so die Freiheit gewinnen, die eigenen Qualitäten dieser neuen Literatur wahrzunehmen. Was die eigentlichen Werke betrifft, erscheinen laut Welsch die ersten postmodernen Texte in den USA der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Unter die typischen Vertreter zählt er zum Beispiel John Barth, Leonard Cohen und Norman Mailer. Nach Europa dringt dieses Phänomen erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein, zu dieser Zeit soll nach Welsch die Postmoderne in den USA schon längst „out“ sein. Hanns-Josef Ortheil dagegen gibt in seinem Aufsatz Was ist postmoderne Literatur? als den Anfang der literarischen Postmoderne die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts in den USA an (unter den typischen Vertretern wären die Schriftsteller wie Saul Bellow, Kurt Vonnegut, Norman Mailer, John Hawkes, John Updike und John Barth zu nennen). Unter weiteren 31 Ländern, wo sich diese literarische Strömung durchgesetzt hat, nennt er Italien (Umberto Eco und Italo Calvino) und das Gebiet Südamerikas (Manuel Puig, Alejo Carpentier, Carlos Fuentes, José Lezama Lima, Gabriel García Márquez). Ein wichtiges „Wirkungsgebiet“ des Postmoderne-Begriffs ist die Architektur, wo diese Bezeichnung auch zuerst negativ verwendet wurde. Erst mit der Person des amerikanischen (später nach London übersiedelten) Architekten und Kritikers Charles Jencks hat diese Bezeichnung einen positiven Inhalt gewonnen. Im Jahre 1975 hat er den Termin Postmoderne aus der Literatur in die Architektur übertragen. Als theoretische Basis verwendete er die Thesen des Literaturkritikers Leslie Fiedler, dessen literarischen Theorien er in der Architektur angewandt hat. (Welsch 1994, S. 28 f.) 3. 2. Die charakteristischen Merkmale der Postmoderne 3. 2. 1. Moderne versus Postmoderne oder Der ewige Gegensatz? In seinem berühmten (obwohl zum Teil bestimmt absichtlich zugespitzten) Vortrag Überquert die Grenze, schließt den Graben!, den er im Jahre 1968 an der Freiburger Universität hielt, macht Leslie Fiedler mehrmals auf die Tatsache aufmerksam, dass die Moderne (von ihm als der Zeitabschnitt von den Anfängen der beiden Weltkriege bestimmt) und ihre Auffassung von Literatur tot sind. Das Zeitalter von Proust, Joyce, Mann und Eliot ist laut ihm definitiv zu Ende. „Die Spezies Literatur, die die Bezeichnung ´modern´ für sich beansprucht hat (mit der Anmaßung, sie repräsentiere äußerste Fortgeschrittenheit in Sensibilität und Form, und über sie hinaus sei ´Neuheit´ nicht mehr möglich) …, ist tot, das heißt, sie gehört der Geschichte an, nicht der Wirklichkeit.“ (Fiedler, S. 14) Die Literatur muss laut ihm von jetzt an keine „höhere Wahrheit“ mitteilen oder sich wenigstens darum 32 bemühen, wie es in der Moderne der Fall war. Nach Fiedler handelt es sich in der Literatur der Gegenwart um „…die Romantik des postelektronischen Zeitalters, die weiß, daß es keinen Sinn mehr hat, einen jungfräulichen, unkorrumpierten Westen am Horizont zu suchen, weil es so etwas nicht mehr gibt…“ (ebd., S. 37) Der „Paradephilosoph der Postmoderne“ (Welsch 1991, S. 10), der Franzose Jean-Françoise Lyotard, charakterisierte den Gegensatz Moderne versus Postmoderne wie folgt: „Die Postmoderne, das wäre somit eine Moderne ohne Trauer, … ohne die Sehnsucht nach dem Ganzen und Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit … kurz, eine den Verlust des Sinns der Werte, der Realität in fröhlichem Wagnis auf sich nehmende Moderne.“ (hier zitiert nach Baumgart, S. 145) Diese These vertritt auch Wolfgang Welsch, der sich in seinem schon erwähnten Artikel Postmoderne. Genealogie und Bedeutung eines umstrittenen Begriffs zu diesem Thema folgenderweise äußert: „Während die Literatur der klassischen Moderne sehr fein gesponnen, aber auch elitär war und mit ihren Glasperlenspielen nur eine intellektuelle Oberschicht erreichte, bricht die neue Literatur aus diesem Elfenbeinturm aus.“ (Welsch 1991, S. 14) In einer „geographisch breiteren“ Sicht sieht die Problematik der amerikanische Literaturkritiker Craig Owens, der in seinem Diskurs der Anderen – Feministinnen und Postmoderne die Postmoderne als „Krise der kulturellen Autorität … besonders der Autorität, mit der die west-europäische Kultur und ihre Institutionen ausgestattet sind“ bezeichnet. (Owens, S. 172) Die von der Moderne verlangte Autorität des Kunstwerks erscheint ab jetzt nicht mehr, nach dem von Owens zitierten Frederic Jameson hat die Literatur sogar ihre gesellschaftliche Funktion verloren. Hanns-Josef Ortheil sieht das Moderne-Postmoderne-Verhältnis aus einer anderen Perspektive, die er eher auf eine ganz neue Rolle des Lesers in der Literatur richtet (auf dieses 33 Thema werde ich in dem folgenden Kapitel näher eingehen): „Die postmoderne Literatur ist die Literatur des kybernetischen Zeitalters. Sie verabschiedet nicht die ästhetischen Projekte der Moderne, sondern verfügt über diese als Modelle, die in Spiele höherer Ordnungen überführt werden können.“ (Ortheil 1994, Was ist postmoderne Literatur, S. 126) Die Realität muss auf einer ganz neuen Art und Weise erfasst werden: „Die postmoderne Antwort auf Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld. (Zitat – Eco) Ironie, Maskerade hoch zwei, metasprachliches Spiel…“ (ebd., S. 131) Eine ähnliche Einstellung findet sich auch bei Fiedler, der für „Parodie oder Übertreibung oder groteske Imitation klassischer Vorbilder“ (Fiedler, S. 31) plädiert. 3. 2. 2. Der Romancier ist tot, es lebe der Romancier? Und was ist mit dem Leser? Mit der Funktion und Form der Literatur hat sich auch die Funktion und Form der Gattung Roman gravierend geändert (und dadurch auch die Rolle des Lesers). Leslie Fiedler hat die neue Situation folgenderweise charakterisiert: „Kein Romancier kann sich erneueren, der nicht einsieht, daß sofern er Romacier im traditionellen Sinn bleibt, er tot ist … Das Selbstbewußtsein des Romans muß – gleich dem der Vorlesung und des christlichen Gottesdienstes – das Bewußtsein seiner eigenen Absurdität, ja Unmöglichkeit, einschließen.“ (Fiedler, S. 18 f.) Der neue Roman soll „anti-künstlerisch“ und „anti-seriös“ sein und seine exakte Funktion wäre die Überbrückung der Kluft zwischen Elite- und Massenkultur. Die postmodernen Romane sollen der Kunst, der Innerlichkeit, der Analyse und dem Anspruch möglichst entfernt sein, immun gegen Lyrizismus und platten sozialen Kommentar, dagegen sollten sie sich der Genres der Pop-Kultur bedienen. Nach Hanns-Josef Ortheil ist der 34 postmoderne Roman künstlich, er folgt den Regeln des „romanhaften Spiels“. (Ortheil 1994, Was ist postmoderne Literatur?, S. 131) Der (erfahrene) Leser kennt allerdings diese Regeln und weiß, dass er nicht belogen werden kann, weil es einen plausiblen Spielplan gibt. Die Zahl der möglichen Lesarten ist unendlich. Diese Tatsache erklärt Ortheil mit Hilfe der Theorie des italienischen Schriftstellers Italo Calvino. Danach besteht der Roman aus drei Territorien – aus dem Komischen, dem Erotischen und dem Phantastischen. Dazu sagt Ortheil: „Gerade diese Darstellungsformen erlauben Auswege ´aus der Begrenztheit und Eindeutigkeit jeder Darstellung und jedes Urteils´.“(ebd., S. 130) So wird der Leser „zum intellektuellen Komplizen des Autors“. (ebd., S. 126). Er führt weiter hinzu: „Die postmoderne Literatur setzt den universellen Leser voraus; sie sieht ihn in die Intrigen einer totalen Zeichensprache, auf deren labyrinthische Zumutung er selbst die Antwort geben muß. Statt ihn mit Theorien und Weltaufklärungen zu befriedigen, erzählt sie ununterbrochen Spielvorschläge, die variiert, aber auch erweitert werden können.“ (ebd., S. 126) Am Beispiel des Romans von Julio Cortázar Rayuela – Himmel und Hölle zeigt Ortheil, dass die Rolle des Lesers entscheidend für die finale Bedeutung des Werks sein kann: „Auf Grund eines komplizierten Systems von Anweisungen erhält der Leser nicht nur eine, sondern mehrere Möglichkeiten (letztlich unendlich viele) den Roman zu lesen.“ (ebd., S. 129) Damit wird aber die Rolle des Lesers wesentlich anspruchsvoller, verlangt ein bestimmtes kultur-literarisches Vorwissen. Die Lesart von gestern ist bei den heutigen Romanen nicht mehr möglich, die entscheidende Arbeit wird dem Leser zugemutet. Das Spiel zwischen dem Autor und dem Leser charakterisiert Umberto Eco folgenderweise: „Sie (die postmoderne Haltung, Anmerkung der Autorin) erscheint mir wie die eines alten Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: ´Ich liebe dich inniglich´, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir von Liala geschrieben worden sind. Es gibt 35 jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: ´Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich.´…Wenn sie das Spiel mitmacht, hat sie in gleicher Weise eine Liebeserklärung angenommen.“ (Eco, hier zitiert nach Ortheil 1994, Was ist postmoderne Literatur?, S. 131) 3. 2. 3. Überquert die Grenze, schließt den Graben! So hieß der schon erwähnte berühmte Vortrag, der Leslie Fiedler im Jahre 1968 in Deutschland hielt. Mit diesen Worten fasst er zugleich eines der charakteristischen Merkmale der Postmoderne (zu der Zeit eine seiner Forderungen an die neue Literatur) zusammen. Wie ich schon gesagt habe, ist nach Fiedler die Funktion des heutigen Romans die Überbrückung der Kluft zwischen Elite- und Massenkultur, der Unterschied zwischen der hohen und der niedrigen Kunst soll abgeschafft werden. Dazu sollen die Autoren die Gattungen des „Marktplatzes“ (Fiedler, S. 31) wie Western, Science-Fiction und Pornographie aufgreifen und literarisch ausnutzen. Diese Symbiose führt dann zu weiteren Bereicherungen der „hohen“ Literatur – „…die Kluft zu schließen bedeutet auch, die Grenze zwischen dem Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen zu überschreiten, zwischen dem Wirklichen und dem Mystischen, zwischen der bürgerlichen Welt mit Boudoir und Buchhaltung und dem Königreich dessen, was man lange als Märchen zu bezeichnen pflegte…“ (ebd., S. 34) Hanns-Josef Ortheil sieht die Situation in ähnlicher Optik. Die moderne und avantgardistische Kunst war laut ihm weit entfernt von jedem Publikumgeschmack, hat das „Kunstwerk für Experten“ (Pound, hier zitiert nach Ortheil 1994, Was ist postmoderne Literatur?, S. 127) produziert. Die postmoderne Literatur dagegen hat die Kunst (den Roman) für unterschiedlichste Anspielungsbereiche geöffnet (den historischen Roman, Sci-fi, Western, Pornographie, existentielle Analyse). Die Tatsache führt laut Ortheil (gleich wie laut Fiedler) zu der Möglichkeit, das Faktische und Fiktionale beliebig zu verwirren. 36 Wolfgang Welsch hat sich zu diesem Thema auch geäußert: „Der postmodernen Literatur gelingen solche gesellschaftlichen und institutionellen Grenzüberschreitungen, indem sie in sich unterschiedlichste Motive und Erzählhaltungen verbindet und nicht mehr bloß intellektuell und elitär, sondern zugleich romantisch, sentimental und populär ist … Sie schafft eine Verbindung von Wirklichkeit und Fiktion ebenso wie von elitärem und populärem Geschmack.“ (Welsch 1991, S. 15) Mit der „Erweiterung“ der hohen Literatur um neue Bereiche hängt auch ein weiteres charakteristisches Merkmal der Postmoderne zusammen. Es ist die Mehrsprachigkeit. Nach Wolfgang Welsch lautete das Ergebnis der postmodernen Literaturdebatte (die nach seiner Überzeugung 1969 beendigt wurde) folgenderweise: „Postmodernes liegt dort vor, wo ein grundsätzlicher Pluralismus von Sprachen, Modellen, Verfahrensweisen praktiziert wird, und zwar nicht bloß in verschiedenen Werken nebeneinander, sondern in ein und demselben Werk.“ (Welsch 1991, S. 15) Craig Owens führt noch einen Pluralismus der Kulturen hinzu – „Einig sind sich Fürsprecher und Gegner darin, die Postmoderne als Krise der kulturellen Autorität zu verstehen, besonders der Autorität, mit der die westeuropäische Kultur und ihre Institutionen ausgestattet sind. Die Erkenntnis, daß es mit der Hegemonie der europäischen Zivilisation zu Ende geht, ist kaum neu; spätestens seit Mitte der 50er Jahre haben wir die Notwendigkeit erkannt, fremden Kulturen anders entgegenzutreten als durch den Schock von Dominanz und Unterwerfung.“ (Owens, S. 1) 3. 3. Postmoderne auf deutsch? Hanns-Josef Ortheil beschäftigt sich in seinem Artikel Postmoderne in der deutschen Literatur auch mit den postmodernen Werken der Literatur der deutschsprachigen Länder. Am Anfang macht er die Leser auf die wichtige Tatsache aufmerksam, dass die Entwicklung 37 der deutschen Literatur anders war, als in anderen europäischen Ländern. Leslie Fiedler hat in seinem schon mehrmals erwähnten Vortrag aus dem Jahre 1968 eine postmoderne Literatur propagiert, die als Antwort auf die Literatur der Moderne gedacht war. In Deutschland sind die modernen und avantgardistischen Strömungen jedoch von dem nazistischen Regime schon ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts unterdrückt worden, und die Autoren hatten erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Chance, Anschluss an die internationalen Bewegungen des Modernismus zu finden. Sie haben erst jetzt die Möglichkeit bekommen, das Programm dieser literarischen Bewegung zu studieren. Vielen von ihnen war jedoch schon damals klar, dass sie diese Strömung nicht erneueren, sondern höchstens darauf eine neue Literatur aufbauen können. Das zentrale Thema der deutschen Literatur nach 1945 waren die literarische Aufarbeitung des Faschismus, die Dekuvrierung des Versagens der Deutschen in den Zeiten der Diktatur und die Darstellung psychischer Katastrophen und des Endes der tröstenden Welt- und Heilsbilder. Es wurden neue Weltentwürfe konstruiert. „Die Aneignung von Themen und Methoden der sogenannten ´klassischen Moderne´ sollten auch der deutschen Literatur neue Wege zeigen.“ (Ortheil 1991, S. 38). Das bevorzugte Konzept des Erzählens war nach Ortheil jedoch das traditionell-neorealistische. Am Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts entsteht eine Literatur junger Autoren, die ihren gesellschaftlichen Protest mittels Literatur auszudrücken versuchten. Nach einigen Protestjahren kehren jedoch viele dieser Autoren zu eng an das Subjekt geknüpften Erzählmethoden zurück (z. B. die Texte der sog. neuen Subjektivität). Man sieht also, dass die deutsche Literatur in ihrem Wesen und ihren Formen lange ziemlich konservativ war. Darauf weist Hanns-Josef Ortheil mit der folgenden Äußerung hin – „Ironie, Spiel … und die deutsche Literatur! Es ist fast eine Unmöglichkeit!“ (Ortheil 1994, Was ist postmoderne Literatur?, S. 132) Trotzdem erscheinen auch hier postmoderne Werke. 38 Die erste entschiedene Absage an die künstlerische Formensprache des Modernismus findet man nach Ortheil in den Arbeiten Rolf-Dieter Brinkmanns, in den frühen Werken von Peter Handke (Sprechstücke, Der kurze Brief zum langen Abschied) und auch bei Hubert Fichte (Die Palette, Versuch über die Pubertät). Den zeitlichen Anfang der „deutschen“ Postmoderne sieht Ortheil folgenderweise: „Mir scheint jedenfalls einiges dafür zu sprechen, daß der geschichtliche Ort, an dem der Einstieg der deutschen Literatur in die Postmoderne sich vollzog, jener Ort Ende der sechziger Jahre war, an dem das gesellschaftskritische Konzept der Gruppe 47, das politische der Studentenbewegung und das durch Adornos Ästhetik vermittelte der ´Kritischen Theorie´ an Überzeugungskraft einbüßten.“ (Ortheil 1994, Postmoderne in der deutschen Literatur, S. 200) In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es dann zu einer immer größeren „Aufgeschloßenheit und Beeinflußung durch postmoderne Anregungen der ausländischen Literatur“ (ebd., S. 209). Zu dieser Zeit sind in dem deutschsprachigen Raum vor allem diese postmodernen Autoren tätig: Wolfgang Hildesheimer (Marbot, 1981), Klaus Hoffer (Bei den Bieresch, 1979), Gerold Späth (Commedia, 1980), Hermann Burger (1942–89), Gert Hofmann, Gerhard Köpf (geb. 1948), Botho Strauß, Gert Jonke (Erwachen zum großen Schlafkrieg, 1982), Patrick Süskind (Parfüm, 1985), Christoph Ransmayer (Die letzte Welt, 1988) und Thomas Hürlimann (Das Gartenhaus, 1989). Die Literatur der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ist laut Hanns-Josef Ortheil ohne die „Großerfahrungen von Post-Histoire, Postmoderne und Poststrukturalismus nicht zu denken“. (Ortheil 1991, S. 49) 39 4. Die Klavierspielerin – eine Horrorgeschichte aus Wien Dieser Roman von der (inzwischen mit dem Nobelpreis ausgezeichneten) österreichischen, oder besser gesagt Wiener, Schriftstellerin und Dramatikerin Elfriede Jelinek erschien im Jahre 1983. Seine Thematik und die „Offenheit“ der literarischen Bearbeitung haben zu Diskussionen geführt bzw. die öffentliche Moral und das ästhetische Empfinden mancher Leser verletzt. Es geschah trotz der Tatsache, dass die Themen wie Sexualität, Perversion und Obszönität keineswegs neu im Repertoire der Wienerin waren. Sie erschienen mehr oder weniger in ihren Prosaarbeiten wir sind lockvögel baby! (ersch. 1970), Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft (1972), Die Liebhaberinnen (1975) u. a., auch ihre Lyrikproduktion behandelt vor allem die Sinnlichkeit und Sexualität. Ihren Höhepunkt, was die Skandalwirkung betrifft, hat Elfriede Jelinek jedoch erst sechs Jahre später erreicht, als ihr skandalösester Roman Lust erschienen ist. Die Hauptprotagonistin des Buches ist die Klavierspielerin oder genauer Klavierlehrerin Erika Kohut, der es „auf das Ende der Dreißig“ (KL, S. 5) zugeht und die immer noch mit ihrer Mutter in einer Wohnung in Wien lebt und von der Mutter auch in diesem Alter als ihr „Kind“ (ebd.) bezeichnet wird. Der geisteskranke Vater lebt (bis zu seinem frühen Tod) in einem Irrenhaus, völlig isoliert von der Mutter-Tochter-Symbiose. Die Mutter hat also in der Erziehung der Tochter freie Hand, was sie auch völlig egoistisch und rücksichtslos ausnutzt. Von klein auf wird das kleine Mädchen zu einer berühmten und (vor allem im ökonomischen Bereich) erfolgreichen Pianistin trainiert. Beim Üben verbringt sie ihre ganze Kindheit und Jugend und wird wegen des verhinderten Kontakts mit anderen Kindern bzw. Jugendlichen fast menschenfeindlich. Der Eintritt in die große Welt der Musik gelingt aber nicht und Erika (oder besser gesagt ihre Mutter) muss sich mit der Stelle einer Klavierlehrerin an der Musikschule zufrieden stellen. Die Überwachung und Kontrolle der 40 Mutter hört aber keineswegs auf – Erika besitzt nicht einmal ein eigenes Zimmer, wo sie die Tür abschließen könnte, sie schläft in dem ehemaligen Ehebett zusammen mit der Mutter und auf Schritt und Tritt muss sie der Mutter genaue Berichte über ihre jeweilige Aktivität abgeben. Die Mutter bestimmt sogar, wie Erika aus dem Haus geht. Die Feinde, gegen die zu kämpfen ist, heißen Männer, Sinnlichkeit und eigentlich Freude aller Art. Der einzige Trotzversuch der Tochter besteht darin, dass sie sich von Zeit zu Zeit ein neues Stück Kleidung kauft, was immer wieder als eine Revolte betrachtet wird – indem Erika nämlich das (ihr) Geld verschwendet, bedroht sie den Kauf der (von der Mutter) ersehnten Eigentumswohnung. Diese Unterdrückung kann freilich nicht ohne Schaden bleiben: schon seit der Pubertät fügt sich die Tochter schmerzliche Verletzungen zu (die vorwiegend gegen ihre Geschlechtsorgane gerichtet sind), träumt von masochistischen Phantasien, später besucht sie Kinovorstellungen mit Hardcordepornos und wird schließlich zur Voyeurin, die sich Peep-Shows und die im Prater kopulierenden Paare anschaut. Die wenigen Liebesaffären, die sie hinter sich hat, haben immer ein frühes Ende genommen und Erika blieb von jeglicher Lust unbetroffen: „Erika spürt nichts und hat nie etwas gespürt. Sie ist empfindungslos wie ein Stück Dachpappe im Regen. Jeder Herr hat Erika bald verlassen…“ (ebd., S. 77) Ihre sadistischen Tendenzen finden in der Abscheu gegenüber der Masse ihrer untalentierten Schüler und im absichtlichen Verletzen der Mitpassagiere mit Musikinstrumenten im öffentlichen Verkehr Ausdruck. In dieser Lebenssituation lernt sie Walter Klemmer kennen. Er ist einer ihrer Schüler, der um sie auf seine Art „wirbt“, was Erika eigentlich nicht unangenehm ist. Er ist ein „gesunder, sportlicher Typ, eine Art Männlichkeitsideal“ (Szczepaniak, S. 126), in den sich Erika zu verlieben beginnt; sie träumt sogar von ihrer gemeinsamen Hochzeit. Die Annäherungsversuche verlaufen aber keineswegs reibungslos. Wie der Leser bald begreift, 41 sind Klemmers Gefühle nicht von besonderem Wert. Er will Erika im Grunde nur ausnutzen: „Er will seiner Lehrerin einmal einen langen Kuß geben und ihren Körper abgreifen. Er will sie mit seinen tierischen Instinkten konfrontieren. Er will mehrmals wie unabsichtlich an sie stark anstreifen … Er wird tun, was sie sagt und wünscht, daraus für spätere ernsthaftere Lieben zu profitieren. Lernen möchte er im Umgang mit einer um vieles älteren Frau – mit der sorgsam umzugehen nicht mehr nötig ist.“ (KL, S. 66) Der Respekt seiner „Traumfrau“ gegenüber lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: „Herr Klemmer will so gern Erikas Freund werden. Dieser formlose Kadaver, diese Klavierlehrerin, der man den Beruf ansieht, kann sich schließlich noch entwickeln, denn zu alt ist er gar nicht, dieser schlaffe Gewebesack.“ (ebd., S. 67) Auf der anderen Seite hat er auch einige „höhere“ Absichten mit seiner Lehrerin: „Ihren Körper wird er sie lieben oder zumindest akzeptieren lehren, den sie bisher noch negiert.“ (ebd., S. 66) All das bleibt der Lehrerin jedoch verschwiegen, und bald kommt der erste Annäherungsversuch. Es geschieht – poetischer geht es gar nicht – im Schülerklo der Musikschule. Auch dem Verlauf der „Aktion“ fehlt jegliche Romantik – nach den stürmischen Erregungsversuchen, die der Schüler an ihr durchgeführt hat und die in ihr keine libidösen Gefühle hervorriefen, nimmt Erika die Situation in eigene Hände und verbietet ihrem Schüler, sie anzufassen. Statt dessen fängt sie an, ihn zu masturbieren. Kurz vor seinem Orgasmus hört sie auf und untersagt auch dem Schüler jegliche Aktivität, die zur Erleichterung seines „Zustandes“ führen könnte. Die Lehrerin genießt die Demütigung ihres Schülers bis zum Ende. Klemmer überwindet diese Erniedrigung jedoch überraschend schnell und innerhalb von einigen Tagen will er die „Liebe“ fortsetzen. Erika ist prinzipiell nicht dagegen, jedoch unter der Voraussetzung, dass ihre in einem Brief, den sie Klemmer überreicht, zusammengefassten Instruktionen vollzogen werden. Ohne die Seiten durchstudiert zu haben, erscheint der Schüler eines Tages an der Haustür Erikas. Sie gibt bald nach und ladet ihn in 42 die Wohnung ein. Weil dort die Mutter schon auf ihr „Kind“ wartet, wagt Erika ihre bisher bedeutendste Rebellion: mit Hilfe von Klemmer blockiert sie die Tür und verschafft sich so zum ersten Mal in ihrem Leben eine Art Privatsphäre. Der Mutter bleiben nur der Fernseher und der Likör als „Ersatzunterhaltung“. Erika befiehlt Klemmer, ihren Brief laut zu lesen. „Was in diesem Brief steht, liest sich wie ein Ausschnitt aus einem Lehrbuch für sado-masochistische Praktiken. Klemmer bekommt eine detaillierte ´Gebrauchsanweisung´ zu Erikas Mißhandlung und Erniedrigung…“ (Szczepaniak, S. 126) Er soll sie lange und raffiniert quälen und dann vergewaltigen. Die Tatsache, dass das genaue Gegenteil – die Ausübung der „Liebe in der österreichischen Norm“ (KL, S. 232) – von ihm verlangt wird, begreift Klemmer nicht. Statt Erika leidenschaftlich zu küssen, verlässt er angeekelt ihre Wohnung. Ein paar Stunden später versucht die verzweifelte Tochter, die körperliche Liebe wenigstens von ihrer eigenen Mutter zu erzwingen, indem sie sich über den „mürben Mutterkuchen“ (ebd., S. 235) wirft und ihn mit Küssen bedeckt. Bei diesem Liebeskampf geht es aber nicht um Orgasmus, sondern um „die Person Mutter“ (ebd.). Die Mutter wehrt sich mit allen Kräften, gegen die viel jüngere Tochter hat sie jedoch keine Chance. Erst wenn sie das mütterliche Schamhaar erblickt, was ihr eigentliches Ziel zu sein scheint, hört Erika auf und die beiden Frauen schlafen „dicht an dicht“ (ebd., S. 237) ein. Erika entscheidet sich, einen Neuanfang in der Sache „Klemmer-Liebe“ zu probieren, diesmal aber mit einer ausgebesserten Strategie: „Sie spart mit sich und gibt sich nur ungern aus, nachdem sie Überlegungen vielfältiger Art angestellt hat.“ (ebd., S. 241) Nagelneu angekleidet begegnet sie dem Schüler und ohne zu zögern folgt sie seinem etwas leichtsinnig ausgesprochenen Wunsch, „es an Ort und Stelle zu tun“ (ebd., S. 242). „Ort und Stelle“ bedeutet in diesem Fall „das Kabinett der Putzfrauen“ (ebd.), ein (schon wieder) nicht allzu romantisches Ambiente. Die Lehrerin bemüht sich darum, ihren Schüler zu erregen, was ihr 43 leider nicht gelingt. Zu einem „muss“ er, ohne es richtig zu wollen, zum anderen fürchtet er sich „vor den so lang ungelüfteten Innenwelten dieser Klavierlehrerin“ (ebd., S. 244). Erika versucht vergeblich weiter das zu tun, was „bei den Liebenden üblich und eingebürgert ist“ (ebd.), nach ein paar „Mundübungen“ übergibt sie sich aber, was bei Klemmer eine Wutwelle voll beleidigender Beschimpfungen hervorruft. Um sein Versagen „als Mann“ zu verarbeiten, versucht er sich später am Abend im Prater an „wehrlosen Tieren“ (ebd., S. 252) und Blumenbeeten abzureagieren, was ihm aber bei weitem nicht reicht. Er geht in Erikas Wohnung und vergewaltigt sie brutal, weil „sie es sowieso und nicht anders gewollt habe“ (ebd, S. 273), in ihrem Brief nämlich. Die erniedrigte Erika geht am nächsten Morgen Richtung Klemmers Schule, und zwar mit einem Messer: „Geht das Messer auf die Reise oder wird sich Erika auf den Canossagang zu männlicher Verzeihung machen? Sie weiß es noch nicht…“ (ebd., S. 281) Bei Ansicht der lebhaften und unbeschwerten Unterhaltung Klemmers mit seinen Kommilitonen, wendet Erika, ganz ihren Prinzipien treu, das Messer gegen sich selbst. Statt dass das Messer, wie ursprünglich gewollt (?), ins Herz fährt, sticht sich die Frau „nur“ in ihren Schulter. Dann geht sie „nach Hause“ (ebd., S. 283), zu ihrer Mutter. 4. 1. Die gestohlene Weiblichkeit oder die Mutter ist an allem schuld! „Die nahezu groteske Symbiose von Mutter und Tochter ist vom parasitischen Ausnützen, von der Ausbeutung, Beherrschung und Unterdrückung der Tochter durch die Mutter bestimmt, in der die Tochter jedes Selbstwertgefühls, ihres Körpergefühls sowie ihrer Lustfähigkeit beraubt wird.“ (Cornejo, S. 159) In der Klavierspielerin demontiert Elfriede Jelinek grundsätzlich die durch die bürgerliche Moral idealisierte Mutter-Tochter-Beziehung (Szczepaniak, S. 71), nach Monika 44 Szczepaniak handelt es sich sogar um „die radikalste Destruktion des Mutter-Mythos“ (ebd., S. 84). Ähnlicher Ansicht ist auch Renata Cornejo – laut ihr wird der Mythos der Mütterlichkeit als „patriarchales und auch feministisches Konstrukt“ (Cornejo, S. 153) verspottet. Die Erwartungen der Leser, die unter dem Begriff Mütterlichkeit „Liebe und Wärme“ (Szczepaniak, S. 74) verstehen, werden gnadenlos enttäuscht. Die Mutter erscheint wie eine erbarmungslose Herrin, die keine Einwände zulässt und über alles (samt des Lebens ihrer Tochter) selbst entscheidet. Nach Renata Cornejo zeigt uns Jelinek die „Übernahme der Mutterrolle als die einzige gesellschaftlich sanktionierte Form weiblicher Machtausübung, in der die Mütter die Aufgabe übernehmen, den Töchtern den Stempel der Unterdrückung aufzuprägen“ (Cornejo, S. 153). Die Mutter Kohut will ihr „Besitztum“ (KL, S. 7), ihr „Einpersonen-Privatzoo“ (ebd., S. 270) ganz für sich haben, mit niemandem will sie ihre Erika teilen: „Keine Spur von Liebe, Opferbereitschaft, Gutmütigkeit mütterlicherseits. Statt dessen Totalverwaltung, Besitzansprüche, Fremdbestimmung.“ (Szczepaniak, S. 80) Die Tochter hat kein normales Kontakt mit Gleichaltrigen, wird zur Homophobie und zum Einzelgängertum erzogen. Für Verstöße gegen die Disziplin gibt es physische oder psychische Strafen. Auch „dank“ dem ständigen Wiederholen des Satzes, sie sei „nicht eine von vielen, sondern einzig und allein“ (KL, S. 14), schafft es Erika als Kind, als Teenager und schon gar nicht als Erwachsene, Freunde bzw. einen Lebenspartner zu finden. „Wo man gewöhnt ist, einen Sozialisationsprozeß betrachten zu können, findet man nur besitzergreifende Fürsorge mit perversen Folgen…“ (Szczepaniak, S. 68) Die meisterhafte Schilderung der „häuslichen Gewalt“ hat Szczepaniak folgendermaßen charakterisiert: „Mit wahrhafter Virtuosität gestaltet die in der Beschreibung des alltäglichen Grauens unerschöpfliche Autorin die Szenen der mütterlichen Zuwendung bzw. Versöhnung der vor einem Augenblick noch böse ineinander verkrallten Kampfparteien Mutter und Tochter. Diesem Grauen vermag Jelinek stets eine Art perversen Gemütlichkeit abzugewinnen.“ (ebd., S. 82) 45 Die mütterliche Erziehung „bearbeitet“ Erika dermaßen, dass sie sich „ein Verhältnis mit einem Mann nur als eine Herrscher-Beherrschte-Beziehung“ (ebd., S. 123) vorstellen kann. Erika ist nicht im Stande, „eine geschlechtliche Identität zu finden“ (ebd.), ein positives Verhalten zu ihrem Körper zu entwickeln. Sie fühlt sich nicht als Frau oder zumindest nicht zufrieden als eine Frau. Sie ekelt sich vor jeglicher Körperlichkeit, sogar vor ihrem eigenen Körper. Statt dessen wird Erika „von der Mutter phallisch besetzt“ (Janz, S. 71). Nach Marlies Janz stellt die Tochter eine Art „Mann-Ersatz“ (ebd.) für die Mutter dar, diese ambivalente und äußerst problematische Umpolung funktioniert auch umgekehrt: die Mutter ersetzt „für Erika den Mann und macht ihr die Beziehung zu einem Mann auf vertackte Weise unmöglich“ (ebd.). Die „auf immer und ewig“ mit ihrer despotischen Mutter lebende Erika Kohut ist kein Muster des anmutigen und zarten Weiblichkeitsbegriffs, der von der Konsumgesellschaft erwartet und verlangt wird. Nach Renata Cornejo stehen Mütterlichkeit und Weiblichkeit sogar im direkten Gegensatz zueinander, die Mütterlichkeit wird als „ständige Bedrohung der weiblichen Autonomie und Subjektkonstitution“ (Cornejo, S. 153) betrachtet. Die durch Egoismus und Verbote geprägte mütterliche Erziehung zerstörte Erikas Emotionalität und Sexualität. Die Ausgangs- und eigentlich zugleich die Dauerlebenssituation der Heldin hat sehr prägnant Monika Szczepaniak geschildert: „Innerlich ´ein einziger großer Kühlschrank´ (KL, S 23), von einer zerstörerischen Gier, einem zwanghaften Vernichtungswillen beherrscht (…), in trivialen Wünschen nach Liebe verfangen, aber zu keiner ´Normalausführung´der Liebe fähig, versucht sie gewaltsam, ´sich zur Frau zu wandeln´ … Erikas ´Versagen´ betrifft nicht nur ihre geplante Karriere als Pianistin, sondern es ´erstreckt´ sich darüber hinaus auf ihre Weiblichkeit, auf die Fähigkeit, eine geschlechtliche Identität zu finden.“ (Szczepaniak, S. 123) 46 Der Verlust oder genauer die Absenz der Geschlechtigkeit wird von der Autorin mehrmals im Verlauf der Handlung konstatiert: „Erika ist ein kompaktes Gerät in Menschenform. Die Natur scheint keine Öffnungen in ihr gelassen zu haben. Erika hat ein Gefühl von massivem Holz dort, wo der Zimmermann bei der echten Frau das Loch gelassen hat. Es ist schwammiges, morsches, einsames Holz im Hochwald, und die Fäulnis schreitet voran.“ (KL, S. 53) Oder ein Stück weiter: „Zwischen ihren Beinen Fäulnis, gefühllose weiche Masse. Moder, verwesende Klumpen organischen Materials … Im Gehen haßt Erika diese poröse, ranzige Frucht, die das Ende ihres Unterleibs markiert. “ (ebd., S. 198 f.) Es scheint, dass Erika verschiedene Auswege sucht, um ihre Weiblichkeit bzw. Geschlechtigkeit zu finden und sich endlich von ihrer extrem dominanten Mutter zu trennen. Auswege, dank denen sie das Gefühl haben könnte, dass sie ein normales Sexualleben (oder sogar ein normales Leben überhaupt?) führt. Nach Marlies Janz lässt sich die Situation folgendermaßen beschreiben: „Alle diese Perversionen stehen im Kontext mit der mütterlichen Dominanz und Erikas scheiternden Versuchen, gegenüber dieser Macht ein Selbst auszubilden.“ (Janz, S. 73 f.) Es handelt sich um „falsche Formen des Abgrenzungsversuchs von den Mutter“ (ebd, S. 75). Ähnlich sieht die Problematik auch Renata Cornejo, die zugleich auf die „Harmlosigkeit“ der Versuche aufmerksam macht: „Es handelt sich dabei um heimlich erkämpfte ´Freiräume´, die allerdings keine ernsthafte Bedrohung für die Mutter darstellen, da sie genauso wie die Tochter weiß, dass eine endgültige Loslösung von ihr unmöglich ist.“ (Cornejo, S. 162) Die „Auswege“ oder besser gesagt Perversionen, die ich in den weiteren Kapiteln näher eingehen werde, lassen sich folgenderweise zusammenfassen: Selbstverletzungen, Voyeurismus und sadomasochistische Phantasien. 47 4. 2. Voyeurismus als Neurose? „Sie will einfach still dasitzen und schauen. Zuschauen. Erika, die zuschaut ohne anzustreifen.“ (KL, S. 54) Mit dem fehlenden Weiblichkeitsgefühl hängt ganz eng Erikas zwanghaftes Schauen, ihr Voyeurismus, zusammen. Nach Monika Szczepaniak handelt es sich um „eine Art Sinnlichkeitsersatz“ (Szczepaniak, S. 124). Auch Renata Cornejo sieht den Hauptgrund für Erikas „Abnormalität“ in der asexuellen Erziehung, deren Folge die „Verschiebung des Begehrens auf das Auge“ (Cornejo, S. 171) ist. Erika versucht ihr „Gefühlsdefizit“ (ebd.) durch Schaulust und Fetischisierung zu bekämpfen. Diese „gesunde“ junge Frau, ersetzt ein „normales“ Sexualleben durch Besuche von Peep-shows, sie unternimmt nächtliche Ausflüge in die Praterwiesen, wo sie kopulierende Paare beobachtet, oder betrachtet ihren eigenen Körper mit einem „analytischen, männlichen Blick“ (Szczepaniak, S. 124) vor dem Spiegel. Im Falle der Peep-shows wird die männliche Sichtweise noch dadurch verdeutlicht, dass Erika „die einzige Kundin im Laden voller Männer“ ist. Die Tatsache, dass es sich um eine „Ersatzbefriedigung“ (oder zumindest deren Illusion) handelt, bezeugen folgende Zeilen: „Auch Erika will nichts weiter als zuschauen … Nichts paßt in Erika hinein, aber sie, sie paßt genau hinein in diese Kartause.“ (KL, S. 53) Diese „Kartause“ samt ihrem Zweck wird auch dem nichts wissenden Leser sehr „wahrheitsgetreu“ (die Aspekte der sprachlichen Ebene werde ich in einem selbstständigen Kapitel näher eingehen) geschildert: „Erika hebt ein von Sperma ganz zusammengebackenes Papiertaschentuch vom Boden auf und hält es sich vor der Nase … Sie pflegen das hingepatzte Sperma dieser Jäger vom Fall achtlos in einen dreckigen Kübel zu schlappen … Zuckend und stoßend entledigen sich in den Nachbareinsiedeleien die Schwengel ihres kostbaren Frachtguts … Das Objekt ihrer Schaulust fährt sich gerade zwischen die Schenkel … Es hebt die Arme und massiert sich die 48 Brustwarzen, damit sie sich aufrichten. Es setzt sich gemütlich hin und spreizt die Beine stark, und jetzt kann man aus der Froschperspektive in die Frau hineinlungen…“ (ebd., S. 54 ff.) Bei weiterer Lektüre kommt man jedoch eher zu der Schlußfolgerung, dass das Erwartete (eigentlich hauptsächlich seitens der Heldin) irgendwie nicht zu Stande gekommen ist. Erika will nur schauen, warum nicht? Wird sie aber dadurch sexuell erregt? Nein, denn: „Erika schaut ganz genau zu. Nicht um zu lernen. In ihr rührt und regt sich weiter nichts.“ (ebd., S. 56) Vielleicht könnte sie „mit sich selbst“ etwas anfangen, aber die allumfassende mütterliche Anwesenheit mahnt: „Erika, die zusschaut ohne anzustreifen. Erika hat keine Empfindung und keine Gelegenheit, sich zu liebkosen. Die Mutter schläft im Nebenbett und achtet auf Erikas Hände…“ (ebd., S. 54) Der kategorische Imperativ der Mutter erscheint auch ein paar Seiten weiter: „Erika kann nichts dafür. Sie muß und muß schauen. Sie ist für sich selbst tabu. Anfassen gibt es nicht.“ (ebd., S. 56) Erika unternimmt von Zeit zu Zeit auch Ausflüge in die Praterwiesen, wo sich nachts die Prostituierten und ihre Kunden konzentrieren. Erika kommt jedoch weder als „Ware“ noch als Kundin, sie will nur beobachten und belauschen, sie ist schon wieder „die Schauende“ (ebd., S. 141). Man könnte wieder annehmen, dass Erika schaut, um sexuell erregt zu werden. Höchstwahrscheinlich hofft sie es zumindest, es scheint jedoch, dass auch diese Ersatzbefriedigung scheitert: „Irgendwelche Organe in ihr arbeiten plötzlich, ohne dass sie es kontrollieren kann, in doppeltem Tempo oder noch rascher. Ein starker Druck auf der Blase, ein lästiges Leiden, das sie immer überkommt, wenn sie sich aufregt.“ (ebd., S. 144) Die eher „männliche“ Sicht- und Handlungsweise, die Erika bei ihren voyeurischen „Ausflügen“ (und auch in den Peeps-shows) zeigt, stammt nach Marlies Janz aus der Erfahrung der deformierten Geschlechterhierarchie, die Erika ihr Leben lang erleben muss (Janz, S. 75). Erika will sich dadurch (endlich) von der Mutter abgrenzen, um den „Übergang zum Vater“ (ebd.) zu ermöglichen. Nichts davon mit Erfolg: „Erika wird nicht zur ´Frau´, 49 sondern zur ´Herrin´. Es gelingt ihr nicht, sich weiblich zu identifizieren, sondern aufgrund ihrer phallischen Besetzung durch die Mutter sowie ihrer eigenen Versuche, sich selbst den fehlenden Vater zu ersetzen, muß sie auf dem Weg zur psychischen ´Weiblichkeit´ immer auf halber Strecke scheitern.“ (ebd.) 4. 3. Selbstverletzungen als ein Weg zum Ich? „Ihr Hobby ist das Schneiden am eigenen Körper.“ (KL, S. 89) In ihrer Pubertät begegnet Erika während eines Sommeraufenthaltes auf dem Lande ihrem älteren und in aller Hinsicht beneidenswerten Cousin, der seine Ferien mit Sport und Flirten verbringt. Also ganz im Gegensatz zu Erika, die „vor Einflüssen bewahrt und Versuchungen nicht ausgesetzt“ (KL, S. 35) wird, sondern sich völlig dem Klavierspielen widmet. Eines Tages „landet“ Erika während eines Wettkampfspiels an der Gürtellinie ihres Cousins und ist von dem Anblick fasziniert: „Sie will es nur einmal spüren, sie will diese glitzernde Christbaumkugel nur ein einziges Mal mit den Lippen berühren … Der Burschi weiß nicht, daß er eine Steinlawine losgetreten hat bei seiner Cousine. Sie schaut und schaut.“ (ebd., S. 44) In der Nacht schneidet sich Erika dann (aus Schuldgefühl?, oder vielleicht aus dem nicht gestillten Hunger nach Liebe bzw. Sexualität?) absichtlich mit der Rasierklinge in den Handrücken. Dass es nicht zum ersten Mal passiert, lässt sich annehmen… Dass ihre selbstquälerischen Tendenzen nicht aufgehört haben, sondern vielmehr angewachsen sind, verdeutlichen uns einige „leichte“ Anspielungen im Laufe des Textes. „So richtig“ und auf die „Jelineksche Weise“ geschieht so vor allem in einer Passage, wo sich Erika mit der „väterlichen“ (Janz, S. 77) Klinge ihr Geschlecht fast zerschneidet. Nach Marlies Janz handelt es sich bei diesem „Anfall“ um „eine symbolische Selbstdefloration“ (ebd., S. 76): „SIE setzt sich mit gespreizten Beinen vor die Vergrößerungsseite des 50 Rasierspiegels und vollzieht einen Schnitt, der die Öffnung vergrößern soll, die als Tür in ihren Leib hineinführt … Es klafft auseinander, erschrickt vor der Veränderung, und Blut quillt heraus … Einen Augenblick lang starren die beiden zerschnittenen Fleischhälften einander betroffen an, weil plötzlich dieser Abstand entstanden ist, der vorher noch nicht da war.“ (KL, S. 88 f.) Erika fühlt auch bei dieser „Operation“ keinen Schmerz, vielmehr empfindet sie Angst: „Der Unterleib und die Angst sind ihr zwei befreundete Verbündete, sie treten fast immer gemeinsam auf.“ (ebd., S. 89) Angst und Entfremdung sind die Gefühle, die sie mit ihrem eigenen Körper (aber auch mit ihrer „Seele“) verbindet. Gegen diese Gefühle versucht Erika zu kämpfen, indem sie sich selbst (und nicht einen Mann) zum Subjekt ihrer Defloration macht. So hofft sie sich eine Position der Selbstbestimmung und Autonomie herzustellen, sich „mit eigenen Händen“ zur Frau zu machen und so ihre Weiblichkeit (und endliche Abgrenzung von der Mutter) zu gewinnen. Denn die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, ist genau das, was die Mutter Erika verwehren will. Dieser These wendet sich auch Renata Cornejo zu, indem sie diesen Akt als den „symbolischen Vollzug der Trennung von der Mutter“ (Cornejo, S. 163) bezeichnet. Elfriede Jelinek bietet dem Leser zwar einfachere Teilerklärung für Erikas Selbstquälen: „Gerade diese allerletzten Verborgenheiten stacheln Erika an, immer Neues, immer Tieferes, immer Verboteneres betrachten zu wollen. Sie ist stets auf der Suche nach einem neuen unerhörten Einblick. Ihr Körper hat noch nie, nicht einmal in Erikas aufgespreizter Standardpose vor dem Rasierspiegel, seine schweigsamen Geheimnisse preisgegeben…“ (KL, S. 108) Diese These beantwortet jedoch nicht völlig die Frage, warum. Die Hauptrolle dieses Problems spielt wieder (wie schon oben angedeutet wurde) die Weiblichkeit, die es nicht gibt. Nach der Theorie von Marlies Janz handelt es sich um „Deckererlebnisse, die ihr Sicherheit bieten sollen, indem sie selbst als Kastrierende erscheint“ (Janz, S. 76). Dass es leider nicht der richtige Weg zur Selbstfindung bzw. 51 -anerkennung ist, erklärt Marlies Janz folgenderweise: „Die antagonistische und gewaltsame Form dieser Selbstbehauptung aber ist nur die Kehrseite und Umkehrung ihrer Ohnmacht und ermöglicht keine wirkliche Selbst- und Subjektwerdung.“ (ebd., S. 77) Zum dritten und letzten (direkt erwähnten) Vorfall der Selbstverstümmelung kommt es nach einer für Erika äußerst beleidigenden und schmerzhaften „Liebesszene“, die im Kabinett der Putzfrauen stattfindet und Erika nur Entzauberung und Erniedrigung bringt (siehe folgendes Kapitel). Höchstwahrscheinlich aus Schuld- und Schamgefühl spickt sie sich mit „Haus- und Küchengerät“ (KL, S. 251), sie sticht sich mit „Nadeln, die vielfarbene Plastikköpfe tragen“ (ebd.). „Sie jagt sich die Instrumente an und in ihren Körper.“ (ebd., S. 252) Auch Erika hat allerdings ihre Grenzen, denn „unter die Fingernägel zu stechen“ (ebd., S. 251), wagt sie „wegen Schmerz“ (ebd.) nicht. 4. 4. Der „anerzogene“ Sadomasochismus „An Klemmers steinhartem Schwanz zu ersticken wünscht sich die Frau, während sie so eingezwängt ist, daß sie sich nicht im geringsten bewegen kann.“ (KL, S. 228) Auch die sadistischen bzw. masochistischen Tendenzen, die Erika zu beherrschen scheinen, hängen nach Marlies Janz mit ihrem „Individuationsprozess“ (Janz, S. 74) zusammen, beziehen sich auf „das Problem der kindlichen Abgrenzung von der Mutter“ (ebd.). Gleich wie bei der Selbstverletzung ist die Mutter diejenige, die die Schuld an der „Abnormalität“ ihrer Tochter trägt: „Erikas Sadomasochismus resultiert aus der Unfähigkeit, sich gegen die Mutter abzugrenzen. In ihrer Destruktivität wie in ihren Unterwerfungsphantasien reproduziert sie das Mutter-Tochter-Verhältnis.“ (ebd.) 52 Die gefühllose Erika braucht offensichtlich „schmerzhafte Erfahrungen“, sie hofft, dass sie vielleicht dadurch ihre Gefühle und Wahrnehmungskräfte endlich wecken könnte. Zuerst scheint sie sich mit wörtlichen Sadismen gegen ihre Schüler, absichtlichem Verletzen der Mitpassagiere in Verkehrsmitteln und masochistischen Phantasien (zum Beispiel von einem „bösen“ Wolf, der sie zerreißt) zufrieden zu stellen. Später erlebt sie immer größere Schmerzen bei dem Selbstverletzen, dem sie sich regelmäßig „widmet“. Als aber einer ihrer Schüler, der mit ihr zu flirten beginnt, erscheint, meint Erika „eine richtige“ Chance zum Ausleben ihrer sadomasochistischen Perversion zu bekommen. Die „sadistische“ Erziehung der Mutter und auch die bisherigen tristen Erfahrungen mit den Männern haben Erikas Glauben geformt, dass man/frau die Sexualität nur als ein Herrschaftsverhältnis erfahren kann. Die „richtige“ Form der geschlechtlichen Differenzierung bzw. Rollenteilung kennt Erika (dank ihrer „verkehrten“ Erziehung) nicht. Die Frau, die bisher gewöhnt war, die männliche Position zu belegen (in ihrem Voyeurismus und auch während den Selbstverletzungen), versucht auch in dieser Situation („Partnerschaft“), den Mann zu spielen. Durch sadistische „Verfahrensweisen“ hofft sie, ihre sexuelle Minderwertigkeit bzw. mangelhafte Erfahrung zu verleugnen. Und zum ersten Mal läuft sie sogar ohne Schaden davon. Nach anfänglichen Annäherungsversuchen, die bei Erika, ganz im Gegenteil zu ihrer Mutter, nicht unwillkommen sind, kommt es zu dem ersten „sexuellen Abenteuer“ zwischen der Lehrerin Erika und ihrem Schüler Walter Klemmer. Es geschieht auf dem Schülerklo, ganz der Jelinekschen „Ekelästhetik“ getreu. Es gibt da alles, was eine „romantische Szenerie“ benötigt: „Gestank nach Kinderurin“ (KL, S. 173), der an „eine Pestgrube“ erinnert (ebd.), „verschmierter Becken … mit Bazillen überzogen“ (ebd., S. 174 f.) oder „schmutziger Blechkübel“ (ebd, S. 176). Die Liebesszene selbst liegt der Romantik auch weit entfernt: „Er zerrt an ihr. Er drückt ihr einen langen Kuß zur Eröffnung auf den Mund, der längst fällig 53 war. Er greift ihr unter den Rock … Er wühlt in Erikas Innereien herum, als wollte er sie ausnehmen … Es ist ihm unmöglich mit der ganzen Hand in sie einzudringen, doch vielleicht kann er es wenigstens mit einem oder zwei Fingern bewerkstelligen … Er überzieht sie mit Speichel.“ (ebd., S. 177 f.) Wenn es scheint, dass es zum „Gipfelakt“ kommen könnte, unterbricht Erika Klemmers „Betätigungen“. Sie nimmt, wie sie es gewöhnt ist, die „Sache“ in eigene Hand. Sie kehrt das „konventionelle Herrschaftsverhältnis“ (Szczepaniak, S. 126) zwischen Mann und Frau um und untersagt dem Schüler jegliche Aktivität. Nach einigen Mahnungen gehorcht er sogar, obwohl er noch überlegen muss, ob er „etwas falsch verstanden habe“ (KL, S. 179). Der „werbende Mann“ wird doch nicht „aus dem Geschehen einfach entlassen“ (ebd). Erika beginnt, „die rote Wurzel zwischen ihren Fingern zu kneten“ (ebd.). Immer wieder muss sie den verwirrten Mann daran erinnern, dass sie diejenige ist, die hier die Regeln bestimmt: „Sie unterläßt es sofort, seinen Schwanz zu masturbieren, wenn er nicht aufhört, ihren Unterleib abzugrasen.“ (ebd., S. 180) Nach einer Weile kommen auch Erikas Zähne und Fingernägel zum Einsatz. „Sie tut ihm mit Absicht weh.“ (ebd., S. 181) Schließlich bricht sie kurz vor dem Höhepunkt ihre „Tätigkeit“ ab und verbietet streng auch dem Schüler alles, das „ihr Werk“ vollenden könnte. Erika genießt die Rolle der grausamen Herrin bzw. Voyeurin: „Klemmer versucht verstohlen, an sich herumzuspielen, wie es in keinem Notenheft steht. Ein scharfer Zuruf hält ihn davon ab. Er soll einfach stehenbleiben, bis sie ihm etwas Gegenteiliges befiehlt. Sie möchte die körperliche Veränderung an ihm studieren … Für Erika ist dies die absolute Kür in Sachen Zuschauen.“ (ebd., S. 182 f.) Erika sieht ihrem Schüler bis zum letzten Moment zu und macht ihn dadurch zu einem „lächerlichen Objekt“ (Szczepaniak, S. 126). Das Machtspiel zwischen Lehrerin und Schüler hat angefangen. Weil Klemmer ihre Befehle einigermaßen respektiert hat, wird ihm „eine Fortsetzung“ zugesprochen. „Anweisungen werden Ihnen zugehen“ (KL, S. 184), hört der mittlerweile schon aufgemunterte Walter Klemmer. 54 Mit „Anweisungen“ hat Erika einen Brief gemeint, den sie ihrem Schüler einige Tage später übergibt. Und obwohl dieser sich außer Stande sieht, „diese Frau zu begehren“ (ebd., S. 207), wünscht er sich trotzdem seit längerem „in sie einzudringen“ (ebd.). Deshalb wartet er eines Nachmittags auf Erika, die ihn schließlich mit nach Hause nimmt. Die empörte Mutter wird mittels eines Schrankes an der Tür zum Likör Trinken und Fernsehen verurteilt und die Lehrerin und ihr Schüler sind zu zweitem Mal alleine. Diesmal sogar in einer „normalen“ Umgebung. Wenn Erika feststellt, das ihr „Geliebter“ ihren Brief noch nicht gelesen hat, befiehlt sie ihm, die Seiten laut vorzulesen. Es geht um einen (allerdings nur von einer Seite unterzeichneten) sadomasochistischen Vertrag: Ketten, Peitsche oder Gummischlauch ziehen Walter Klemmer nicht an. Jelinek schont dabei den Leser nicht: der von Ausdrücken und Handlungsweisen der Pornohefte oder de Sades Romane inspirierte Text spielt mit Wörtern wie: bestrafen, Knie in den Leib bohren, Fäuste in den Magen schlagen, grausam schlagen, Knebel oder Fesseln. Erika schlägt in ihrem „detaillierten ´Gebrauchsanweisung´ zu … Mißhandlung und Erniedrigung“ (Szczepaniak, S. 126) vor, dass ihr Schüler eine Nylonschürze besorgt, in die er „Löcher hineinschneiden soll, durch die Man Blicke Auf Geschlechtsorgane Wirft“ (KL, S. 223). Immer wieder zieht Klemmer der Gedanke durch den Kopf, dass es doch nicht Erikas Ernst ist: „Stimmt es wirklich, wie es hier steht, daß sie ihm die Zunge in den Hintern stecken muß, wenn er rittlings auf ihr sitzt. Klemmer bezweifelt sehr, was er liest, und schiebt es auf schlechte Beleuchtungsverhältnisse. Die Frau kann es so nicht gemeint haben, die derartig Chopin spielt.“ (ebd., S. 227) Schließlich soll er sie noch vergewaltigen. Klemmer hat Recht, so ernst meint es Erika wirklich nicht, leider hat er aber nicht die Kraft, gegen seine Empörung zu kämpfen, Erika verständnisvoll in die Arme zu nehmen und sie leidenschaftlich zu küssen, wie sie es sich eigentlich wünschen würde: „Sie wünscht sich innigst, daß er, anstatt sie zu quälen, die Liebe in der österreichischen Norm an ihr tätigt.“ (ebd., S. 232) Statt dessen verabschiedet er sich 55 rasch, und es sieht auch nicht so aus, dass er gerne noch wiederkommen möchte, wie es ihm Erika mehrmals anbietet. Auch in diesem Fall ist der Weiblichskeitsmangel an allem schuld. Marlies Janz charakterisiert die Situation folgendermaßen: „Der Brief mit seinen masochistischen Arrangements aber stößt bei Klemmer nur auf Verständnislosigkeit und Protest, und Erika selbst ist froh, daß Klemmer sie nicht ausführt. Sie ist erleichtert, als er sie nicht schlägt, und scheint sich eben damit von den masochistischen Phantasmen loszulösen. Doch in Wirklichkeit vermag Erika nicht einmal zu ihren Phantasmen zu stehen, sondern gerät in Panik vor ihrer Realisierung. Die masochistische Lösung, bei der sie selbst die Arrangements trifft für die eigene Unterwerfung und die eigene ´Weiblichkeit´ inszeniert, scheitert, weil sie selbst Angst bekommt und Klemmer sich weigert.“ (Janz, S. 80) Nach Renata Cornejo erhofft sich Erika, sich durch diese „Beziehung“ endlich von der Mutter trennen zu können. Der Mann wird von ihr als „möglicher Befreier und Initiator der Losbindung von der Mutter“ (Cornejo, S. 163) angesehen. Dass sie nicht im Stande ist, ihm diese Tatsache mitzuteilen bzw. die Liebe anders als in der Form von Macht und Unterdrückung zu erleben, ist eine andere Frage. Ähnlich wie im Fall Erikas Selbstverletzungen sieht Cornejo ihren Brief an Klemmer als den (letzten) „verzweifelten Versuch, sich von der Allmacht der Mutter und der mütterlichen Symbiose zu befreien“ (ebd., S. 164). 4. 5. Versuch eines Inzests oder Ist Erika eine Mutterschänderin? „Sie küßt und küßt. Sie küßt die Mutter wild. Die Mutter erklärt es zur Schweinerei, was die aus der Kontrolle geratene Tochter mit der Mutter aufführt.“ (KL, S. 236) Nach der misslungenen „Briefangelegenheit“ passiert etwas Unerwartetes. Erika versucht, die eigene Mutter zu vergewaltigen. Es geschieht nachts in dem Ehebett, wo vor 56 vielen Jahren sogar die Mutter „Begierde“ (KL, S. 233) empfunden hat. Jetzt empfindet die Mutter jedoch nur Ärger und Zorn der „bösen“ Tochter gegenüber, die sich erlaubt hat, mit einem Mann allein zu sein. Sie wendet sich an Erika mit Beschuldigungen und Drohungen. Die Tochter reagiert sehr „seltsam“: „Sie wirft sich über die Mutter und deckt diese mit Küssen vollauf ein … Erika küßt wahllos in diesen hellen Fleck hinein. Aus diesem Fleisch ist sie entstanden! Aus diesem mürben Mutterkuchen. Erika drückt ihren nassen Mund der Mutter vielfach ins Antlitz und hält die Mutter eisern mit den Armen fest … es ist wie bei einem Liebeskampf, und nicht Orgasmus ist das Ziel, sondern die Mutter an sich, die Person Mutter.“ (ebd., S. 234 f.) Die Mutter versucht, sich zu wehren, doch Erika „saugt und nagt an diesem großen Leib herum, als wollte sie gleich noch einmal hineinkriechen“ (ebd., S. 235). Erst als sie ihr merkwürdiges Ziel erreicht, lässt sie die Mutter frei: „Die Tochter hat für ganz kurze Dauer das bereits schütter gewordene dünne Schamhaar der Mutter betrachten können … Das hat einen ungewohnten Anblick geboten. Die Mutter hat dieses Schamhaar bislang strengstens unter Verschluß gehalten. Die Tochter hat absichtlich während des Kampfes im Nachthemd der Mutter herumgestiert, damit sie dieses Haar endlich erblicken kann…“ (ebd., S. 236 f.) Nach Marlies Janz versucht Erika auf dieser Weise in die „regressive Einheit mit der Mutter“ (Janz, S. 80) zu flüchten, die „wiederum der Angstbewältigung dient“ (ebd.). Das, was sie erblickt, ist nach der Theorie von Janz die Bestätigung der „weiblichen Kastration“ (ebd.), die sie beiden jedoch gleich verleugnen, anstatt sie zu entmystifizieren: „Mutter und Tochter verbleiben mit ihrer Verleugnung im Rahmen einer Weiblichkeitskonstruktion, wie sie Freud formuliert hat…“ (ebd.) Auch nach Renata Cornejo versucht Jelinek sich mit den Theorien Sigmund Freuds und Heinz Kohuts aufeinanderzusetzen: „Dass Jelinek in der Klavierspielerin Freud ödipale psychoanalytisiche Theorie unter die Lupe nimmt und parodiert, geht aus ihrer ironisierten Inszenierung der Mutter-Tochter-Beziehung hervor, in der die Entwicklung der Tochter Erika zum Phallusersatz der Mutter und des weiblichen 57 Geschlechts zur Minderwertigkeit, zum Objekt und zum Mangel vorgeführt wird. Sowohl Freuds Theorie als auch die Objektrelationstheorie des österreichischen Psychologen Heinz Kohut wird als Struktur des Machtdenkens entblößt…“ (Cornejo, S. 155) Durch ihre Sehnsucht nach einer körperlichen Wiedervereinigung mit der Mutter, sehnt sich Erika laut Cornejo nach der „präödipalen, Sicherheit gewährenden Einheit mit der Mutter“ (ebd., S. 161). 4. 6. Wie wäre es mit einem „normalen“ Sex? Zum Beispiel in der Besenkammer… „Das geschmacklose Drops von Klemmers Liebesfortsatz wird vom Mann in ihrer Mundhöhle festgehalten, der Mann preßt sich als Ganzes gegen ihr Gesicht und stöhnt sinnlos.“ (KL, S. 247) Erika will ihre „Liebe“ jedoch nicht aufgeben. Diesmal versucht sie, mit „klassischen Methoden“ an die Sache zu gehen, von jetzt an „spart [sie] mit sich und gibt sich nur ungern aus“ (KL, S. 241), sie setzt von heute auf die „Schönheit“ (ebd.). In nagelneuer Kleidung versucht sie ihren Schüler wieder zu erobern. Zu ihrer Überraschung ist er bereit „es [mit ihr] an Ort und Stelle zu tun“ (ebd., S. 242), so dass er dann „bequem um drei im Judoklub sein“ (ebd.) kann. Erika Kohut zerrt ihn „in das Kabinett der Putzfrauen“ (ebd.), wo „es“ geschehen soll. Die Umgebung hat also schon wieder den „Jelinekschen“ Charakter bekommen: „Puttzmittel riechen streng und stechend, Werkzeuge zur Reinigung stapeln sich.“ (ebd.) Erika hat den „schmutzigste[n] Raum der Schule“ (ebd.) ausgewählt. Erika, die in der „höheren Liebeskunst“ (ebd.) nicht bewandert ist, versucht ihr Bestes, aber weil Klemmer eigentlich nicht „so richtig“ will, versucht er die „Aktion“ auf die nächste Woche zu verschieben, was von Erika abgelehnt wird (ihren Vorsatz hat sie offensichtlich längst über den Kopf geworfen, sie braucht gar nicht erobert zu werden). Aus Angst vor Erniedrigung 58 wegen seiner kurzfristigen Impotenz beginnt er heimlich, „an sich herumzustreicheln, doch es bleibt wie tot an ihm.“ (ebd., S. 243) Die Liebesszene setzt noch „romantischer“ fort: „Hysterisch zerrt, klopft, schüttelt er … Als Liebeslawine rast sie auf ihn zu … Er fürchtet sich vor den so lang ungelüfteten Innenwelten dieser Klavierlehrerin. Sie wollen ihn ganz verzehren! … Sie macht Liebesbewegungen wie sie sich das vorstellt.“ (ebd., S. 243 f.) Doch kein Erfolg kommt. Klemmer versucht noch einmal, der Herr der Situation zu werden und so seinen „männlichen Ruf“ zu retten (was Jelinek dem Leser mit einer Art Schadenfreude mit allen ekelhaften Details schildert): „Er stülpt sich den Mund der Frau rasch über sein nach kurzer Aufmerksamkeit wieder sinkendes Geschlecht, wie einen alten Handschuh … Klemmer stößt wild in ihren Mund, und er bleibt dabei einen Beweis schuldig. Sein schlaffer Schwanz schwimmt, ein fühlloser Korke, auf ihren Gewässern.“ (ebd., S. 244 f.) Die Lehrerin „leckt an Klemmer herum, eine Kuh und ihr neugeborenes Kalb“ (ebd., S. 245). Doch böse ist sie ihm nicht, sie erklärt seine Indisposition durch „Überregung und Nervosität“ (ebd., S. 244), sie spricht andauernd von der Freude, die sie bald mit ihm, in ihrer Beziehung nämlich, erleben wird. Sie bemüht sich tüchtig, die „Liebe“ zu erleben. Sie gehorcht ihm, die Domina ist zur Untertanin geworden. Auch Klemmer hat sich mit der neuen Rollenverteilung brav abgefunden: „Sie versucht … seinen Schwanz unauffällig auszuspucken, muß ihn aber gleich darauf wieder einnehmen, befiehlt der Schüler Klemmer in Verkennung des Lehrerverhältnisses seiner Frau Lehrerin … Ohne Zucker soll sie diese bittere Medizin nehmen.“ (ebd., S. 247) Doch nach einer Weile ist es klar, dass er sich „heute bestimmt nicht in das Loch ihres Mundes, der an ihrem besseren Teil, dem Oberteil, gelegen ist, entladen können“ (ebd.) wird. Man könnte glauben, dass die Situation schon ihre „Peinlichkeitsgrenze“ erreicht hat, was aber leider nicht so ist. Denn Erika „würgt, obwohl sie kaum etwas im Mund hat“ (ebd.) und „erbricht in einen alten Blechkübel“ (ebd., S. 248). Immer noch versucht sie 59 nett zu sein, bietet sogar Liebesworte und Umarmungen an. Der tief beleidigte Mann antwortet jedoch nur mit Beschimpfungen und Beleidigungen, sogar mit Gewalt. 4. 7. Und eine Vergewaltigung, gnädige Frau? „Sie wird von Klemmer befragt, ob es das sei, was sie sich vorgestellt habe. Sie sagt sirenenhaft anschwellend, daß nein.“ (KL, S. 267) Der „geborene Sieger, der Erfolgsmensch“ (Szczepaniak, S. 145) Walter Klemmer findet sich mit seiner Niederlage diesmal nicht so leicht ab. Er entscheidet sich, Rache zu nehmen. Er will sich beweisen, dass er „nach wie vor der Herrscher ist“ (ebd.). Zuerst versucht er sich an Gegenständen abzureagieren, das reicht ihm aber nicht und so entscheidet er sich, der „Urheberin“ seines erbärmlichen Zustandes die Quittung zu überreichen. Er beschließt, „die gedemütigte Männlichkeit gewalttätig zu rächen“ (ebd.). Der Schüler dringt in der Nacht in die Wohnung der Lehrerin ein und vergewaltigt sie brutal. Die Mutter darf die Erniedrigung ihrer Tochter im Nebenzimmer miterleben. Erika „genießt“ wie gelähmt die „bitteren Früchte ihrer Liebe“. Während sie mittels ihres Briefes die Gewalttätigkeit paradoxerweise im Schach gehalten hat, wird die männliche Brutalität, die Klemmer durch Liebespose und Liebesrhetorik kaschiert hat, von nichts mehr gebremst. Erikas Illusion, Klemmer könnte sie aus dem mütterlichen Bann befreien, bricht für immer und ewig zusammen. Renata Cornejo schildert den „final countdown“ wie folgt: „Statt erhoffter Erlösung und Befreiung muss die Frau seine ´Zurechtweisung´ über sich ergehen lassen, indem sie durch den Mann, dem ´wilden Tier´, vor welchem sie die Mutter immer gewarnt hat, als Frau ausgelöscht und vollkommen vernichtet wird – statt ersehnter Vereinigung folgt brutalste Vergewaltigung.“ (Cornejo, S. 178) 60 Erika hat aber seit ihrem Brief die Situation (wie es schon in der Besenkammer klar wurde) völlig umgewertet: „Den Schmerz möchte sie aus dem Repertoire von Liebesgesten gestrichen sehen. Jetzt fühlt sie es am eigenen Leibe und erbittet sich, wieder zur Normalausführung der Liebe zurückkehren zu dürfen … Bitte nicht hauen. Mein Ideal ist jetzt doch wieder die Gegenseitigkeit der Gefühle.“ (KL, S. 269) Doch der Schüler hat seine Lektion gelernt: „Ich führe nur Ihre Befehle aus, gnädige Frau.“ (ebd.) Er gibt ihr Ohrfeigen, schlägt sie in den Magen, tritt ihr „launisch“ (ebd., S. 272) gegen die Rippen, kurz: er „lernt die Freiheit kennen“ (ebd., S. 269). Auch die psychische Demütigung muss zurückgezahlt werden: „Ihr Nachthemd ist verrutscht, und Klemmer erwägt eine Vergewaltigung. Doch als Mißachtung weiblichen Geschlechtreizes sagt er, zuerst muß ich einmal ein Glas Wasser trinken. Er bedeutet Erika, daß sie jetzt weniger Reiz für ihn habe als ein hohler Baumstamm, in dem der Bienenschwarm noch haust, für den Bären.“ (ebd., S. 273) Doch bei dem Akt selbst bittet er um „Liebe und Verstehen“ (ebd., S. 275). In seinen klischeehaften Liebesvorstellungen (die doch auch die körperliche Liebe miteinbeziehen) befangen, verlangt er „energisch sein Recht auf Zuneigung, das jeder hat, auch der Schlimmste“ (ebd.). Jelinek, die Meisterin der schmerzlichen Zuspitzung, schildert die Situation ohne Mitleid bis zur Absurdität: „Klemmer, der Schlimme, bohrt in der Frau herum. Er wartet auf das Stöhnen der Lust bei ihr … Er bittet: liebe mich, er schleckt an ihr und schlägt abwechselnd.“ (ebd., S. 275 f.) Doch die gefühllose Erika ist nicht im Stande, etwas zu spüren: „Entweder ist es zu spät oder noch zu früh dafür.“ (ebd., S. 275) Walter Klemmer verabschiedet sich mit einer Entschuldigung und der Bemerkung, er habe es jetzt eilig. Nur der Mann ist auf seine Kosten gekommen (?). Renata Cornejo bezeichnet diese Szene als einen Beweis dafür, dass es laut Jelinek keine „gewalt- und angstfreie Beziehung (Liebe) zwischen Mann und Frau“ (Cornejo, S. 176) gibt und dass diese Vorstellung von der Autorin als „trivialer Mythos entlarvt [wird], auf den 61 das Patriarchat sich gründet“ (ebd.). Die bloßgestellte Macht des Patriarchats konstatiert auch Monika Szczepaniak (die sprechende und handelnde Instanz ist nämlich nicht das Individuum Klemmer, sondern der Mann in ihm): „Was sich da als Männlichkeit übt, ist Resultat der gesellschaftlichen Normierung, die vorschreibt, was ´männlich´ und was ´weiblich´ ist. Die geschilderte Männlichkeit wird als Ideologie vorgeführt, die Autonomie, Freiheit und Herrschaft verspricht und sich durch krude Gewalt realisiert.“ (Szczepaniak, S. 146) Nach Szczepaniak hat Klemmers Begierde die ganze Zeit nur als „Tarnkappe für seine Machtambitionen“ (ebd., S. 173) fungiert. Diese letzte „Liebesszene“ hat gezeigt, dass ihm nur „der Vergeltungs- und Vernichtungswille“ (ebd.) wichtig sind. Und auch das, dass es lebensgefährlich sein kann, mit dem Feuer (uralten gesellschaftlichen Klischees) zu spielen. Diese Szene ist aus einem weiteren Grunde (der allerdings ausführlicher in dem nächsten Kapitel behandelt wird) sehr wichtig. Mehr als auf anderen Stellen kann der Leser auf die Idee des „Vielversprechenden“ kommen. Nach Szczepaniak handelt es sich dabei um den „typischen Jelinek-Sound“ (ebd.). Die Autorin lockt den Leser an. Erika könnte doch einverstanden sein und ein richtiger Sexualakt mit allem drum und dran könnte stattfinden. Jelinek kommt jedoch dem „eventuellen Konsum der Pornographie wirksam ´in die Quere´…“ (ebd.) Purer Sex findet nur für die „uniformierten“ Leser statt. 4. 8. Die Grenzen der „schönen“ Literatur oder Ist das Porno? „In dem, was ich schreibe, gibt es immer wieder drastische Stellen, aber die sind politisch. Sie haben nicht die Unschuldigkeit des Daseins und nicht den Zweck des Aufgeilens. Sie sollen den Dingen, der Sexualität ihre Geschichte wiedergeben, sie nicht in ihrer scheinbaren Unschuld lassen, sondern die Schuldigen benennen.“ (Elfriede Jelinek – hier zitiert nach Riedle) 62 Wie uns die vorigen Kapitel deutlich gemacht haben, erscheinen in der Klavierspielerin mehrere Stellen, wo Sexualität das Haupt- oder zumindest Nebenthema ist. Wie ebenfalls klar wurde, benutzt Jelinek die Schilderungen der (zum Teil krypto-) sexuellen Angelegenheiten nicht wegen der Sexualität an sich, sondern präsentiert diese Thematik mit einem „höheren“ Ziel, das dann im Rahmen der Intention des gesamten Werkes wirksam wird. (Noch deutlicher erscheint dieses Verfahren in Werken wie Die Liebhaberinnen oder Die Lust) Das Wahrig Wörterbuch definiert die Pornographie folgenderweise: „primitive, die geschl. Begierden reizende Darstellung der Geschlechtsteile od. sexueller Vorgänge in Wort u. Bild“. Laut The Cambridge Encyclopedia ist pornography: „The presentation of erotic behaviour intended to cause sexual arousal“. Auch der Literaturkritiker Ladislav Nagy sieht als das wichtigste charakteristische Merkmal der Pornographie, dass die sexuelle Aktivität zum Hauptaspekt des Werkes wird und die Schreibweise und Stilistik vor allem die sexuelle Erregung der Leser anstrebt (Nagy, S. 5). Jelinek selbst sieht Pornographie eher aus einer „feministischen“ Sicht: „Pornographie ist nicht das Beschreiben von Vögeleien oder das Beschreiben von nackten Leuten, die irgendetwas miteinander machen. Pornographie ist die Darstellung der Frau als Hure. Also ihre Freigabe zu Quälereien, zu Erniedrigungen und ihre Lust daran.“ (Lahann, S. 78) Ulrich Joost erweitert den Begriff „Pornographie“ um die Definition der „charakteristischen“ Sprache: „Pornographie meint auf Literatur bezogen die Behandlung von sexuellen Gegenständen in unverhüllter, direkter oder ´obszöner´ Sprache in schriftlicher Gestalt mit dem intendierten und/oder erreichten Zweck der Erregung.“ (Joost, S. 315) Zugleich fügt er aber gleich Folgendes hinzu: „Aber es ist nur eine zumindest sprachlich völlig unobszöne Pornographie denkbar, es können selbstverständlich vollkommen obszöne Texte gänzlich unpornographisch sein und sogar als Kunstmittel eingesetzt werden.“ (ebd., S. 316) 63 Jelinek schreibt also keine Pornographie! Sie schildert zwar Erotik bzw. Geschlechtsteile bis zum kleinsten Details, benutzt Vulgarismen und obszöne Bilder, das alles tut sie jedoch keineswegs mit dem Ziel, den Leser „geil“ zu machen. Und von Lust kann bei ihr keine Rede sein, jedenfalls nicht von der weiblichen Lust. Die pornografische Schreibweise dient Jelinek zu einem anderen Zweck: „Jelinek bedient sich zum Teil der vorgefertigten Muster aus pornographischen Filmen oder Romanen, die sie aber zugleich in jenen Textpassagen destruiert, die als Gegensatz zur herkömmlichen Praxis literarischer oder visueller Pornographie gedacht sind.“ (Szczepaniak, S. 167) Ähnlicher Ansicht ist auch Renata Cornejo, laut ihr handelt es sich bei Jelinek um keine Pornographie, „die bloß den Frauenkörper entwertet und zum obszönen Objekt der Schaulust und des sexuellen Begehrens degradiert, sondern um ein Zerrbild der kulturell geprägten Vorstellungen in satirisch zugespitzter Form, in dem die Anwendung des Obszönen nach Jelinek gerechtfertigt ist, da man ´den Beziehungen zwischen Männern und Frauen die Unschuld nimmt und die Machtverhältnisse klärt´“ (Cornejo, S. 172). Nach Monika Szczepaniak ist bei Jelinek die Sexualität als eine „politische Angelegenheit“ (Szczepaniak, S. 166) ständig präsent; das Adjektiv „politisch“ bedeutetet in diesem Sinne „Gesamtheit der menschlichen Beziehungen in ihrer wirklichen, sozialen Struktur, in ihrer Macht der Herstellung der Welt“ (ebd.). Die Benutzung (oder eher Ausnutzung) der „bekannten“ Muster der Pornographie konstatiert auch Günther A. Höfler: „Die Darstellung des Bereichs des Geschlechtlichen bei Jelinek beruht auf einem Sehen-Wollen, das sich die Technik der Foto/Porno/graphie anverwandelt hat.“ (Höfler, S. 168) Die Sexualakte finden an ekelhaften Orten statt („Die Schönheit des Augenblicks der sexuellen Vereinigung wird mit verschiedenen Mitteln zerstört“ – Szczepaniak, S. 171), es geht eigentlich nicht um Sex bzw. Leibe, immer sind die Machtverhältnisse im Spiel und immer wieder werden Klischees aufgegriffen und bloßgestellt. Das Repertoire an 64 Perversionen kann sich zweifellos mit dem eines Pornos vergleichen (nach Ulrich Joost bevorzugt die Pornographie „jeweils tabuisierte Spielarten“ – Joost, S. 316, was zum Teil auch für den Fall Jelinek zutreffen könnte): schmerzhafte Selbstverletzungen, detaillierte Schilderung sadomasochistischer Praktiken, Inzest (oder mindestens dessen Andeutung), Oralverkehr (oder mindestens ein Versuch), brutale Vergewaltigung… „Der geschichtliche Charakter der Sexualität ist sozusagen dem Text strukturell inhärent und zwar als Ergebnis verschiedener Kunstgriffe wie Übertreibung, satirische Überspitzung, groteske Überzeichnung des ´Gegenstandes´, was wiederum die Demontage des pornographischen Diskurses zur Folge hat. Nicht nur wird die ´Kulturlüge´ über Sexualität demaskiert; diese Projektionen von Sexualität begegnen dem Leser in der von Jelinek bis ins Irrsinnige verzerrten Form.“ (Szczepaniak, S. 174) 4. 9. Die „Ekelsprache“ als literarisches Mittel? „Im Gehen haßt Erika diese poröse, ranzige Frucht, die das Ende ihres Unterleibs markiert.“ (KL, S. 199) Zu der „Mythenzerstörung“ trägt ganz bedeutsam auch die schonunglose Erzähl- bzw. Schreibweise der Autorin bei. Die obszönsten Momente werden ganz unparteilich beschrieben, gefühl- und bedeutungslos. Dafür aber immer bis zum äußersten detailliert, nichts wird (rücksichtsvoll) verschwiegen. Die Autorin gönnt dem Leser keinen (tröstenden) Kommentar, der Blick ist der eines unbetroffenen Zusehers. „Alles ist sichtbar, oberflächlich, banal…“ (Höfler, S. 157) Dieses Verfahren ist u. a. bei Beschreibung von Erikas Selbstverstümmelung deutlich: „Mit wenig Information über Anatomie und noch weniger Glück wird der kalte Stahl heran und hineingeführt, wo sie eben glaubt, daß ein Loch entstanden müsse.“ (KL, S. 88) Diese Passage charakterisiert Höfler folgenderweise: „Das 65 Monströse ist dabei Ergebnis einer gleichsam medizinischen Sichtweise, hier einer gynäkologischen Perspektive, deren Objektivierungstechnik den Körper paralysiert … Der Forscherblick wird dabei wie ein sadistisches Instrument gehandhabt; Sehen, Sezieren und Schreiben werden zu identischen Akten.“ (Höfler, S. 156) Wichtig ist dabei auch die Distanz, die zwischen dem Leser und der Figur entsteht und die „Emphatie mit dem Objekt nur noch in einer Persiflage zuläßt“ (ebd.). Passagen der „hohen“ literarischen Sprache (die teilweise sogar die „großen“ Dichter paraphrasieren) werden zäsurlos mit dem „perversen“ Jargon gemischt. Dieses Nebeneinander bewirkt dann stärkere Empörung: „Dieser Beruf ist doch nichts für eine Frau. Am liebsten nähme man eine gleich mit, egal welche, im Prinzip sind alle gleich. Sie unterscheiden sich nicht grundsätzlich, höchstens in der Haarfarbe, während die Männer doch mehr Einzelpersönlichkeiten sind, von denen der eine lieber das hat und der andere lieber das. Die geile Sau hinter dem Fenster, also quasi auf der anderen Seite der Barriere, hat zum Ausgleich den dringenden Wunsch, daß diesen Ochsen hinter den Glasfenstern der Schwanz abreißt beim Wichsen.“ (KL, S. 51) An Morbidität grenzen die Beschreibungen von Erikas Beziehung zu ihrem eigenen Körper, die einfach keine Grenzen kennen und alles „ehrlich“ sichtbar machen: „Zwischen ihren Beinen Fäulnis, gefühllose weiche Masse. Moder, verwesende Klumpen organischen Materials…“ (KL, S. 198) Die virtuose „plastische“ Schilderung erhöht noch die Wirkung der einzelnen Wörter. Monika Szczepaniak fasst die Jelineksche Erzählweise bzw. die Kluft zwischen den („klischeehaften“) Erwartungen der Leser und der (innovatorischen) Intention der Schriftstellerin wie folgt: „Der Leser bekommt suggeriert, daß hier über Liebe gesprochen wird, über den weiblichen Körper, über die Schönheit und gleichzeitig wird ihm ´zu verstehen gegeben´ (nicht mitempfinden soll er!), daß diese Liebe Vernichtung ist, dieser Körper ein ´bläulich angelaufener Tumor´(KL, S. 241) und das ganze ekelhaft … Auch während der – so 66 angesagten – Liebesszene wird der Leser aus allen Illusionen gerissen…“ (Szczepaniak, S. 128) Jedoch auch in den „härtesten“ Passagen vergisst Jelinek nicht ihr beliebtes Verfahren – den Sprachwitz (der schon wieder hauptsächlich an der Demontage von Klischees aller Art beruht), der dem Leser hilft, das eben Gelesene zu relativieren: „Klemmer versucht verstohlen, an sich herumzuspielen, wie es in keinem Notenheft steht“ (KL, S. 182) oder (nachdem Erika versucht hat, ihre Schamlippen voneinander abzutrennen): „Zum Stillen des Blutes wird das beliebte Zellstoffpaket hervorgekramt, das jede Frau um seiner Vorteile willen kennt und schätzt, vor allem beim Sport und bei der Bewegung im allgemeinen.“ (ebd., S. 89); oder während der Lektüre des Briefes: „Stimmt es wirklich, wie es hier steht, daß sie ihm die Zunge in den Hintern stecken muß, wenn er rittlings auf ihr sitzt. Klemmer bezweifelt sehr, was er liest, und schiebt es auf schlechte Beleuchtungsverhältnisse. Die Frau kann es so nicht gemeint haben, die derartig Chopin spielt.“ (ebd., S. 227) Jelinek arbeitet auch mit einfallsreicher (aber oft ekelhafter oder obszöner) Metaphorik: nach Klemmers Versagen in der Besenkammer „leckt [Erika] an Klemmer herum, eine Kuh und ihr neugeborenes Kalb“ (ebd., S. 245). Am Anfang der Liebesszene im Schülerklo fühlt sich Erika wie ein „Geschenkartikel in leicht angestaubter Seidenpapierverpackung auf einem weißen Tischtuch“ (ebd., S. 176). Da es sich bei weitem um keine romantische „Hochzeitsnacht“ handelt, ist die Ironie bzw. der Sarkasmus kaum zu übersehen. Den Beischlaf eines Gastarbeiters und einer alternden Frau fasst Jelinek folgendermaßen zusammen: „Er fährt in die Frau hinein, als müßte er in Rekordzeit ein Paar Schuhe besohlen oder eine Autokarosserie zusammenschweißen.“ (ebd., S. 142) Trotzdem (oder gerade deswegen) ist Jelineks Blick so kalt, dass man fast (innerlich) erfriert. Oder ist es genau umgekehrt? Der Leser wird mit so vielen Grausamkeiten und so vielem Ekel konfrontiert, dass er einfach (nach)denken muss. 67 Aus dem oben Genannten ist es klar, dass sich Jelinek vor allem bei den Beschreibungen der Szenen aus dem sexuellen Bereich, sehr oft der Umgangs- oder besser Vulgärsprache bedient. Alex Deprert hat diese Sprachschicht auf folgender Weise charakterisiert: „sehr direkt, oft grob, ordinär und respektlos bis menschenverachtend“ (Deprert, S. 128). Nach der Einstufungsskala von Wolfgang Müller (Müller, S. 21 f.), der in seinem Artikel die möglichen Sphären der sexuellen Sprache noch detaillierter untersucht, benutzt Jelinek drei Ebenen: die „drastisch-metaphorische Sprache“ (z. B. Schwengel), die „saloppe Umgangssprache“ (z. B. Schwanz, wichsen, ficken) und die lustvoll-derb-vulgäre Sprache mit anschaungsprallem Vokabular“ (z. B. Gummiwurm, abspritzen, sich in eine Frau schrauben). Daneben erscheinen aber auch Ausrücke aus der „(lustfreien) Normalsprache“ (Genital, Geschlecht, Brüste…) oder sogar der „gehoben-literarischen Sprache“ (die Porno-Darstellerin ist „froh der Gabe und froh ihres Versorgers“), die aber fast immer als Mittel der literarischen Stilisierung (Ironie, Zuspitzung, Kontrast) ihre Rolle spielen. 4. 10. Postmoderne als (Lese)hilfe? „Das postmoderne Wissen (…) ist nicht allein das Instrument der Mächte. Es verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen.“ (J.-F. Lyotard – hier zitiert nach Cornejo, S. 33) Grundsätzlich können wir sagen, dass Jelinek uns eine postmoderne (De-)Montage anbietet. Sie arbeitet mit Mustern der Trivialromane und Pornohefte, deren Inhalte sie durch literarische Persiflage zu „höheren Zwecken“ ausnutzt. Diesen Vorgang samt seinem Ziel beschreibt Ivonne Spielmann folgenderweise: „Dekonstruierend und fragmentarisch arbeitet sie mit Techniken der Prosa und des Dramas in einem vielschichtigen Montageverfahren, um Weiblichkeitsmythen und herrschende Denkmustern offenzulegen. Aus dem Bruch mit dem 68 Einverständnis des Schweigens über die herrschenden Verhältnisse entwickelt sie einen politischen Kunstbegriff, der das Verdrängte und Tabuisierte öffentlich macht.“ (Spielmann, S. 35) Jelinek benutzt diese „Verfremdung“, um den Lesern „die Mechanismen von Kultur und Gesellschaft in verschobener Perspektive“ (ebd., S. 37) zu vermitteln. Auch die Schreibweise wird „postmodern“ mehrsprachig, Jelinek nutzt sehr verschiedene Sprachebenen (siehe voriges Kapitel) als literarische Mittel des Kontrasts und wohl auch der Provozierung aus. 4. 11. Und Freud? Was macht der da? „Somit werden wir durch die außerordentliche Verbreitung der Perversionen zu der Annahme gedrängt, daß auch die Anlage zu den Perversionen keine seltene Besonderheit, sondern ein Stück der für normal geltenden Konstitution sein müsse.“ (Freud, S. 79 f.) Nach der Theorie von Marlies Janz beweist schon der Name der Heldin Kohut (Anspielung auf den Narzißmus-Theoretiker Heinz Kohut) die Tatsache, dass sich Elfriede Jelinek um eine Inszenierung der „patterns“ der Psychoanalyse bemüht: „Diese patterns entstammen vor allem Freuds Theorie der Weiblichkeit (die Frau als Kastrierte und daher narzißtisch Gekränkte)…“ (Janz, S. 71) Die klassischen psychoanalytischen Stereotype der Weiblichkeit werden ironisch aufgegriffen, ja parodiert (parodistisches Verfahren gegenüber Freuds Theorien kann man allerdings auch in dem Buch der Desaster von Ingomar von Kieseritzky finden). Die Besucher der Peep-show schauen auf „das nichts … auf den reinen Mangel“ (KL, S. 54), Klemmer will wiederum das „Rätsel Frau“ (ebd., S. 67) an Erika studieren. Die „psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien“ (Janz, S. 71) werden auch zur Schilderung der psychischen und sozialen Motiven in der Entwicklung von Erika benutzt: 69 wegen der Abwesenheit des (abgeschobenen) Vaters wird Erika „von der Mutter phallisch besetzt“ (ebd.). Erikas inzestuöser Versuch parodiert wiederum Freuds ödipale psychoanalytische Theorie. Die Erfahrung der eigenen Kastration (die Erika schon längst gemacht hat), die bei dem inzestuösen Überfall noch durch die Kastriertheit der Mutter gekräftigt wurde, könnte laut der Theorie Freuds fatale Folgen haben: „Die Ersatzbildungen dieses verlorengegangenen Penis des Weibes spielen in der Gestaltung mannigfacher Perversionen eine große Rolle.“ (Freud, S. 101) Sigmund Freud war auch in der Tat überzeugt, dass die „sexuellen Impulse“ aus unserer Kindheit verantwortlich für unser ganzes weiteres Leben sein können. Die Figur Erika Kohut lässt sich tatsächlich als eine Patientin von Freud lesen. Die Wurzeln ihrer „Neurose“ wären in dem Maß der (Dis-)Harmonie der geschlechtlichen Entwicklung des Kindes zu suchen: „Die Normalität des Geschlechtslebens wird nur durch das exakte Zusammentreffen der beiden auf Sexualobjekt und Sexualziel gerichteten Strömungen, der zärtlichen und der sinnlichen, gewährleistet, von denen die erstere in sich faßt, was von der infantilen Frühblüte der Sexualität sich erübrigt … alle krankhaften Störungen des Geschlechtslebens sind mit gutem Rechte als Entwicklungshemmungen zu betrachten.“ (ebd, S. 112 f.) Laut der Theorie Freuds könnte Erika als ein „neurotisches“ Wesen bezeichnet werden, das nicht im Stande ist, den Voyeurismus und die Grausamkeit, die den Kindern eigen sind, mit dem „erwachsenen“ Sexualtrieb zu ersetzen. 70 4. 12. Konzept: Mythenzerstörung „Die Sexualität erscheint [bei Jelinek] als Aggression, als Zerstörung, als eine Art ´korrumpierter´ Kommunikation zwischen den Geschlechtern…“ (Szczepaniak, S. 156) Elfriede Jelinek stellt in der Klavierspielerin neben anderen „kulturellen“ Mythen auch den „profanen“ Liebesbegriff in Frage. Wie im Falle der Sexualität wird auch dieser Bereich als bloßes Schlachtfeld der Machtverhältnisse zwischen den beiden Geschlechtern entlarvt: „Die Scheinwelten des Trivialromans werden so rasch zunichte gemacht, wie schnell und einfach sie aufgebaut wurden. In Wirklichkeit äußert sich die Liebe in Besitz- und Herrschaftsansprüchen, in Verdinglichung und Gewalt.“ (Szczepaniak, S. 156) Der Mythos Liebe wird relativiert – „es handelt sich um einen ´korrumpierten´ Begriff der Liebe, dessen Sinn gleichsam ´entwendet´ und die übriggebliebene Hülle mit einem neuen Inhalt gefüllt wird“ (ebd, S. 157). Die sogenannte Liebe oder Zuneigung haben immer einen Hintergrund (sexuelles Training, Trennung von den Eltern), nie handelt es sich um „reine“ (oder sogar romantische!) Gefühle. Die Vorstellungen von einer romantischen Liebe werden energisch angekratzt, der Eros ist endgültig geflüchtet (ebd., S. 156). Kurz: „Man sieht: dem in diesem Buch gezeigten Amourösen liegt nichts Natürlich-Spontanes zugrunde, alles ist bis ins Detail durchgedacht, Gefühle werden nachgespielt, inszenierte intime Vereinigungen enden jeweils mit einem Desaster; Kalkül, Gewalt und Aggressivität sind die Norm.“ (ebd., S. 173) Dem Leser bleibt nur, die allmähliche Zerstörung der gesellschaftlich determinierten Klischees, Ideologien und Imaginationen zu verfolgen. Elfriede Jelinek hat keine Angst, etwas Neues anzubieten, die bisher „festen“ Grundlagen unseres gesellschaftlichen Bewusstseins zu erschüttern: „Erfinderisch und ironisch nimmt sich Jelinek die Freiheit, thematische Einschränkungen ebenso wie literarische, dramatische und sprachliche Konventionen 71 aufzubrechen, gesellschaftliche wie künstlerische Limitationen zu verletzen.“ (Spielmann, S. 24 f.) Trotz dem oben Genannten handelt es sich bei Jelinek nicht um bloße Provokation. Auch die Tabus wurden nicht umsonst gebrochen. Es geht ihr nicht um Spiel, sondern um ernste Sachen, um eine Mitteilung einer drastischen Wahrheit, die mit drastischen Mitteln ausgedrückt werden muss. Man wird mit der apokalyptischen Vision der Gegenwart konfrontiert und kein „besserer“ Morgen wird einem angeboten. Doch der Leser muss (wenn er Jelineks Vorschlag akzeptiert) der brutalen Realität gewachsen werden. Wenn nicht, dann kann die literarische „Rezeption“ der Klavierspielerin so aussehen, wie es im Falle von dem Journalisten Reinhard Beuth war: „Das wiederum bietet Jelinek reichlich Gelegenheit, ihr sadomasochistisches Spezialwissen detailfreudig auszulegen … Sie gefällt sich selbst als Menschenverächterin. Sie haßt Musik, sie haßt Wien, sie haßt Menschen … Das macht die Jelinek-Lektüre so verdrießlich. Sie möchte ganz bestimmt ihre Leser zum Kotzen bringen. Bei labilen Naturen schafft sie es mit der Klavierspielerin bestimmt.“ (Beuth, S. 202) 72 5. Helden wie wir – Perversion und Politik „Wer, wenn nicht ich, war zum Perversen berufen! Beim Munterdrauflosficken holte ich mir die Gonorrhöe … bei wahrer Liebe bekam ich ihn nicht hoch … Wichsen brachte mir Knochenbrüche ein … und Vergewaltigen war leider eine strafbare Handlung!“ (H, S. 244 f.) Dieses Buch des damals beginnenden (ost-)deutschen, oder besser gesagt Berliner Schriftstellers Thomas Brussig (geboren 1965) erschien zum ersten Mal im Jahre 1995. Dank dem günstigen Zeitpunkt seiner Veröffentlichung, fast unmittelbar nach der Wende, und sicher nicht zuletzt dank dem „originellen“ Stil des jungen Autors brachte sein zweites Buch Brussig einen immensen (auch kommerziellen) Erfolg. Die Erzählung ist als ein Interview mit dem Reporter aus New York Times stilisiert; ganz genau geht es eigentlich um einen Monolog, denn der Reporter (der allerdings keine Ahnung über die „wahre“ Geschichte hat), Mr. Kitzelstein, stellt nie irgendwelche Fragen. Die Handlung wird in die letzten zwanzig Jahre der DDR situiert und auch die Wende und der Mauerfall werden thematisiert. Die Sicht des „Dokumentaristen“ ist jedoch äußerst außergewöhnlich… Der erzählende Held des Buches heißt Klaus Uhltzscht. Dieser Mann mit einem unaussprechlichen Namen eröffnet den Roman mit der sensationellen Behauptung: „Ich war´s. Ich habe die Berliner Mauer umgeschmissen.“ (H, S. 7) Und als ob es nicht genug wäre, fügt er gleich hinzu: „Die Geschichte des Mauerfalls ist die Geschichte meines Pinsels…“ (ebd.) Also komm, Leser, und lasse Dir die Geschichte seines „Schwanzes“ (ebd., S. 8) erzählen… Um zu dem Höhepunkt seines Lebens zu kommen, muss Klaus freilich vom vorne anfangen, damit die Bedeutungskette völlig geklärt wird. Und so skizziert er die „wichtigen“ Ereignisse seiner problematischen Biographie. Schon seine Geburt war nicht reibungslos. Klaus wurde am 20. August 1968 geboren, in der Nacht, wo ein „ganzes Panzerregiment“ (ebd., S. 5) aus Ostdeutschland Richtung Tschechoslowakei rollte. Der Held selbst schildert 73 dieses Ereignis folgendermaßen: „In Panik durchstieß ich die Fruchtblase, trieb durch den Geburtskanal und landete auf einem Wohnzimmertisch. Es war Nacht, es war Hölle, Panzer rollten, und ich war da: Die Luft stank und zitterte böse, und die Welt, auf die ich kam, war eine politische Welt.“ (ebd.) Wie imposante Einführung in das Problem von Klaus´ Leben… Auch Klaus´ Kindheit ähnelte einer unendlichen „Problemkette“. Er wächst in einer idealen „sozialistischen“ Familie auf. Seine Mutter arbeitet (wegen der Schwangerschaft hat sie das Medizinstudium abgebrochen) als eine Hygieneinspektorin. Sie ist diejenige, die Klaus alle (vor allem die Sexualität betreffenden) hygienischen und auch sozialen Regeln beibringt und ihn so zu einem verklemmten und von fast allen „schmutzigen“ Freuden isolierten jungen Menschen erzieht. Vor allem während der Pubertät ist Klaus vorwiegend damit beschäftigt, aus ihrer „allsehenden“, ständig kontrollierenden Sicht zu flüchten. Der Vater, der, wie Klaus lange glaubt, im „Außenhandel“ (in Wirklichkeit bei der Stasi) arbeitet, widmet sich Klaus so gut wie nie: „Ein Vater, der so wenig an mich glaubte, daß er sich nicht mal der Anstrengung unterzog, einen vernichtenden Satz wie ´Ach, aus dem Jungen wird doch nichts!´ zu Ende zu bringen; er winkte nach den Wörtern ´Ach, aus dem Jungen…´ immer nur resignierend ab. Er sagte nicht einmal meinen Namen!“ (ebd., S. 10) Sehr wichtig (vor allem für Klaus´ „sexuologisches“ Wissen) sind die sozialistischen Ferienlager, an denen Klaus regelmäßig teilnimmt. Dort erfährt er nicht nur von der richtigen (obwohl für ihn ganz unglaublichen) Version der Fortpflanzung, sondern auch die Wahrheit über den Beruf seines Vaters. Seine weiteren Lebensstationen sind durch die ersten Erektionen und Pollutionen geprägt; bzw. durch sein Bemühen, dieser vorzubeugen: „Meine ganze Pubertät hatte ich nichts anderes zu tun, als meine Ständer wegzuräumen.“ (ebd., S. 71) Deswegen hört er fast auf zu trinken, was ihm einige Jahre später zu einer unverhofften Karriere helfen wird… 74 Klaus ist sich seines Versagertums bewusst und schildert seine Lage ohne Schleier: „Ich hatte den widerwärtigsten Namen, ich war der schlechtinformierteste Mensch, ich war Toilletenverstopfer, Sachenverlierer, Totensonntagsfick und letzter Flachschwimmer. Ich konnte mir nicht mal einen runterholen. Und als Antityp brachte ich es sogar auf die Titelseite.“ (ebd., S. 92 f.) Sein Minderwertigkeitsgefühl wird noch von weiterer erniedrigender Tatsache unterstützt: er hat „den kleinsten Schwanz, den man je gesehen hat“ (ebd., S. 101). So identifiziert er sich mit dem Kleinen Trompeter aus dem gleichnamigen sozialistischen Lied, denn kleine Trompeter haben doch kleine Trompeten… In dieser Situation beginnt auch Klaus bei der Stasi zu arbeiten. Und an seinem Arbeitsplatz trifft er Leute, die noch „einfacher“ sind als er. Während seines Aufenthaltes im Stasi-Lager (genauer während eines „Fickererlaubnisses“ – ebd., S. 124) macht er sein erstes sexuelles Erlebnis durch. Es wäre jedoch nicht Klaus Uhltzscht, wenn keine Katastrophe passieren würde – er steckt sich mit Gonorrhöe an. Sein „zweites Mal“ endet noch schlimmer: damit er die „Wurstfrau“, die ihn wegen seiner Penisgröße ausgelacht und abgelehnt hat, nicht vergewaltigen muss, ist er gezwungen, zum ersten Mal in seinem Leben zu masturbieren (bisher hat er sich diese Aktivität aus Angst, fünfzig Millionen Menschen auf einmal zu töten, streng versagt). Und es endet (wie unerwartet!) mit einer weiteren Katastrophe – wegen den mangelhaften Lichtverhältnissen rutscht er aus und bricht sich den linken Daumen und das rechte Handgelenk. Zum dritten Mal (seiner „einzige[n] Liebesgeschichte“ – ebd., S. 214) findet er seine Geliebte zu edel und läuft einfach weg… Trotz seinem erfolglosen Lebenslauf träumt er von der Karriere eines Nobelpreisträgers oder zumindest von einem geheimen Auftrag, der die sozialistische Welt rettet. Als er aber feststellt, dass sein beruflicher Alltag ziemlich „harmlos“ ist, findet er seinen eigenen Weg zur (zukünftigen) Anerkennung. Er fängt klein an: als er eines Tages den Ausdruck „Hühnerficker“ als Titulierung der von ihm „bewachten Person“ hört, versucht er, 75 um sich besser in den Gegner hineinversetzen zu können, die wörtliche Bedeutung auch praktisch zu realisieren. Kurz danach fällt Klaus eine tolle „sozialistische“ Idee ein: Er will die „sozialistischen“ Perversionen im Westen für Devisen vermarkten. Er wird also pervers, „um dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen“ (ebd, S. 247). Nachdem er alle möglichen Stellungen mit Goldbroilern ausprobiert hat, entwickelt Klaus einen innovatorischen „Fellatiomat“ (ebd., S. 252). Schließlich entscheidet er sich zur „Massensodomie“ (ebd., S. 256) und vergewaltigt mit Hilfe eines Kondoms Hunderte von Kaulquappen. Inzwischen zeigt es sich, dass Klaus´ Durstphase, die er in der Pubertät durchgemacht hat, endlich ihre Früchte bringt. Aufgrund seines „spezielle[n] Blutbildes“ (ebd., S. 261) wird er zum einem Spezialauftrag berufen. Anstatt dass er, wie er hofft, im feindlichen Westen eingesetzt wird, wird „nur“ sein „Perversenblut“ (ebd.) dem Generalsekretär der SED Erich Honecker gespendet. Klaus Uhltzscht bringt diese lebensgefährliche Mission beinahe in weitere (diesmal wohl endliche) Katastrophe… Er überlebt und (inzwischen sind wir im Herbst 1989 angelangt) nimmt (aus Schuldgefühl wegen seines Stasi-Berufs) an einer Protestdemonstration teil. Als er sich (nachdem er die Rednerin Christa Wolf mit der „Phantasiefrau“ seiner ersten Erektionen, der Eiskunstlauftrainerin Jutta Müller, verwechselt hat) entscheidet, zum Mikrophon zu gehen, um sich als „der Feind“ zu outen, verletzt er sich bei einem Treppensturz seine Genitalien und muss operiert werden. Diese schmerzliche Operation bringt jedoch immenses Wachstum seines Gliedes mit sich, was dann grundbedeutende Folgen für die Weltgeschichte haben wird. Es sieht so aus, dass Klaus´ Pech endlich durchgebrochen wurde. Er ist jetzt Besitzer des größten Penis der Welt und bereit, diese Tatsache der Welt mitzuteilen. Er flieht vom Krankenhaus (zufällig am 9. November 1989) und genießt sein neues Selbstbewusstsein, denn: „mit so einem Schwanz in der Hose kann nichts schiefgehen…“ (ebd., S. 314) Unterwegs begegnet er einer Masse von Leuten, die nach Westen durchdringen möchten, was 76 ihnen die Grenzsoldaten nicht erlauben wollen. Dann geschieht das, worauf der Leser das ganze Buch lang wartet: „Ich öffnete langsam den Mantel, dann den Gürtel und schließlich die Hosen und sah den Grenzern fest in die Augen … mit einem Grinsen zog ich meine Unterhose herunter.“ (ebd., S. 318) Die Grenzer, von dem Anblick gelähmt, lassen die nach Westen dringende Masse ihrem Schicksal. Und Klaus Uhltzscht erlebt den ersten Erfolg seines Lebens… 5. 1. Die kindliche Sexualität versus allwissende Mutter „Wo ich nun schon von meiner Mutter und meinem Schwanz rede…“ (H, S. 53) Bestimmend für Klaus´ Entwicklung in der frühen Kindheit war die Erziehung seiner mit Hygiene besessenen und alles kontrollierenden Mutter, der „Hygienegöttin“ (H, S. 25). Der Vater spielt als Elternteil fast keine Rolle und die Mutter übernimmt alle Verantwortung für Klaus´ „Kinderstube“. Klaus liebt und bewundert sie einerseits, anderseits treibt ihn ihre allumfassende Anwesenheit zum Wahnsinn. Schon in seiner frühen Kindheit erfährt er von ihr von der Gefährlichkeit der Umwelt – sprich Bazillen und deren Keime, die überall auf ihre Opfer warten („Aus Gründen, die ich selbst nicht verstehe, umwickle ich auf allen Toiletten, deren Hauptnutzer ich nicht dutze, die Toilettenbrille sorgfältig mit Toilettenpapier … Ich habe schon Hunderte von Toilettenverstopfungen verursacht.“ – ebd., S. 44). Von der Mutter erfährt er auch von der Notwendigkeit, alle Gesetze und Vorschriften zu respektieren („Wenn ich mal bei Rot über Kreuzung gehe, erwarte ich, daß mir ein Heckenschütze in den Rücken schießt…“ – ebd., S. 35). Die Mutter kontrolliert sogar die intimsten Bereiche ihres Sohnes, was dann „fatale“ Folgen für Klaus´ weiteres Leben hat. Als sie eines Tages mit der Bemerkung „Es schnuppert!“ das von Klaus eben benutzte Bad betritt, ist der Junge in seiner tiefsten Seele erniedrigt: „Nie wieder gab ich meiner Mutter Gelegenheit, meine Scheiße zu 77 reklamieren – aber zu welchem Preis! Wie soll man ein Mann werden, wenn man sich sogar seiner selbstgekackten Scheiße schämen muß? Ich spülte seit jenem Tag jedesmal sofort, wenn es platschte, und erhob mich dabei von der Toilettenbrille … selbst mein kleines Geschäft wird im Sitzen erledigt … Ich stehe doch nicht vor dem Toilettenbecken, mein Gott, es könnte ja was danebengehen!“ (ebd., S. 44 f.) Als sich Klaus bei der Masturbation im Treppenhaus verletzt und nicht im Stande ist, die „hygienische Pflege“ selbst durchzuführen, übernimmt seine Mutter diese Pflicht. Die „peinliche“ Tatsache und ihren genauen Verlauf gönnt Brussig dem Leser wirklich bis zum Ende – „das Arschwischen“ (ebd., S. 24), das die Mutter für Klaus übernommen hat, wird sehr detailreich und anschaulich beschrieben (ähnlich „wahrheitsgetreu“ sind auch einige Passagen von Kieseritzkys Buch der Desaster, wo der Autor die Leser mit „Problemen“ wie Periode, Erbrechen oder Durchfall bekannt macht). Der „dokumentaristische“ Blick kann manchmal stressig sein… Am allerschlimmsten sind jedoch die mütterlichen Interventionen in dem Bereich der sich entwickelnden Sexualität, von der ansonsten in der Familie natürlich geschwiegen wird. Die „erlaubten“ Tätigkeiten mit dem „Puller“ (ebd., S. 53) werden ganz genau spezifiziert: „Man macht kein Gewese darum, sondern benutzt ihn auf der Toilette, und nur ein Ferkel tut andere Dinge damit, weil bekanntlich der Puller ein hygienisch heikles Ding ist, nach dessen Benutzung man sich jedesmal die Hände waschen muß. Wir hatten ein Extra-Stück Seife dafür, die Rote Seife.“ (ebd., S. 53 f.) Als Klaus seine erste Erektion kriegt (allerdings beim Ansehen von Dagmar Frederick, die „ungefähr so apart wie Nancy Reagan“ – ebd., S. 67 – ist), und versucht sich im Bad zu verstecken, um sein „Rohr“ (ebd.) in Ruhe betrachten zu können und auch um zu probieren, ob man „verschiedene Dinge“ (ebd.) daran aufhängen kann, kommt die Mutter und verlangt eine Erklärung seines „merkwürdigen“ Verhaltens. Weil Klaus keine Ahnung hat, „wie man einen Steifen los wird“ (ebd., S. 68) und die Tür einfach öffnen muss, folgt die notwendige vorwurfsvolle Frage: „Hast du wieder daran 78 rumgespielt?“ (ebd.) Der arme Klaus verbringt also die nächsten Jahre damit, dass er auf der Suche nach Methoden der Verhinderung der Erektion ist – er hört fast auf zu trinken, steckt sich einen Rubikwürfel in die Tasche, „um die Identifizierung des Ständers zu erschweren“ (ebd., S. 69), wird Mitglied des Schachvereins (denn während der Partien braucht man nicht aufzustehen), lenkt sich andauernd mit Kopfrechnenaufgaben ab. Als Klaus mit der Mutter über den Geschlechtsverkehr diskutieren will, den er als Fortpflanzungsmethode für ein Märchen hält, und ihr verrät, dass er im Ferienlager Zeuge der Masturbation seines „Genossen“ war, liest ihm seine sex-feindliche Mutter Leviten. Sie spricht von einer kriminellen Tat, vom „Fall von Exhibitionismus“ (ebd., S. 75), dessen Täter angezeigt werden könnte, wenn er volljährig wäre. Klaus, der doch „dabei“ war, sieht sich gleich ins Gefängnis gehen. Doch wie „erfolgreich“ die puritanische Erziehung war, bezeugen die Gedanken, die Klaus noch vor dem Verdikt der Mutter durch den Kopf gehen (diese Passage bezeugt wiederum auch Brussigs Vorliebe für satirische Überspitzung und tabu-brechende Wortspiele): „Was sich auf seinem rechten Oberschenkel abspielte, war, wenn man mal vom Sachschaden absieht, mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar! Und ich habe Beihilfe geleistet! Mir drohte nicht nur das amerikanische Schwurgericht, mir drohten die Nürnberger Prozesse!“ (ebd.) Genauso negativ war die Einstellung der anständigen Mutter zum „richtigen“ sexuellen Akt: „…und als mir meine Mutter mit Hilfe des Verbotsschild-Zitats ´Eltern haften für ihre Kinder´ die Fährnisse des Vögelns nahebrachte, war ich so beeindruckt, daß ich für die nächsten vier Jahre praktisch mit Impotenz geschlagen war.“ (ebd., S. 35) Sobald Klaus (mit mehr oder weniger Erfolg) das Problem Erektion endlich gelöst hat, kommt etwas, was noch unkontrollierbarer und deswegen schlimmer für ihn ist – die Pollutionen. Obwohl schon Martin Luther im 16. Jahrhundert zu der Schlussfolgerung gekommen ist, dass sie keine Gefahr für die menschliche Gesundheit oder Moral darstellen, 79 freut sich Klaus´ Mutter keineswegs darüber, dass sich das Sexualleben ihres Sohnes „normal“ äußert. Sie unterstellt (schon wieder) Klaus, schuld an diesen „nächtlichen Ereignissen“ zu sein. Dabei benutzt sie ihren typischen Stil (oder den typischen mütterlichen Stil): „Klaus … du mußt es ja nicht jede Nacht machen.“ (ebd., S. 84 f.) Mancher Leser kann sich ganz bestimmt (zumindest teilweise) in die (wenn auch unberechtigten) Schamgefühle des Sohnes bzw. Kindes im Allgemeinen hineinversetzen. Klaus´ Problemlösung ist aber sehr originell (immerhin Brussigs Stil vom „Jahrmarkt der Absurditäten“ ganz entsprechend). Die Situation wird folgendermaßen „anschaulich“ und vor allem völlig „aufrichtig“ geschildert: „Ich erwog, mit Windeln zu schlafen, aber dann kam ich auf die Idee, mir einen Scheuerlappen in die Schlafanzughose zu stecken. Und zwar einen grauen, der kaschierte die Flecken am besten. Wenn ich ihn trocknen wollte – ich hatte keine Lust, mich mit einem samendurchfeuchteten Scheuerlappen ins Bett zu legen –, breitete ich ihn über einer Fahrradfelge aus, die ich eigens zu diesem Zweck neben meinem Bett plazierte. Der ahnungslose Betrachter (ich dachte da besonders an meine Mutter) sollte den Scheuerlappen für einen Putzlappen halten.“ (ebd., S. 85) Die Mutter durchschaut überraschenderweise diese List nicht, Klaus hat es jedoch mittlerweile satt, mit einem Scheuerlappen „mit der Konsistenz von Knäckebrot“ (ebd., S. 87) schlafen zu müssen. Seine Invention scheint richtig unerschöpflich zu sein, er entscheidet sich für ein spezielles Bettwäschemuster mit aufgedruckten bräunlichen Flecken („wichsfleckengemusterte Bettwäsche“ – ebd., S. 89), die die verdächtigen Spuren tarnen sollte. Auch diese Aktion erfüllt ihren Sinn, das außergewöhnliche Muster erweckt jedoch eine lebhafte und alle Aspekte angehende Diskussion am Familientisch. Als die Mutter die Idee erwähnt, es könnte eher ein Tapetenmuster sein, reagiert der genervte Sohn (allerdings nur in seinem Kopf) schon überempfindlich: „Ha! Was war denn das nur wieder? Ein Vorschlag, mein Sperma an der Wand zu verteilen, anstatt es ins Linnen strömen zu lassen?“ (ebd.) 80 Als Klaus (fatal von Pech angezogen) nach seinem ersten sexuellem Erlebnis feststellt, dass er sich dabei mit Gonorrhöe angesteckt hat, wird er zur medizinischen Behandlung in die Poliklinik des Ministeriums, also „nach Hause“, überwiesen. Obwohl er sich wie ein „halbe[r] Elvis“ (ebd., S. 131) anzieht und sich verändert und selbstbewusster fühlt („Kaum zu glauben, wie ein Fick einen Menschen verändern kann.“ – ebd., S. 131 f.), hat er seine Mutter bei weitem nicht besiegt. Er wird einem schonungslosen Verhör (samt den typischsten Fragen und der AIDS-Warnung) unterzogen. Zu einer offenen Revolte ist Klaus zu schwach, seine innere Stimme protestiert jedoch heftig: „Wann werden sie begreifen (…), daß es mein Schwanz ist und meine Angelegenheit, wo ich ihn reinstecke und was dranklebt, wenn ich ihn rausziehe.“ (ebd., S. 135) Der Vater bringt noch eine andere Dimmension ins Gespräch, nämlich die politische, die die Mutter sofort aufgreift und das Horrorszenario laut schildert: Klaus´ „Geliebte“ (die er allerdings gar nicht kennt!) könnte emigrieren und dann „äußert sie in dem obligatorischen Gespräch mit feindlichen Geheimdienstleuten, daß sie Intimverkehr hatte mit dem Angehörigen der Sicherheitsorgane Klaus Uhltzscht. Da wollen die natürlich alles ganz genau wissen. Und damit wäre er erpreßbar!“ (ebd., S. 136) Die kleinbürgerliche, pardon, sozialistische Moral der Eltern, ist gravierend verletzt worden. Und Klaus kann ja auch Vater werden! Und übrigens – es wäre viel besser, wenn nächstes Mal die Frau noch „davor“ den Eltern vorgestellt wird. Klaus´ neu gewonnenes Selbstbewusstsein ist irgendwie weg und seine Loser-Gefühle steigen auf das „bekannte“ Niveau: „Warum kann ich nicht mal an den Fick glauben, den ich selbst vollbracht habe? Weil sie sagen, daß es lebensgefährlich ist? Weil ich ein Kind dieser Eltern bin? Weil ich den kleinsten Pimmel habe?“ (ebd., S. 137 f.) Klaus´ Familie ist einfach kein Ort der Geborgenheit und liebevoller Unterstützung, es wird nicht miteinander gesprochen, es wird gemahnt, befohlen und vor allem verboten. Wie anstrengend das Leben mit einer „ordnungsliebenden Nervensäge“ (Kraft, S. 1) ist, die jedoch nichts direkt sagt und immer „in Fassung“ bleibt und man sie also nicht richtig 81 beschuldigen kann, zeigen uns folgende Zeilen, in denen uns Brussig, wie für ihn typisch, eine „aufrichtige“ und fast glaubwürdig dargebotene Beichte eines Teenagers anbietet: „Das wollen wir uns doch lieber abgewöhnen, sagt sie angesichts eines befleckten Lakens. Woher will ich wissen, daß sie etwas gegen Wichsen hat? Vielleicht hatte sie nur was gegen Ins-Laken-Wichsen und wollte mich nur dazu bewegen, ins Klo oder in einen Kondom oder sonstwo hineinzuwichsen – aber nicht in mein Laken? (Natürlich hatte sie was gegen Wichsen, aber heute würde sie in aller Unschuld behaupten, daß ich mir das nur eingebildet hätte, daß sie mich immer ehrlich und respektvoll…)“ (H, S. 90) Das Verhör ist ein wichtiger Bestandteil dieses Mutter-Sohn-Verhältnisses: „Ist diese Frau nur dann zufrieden, wenn ich in der Schämecke stehe? Muß ich mich immer schuldig fühlen?“ (ebd., S. 85) Klaus ist immer der Täter und der Verurteilte. Und die Strafe? Eine Menge Minderwertigkeitsgefühle: „Ich schwieg betreten. Sie hatte mich wieder mal geschafft. Soll ich mich jetzt kastrieren lassen?“ (ebd., S. 86) Der komplexbeladene Klaus, der es nicht schafft, einen „normalen“ sozialen Kontakt zu irgendeiner Person aufzubauen, der „dank der mütterlichen Fürsorge“ abnorm wird, hat dann eigentlich keine Chance ein normales Sexualleben zu führen. Auch Sigmund Freud (die Reminiszenz der von ihm beschriebenen Mutter-Sohn-Beziehung lässt sich bestimmt zwischen den Zeilen entdecken) würde wohl zustimmen: „Wer in sonst irgendeiner Beziehung geistig abnorm ist, in sozialer, ethischer Hinsicht, der ist es nach meiner Erfahrung regelmäßig in seinem Sexualleben.“ (Freud, S. 59) Von seinem Arbeitgeber, der Stasi, bekommt Klaus eine eigene Mietwohnung. Die Kontrolle der alles kontrollierenden Mutter hört also auf. Im Notfall kann Klaus jedoch mit ihrer Hilfe rechnen. Als er die Treppen hinunterfällt und sich seine Genitalien verletzt (von den Ärzten wird er paradoxerweise für ein Stasi-Opfer gehalten) erscheint die Mutter auf einmal im Krankenhaus. Denn „Als Mutter spürt man so was.“ (H, S. 298) Klaus fühlt sich „am Boden vernichtet“ (ebd.), und bald kommt auch noch der erwartete Satz, der eigentlich 82 fast wie eine Drohung klingt: „Dann laß mal sehen!“ (ebd., S. 299) Als die ablehnende Antwort nicht akzeptiert wird, zieht Brussig einen weiteren typischen Spruch aus seinem Familien-Repertoire aus: „Der feine Herr will seiner Mutter nicht zeigen, wo er sich verletzt hat?“ (ebd., S. 300) Klaus weigert sich noch eine Weile, sich der „Zwiespältigkeit“ seiner Lage bewusst. Die Situation ist ihm jedoch sehr wohl bekannt: „Sehen Sie, Mr. Kitzelstein, genau das ist ihre Art. Wenn ich sie nachschauen ließe und mit meinem Ständer konfrontierte, habe ich wieder dran rumgespielt, wenn ich sie nicht lasse, bin ich der feine Herr.“ (ebd.) Der Sieg der Mutter ist sowieso unabwendbar. Und obwohl sie „noch Ärztin“ (ebd.) ist, ist sie, die Hygienegöttin, die doch auf alles gefasst sein sollte, entsetzt! Allerdings kein Wunder, denn das, was noch vor einigen Tagen einem „zertretenen Frosch“ (ebd., S. 292) ähnelte, ist zu einem Tyrannosaurus Rex geworden: „Zwischen meinen Beinen lag etwas wie ein Tier, zusammengerollt und friedlich. War das etwa? … Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines Tages auf und anstatt Ihres gewohnten Zipfelchens finden Sie zwischen Ihren Beinen das größte Glied, das Sie gesehen haben.“ (ebd.) Der von den Eltern sein ganzes Leben lang gedemütigter Klaus (direkt von dem Vater und indirekt von der Mutter) wird endlich seines Versagergefühls los. Sogar seine Mutter, die in jeder Situation etwas zu sagen hat, wurde zum Schweigen gebracht! Klaus fühlt sich jetzt endlich wie ein Mann, und einige Tage später äußert er sich sogar folgendermaßen: „Ein Mann ging hinaus in die Nacht, ein Mann mit seinem Schwanz. (Ich rede von mir, wie sie sich denken können). Ich hatte ein Glied, das diese Bezeichnung verdiente. Nix mehr mit Kleiner Trompete. Das Gewicht meiner Eier gab mir beim Gehen ein neues Gefühl.“ (ebd., S. 313) Die Familie und die Erziehung stellen den wichtigsten Baustein in der Mosaik von Klaus´ Lebens- und Leidensgeschichte dar. Brussig schildert uns eine typische Familie („eine biedere DDR-Familie“ – Walther, S. 1; „eine parteifromme Spießerfamilie in der DDR“ – Biermann, S. 2), wirklich nicht ideal (aber ist nicht gerade das das Allertypischste?), die noch 83 dazu in ein autoritäres (bei weitem nicht ideales) System situiert wird. Der Autor bietet uns die Karikatur eines „psychopatologischen DDR-Familienidylls aus der niederen Nomenklatura“ (Biermann, S. 1) an. Der Leser wird jedoch des Gefühls irgendwie nicht los, dass eine Menge Authentizität und Selbsterfahrung (natürlich stark satirisch zugespitzt und übertrieben) im Text immer präsent sind. Die Sprüche von Klaus´ Mutter kommen einem sehr bekannt vor… Und die Komplexe des Sohnes, die zu sexueller Verklemmtheit führen, die später (mit Hilfe des perversen Systems) sogar in vielfache Perversion mündet, kann man auch irgendwie nachvollziehen. Wie Thomas Brussig selbst zugibt, ist auch das „stilisierte Selbsterfahrene“ in der Erzählung dabei: „Mit sexuellen Verklemmtheiten kenne ich mich aus. Ich habe das alles ausgeschmückt, übertrieben und konsequent zu Ende geführt.“ (Felsmann, S. 2) Zugleich empfindet man auf jeder Seite die Tödlichkeit der immer anwesenden (familiären oder staatlichen) Totalität, die durch den tragisch-komischen Stil, der sich kein Blatt vor den Mund nimmt, noch gesteigert wird. Die Sexualität ist tabu, richtig gesprochen wird darüber nie. Und die Mutter tut noch „so scheißunschuldig“ (H, S. 58): „Mit der harmlosesten Miene sagt sie noch heute Puller, und sie findet auch nichts dabei, eine Katze Muschi zu nennen; einmal brachte sie es sogar fertig, beim Scrabble VULVA zu legen.“ (ebd.) Sehr treffend hat die Elternerziehung Marion Löhndorf charakterisiert: „Die Mutter, ein Muster aseptischer Perfektion und strengster Selbstdisziplin, drückt Klaus den Stempel idiotisch weltfremder Musterknabenhaftigkeit auf. Der Vater, ein liebloses Ekel, gibt ihm blühende Minderwertigkeitskomplexe mit auf den Weg…“ (Löhndorf, S. 1) Zusammengerechnet: Kann da jemand normal bleiben? 84 5. 2. Ferienlager oder Sexualerziehung der sozialistischen Jugend „Sie hatten ja immer recht, diese Ferienlagertypen, sie waren mir immer um eine böse Wahrheit voraus. Männer haben so ´n Schwanz und mit dem fahren sie in Mösen ein, sofern sie ihn sich nicht blasen lassen…“ (H, S. 83) Im Rahmen der Familie ist also Sex tabu. Die „Quelle der (nicht nur) sexuellen Wahrheit“ findet Klaus in den Ferienlagern, wo er aller seiner Illusionen beraubt und der „harten Realität“ gestellt wird. Der „unschuldige“ Klaus schildert seine Empörung folgendermaßen: „…und dann gerate ich im Ferienlager unter neun Experten, die den Puller einvernehmlich Pimmel nennen und schon am ersten Abend die Pimmelgröße ihrer Väter diskutieren. Am allerersten Abend! Ich hatte mir fest vorgenommen, daß ich mich nie wieder in ein Weitpissen hineinziehen lasse, aber damit hatte ich nicht gerechnet.“ (H, S. 54) Klaus hat selbstverständlich „keine Ahnung vom Schwanz [seines] Vaters“ (ebd.). Brussig schildert die Diskussionen, die eigentlich wohl typisch für Jungen in diesem Alter sind und die meistens während Massenaktionen, wie zum Beispiel ein Ferienlager, stattfinden, mit „guter Kenntnis des Gegenstandes“. Es wäre aber nicht Brussig, wenn er keine satirische Überspitzung hinzufügen würde: „Und ich glaubte, in Afrika seien auch die Puller größer. Und nun? Afrikanische Verhältnisse in einer Berliner Schwimmhalle. Was es nicht alles gibt.“ (H, S. 56) Als Klaus noch dazu von seinen Genossen im sozialistischen Ferienlager (!) erfährt, wie man einen Beischlaf ausübt, ist er nicht nur durch die Vorstellung selbst empört, er kann sich vielmehr nicht mit dem Gedanken abfinden, dass sogar seine asexuellen Eltern so etwas machen mussten. „Der Vater muß seinen Pisser in die Muschi der Mutter stecken.“ (ebd., S. 63) – Brussig nimmt kein Blatt vor den Mund und offenbart auch denjenigen, die diese Erfahrung vermissten, die „Wahrheit der Ferienlager“. Als der uninformierte Klaus noch erfährt, dass „das Kind zuerst beim Vater ist“ (ebd.), hat es für ihn fatale Folgen: „Ich konnte 85 mir jahrelang keinen runterholen, aus Angst vor den Schreien der gemordeten Kinder…“ (ebd., S. 64) Allerdings – Klaus´ (Brussigs) Phantasie ist unerschöpflich. Weil er nicht bereit ist sich mit der Vorstellung abzufinden, dass die ganze Menschheit „ein Produkt zahlloser Ficks“ (ebd.) sei, entscheidet sich Klaus diese „Bumsthese“ zu erschüttern. Man kann da fast spüren, wie es Brussig genießt mit Wörtern zu spielen, wie fröhlich er zuspitzt und übertreibt: „Die Wissenschaft, die ich vertrete, wird bald Schluß machen mit dem Aberglauben, daß Pimmel in Mösen gesteckt werden müssen, um Kinder zu zeugen! Es wird in allen Ländern ein großes Aufatmen geben: Nie wieder ficken müssen!“ (ebd.) Ähnliche Form haben auch Klaus´ Vorstellungen von seiner Zeugung, von dem „Fick“ seiner Eltern, das sie nur seinetwegen und nicht ohne Ekel durchmachten: „Wie lange dauerte es? Sekundenbruchteile? Oder gar mehrere Sekunden? Haben sie es im Badezimmer getan? Nachdem sie nacheinander geduscht hatten? Ich malte mir aus, daß mein Vater sein geheimes Ding nicht mit bloßen Fingern in ihre Möse bugsierte, sondern mit Gummihandschuhen oder einer Grillzange … Und daß sie tapfer eine Viertelminute verharrten, bis eine Ansteckung stattgefunden haben mußte.“ (ebd., S. 66) Brussigs Stilisierung in die Sichtweise eines Kindes scheint wirklich einwandfrei zu sein… Im Ferienlager wird (der damals elfjährige) Klaus auch Zeuge der Masturbation seines vierzehnjährigen Kollegen, eines Radiobastlers, und sieht auch zum ersten Mal das Sperma. Dessen Konsistenz bestätigt nur Klaus´ Zweifel daran, dass „Ficken was mit Fortpflanzung zu tun hat“ (ebd., S. 73). Denn die „Spucke“ (ebd.), die er sieht, ist tot „wie ein Tortenguß“ (ebd.). Im Ferienlager sieht Klaus auch die ersten Bilder vom Sex. Und es geschieht – satirischer geht es fast nicht – „unter der Gagarin-Büste im Ehrenhain“ (ebd., S. 75). Klaus´ Vorstellung von der „sterilen Grillzange“ liegt in einer Minute in Trümmern: „Daß die Menschheit zu Kriegen, Konzentrationslagern, Apartheid und Atombomben fähig war, stand täglich in der Zeitung. Aber nicht, daß ein Menschwiestolzdasklingt einen 86 Hastduwiederdranrumgespielt in den Mund nimmt.“ (ebd.) Brussig zeigt, dass er sich nicht fürchtet, auch „ernste“ Sachen in seine satirischen Spiele miteinzubeziehen. Ähnliche Optik benutzt der Autor auch bei der Schilderung von Klaus´ Reinkarnationstheorie: im Ferienlager lernt Klaus auch das „Lied vom Kleinen Trompeter“ kennen, das ihm bei seiner Selbstidentifikation und vor allem mit seinem großen Problem einigermaßen (zumindest kurzfristig) hilft. Das sozialistisch stark geprägte Lied führt Klaus zu der Annahme, dass er der „wiedergeborene Kleine Trompeter“ (ebd.) ist: „Ich sah meinen Schwanz, ich sah das Lenin-Denkmal und ahnte, daß ich der Kleine Trompeter bin.“ (ebd.) Die sozialistischen Symbole zu karikieren ist überraschend einfach und witzig wirksam! 5. 3. Dreimal und Schluss oder „Normal“ geht es nicht! „Kaum habe ich meinen Schwanz aus einer Möse gezogen, werden Resozialisierungsmaßnahmen erforderlich.“ (H, S. 143) Weil sich Klaus aus Angst, ein Massenmörder zu werden, zu masturbieren fürchtet, verbirgt er sich in seine sexuelle Phantasie: er liegt stundenlang auf den Lüftungsgittern der U-Bahn-Schächte (wo der Westen nur vier Meter entfernt ist) und träumt (wie gewagt für den späteren Stasi-Mitarbeiter!) von den westlichen Frauen, die „vermutlich auch jene sagenumwobenen G-Punkte“ (ebd., S. 173) haben und sich „mit einem Schwanz im Mund fotografieren lassen“ (ebd.). Es ginge aber noch schlimmer: „Wäre ich bereits damals von denselben perversen Energien getrieben gewesen wie nur wenige Jahre später, hätte ich das Lüftungsgitter vergewaltigt. Aber mit achtzehn hatte ich noch Skrupel. So kann ich nur beteuern: Ich habe nie auf der Mitte der Friedrichstraße gelegen und mit einem Lüftungsgitter gebumst.“ (ebd., S. 173 f.) 87 Klaus erstes sexuelles Erlebnis findet erst während des Stasi-Vorbereitungskurses statt. Es geschieht auf einem Schiff, die Frau heißt Marina, hat eine tolle Figur, über die „man reden kann und über die man sich so seine Vorstellungen machen kann“ (ebd., S. 124). Allein das würde Klaus schon reichen, aber Marina hat noch mehr zu bieten! Als sie eine Flasche „Tschammpannja“ aufmacht, glaubt Klaus nicht seinen Augen: „Sie machte es der Sektflasche mit der Hand! Sie wichste der Sektflasche einen!“ (ebd., S. 124 f.) Ganz im Gegenteil zu dem „Safen Sekt“ (ebd., S. 125), den Klaus von zu Hause (und das nur zu Silvester) kennt. Ohne „überflüssige Diskussionen“ übernimmt Marina nach ein paar Stunden die Initiative: „Sie legte ihren Kopf an meine Schulter und tastete nach meiner Nudel. Ohne mich um Erlaubnis zu fragen!“ (ebd., S. 127) Alles läuft reibungslos und sogar der immer grübelnde (wie man eine Frau richtig auszieht, wo der G-Punkt zu suchen wäre…) Klaus lockert sich einigermaßen. Alles läuft wie in einem durchschnittlichen Film: „Wir hatten gevögelt, wir teilten uns die Zigarette danach und dazu lief Musik.“ (ebd., S. 129) Romantisch und selbstbewusst gestimmt blickt Klaus unter den Küchentisch und das Gespenst seiner Mutter lässt sich wieder erblicken: „Unter dem Küchentisch war ein Hamsterkäfig! Abgesehen davon, daß es mir noch heute bei dem Gedanken unwohl ist, von einem Hamster beim Bumsen beobachtet worden zu sein, war Hamster in der Küche ein Ausdruck unvorstellbarer Verwahrlosung … In der Küche, also einem Raum, in dem Speisen zubereitet werden, Dinge also, die man verzehrt, hält sie sich ein Tier mit einem Fell, in dem sich sonstwas einnisten kann.“ (ebd., S. 129 f.) Trotz dem Tripper, mit dem sich Klaus bei seinem „ersten Mal“ angesteckt hat, ist Marina für ihn eine schöne Erinnerung geblieben… Da Klaus dann in der „Zentralstelle zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ (ebd., S. 140) behandelt werden muss, kann Brussigs Sinn für zugespitzte Übertreibung (deren idealer Vermittler doch der naiv geschilderte und schildernde Klaus ist) völlig entfaltet werden (ganz nach dem Motto „Man nehme eine sozialistische Parole…“): „So viele 88 Zimmer? War Tripper so beschäftigungsintensiv? Gar ein Wirtschaftsfaktor? Werden durch unverantwortliches Ficken Arbeitskräfte gebunden, die in der Volkswirtschaft so dringend benötigt werden? Ist Gonorrhöe kontrarevolutionär? Erwartet mich noch ein Parteiverfahren?“ (ebd.) Da sieht man, dass sogar Geschlechtskrankheiten politisiert werden können… Die zweite „Gelegenheit zum Fick“ (ebd., S. 185) muss sich Klaus hart erkämpfen. Er wartet in „vielen kalten Winternächten“ (ebd.) vor dem Altberliner Ballhaus und hofft einmal Glück zu haben. Seine Kriterien sind wirklich nicht hoch: „Es durfte die Erstbeste sein – solange sie nur allein über den Hof ging.“ (ebd., S. 187) Die „Erstbeste“, von Klaus „die Wurstfrau“ benannt, kommt endlich. Doch heiß wird Klaus irgendwie nicht so richtig: „Ich würde meine Rote-Seife-Region von der Möse einer wildfremden, betrunkenen und mehr als doppelt so alten Bumsschuppen-Besucherin umschließen lassen?“ (ebd., S. 189) Es wird aber noch schlimmer: diese „Kreatur“ lacht Klaus´ Penis aus. Er gibt aber nicht auf und bemüht sich noch um „Romantik“ (Brussig gönnt dem Leser wieder eine Portion von Situationskomik): „´Na los, mach was´, stöhnte ich ihr ins Ohr und nuckelte an ihr herum, in der Hoffnung, auf eine erogene Zone zu stoßen, aber sie kicherte bloß. Ich fummelte ihren BH auf, patschte ihr auf der Brust – Sülze – herum und erwartete, davon eine Erektion zu bekommen.“ (ebd., S. 190) Weil die Unbekannte nicht bereit ist Klaus zu erregen, wird er wütend („Ich, historischer Missionar, der ich an meiner sexuellen Vervollkommnung arbeite, werde mich doch am Menschenmaterial eines Bumsschuppens ausprobieren dürfen!“ – ebd., S. 190 f.). Die Situation ändert sich jedoch (wieder einer Groteske ähnlich): „Wir wälzten uns auf dem Boden, und vielleicht lag es daran, daß ich immer mit einer Art Ringkampf rechnete oder mit einer Tätigkeit, die anstrengend ist wie das Verladen von Schweinehälften – aber plötzlich kam er mir hoch.“ (ebd., S. 191) Doch die „Wurstfrau“ lacht ihn wieder aus. Klaus respektiert ihr Nein nicht und ist fast entschlossen sie zu vergewaltigen. Nur der Gedanke an seine Eltern bricht seine kriminelle Tat ab. 89 Klaus verlässt die Wohnung und seine Lage wird noch absurder: „…ich stand in diesem Treppenhaus und versuchte mich anzuziehen, ich hatte einen Ständer, der rebellierte, der wollte nach wochenlangem Warten in kalten Winternächten endlich auf seine Kosten kommen, und irgendwie verstand ich ihn; so ein Schwanz ist doch auch bloß ein Mensch.“ (ebd., S. 193) Also holt er sich, um Brussigs Wortschatz zu benutzen, zum ersten Mal in seinem Leben, einen runter. Er onaniert, „um nicht zu vergewaltigen!“ (ebd.) Und das Objekt seiner „Wichsphantasien“ (ebd., S. 196) ist Klaus´ Vorgesetzter, der Innenminister Mielke. Brussigs bekannte Schreibweise (diesmal onomatopoetisch bereichert) ist schon wieder da – man nehme eine sozialistische Parole…: „…Genosse Minister, Sie sehen ja, daß ich kein Ferkel bin – floggfloggflogg – sondern für unsere gemeinsame Sache wichse – floggfloggflogg – für den Sozialismus – floggfloggflogg – und in humanistischer Tradition…“ (ebd., S. 195) Doch das Feuerwerk der grotesken Einfälle ist noch nicht zu Ende – Klaus rutscht „auf einem Zehnmillionenkleckser“ (ebd., S. 198) aus und bricht sich beide Hände. Und das mit offener Hose… Zum dritten Mal begegnet Klaus sogar die Liebe! Und sie beginnt noch romantisch, mit dem Verlust von Klaus´ Portmonnee, das Yvonne, so heißt die einzige Liebe im Klaus´ Leben, findet und ihrem Besitzer ehrlich übergibt. Und diese Liebesgeschichte erwischt Klaus voll und ganz: lange Blicke, unendliches Plaudern, Plattenhören, Kerzen… Inmitten von dieser romantischen Atmosphäre kommen jedoch Gewissenbisse: „Kann ich es mit meinem Gewissen vereinbaren, einen Engel zu ficken?“ (ebd., S. 235) Noch dazu ist sie (ganz dem Muster des Groschenromans ähnlich) eine Dissidententochter: „Auf solche Geschichten warten doch die westlichen Gazetten, oder?“ (ebd., S. 236) Als Klaus diese Gedanken endlich los wird und sich, um Zeit für erneute Erektion zu gewinnen, Yvonnes Körper widmet, wobei er „in ihrem Muff herumstöbert“ (ebd., S. 237) – denn soviel Kitsch erträgt Brussig auch nicht – gelangt die Idylle rasch zu Ende. Yvonne flüstert „Tu mir weh!“ und das schafft Klaus 90 einfach nicht. Er zieht sich an und geht weg. Mit diesem Schritt endet auch Klaus´ Pilgerfahrt nach den Geheimnissen der Liebe und der liebevollen Zweisamkeit… 5. 4. Stasi als Brutanstalt der Perversionen? oder Sexuelle Abartigkeiten als Exportartikel „Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Wichsbefehl von Wunderlich und dem Gerücht, daß viele, die in der Haft geschlagen wurden, zur Erklärung ihrer Verletzung unterschreiben mußten, daß sie ´die Treppen hinuntergefallen´ sind?“ (H, S. 241) Ähnliche Verhältnisse wie im Ferienlager, herrschen, was die „männliche Sexualität“ betrifft, auch während den Trainingkursen der Stasi, bei der Klaus gleich nach seinem Schulabschluss zu arbeiten beginnt. Klaus ist verwirrt: „…kein Zweifel, direkt über mir wurde gewichst. Ein paar Nächte später brachte es Raymund fertig, unseren einzigen Ehemann … berichten zu lassen, wie er es mit seiner Frau treibt. Was sind das für Zustände! Kennt hier niemand die Gesetze? Die juristischen Konsequenzen? Raymund masturbiert und zieht René mit rein, Beihilfe zur Masturbation … Sollte das die Stasi sein? Tagsüber stolperten wir in Schützenkette über den Acker, nachts wurde gewichst – bei der Stasi?“ (ebd., S. 116) Auch hier finden die „typischen Männergespräche“ statt und Brussig schont uns (wie es der Leser inzwischen gewöhnt wurde) gar nicht, die sprachliche Ebene entspricht der Situation. So wird man mit Ausdrücken wie: „in der Fotze kramen“, „aufbocken und von hinten nehmen“, „sich einen blasen lassen“, „am Muff schnuppern“, „an die Titten fassen“ oder „Mösenfleisch“ (ebd., S. 120 ff.) konfrontiert. Auch hier fühlt sich Klaus minderwertig, er denkt darüber nach, ob er etwas hat, was seine Kollegen bewegt, sich in seiner Gegenwart „immer einen runterzuholen“ (ebd., S. 121). Zu den wichtigsten Eigenschaften seines „Genossen“ Raymund, den er bewundert, gehören auch seine Fähigkeiten aus dem Bereich 91 der Autoerotik: „Der kann mit seinem Schwanz umgehen … Ich stopfe mir einen Scheuerlappen in die Schlafanzughose, und Raymund kleckert eben mal seine Bettwäsche voll.“ (ebd., S. 123) Im Rahmen eines „Gruppenausgangs“ (ebd.) erlebt Klaus auch sein erstes Mal… Als Klaus dann bei dem zweiten Mal (siehe voriges Kapitel) auf eigenem Sperma ausrutscht, rettet ihn seine Zugehörigkeit zu der „geheimnisvollen“ Stasi vor der Beschuldigung seiner Eltern, „abnormen Handlungen“ (ebd., S. 201) zuzuneigen: „Oh Mr. Kitzelstein, ist es nicht wunderbar, zu dieser Stasi zu gehören? In einem Hause, wo mein erster selbstgebumster Orgasmus bewertet wird als Selbstmordversuch in Tateinheit mit Hochverrat und Thema einer Gehirnwäsche wird, da reicht es plötzlich aus, so beziehungsvolle Worte zu murmeln wie ´Ihr könnt es euch doch denken´…“ (ebd.) Die ganze Gelegenheit ergibt Klaus sogar einen „höheren“ Sinn (und erstaunliche, fast abschreckende Assoziationen, umso tragischer, dass man irgendwo im Hinterkopf gar nicht lacht): „Mit zwei gebrochenen Händen kann niemand Flugblätter drucken. Oder seine Hetzlieder auf der Gitarre, dem Klavier oder dem Akkordeon begleiten. Mit gebrochenen Händen kann man nicht einen Telefonhörer abnehmen. Wenn ich Major Wunderlich nun erzähle, wie mein Unfall wirklich passiert ist – ob er mich dann die Treppenhäuser aller Bürgerrechtler bekleckern läßt? … Mit Lizenz für den historischen Fortschritt zu wichsen war schon immer mein Wunsch! Und fünfzig Millionen wären nicht einfach weggeworfen und vergessen, nein, ihr Tod hätte einen Sinn! Sie stürben für unsere Sache! Wie der Kleine Trompeter!“ (ebd.) Noch perverser wirkt dann die Operation „Oberer Treppenabsatz“ (ebd., S. 241), in der es um Verhaftung von der „überwachten Person“ namens „Individualist“ geht und die Klaus wieder ensprechend naiv interpretiert. Als sich sein Vorgesetzter an ihn mit der Frage wendet: „Dann machst du das morgen mal, ja? Oberer Treppenabsatz, ja?“ (ebd.), versteht sie Klaus in der Intention seines Erlebnisses im Treppenhaus: „Mir war nicht klar, wieso ich mir 92 synchron zur Verhaftung von Individualist einen von der Palme wedeln sollte.“ (ebd.) Die Sache klärt sich (Gott sei Dank!) gerade noch rechtzeitig auf und so bleibt uns „nur“ die perverse Realität, wo Staatsangestellte die Mitbürger desselben Staates absichtlich verletzen… Nach dem endgültigen Scheitern von Klaus´ Bemühen um ein „normales Sexualleben“ wird Klaus zum „Profiperversen“. Es geschieht sozusagen „dienstlich“. Die von ihm überwachte Person, „der Individualist“, wird in einem Telefongespräch als „Hühnerficker“ (ebd., S. 239) bezeichnet. Da Klaus dieses Schimpfwort nicht kennt, versteht er es wörtlich und kommt zu einer mehr als überraschenden Schlussfolgerung, die genau nach Brussigs (oder besser gesagt Klaus´) Logik auf der Durchführung der Instruktionen bis zum Absurden beruht: „Vielleicht kann ich mich noch besser in den Gegner hineinversetzen, seine Taten noch vorhersehbarer machen, wenn ich selbst ein Hühnerficker werde? … Mit dieser Überlegung kaufte ich mir zum Feierabend einen ganzen Broiler, den ich zu Hause und ohne Rücksprache mit meiner Dienststelle sexuell mißbrauchte.“ (ebd.) Das Perverse des Systems, das monatelang ohne einen Grund Personen überwacht, Wohnungen durchsucht und Kinder zur Warnung entführt, veranschaulicht Brussig den Lesern mit einer großen „Plastizität“. Es ist erstaunlich, welche (äußerst tragikomische) Wirkung die Mischung von absurden Dienstanweisungen (noch von einem bis zum Absurden geschilderten Angestellten interpretiert) und einer mehrere Tabus brechenden Tat haben kann: „Daß Wunderlich ebenfalls mahnte, das In-den-Gegner-Hineinversetzen sein ´A – nicht immer leicht – B – erfordert es besondere Charakterfestigkeit und – C – einen klaren klassenmäßigen Standpunkt, der uns immun macht – A – gegen gewisse Reizworte und – B – gegen eine gewisse logische Geschlossenheit der gegnerischen Argumentation´, fiel mir erst hinterher ein … Stehen Charakterfestigkeit und ein klassenmäßiger Standpunkt in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur Vergewaltigung von Lebensmitteln?“ (ebd., S. 240) Klaus wird also zu einem 93 viermaligen Perversen: er treibt es „mit Tieren! Mit toten Tieren! Toten Jungtieren! Die keinen Kopf hatten!“ (ebd.) Später begeht der „Star-Perverse“ sogar die Massensodomie“ (ebd., S. 256), deren Opfer Hunderte von Kaulquappen sind, die er in einem Kondom vergewaltigt. Mit dieser Optik gesehen erscheint dann der Versuch Kieseritzkys (Das Buch der Desaster) ein bisschen Abnormalität in das BRD(!)-Sexualleben in der Gestalt eines sterbenden und trotzdem (oder gerade deswegen) Sex verlangenden Mädchens zu bringen als etwas ganz Natürliches. Mit seinen Perversionen hat Klaus jedoch Pläne. Um seinem sozialistischen „Zuhause“ ökonomisch zu helfen, denkt er über die Möglichkeit nach, „urheberrechtlich geschützte Perversionen zu fabrizieren und sie gegen Devisen zu exportieren“ (ebd., S. 244). Seinen Traum von dem Nobelpreis hat ein anderer, viel skurrilerer (der aber zugleich seine sexuellen Probleme beseitigen würde) ersetzt: „Ich wurde historischer Missionar, anstatt Nobelpreisträger, und so wollte ich nun ein Großer Perverser werden, anstatt mein lebensgefährliches, knochenbrecherisches und juristisch bedenkliches Geschlechtsleben fortzuführen!“ (ebd., S. 245) Und der ideale Markt für die Perversionen im Westen sind doch die Talkshows! Oder aber (Brussigs Einfälle sind wohl unerschöpflich): „Perversionen könnten zum Partythema werden oder bei Einstellungsgesprächen die Atmosphäre lockern, und erst wenn es so viel bekennende Perverse wie Kreditkarteninhaber gibt, würde ich den Markt für gesättigt halten.“ (ebd., S. 247) Klaus´ Vision heißt: „Perversionen für die Massen!“ (ebd., S. 248) Die Ergebnisse seiner Forschung will er auch in einem Buch veröffentlichen und er unterschätzt seine Fähigkeiten nicht im Geringsten: „mit der Genialität eines Einsteins werde ich Freuds Forschungsgegenstand und Lenins Vermächtnis verschmelzen.“ (ebd.) Gibt es eigentlich eine größere Perversion als das? Als Bestandteil dieses Planes entwickelt Klaus einen Lippensimulator („Fellatiomat I“ – ebd., S. 250), der aus Gummibonbons als Ober- und Unterlippe besteht. Bei dem perversen Stasi-Angestellten überrascht es den Leser gar nicht, 94 dass er während der Stasi-Vorlesungen auf Wörter wartet, die „vielversprechende“ Lippenbewegungen benötigen, um sie dann in seiner „Anrichtung“ zu benutzen. Leider gelingt es nicht, „Millionen Männer der blauen Welt Botschaften aus dem real existierenden Sozialismus bis zum Moment restloser Beglückung“ (ebd., S. 251) zu gönnen. Keine sozialistische Botschaft ist für diesen Zweck geeignet. Sonst könnte ja die sozialistische Perversion die Menge der kapitalistischen Staaten zu einer sozialistischen Revolution überzeugen… 5. 5. Der Riesenpenis stürzt die Mauer oder Kann es wirklich ein Volk mit einem „zu kleinen Pimmel“ gewesen sein? „Ich war auf der Flucht vor meinem Schwanz, und als mir zufällig die Mauer in die Quere kam…“ (H, S. 19) Eines Tages wird Klaus wegen seinem „speziellen Blutbild“ (ebd., S. 261) ins Innenministerium zu einer Blutspende berufen. Er versteht schon wieder nichts: „Das spezielle Blutbild? Das ich der sexuellen Hauptaufgabe meiner Pubertät – trage niemals Ständer – verdanke? Was mich geradewegs in die Perversion führte? … Dann braucht die Stasi Perversenblut?“ (H, S. 261) Es geht um eine Blutspende für den Generalsekretär der kommunistischen Partei Erich Honnecker und Klaus kostet es beinahe das Leben. Die Spende des perversen Blutes hat noch ihre historische Wirkung. Wie Klaus selbst bemerkt, beeinflusst sie sogar Honeckers Politik: „Seiner Amtsführung war das Perversenblut anzumerken.“ (ebd,, S. 276) Und er fügt auch eine „politologische Wahrheit“ hinzu, die jedoch der Philosophie seiner Dienststelle ganz und gar nicht entspricht: „Proteste herauszufordern ist meistens Taktik, Proteste niederzuschießen ist meist ein Verbrechen, aber Proteste herauszufordern, um sie niederzuschmeißen, ist Perversion.“ (ebd.) Doch die 95 Konsequenzen dieser medizinischen Operation sind noch viel gravierender: als Klaus bei einer Demonstration (wir sind inzwischen im Herbst 1989 angelangt) die Eislauftrainerin Jutta Müller („die Alterspräsidentin [seiner] sexuellen Phantasien“ – ebd., S. 285) reden hört (in Wirklichkeit hat er sie mit Christa Wolf verwechselt) und zu der Tribüne läuft, fest entschlossen das Seine zum Thema Sozialismus zu sagen, fällt er die Treppen herunter (welche Ironie des Schicksals… pardon, Brussigs), verletzt sich und muss wegen seines „Eiersalat[s]“ (igitt!) operiert werden. Das Ergebnis des schmerzlichen Eingriffs hat für Klaus, aber zugleich für die ganze Weltgeschichte, fatale Folgen: es kam zu einem Riesenwachstum von seinem Penis (Ursache: das Serum, das ihm bei der Blutspende gespritzt wurde, verursachte während der Operation „kumulative Wechselwirkungen“ – ebd., S. 301– die die unerwartete Entwicklung des Genitals bewirkten). Klaus ist freilich überglücklich, denn „Jeder Mann will den größten haben – aber ich hatte ihn!“ (ebd., S. 303) Und es wird ihm allmählich klar, welcher überlangen Kette von Zufällen er seinen „Dildo zum Glatt-neidisch-Werden“ (ebd., S. 305) eigentlich verdankt: dank der super-puritanischen Mutter (die nicht zuletzt von ihrer sozialistisch-perversen Umgebung stark geprägt ist) ist er gezwungen, fast nichts zu trinken, um die Erektion zu vermeiden, dank dem Mangel an Flüssigkeiten gelangt er zu dem speziellen Blutbild, mit dessen Hilfe er dann zu der Blutspende auserwählt ist, später fällt er dank einer (letztendlich) glücklichen Verwechslung die Treppe herunter, muss operiert werden und so (hurra!) erfüllt sich sein größter Traum, was dann später noch zum Sturz der Berliner Mauer bzw. des Sozialismus (was seit der Seite sieben dem Leser wiederholt mitgeteilt wird) führt. Aber noch ein paar Stunden zurück: Klaus flieht aus dem Krankenhaus (der Zufall wollte es, dass es ausgerechnet am 9. November 1989 geschah) und entscheidet sich, der „Wurstfrau“ seine neue „Da-kann-man-direkt-neidisch-werden- Anatomie“ (ebd., S. 309) zu präsentieren. Und da kommt der fatalste aller Zufälle: „…so trafen wir uns: Sie wollten einfach so in den Westen, und ich war mit meinem großen 96 Schwanz unterwegs zur Wurstfrau.“ (ebd., S. 315) Doch das Volk hat, wie Klaus sieht, „einen zu kleinen Pimmel“ (ebd., S. 316) und er ist „der Erlöser mit dem großen Schwanz“ (ebd.) Die Grenzer sind vom Anblick seines entbloßten Penis ganz gelähmt, das Volk dringt durch und der Sozialismus bzw. der kalte Krieg ist zu Ende! Die Zufällenkette hat sich geschlossen. Die Schlange fraß sich selbst und das mit eigenen Zähnen… 5. 6. Pornographie ist es nicht oder Auch ein Penis kann zum Romanhelden werden! „Wenn ich über meinen Schwanz schon nicht schreiben kann, werde ich eben darüber reden. Und das sind keine Pennälerprotzereien, sondern Mosaiksteine der historischen Wahrheit, und wenn Sie nicht wollen, daß noch Fragen offenbleiben, müssen Sie schon akzeptieren, daß meine Schilderungen ziemlich schwanzlastig geraten.“ (H, S. 8) Nach den Definitionen der Pornographie, die ich in dem Kapitel über Elfriede Jelinek zusammengefasst habe, handelt es sich auch im Falle Brussigs um kein pornographisches Werk. Helden wie wir kann man eher als einen Wenderoman, was den Gegenstand der Erzählung angeht, bezeichnen. Nach Barbara Felsmann (deren Artikel im Jahre 1995 erschienen ist) handelt es sich um „eines der wenigen Bücher, in dem sich ein Ost-Autor radikal mit den DDR-Verhältnissen auseinandersetzt.“ (Felsmann, S. 1) Brussig selbst bestätigt diese These und erweitert sie zugleich: „Ich komme mir manchmal ein bißchen einsam vor, weil die Debatte zur Zeit darum geht, daß es ja gar nicht so schlimm war in der DDR. Wir Ostler müssen aus dieser Nostalgie herauskommen. Das war ein wichtiger Grund, dieses Buch zu schreiben. Und ich lasse da einen erzählen, der eine erbärmliche Geschichte hat, erbärmlicher als die eines jeden anderen, der aber trotzdem darüber redet und es überlebt.“ (ebd.) Die Wende wird jedoch keineswegs aus der historisch-politologischen Sicht untersucht bzw. dargestellt. Die Perspektive ist ganz originell. Roberto Simanowski sagt dazu 97 Folgendes: „…ja, dies ist der lang ersehnte Wenderoman. Kein Roman über die Wende (die ist ein weites Feld und Brussig erklärt weder ihren Ursprung, noch beschreibt er wirklich ihren Ablauf), sondern eine Wende in der Art, Vergangenes zu betrachten und aufzuarbeiten.“ (Simanowski, S. 2) Und das tut Brussig in der Tat; und intensiv! Zum Hauptthema wird (zumindest auf den ersten Blick) etwas, was an der Skala der provokativsten Themen sicher einen der ersten Plätze belegen würde. Sabine Brandt sieht den Ausgangspunkt des Romans wie folgt: „Man könnte sagen, das gesamte Schicksal des Helden stehe unter dem Aspekt niederschmetternden phallischen Unvermögens.“ (Brandt, S. 2) In ähnlicher Optik sieht den Fokus des Buches auch Wolf Biermann: „Das außerordentlich kleingeratene Zentralorgan zwischen den Beinen des Romanhelden bewährt sich in diesem Roman über 300 aufregende Seiten als der zentrale Punkt, von dem aus die DDR-Weltgeschichte im Innersten zusammengehalten wird.“ (Biermann, S. 1) Auch Andreas Nentwich hat keinen Zweifel an dem Hauptthema des Werkes: „Ein Penis wird zur alles überragenden Metapher.“ (Nentwich, S. 53) Zugestimmt wird ihm von Peter Walther, der „Puller“ wird laut ihm zum „Dreh- und Angelpunkt der ganzen Geschichte“ (Walther, S. 1). Walther schildert den „Haupthelden“ und die „außerordentliche“ Sichtweise des Romans folgenderweise: „Klaus Uhltzscht beginnt die ihn umgebende Wirklichkeit aus der Sicht seines Geschlechtslebens zu begreifen. Alles, was er erlebt, hängt auf verschlungene Weise mit den einsetzenden oder ausbleibenden Regungen jugendlicher Sexualität zusammen. Triebkraft der Geschichte ist nicht etwa Klaus Uhltzscht, sondern, mit Verlaub, sein Schwanz.“ (ebd.) 5. 7. Der „Schelm“ Brussig spielt mit dem Leser… „An den Wochenenden legte ich mich in meiner fluchtsicheren Hellersdorfer Eineinhalb-Zimmer-Hochparterre-Wohnung aufs Bett, hörte bei herunterlassenen 98 Hosen die Endloskassette und kaute synchron mit den künstlichen Lippen auf Eichel und Schaft herum. Dazu ließ ich eine Stoppuhr laufen…“ (H, S. 253) Um dieses Buch zu verstehen (oder sich zumindest darum bemühen zu können), benötigt der Leser eine immense Urteilskraft, die ihm hilft, das äußerst raffinierte Netz der Stilisierungen aller Art durchzuschauen. Und auch einen großen Mut, eine Menge von grotesken und oft völlig ins Absurde überzogenen Szenen zu absolvieren. Ja, Helden wie wir kann man zweifellos auch als einen (jedoch speziellen) Schelmenroman bezeichnen. Die Internetenzyklopädie Wikipedia charakterisiert diese Gattung folgenderweise: „Der Schelmenroman oder pikarischer/pikaresker Roman (…) schildert aus der Perspektive seines Helden, wie sich dieser in einer Reihe von Abenteuern durchs Leben schlägt. Der Schelm stammt aus den unteren gesellschaftlichen Schichten, ist deshalb ungebildet, aber ´bauernschlau´ … Traditionellerweise ist der Schelmenroman eine (fiktive) Autobiographie.“ Thomas Brussig erweitert diese Beschreibung noch um eine große Portion Karikatur. Roberto Simanowski sagt zu diesem Aspekt Folgendes: „Volker Braun hatte den Schriftstellern der 80er Jahre zugerufen: Ein Text aus einem Schrei gemacht, das wäre ehrlich … Nach der Wende mußte man Texte erwarten, die aus einem Schrei der Befreiung und der Empörung über das Erlittene bestehen. In Brussigs Roman gibt es diesen Doppelschrei nur als Karikatur: die Klage des komplexbeladenen Klaus Uhltzscht über seinen zu kleinen Pimmel und die Freude über dessen plötzliches Wachstum ins Superlative. Was das mit der Wende zu tun hat? Wer so fragt, ist noch nicht durch Brussigs Schule gegangen. Nichts ist so politisch wie ein Schwanz; schließlich war es Klaus Uhltzschts Riesending, durch das die Mauer fiel.“ (Simanowski, S. 1) Marion Löhndorf bezeichnet das Buch als einen Schelmenroman, wo „aller Witz in der Sicht des klassischen Unterdog“ (Löhndorf, S. 2) konzentriert wird. „Aus der Froschperspektive des Zukurzgekommenen entwirft der Autor ein satirisches Bild der 99 DDR-Gesellschaft.“ (ebd.) Nach Wolf Biermann liefert uns Brussig „den ersten geistreichen Schelmenroman über einen stinknormalen unbekannten Kämpfer an der unsichtbaren Front“ (Biermann, S. 1); kurz: „Brussig schildert die grauenhaft komische Leidensgeschichte eines authentischen DDR-Kretins.“ (ebd.) Ja, Klaus ist ein Loser, ein „Sammelbecken aller erdenklichen Veklemmungen, daß als Referenzrahmen seiner Geschichte nicht mehr der DDR-Alltag, sondern nur noch das Tagebuch eines Psychotherapeuten in Frage kommt“ (Simanowski, S. 4). Der (Anti)Held und sein ganzes Leben werden tatsächlich völlig ins Groteske überzogen. Sabine Brandt charakterisiert diese Stilisierung folgenderweise: „Freilich spielt die Phantasie eine große Rolle, insofern nämlich, als die Realität phantastisch überhöhnt und bei aller Wiedererkennbarkeit aufs skurrilste verfremdet ist.“ (Brandt, S. 1) Thomas Kraft sieht das Realität-Phantasie-Verhältnis in Brussigs Versuch einer „speziellen“ DDR-Geschichte ähnlich: „Mit seiner Realsatire über zwanzig Jahre DDR-Geschichte nimmt Brussig, immer haarscharf an der Charmegrenze der Provokation entlang, den G-Punkt all jener Legenden und Schönredereien über Wesen und Ende der DDR so zielsicher ins Visier, daß sie vor Scham vibrieren und mit rotem Kopf ihre Impotenz eingestehen müßten. Er jongliert mit den Wahrheiten wie mit rohen Eiern und bekleckert sich dabei ungeniert. Das hat Methode, dient der Katharsis und der Unterhaltung.“ (Kraft, S. 2) 5. 8. Ironie, Witz, Ekel und Perversion und Erotik – das passt genau zu der „DDR-Logik“ „Selbst als ich eine Phase hatte, in der ich alles mögliche unter ein Schülermikroskop legte, war ich nicht bereit, mir zu Forschungszwecken einen runterzuholen. Moral als Preis für Erkenntnis? Und das im Sozialismus? Nicht mit mir! Lieber ein Beflecker von Bettwäsche als ein Beflecker der sozialistischen Idee!“ (H, S. 84) 100 Wie es schon angedeutet wurde, ist Brussigs Erzählweise sehr originell, oder auch „unerwartet unverkrampft“ (Lehmer, S. 1), wie doppeldeutig man auch das Adjektiv „unverkrampft“ verstehen kann. Sein Stil besteht aus drei Haupteinheiten: dem Sprachwitz, der Steigerung/Übertreibung/Zuspitzung und den unerwarteten Metaphern. Und als der rote Faden zieht sich natürlich das Sexuelle durch das ganze Buch. Thomas Kraft charakterisiert Klaus´ „Redeschwall“ als „völlig überdreht, obszön und auf kokette Art naiv“ (Kraft, S. 1), der Monolog des Erzählers unterläuft und persifliert sich selbst, meistens mittels Witz und Ironie. Ja, Ironie und Selbstironie sind die elementaren Bausteine von Brussigs Text. Darüber hinaus gerät die Geschichte „ziemlich schwanzlastig“, wie wir schon auf den ersten Seiten schließlich gewarnt werden. Peter Walther nennt das die „bisweilen unmotivierte Häufung genitalbezogener Logik“ (Walther, S. 3). Andere Rezensenten sehen darin doch einen „kausalen Zusammenhang“. Wie etwa Jutta Lehmer: „Doch hinter all dem vordergründigen Blödsinn entfaltet sich ein stimmiges DDR-Bild. Auf seine Weise schafft Brussig die Paralelle von der sexuellen Verklemmtheit, die wegen Unterdrückung in Perversionen mündet, zum sozialistischen Staat.“ (Lehmer, S. 1) Ähnliche Ansicht vertritt auch Andreas Nentwich: „…in den grotesk überzeichneten Phobien, Zwangshandlungen und Perversionen eines negativen (oder eher Mitleid erweckenden – Anmerkung der Autorin) Helden wird die Deformation einer ganzen Gesellschaft dem Gelächter preisgegeben.“ (Nentwich, S. 53) Brussig gelangt in seinen satirischen Übertreibungen zu der „radikale[n] Demontage eines Kleinbürgerregiments“ (ebd.). Sandra Kluwe spricht von einem „Korrelationsverhältnis zwischen Unterdrückung durch die autoritäre Macht und sexueller Verkrümmerung“ (Kluwe, S. 3). Gelobt wird Brussigs Versuch auch von Sabine Brandt, die seine Tendenz zur Provozierung als begründbar (die Frage ist, ob nicht zu unkritisch) empfindet: „Die Fabel ist so viel und so wenig unanständig wie das Leben selbst. Zum einen trifft die Schilderung von Klaus´ phallischen Emanzipationsanstrengungen exakt ins Herz diktatorischer Prüderie, die 101 das Sexuelle verteufelt, ideologische und existentielle Vergewaltigungen aber zum Prinzip erhebt. Zum zweiten wird deutlich, daß Regime, die solchen Prinzipien folgen, selber erschütternd impotent sind. Zum dritten zeigt die Methode eine Gesellschaft von der intimen Warte her auszuleuchten, eine Menge Komik, jedenfalls wenn man sie so handhabt, wie Thomas Brussig das tut: scheinbar naiv, in Wahrheit hintergründig boshaft, mit genauen Charakter- und Situationsanalysen, die dank einer guten Portion Übertreibung besonders intensiv einleuchten.“ (Brandt, S. 2) Dass die Intention des Autors in der Tat so eine war, bezeugen auch Brussigs (ernst gemeinte?) Worte: er habe gemerkt, „wie wirksam es sein kann, über Sexualität zu schreiben, wenn man kein Blatt vor den Mund nimmt.“ (Felsmann, S. 1) Kurz: das Perverse dient einem höheren Zweck. Brussig fügt noch hinzu: „Man hat ja immer vom pervertierten Sozialismus gesprochen, und ich wollte unbedingt die sozialistische Perversion aufzeigen.“ (ebd.) Die zugespitzt dargestellten „Trivialitäten der DDR“ (Dieckmann, S. 1) werden mit einigen „ernsten“ Fragen, die oft aus der Perspektive eines „unbeschwörten Gehirns“ beantwortet werden, vermischt und noch dazu bekommt der Leser eine reiche Portion vom Drastisch-Derb-Zotig-Geschmacklosen (um Brussigs Vorliebe in Bildung von überlangen Bindestrich-Konstruktionen nachzuahmen). Das „hohnlächternde Feuerwerk respektlos-phantastischer Einfälle“ (Simanowski, S. 1) nimmt fast kein Ende, Brussigs Vorstellungskraft scheint wirklich unerschöpflich zu sein. In so einem Milieu gedeiht die Provokation unermesslich: „Mit grimmig-fröhnlicher Respektlosigkeit durchtobt Brussig erzählerisch seinen Stoff, nimmt dabei die Pose des Provokateurs, des Antibourgeois ein. Unbekümmert übertrieben lässt er Drastisches, Derbes, Zotiges einfliessen.“ (Löhndorf, S. 1) Nichts scheint Brussig heilig zu sein. Sabine Brandt sieht in der derben Komik eine ernste Tiefe: „Denn diese Biographie ist ja nicht bloß närrisch. Soweit sie es aber ist, lebt sie nirgends von plattem Witz, sondern immer von der intelligenten Unverschämtheit und dem trefferischen Spott der 102 Shakespeareschen Narren.“ (Brandt, S. 3) Brussigs Tendenz zur (anscheinenden) Bagatellisierung kommentiert auch Roberto Simanowski: „Hervorstechendes Merkmal der ´Entsorgung´ der Vergangenheit ist, daß Brussigs Held sich in erster Linie um seinen Schwanz kümmert. Gibt es etwas Persönlicheres als dies? Gibt es angesichts Operativer Vorgänge und angesichts der Schüsse an der Mauer etwas Banaleres als dies?! Und doch ständig von seinem Schwanz zu reden, drückt eine politische Haltung aus und wird … zum geschichtsphilosophischen Bekenntnis. Obszönität als Antiutopie. Eine solche Schlußfolgerung ist irgendwie wahr, aber im Grunde völliger Unsinn.“ (Simanowski, S. 5) Nach Simanowski wird „nichts aufgearbeitet, sondern alles niedergelacht“ (ebd.) und die Erlösung wird im Obszönen gesucht. Doch, „das wissen wir ja alle, steckt die größte Verzweiflung sowieso in den urigsten Komödien.“ (ebd.) Nichtdestoweniger bezweifelt Simanowski sowieso die „höhere“ Metaebene des Buches: „Wenn Rezensenten in der Schilderung der phallischen Emanzipationsanstrengungen des Klaus Uhltzscht ein Abbild diktatorischer Prüderie sehen, die das Sexuelle verteufle und die ideologischen Vergewaltigungen zum Prinzip erhebe, vergewaltigen sie Brussigs Text mit dem gleichen Eifer, wie die Ideologen der DDR dazumal ihre Bürger.“ (ebd., S. 4) Sven S. Poser entdeckt in Brussigs Buch jedoch „Tieferes“, nämlich einen „moralischen Apell“: „Zugegeben ist die Penis-Metapher drastisch. Doch steckt dahinter nicht vordergründige Spekulation, sondern der Wille zur Provokation. Brussig will die 89er am Schlawittchen packen, er will ihren Nerv und den der anderen Generationen treffen, die in der DDR sozialisiert wurden und zum Teil bis heute am Menschenbild des Totalitarismus laborieren … Dank Brussig wird der Humus sichtbar, auf dem die Formelle und Informelle Mitarbeit für die Stasi gedeihen konnte.“ (Poser, S. 2) Der Witz (dessen Fähigkeit zur „Erleichterung“ der Situation Brussig häufig ausnutzt) dient mehrmals einer sehr treffsicheren Beschreibung des DDR-Alltags. Zum Beispiel die 103 sog. Werbegespräche an den Grundschulen, die den Schülern eine Weiterbildung sichern sollten: „eine ganz einfache Frage: Würde es Sie nicht reizen, später einmal mit Menschen zu arbeiten? … Und wer kann schon nein sagen, wenn man so geradeaus gefragt wird, ob man vielleicht mal mit Menschen arbeiten wolle? Ein Mensch wie stolz das klingt! Und hat man sich schon einmal überlegt, Politoffizier der Nationalen Volksarmee zu werden und junge Menschen politisch zu bilden? Ist denn man nicht für den Frieden? Für den Sozialismus? Und wolle man nicht etwas dafür tun? Ihr Vater, streut dann der aktenkundige Werbeoffizier ein, ist doch ein einfacher Arbeiter (bzw. Ihre Mutter ist doch ein einfacher Mensch!) … Ach, Förster wolle man werden? Man liebe die Natur? Na, das trifft sich ja hervorragend! Gerade als Kommandeur eines Panzerregiments ist man wegen der häufigen Schießübungen zu jeder Jahreszeit im urwüchsigen Wald der militärischen Sperrgebiete…“ (H, S. 117) 5. 9. Brussigs postmoderne Antwort „Die Postmoderne Antwort auf Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld. Ironie, Maskerade hoch zwei, metasprachliches Spiel…“ Umberto Eco Leslie Fiedler verlangt von den postmodernen Literaten einen anti-künstlerischen und anti-seriösen Roman, der eigentlich hauptsächlich der Überbrückung der Kluft zwischen Elite- und Massenkultur dienen sollte. Danach könnte Helden wie wir ein ideales postmodernes Werk sein, das sehr wohl auch die „Massenleser“ verlocken könnte. Das Buch ist witzig, provozierend, originell und kann auch ohne den „sekundären Blick“, also als eine groteske Geschichte, gelesen werden. Ganz der Theorie von Italo Calvino entsprechend 104 besteht die Handlung aus den Territorien des Komischen, des Erotischen und des Phantastischen. Die Vergangenheit wird auf einer „ganz neuen“ Weise bearbeitet und es wird immens gespielt, vor allem mit Wörtern, was ihre semantische aber auch graphische Ebene angeht. Für die Darstellung von seinen grotesken Einfällen benutzt Brussig des Öfteren Zitate, die sich entweder auf die hohe bzw. wissenschaftliche Literatur berufen, oder aber auf das „weite Feld“ der Werbung (also eine Sphäre der Pop-Kunst hoch zwei). So begegnet der Leser den Anspielungen auf Freuds (für seine Zeit äußerst provokative) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, der grotesken Parodie des „Heldenliedes“ vom Kleinen Trompeten, der satirischen Ausbeutung des Spruches von Maxim Gorki (Ein Mensch – wie stolz das klingt), der Bestätigung von Woody Allens „fundamentaler Entdeckung des Penisneides beim Mann“ (H, S. 58) und nicht zuletzt der spielerischen Ausnutzung der Zitate der neueren („Ich war als Onanist so ausdauernd wie das Häschen in der DURACEL-Werbung: Jeder andere Onanist wäre längst fertig, nur ich war noch unermündlich am Trommeln.“ – ebd., S. 195) und auch der schon „historischen“ Reklame („Ich dachte an Henry Ford und seine Vision vom ´Auto für die Massen´, an Steve Jobbs und seine Vision vom ´Computer für die Massen´. Auch ich hatte eine Vision: Perversionen für die Massen!“ – ebd., S. 248). 5. 10. Der sozialistische „Jugendstil“ „Brussig treibt das Zotige bis zum Höhepunkt und manchmal noch weiter.“ (Lehmer, S. 1) Was den erzählenden Helden seines Buches angeht, hat sich Thomas Brussig für einen jungen Mann entschieden, der vorwiegend von seiner Kindheit und Jugend spricht. Dem entsprechend hat der Autor auch die sprachliche Ebene seiner Erzählung gewählt. Wohl auch 105 dank eigener „Altersgenossenschaft“ mit Klaus Uhltzscht gelingt es Brussig einwandfrei, den Monolog eines Teenagers zu stilisieren. Vor allem in den Passagen, die das Sexuelle betreffen, wird der Leser mit der harten „sprachlichen Realität“ konfrontiert. Bei diesen Beschreibungen bedient sich Klaus hauptsächlich folgender sprachlichen Ebenen (um die Methodik von Wolfgang Müller – S. 21 f. – zu benutzen): der drastisch-metaphorischen Sprache (keulen, wichsen, Fotze), der saloppen Umgangssprache (Schwanz, bumsen, Muschi, Pisser, Schwan, Pfeife, Rohr, Muff), der lustvoll-derb-vulgäre Sprache mit anschauungsprallem Vokabular (ficken, vögeln, Pinsel, Ständer, Eier, Möse, Latte, Nudel) und zum Teil auch der sog. Sprache in der Familie (Pimmel, Puller). Die Ausdrücke der (lustfreien) Normalsprache erscheinen proportionell gesehen fast nie. Ziemlich oft kommen jedoch (wohl auch zu der Jugendsprache gehörende) Vulgarismen vor, und zwar vor allem das Substantiv „Scheiße“ in allen denkbaren Formen und Ableitungen. Auch der „anständige“ Leser muss zugeben, dass Brussigs „drastische“ Mittel jedoch wirksam für die Schilderung des „Milieus“ sind und der Glaubwürdigkeit der Figur einen immensen Beitrag leisten. Ganz typisch für Brussig sind (neben seinen unendlichen Bindestrich-Konstruktionen) die „abscheulich-drastischen“ Metaphern, die vor allem bei den Schilderungen des Bereiches der Sexualität benutzt werden. Seine verletzten Genitalien bezeichnet Klaus als einen „Eiersalat“ (H, S. 290) oder als einen „zertretenen Frosch“ (ebd., S. 292); das Sperma seines Genossen ähnelt in seinen Augen einem „toten Tortenguß“ (ebd., S. 73). Auf solchen Stellen bietet es sich die Frage an, was so ein durchschnittlicher Lesermagen zu verkraften vermag… 5. 11. In der Komik liegt die Würze oder Durch Lachen zur Katharsis? „Das Buch ist wirklich ein Brettenknaller, aber es soll Anlaß sein, daß man sich ernsthaft und gründlich unterhält und sich über die DDR-Vergangenheit klar wird.“ Thomas Brussig (hier zitiert nach Felsmann, S. 3) 106 In dem untersuchten Text kommen mehrmals Passagen vor, die auf die „enge Beziehung“ zwischen den Perversionen und dem „realen Sozialismus“ der DDR bzw. der Stasi aufmerksam machen. Wie zum Beispiel die recht treffliche Idee mit Berlin als Mekka der Abnormalität: „So wie Hollywood die Hauptstadt der Unterhaltungsindustrie ist, wird Berlin die Metropole der Perversionsindustrie. Wo, wenn nicht hier, in der Stadt des Todesstreifens, unter dem die U-Bahnen im Fünfminutentakt hindurchfahren, ist die Perversion zu Hause!“ (H, S. 249) Auch die Tatsache, dass Klaus in den „Reihen von Stasi-Angehörigen“ pervers wird und das noch wegen seinem Eifer, die Befehle so gründlich wie möglich durchzuführen, zeigt wohl die Intention des Autors, der eine verhältnismäßig direkte Parallele in dieser Richtung zieht. Und als Klaus dann noch die Perversionen im Westen vermarkten will, hat es Brussigs Vorstellungskraft zum Gipfel geschafft: „Mr. Kitzelstein, ich lege Wert auf die Feststellung, daß ich pervers wurde, um dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen. Mein Forschungsgebiet war heikel; das Verhältnis von Sozialismus und Perversion nirgends geklärt. Wie gefällt Ihnen die dialektische Einheit Sozialismus braucht Perversion, Perversion braucht Sozialismus! Da lacht das Herz, nicht wahr?“ (ebd., S. 247) Wie es mehrmals im Text der Fall ist, zeigt Brussig auch hier, wie wirksam es sein kann eine „sozialistische“ Parole umzudrehen und sie satirisch auszunutzen. Roberto Simanowski charakterisiert diesen für Brussigs Stil sehr typischen Vorgang (der noch deutlicher zum Beispiel bei der Treppenmasturbation zum Vorschein kommt) wie folgt: „Ein soeben geschriebenes Wort, eine Formulierung wird aufgegriffen und so lange gedreht, erneut betrachtet und weitergetragen, bis es seine Oberflächlichkeit erreicht hat und zum Witz taugt … Was ihm wichtig ist, sind abenteuerliche Assoziationen, die Obszönität mit Ideologmen koppeln…“ (Simanowski, S. 4 f.) Als der Generalsekretär der SED Blut braucht, kann es nur Klaus „Perversenblut“ sein und der „bauernschlaue“ Klaus zieht wieder Parallelen: „Ich habe, wie der Kleine Trompeter, meinem Generalsekretär das Leben geopfert – wenn auch nur auf 107 dem Totenschein. Ich konnte zwar nicht mit lustigem Rotgardistenblut aufwarten – ich hatte nur verängstigtes Perversenblut, was aber außer Ihnen und mir keiner weiß.“ (H, S. 273) Die sozialistische Perversion, sozialistisch, weil Klaus Probleme und damit verbundenes Dursten (dank dessen er Jahre später zum „passenden“ Blutspender wird) eigentlich „Produkte“ der (zumindest an der Oberfläche) prüden Gesellschaft sind, zu der auch seine prüde (zumindest an der Oberfläche) Mutter gehört, führt aber zugleich später zum Fall des Sozialismus bzw. der Mauer, denn gerade die lebensgefährliche Spende verursacht dann das enorme Wachstum von Klaus´ Penis. Die Tragikomik, die in folgender Äußerung von Klaus´ Mutter enthalten ist, bezeugt, dass sich Brussig wohl auch um die ernste Seite der DDR-Gesellschaft bzw. ihren Willen, sich mit der Vergangenheit irgendwie abzufinden, kümmert: „´Ich weiß nicht, was das soll´, erwiderte sie kopfschüttelnd. ´Wir haben uns für die Menschen aufgeopfert. Für ganz normale Menschen. Deshalb sind wir Helden … Helden wie wir haben nichts zu bereuen.´ Wie kann man da widersprechen? Bald werden sie sich von ihren Heldentaten erzählen. Und ich? Von welchen Heldentaten soll ich erzählen? … Aber ich habe nie in aller Unschuld mitgemacht, mit ihrer naiven Begeisterung der Aufbaujahre.“ (ebd., S. 299) Eine gewisse Tragik weist auch die Stelle auf, wo Klaus über sein Schicksal, ergo über das typische (freilich überspitzte) Schicksal eines Otto-Normal-Verbrauchers aus der DDR spricht: „Zugegeben, ich bin der Schlimmste und Abscheulichste, ich bin der zurückgekehrte Untote, Honeckers Kleiner Trompeter, der perverse Stasi, der Kindesentführer und, und, und – aber ich bin doch ein Kind aus ihrer Mitte!“ (ebd., S. 282) Aus dem oben Erwähnten lässt sich also erschließen, dass Brussig zwar mit dem Leser und dessen Mut, „das Inkonvetionelle“ zu verkraften, immens spielt, doch es geschieht nicht umsonst. Wenn der Leser zum (postmodernen) „Mitspieler“ wird, wird ihm ein „ernstes“ Bild 108 der tragischen Parallelität zwischen dem perversen Regime und dessen pervers gewordenen Opfern angeboten. 109 6. Die Liebe im postmodernen Zeitalter oder Kann auch die Liebe „politisch“ werden? „Die Standardformen heterosexueller Kopulation, normal oder ,poetisch‘ vermittelt, sind verflucht altmodisch, wenn nicht gar ein bißchen lächerlich, wir fordern Fellatio, Analverkehr und Flagellation, um sicher zu gehen, daß wir Pornographie vor uns haben und keine Liebesgeschichte.“ (Fiedler, S. 29) Auf den ersten Blick scheinen beide in meiner Diplomarbeit untersuchten Werke diesem Motto zu entsprechen. Es gibt Sex, einen „abnormalen“ dazu, und es gibt eine Menge davon. Die Helden beider Romane machen „abnormale“ Sachen, sie provozieren, verletzen gesellschaftliche Tabus und wohl auch die „öffentliche Moral“. Der „belletristisch“ erfahrene Leser möchte fast um Hilfe rufen. Es ist doch Pornographie, was sich da abzieht! Wo bleiben nur der „schöne Schein“ und die kulturellen Traditionen… So etwas gibt es doch nicht! Die gründliche Analyse bringt jedoch überraschende Feststellungen. Die Konfrontation der Texte mit den charakteristischen Merkmalen der Pornographie hat gezeigt, dass es sich im Falle der untersuchten Romane keineswegs um pornographische Werke handelt. Die Anwesenheit der erotischen Motive dient nicht der Erregung der Leser, wie es in der Pornographie die Regel ist. Beide Autoren, Jelinek und Brussig, nutzen die Thematik der Sexualität bzw. Körperlichkeit literarisch aus. Und zwar als stilistische Mittel, als einen Teil der Charakterisierung der Figuren, als eine Weise der Charakterisierung der Umwelt und der (sozialen) Verhältnisse innerhalb der jeweiligen Gesellschaft. Zugleich bezweckt die Offenheit in Sachen Sex (zumindest zum Teil) Provokation, die (wie ich noch später belegen werde) verschiedenen Zielen dienen kann. Die sexuelle Thematik stellt in der Welt der Literatur jedoch nicht Neues. Schon in der Antike (die allerdings nicht so liberal war, wie es oft gedacht wird) kommt das Sexuelle vor 110 und bleibt (sublimiert oder nicht-sublimiert) immer in der Kunst präsent. Ab dem 17. Jahrhundert wird das Geschlechtliche mit kleineren oder größeren Schritten aus der Sphäre der Kunst allmählich verdrängt – „Der Geschlechtstrieb wurde in der bürgerlichen Gesellschaft als animalischer Instinkt angesehen, den zu unterdrücken gilt, um den zivilisierten Menschen als Krone der Schöpfung zu installieren“. (Müller, S. 13 f.) Schon am Ende des 18. Jahrhunderts erscheint der „störende Geist“ namens de Sade, eine richtige Wende stellt jedoch erst das Ende des 19. Jahrhunderts dar, wo die sog. poètes maudits die bürgerliche Moral angreifen und die tabuisierten „Tatsachen“ relativ offen präsentieren. Sie bleiben (im Laufe der Geschichte) nicht allein – Sigmund Freud, Artur Schnitzler, Gustav Klimt, Egon Schiele, die Surrealisten, D. H. Lawrence, Henry Miller oder die Blumenkinder reizen die „anständigen“ Bürger die nächsten hundert Jahre. Die Ziele der erotischen Darstellungen im Laufe der Jahrhunderte sind verschieden: philosophisch (Antike), belehrend (z. B. die frühen mittelalterlichen Fastnachtspiele), amüsant (Barock, Rokoko) oder provozierend (poètes maudits, Schiele, Surrealisten, Blumenkinder). Bei Brussig und Jelinek sind die Funktionen der erotischen Darstellungen komplizierter (was allerdings in der Literaturgeschichte auch nichts Neues ist, denn „komplizierte Botschaften“ wollen – mit größerem oder kleinerem Erfolg – schon de Sade oder Georges Bataille vermittelt haben). Die literarischen Beziehungen in den untersuchten Werken sind aber um so schwerer zu begreifen, als man sich in das weite Feld namens Postmoderne begibt, wo man mit „Überraschungen“ und vor allem mit Anstrengung rechnen muss, denn der Leser wird doch zum Mitautor des Werkes und seine Phantasie und kombinatorischen Fähigkeiten werden dringend benötigt. Wenn man zum Mitspielen keine Kraft hat, dann hat das Spiel auch keine Lösung. An der Oberfläche bleiben nur die „nutzlosen Einzelheiten“, Bausteine, aus denen kein vernünftiges Gebäude zu bauen ist. Der Leser bzw. Kritiker muss also „innovatorische“ Methoden anwenden: „Über solche Bücher 111 mit einem Begriffsapparat zu sprechen, der Dostojewski angemessen ist, … ist widersinnig.“ (Fiedler, S. 29) Wenn man versucht, die Bücher von Jelinek und Brussig mit Hilfe des postmodernen „Schlüssels“ zu dechiffrieren, stellt man fest, dass das postmoderne „Spiel“ auch sehr gravierende politische und soziale Verhältnisse miteinbeziehen kann. Die zwei anscheinend ganz unterschiedlichen Texte weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Gemeinsam ist das anscheinend völlig unterschiedliche Milieu (das sozialistische Ostberlin bei Brussig und das kapitalistische Wien bei Jelinek), das in den Auffassungen von beiden Autoren (vor allem auf den zweiten Blick) sehr ähnlich angesehen wird. Sowohl die sozialistische als auch die kapitalistische Stadt, bzw. die darin herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, werden als totalitär, menschenverachtend und -destruierend entlarvt. Identisch ist auch die Dichotomie Schein – Realität. Die österreichische Hauptstadt Wien wird im Allgemeinen als eine Kunststadt empfunden, wo Höflichkeit und Freundschaftlichkeit das höchste Gebot seien. Trotzdem sieht Jelinek (und mit ihr auch andere Vertreter der sog. Antiheimatliteratur wie z. B. Robert Menasse oder Thomas Bernhard) diese Metropole als vernichtend und ungesund. In mitten von dieser „hohen“ Kultur gibt es Sklaven! Denn mit welchem anderen Wort kann man Erika Kohut bezeichnen? Die Musik, die doch den Geist veredeln sollte, wird Erikas Mutter zu einem ihrer Folterinstrumente, mit deren Hilfe sie das (sexuelle) Leben ihrer Tochter vernichtet und sie jeglicher (Weiblichkeits) Gefühle beraubt. In dem „roten“ Berlin geht es ähnlich zu. Die vorbildliche „sozialistische“ Mutter, die doch vorbildlich „sozialistisch“ handelt, gefährdet gravierend die „normale“ Entwicklung ihres Sohnes, der dann als Opfer des perversen Systems (mit Hilfe seiner perversen Institutionen, wie der Stasi zum Beispiel) als pervers endet. In beiden Werken wird die entscheidende Verantwortung für die Entwicklung der Helden innerhalb der Familien den Müttern, die zugleich teilweise schon von der Gesellschaft her prädestiniert sind, zugewiesen. Sie werden in beiden Werken zu den wesentlichen 112 „Machtinstitutionen“. Beiden Müttern gegenüber empfinden ihre Kinder eine Art übertriebener (jedoch unter Umständen mehr als begründeter) Hassliebe. Beide Mütter verhalten sich ihren Kindern gegenüber autoritär, beide nehmen die Erziehung in eigene Hände, denn die Väter spielen in diesen Familien eine sehr geringe Rolle. Beide Frauen versuchen, ihren Kindern die Sexualität zu untersagen und sie von möglichen Freunden oder Partnern zu isolieren. Die „Andersartigkeit“ beider Figuren wird von ihren Autoren vor allem mittels deren sexuelle „Exzesse“ geschildert. Erika wird (zumindest anscheinend) zu einer Sadomasochistin, die sich selbst verletzt und hofft, durch Voyeurismus erregt zu werden. Nachdem Klaus seine anfängliche „Angstphase“ überwindet, wird er zum Perversen mit allen möglichen (und auch unmöglichen) Typen der Abartigkeit. Weder Erika noch Klaus sind im Stande, einen Partner zu finden bzw. ein Partnerleben zu führen. Die Leben beider Figuren sind fast unglaublich (natürlich gilt es mehr für den „Fall“ Klaus Uhltzscht), anderseits kann man sich irgendwie vorstellen, dass die Lebenssituationen beider Helden enorm kompliziert sind und dass an ihren Geschichten doch „etwas“ sein könnte. Beide Autoren zeigen uns – und beide tun es, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, ohne jegliche Rücksicht auf den Leser – wie die Umgebung (verstanden sowohl als Gesellschaft als auch Familie) den Einzelnen deformieren kann, wie immens das einzelne Leben von der Umwelt abhängig ist. Für beide Helden sind vor allem die Deformationen im Bereich der Sexualität kennzeichnend. Erst durch ihre äußerst problematische sexuelle Entwicklung kommen ihre psychischen „Defekte“ völlig zum Ausdruck. Dass Erika mit ihrer Mutter in einem Ehe(!)bett schläft, ist seltsam, jedoch nicht unvorstellbar. Als sie dann aber einen „inzestuösen Versuch“ begeht, wird der Leser mehr als beunruhigt. Sie hat auch keine Freunde, ja, das ist sehr traurig! Doch als sie anfängt, eigenhändig ihr eigenes Geschlecht zu zerschneiden, wird der Leser empört! Ihr Unglück in der Liebe erweckt ein natürliches Mitleid, doch ihre „Affaire“ mit Klemmer schockiert! 113 Elfriede Jelinek hat es geschafft, den gelangweilten und auf alles gefassten Leser zu überraschen und ihn möglicher Weise in (zumindest) mentale Bewegung zu versetzen. Thomas Brussig arbeitet mit ähnlichen Mustern – für den erfahrenen Leser sind Masturbation, Vergewaltigung oder Perversion nichts Neues. Doch die sexuellen Praktiken von Klaus Uhltzscht sind so „originell und innovatorisch“, dass der Leser entweder das Buch angeekelt weglegt oder staunend weiter liest und von unendlichen Fragen nach dem Sinn der schockierend-übertriebenen Bilder verfolgt wird. Wenn man Brussigs Spiel akzeptiert, muss man zugeben, dass es doch ein Ziel und eine Lösung hat. Die Perversionen werden zu stilistischen Mitteln mit erstaunlicher Aussagungskraft. Beide Autoren schaffen es sehr wohl, sowohl die Motive der Sexualität und Körperlichkeit als auch die „pornographische“ Sprache, literarisch auszunutzen. Jelinek bezweckt dadurch die Zerstörung oder zumindest die In-Frage-Stellung einer Reihe von gesellschaftlichen Mythen (Mutter-Tochter-Beziehung, Liebe, Sexualität). Statt dessen werden Tabus gebrochen und Lügen bloßgestellt. Das alles kommt um so stärker zum Ausdruck, um so provozierendere Mittel (vor allem aus dem Bereich der Sexualität) verwendet werden. Brussig benutzt die sexuelle Thematik (vor allem Klaus´ Perversionen) zur Beschreibung und Charakterisierung eines perversen totalitären Systems. Mit Hilfe einer „Schocktherapie“ schafft er es, uns die Vorgänge eines unmenschlichen Regimes näher zu bringen. Fazit: beide Autoren provozieren. Es geschieht absichtlich, immens und fast unerträglich… Doch es ist nicht umsonst! Und sie zeigen uns, dass sich Leslie Fiedler in seiner (bewusst übertriebenen) Forderung geirrt hat: Fellatio, Analverkehr und Flagellation müssen nicht notwendig Pornographie signalisieren, sie können zu literarischen Mitteln werden und sogar eine „politische“ Botschaft an die postmoderne Welt vermitteln. 114 7. Summary The submitted thesis deals with the functions of sexuality and eroticism in the postmodern literature, concretely examined on the novels Pianist (Die Klavierspielerin, published in the year 1983) by the Austrian writer and dramatist Elfriede Jelinek and Heroes like we are (Helden wie wir, published in the year 1995) by the german author Thomas Brussig. To remember the historical relations accompanying this topic the first part of the thesis is dedicated to the historical review of the tradition of literary/artistic representation of the themes of sexuality and eroticism. It is showed that this topic is present in art (in more or less sublimated form) from its very beginning and this situation lasts (with small interruptions) through all the periods. It is also mentioned that obscenity which could be understood as ”typical modern“ can be found in the art very early – for example in the medieval carnival plays, in the poems of some baroque poets, in the books of de Sade, in the works of so-called poètes maudits, in the surrealist literature, in the books of George Bataille or in the texts which appeared during the ”revolution“ in the year 1968. Very important for the right understanding of a postmodern work is also the knowledge of the characteristics of the this literal epoch. The relevant chapter demonstrates that the aims of the postmodern literature are different to the previous ones (especially to the modern understanding of art; modernism is often seen as a direct opposite of postmodernism). Unlike the past (whole literary tradition in fact) also the ”pop“ genres as western, science fiction or pornography are used in the ”high“ literature of postmodernism. Also the role of the reader is changed – he or she becomes a kind of ”co-author“. His/her knowledge of literature is necessary for the work to obtain the ”right“ (often purely subjective) meaning. The postmodern literature was born in USA in the 1950s and its typical representatives are John 115 Barth, Leonard Cohen, Norman Mailer, Kurt Vonnegut and John Updike. In German speaking countries the most important postmodern authors (except from Elfriede Jelinek and Thomas Brussig) are Botho Strauß, Christoph Ransmayer and Patrick Süskind. The above mentioned novels of Jelinek and Brussig are used to demonstrate concretely how the topics of sexuality and eroticism can be utilized in the postmodern literature. Both the authors work with apparently different milieus, anyway during the analysis it turns out that the predestinations of the characters (caused mainly by their backgrounds) are very similar. Jelinek´s conception of Vienna and its society is almost identical with the socialistic Eastern Berlin seen by the eyes of Brussig. Also the families in the two books are not very different, the only difference can be seen in the intensity of cruelty, which is apparently higher in Jelinek´s book. Anyway both the authors show the readers, how intensively an authoritative system (it doesn´t matter if as family or the whole society – since both work as communicating vessels anyway) can manipulate and above all destroy an individual. In the conception of both authors this destruction is showed in the field of sexuality in its highest intensity. Erika and Klaus, which grew up ”under perverted circumstances“, are not able to enjoy their sexuality in a ”normal“ way. The text examples show practically, how the postmodern authors can use the sexual abnormalities as literary means of expression – for example to characterize a figure or a society. Or as a way to describe a really difficult search for the own entity, and to describe this process in the most effective way… Both the authors use very provocative topics (provocative even nowadays!) to support the effectiveness and impressiveness of their messages. For this reason Jelinek uses sadomasochism, selftorture, voyeurism or incest. Brussig offers a whole spectrum of abnormalities to the reader – necrophilia, zoophilia or mass sodomy. It is also showed, how (completely according to the postmodern programme) elements of ”lower“ genres (above all pornography in these particular examples) can be utilized and 116 why it happens. Related to this is also the use of unconventional levels of language (vulgarisms, nonliterary language). In Jelinek´s book the effects are supported also by her predilection for so-called ”disgusting aesthetics“ or morbidity, Brussig provokes mainly by Klaus´s ”teeny“ language and his obsession by his own penis. As it was already mentioned, both the authors don´t use the topics from the fields of sexuality and eroticism accidentally. They use them on purpose, concretely in two ways: first they are used as elements of narration (telling the reader some details to the story), second these ”provocative facts“ are used to intensify the authors´ messages (e. g. criticism of the society) to the highest possible level. 117 8. Resumé Předkládaná diplomová práce tematizuje funkce tělesnosti a erotiky v literatuře postmoderny, které jsou konkrétně zkoumány na příkladech románů Pianistka (Die Klavierspielerin, poprvé publikováno 1983) rakouské spisovatelky a dramatičky Elfriede Jelinekové a Hrdinové jako my (Helden wie wir, poprvé publikováno 1995) německého autora Thomase Brussiga. Aby nezůstaly stranou dějinné souvislosti provázející tuto tématiku, je první část práce věnována historickému přehledu tradice literárního, popř. uměleckého zobrazení motivů (tělesné) lásky a erotiky. Je poukázáno na fakt, že tato tematika k umění patří již od jeho počátků a že je (s malými přestávkami) ať již v sublimované či nesublimované formě v této oblasti stále přítomná. Zmíněna je i skutečnost, že obscenita, která by možná mohla být vnímána jako „typicky moderní“, se v umění objevuje již mnohem dříve – jako příklad můžeme uvést středověké masopustní hry, některé barokní básníky, texty de Sada, některá díla tzv. prokletých básníků a surrealistů, prózy George Bataille nebo texty, které vznikaly v souvislosti s „revolucí“ v roce 1968. Rozhodující pro správné pochopení postmoderního díla je také znalost charakteristických znaků této literární epochy. V relevantní kapitole je ukázáno, že postmoderna sleduje jiné cíle než literární směry před ní, vyhraňuje se především proti moderně, za jejíž pravý opak bývá postmoderna označována. Na rozdíl od minulosti (vlastně celé literární tradici) se v postmoderní době ve „vysoké“ literatuře používají i žánry „populární“, jako například western, science fiction nebo pornografie. Výrazně se mění i role čtenáře, ze kterého se stává jakýsi „spoluautor“. Jeho literární znalosti jsou nutně potřebné k tomu, aby dílo získalo ten „správný“ (často ovšem zcela subjektivní) význam. 118 Postmoderní literární tradice, která se zrodila v 50. letech 20. století v USA a jejímiž typickými představiteli jsou John Barth, Leonard Cohen, Norman Mailer, Kurt Vonnegut nebo John Updike, existuje v německy mluvících zemích. Jako postmoderní lze označit (vedle Elfriede Jelinekové a Thomase Brussiga) také již některá díla Wolfganga Hildesheimera a zejména Botho Strauße, Christopha Ransmayera nebo Patricka Süskinda. Na příkladech textů Jelinekové a Brussiga je konkrétně doloženo, jak mohou být v postmoderní literatuře využita témata erotiky a tělesnosti. Oba autoři pracují se zdánlivě odlišnými prostředími, která však, jak se v průběhu analýzy ukazuje, mají za následek velmi podobnou predestinaci postav, a to jak Eriky Kohutové u Jelinekové, tak Klause Uhltzsche u Brussiga. Pojetí obou autorů ukazuje, že společenské klima ve Vídni, jak je zobrazeno v Pianistce, vykazuje mnoho podobnosti se socialistickým východním Berlínem viděným očima Thomasse Brussiga. Také rodiny obou hrdinů se v konečném důsledku příliš neliší, snad jen v intenzitě krutosti, která je u Jelinekové poněkud extrémnější. Ovšem oba autoři nám ukazují, jak dalece může být jedinec autoritativním systémem (lhostejno zda v rámci rodiny či společnosti, neboť obě stejně fungují jako spojité nádoby) nejen ovládán, nýbrž především destruován. U obou autorů je tato destrukce nejmarkantnější v oblasti sexuality. Erika a Klaus, kteří vyrostli za „perverzních okolností“, nejsou schopni prožívat svou sexualitu „normálním“ způsobem. Na jednotlivých příkladech z obou textů je doloženo, jak mohou být sexuální úchylky využity postmoderními autory jako literární prostředky, například k charakteristice osob, případně společnosti. Nebo jako možnost impozantní vizualizace hledání cesty k vlastnímu já. Pro podporu drastičnosti případně působivosti výpovědi používají oba autoři vysoce provokativní témata, a sice provokativní i v dnešní postmoderní době. U Jelinekové je to především sadomasochismus popř. sebetrýznění, voyeurizmus nebo incest. Brussig čtenáři zase nabízí celou škálu perverzí – mezi jinými nekrofilii, zoofilii či masovou sodomii. 119 Je také ukázáno, jak mohou být, zcela dle principů postmoderny, do textu vkomponovány prvky „nižších“ žánrů (v tomto případě především pornografie) a s jakým záměrem se tak děje (samozřejmě s přihlédnutím k mnohosti variant subjektivního uchopení textu). S touto skutečností souvisí také využití prostředků z netradičních jazykových rovin (např. vulgarismy, nespisovný jazyk). U Jelinekové je účinek podpořen ještě její zálibou v tzv. „nechutné estetice“ popř. morbiditě, u Brussiga šokuje popř. provokuje především jeho „mládežnický“ styl vyprávění a jeho posedlost penisem. Jak již vyplývá z výše uvedeného, nepoužívají oba autoři motivy a témata z oblasti erotiky a tělesnosti náhodně. Používají je záměrně, a sice dvojím způsobem: za prvé jako stavební prvek vyprávění, který čtenáři prozrazuje mnohé k ději, za druhé slouží tyto „provokativní skutečnosti“ k maximálnímu možnému zesílení autory zprostředkovaného sdělení (popř. společenské kritiky). 120 9. Literaturverzeichnis 9. 1. Siglen • H = Brussig, Thomas (1999): Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch. • KL = Jelinek, Elfriede (1987): Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch. 9. 2. Literatur • Abbott, Elisabeth (2005): Historie celibátu. 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