diplomova prace Stegbauerova

Transcription

diplomova prace Stegbauerova
Univerzita Karlova v Praze
Filozofická fakulta
Ústav germánských studií
Funktionen von Körperlichkeit und Erotik
in der Literatur der Postmoderne:
Elfriede Jelinek, Ignomar Kieseritzky und Thomas Brussig
Functions of sexuality and eroticism in the postmodern literature:
Elfriede Jelinek, Ingomar Kieseritzky and Thomas Brussig
Autor: Šárka Stegbauerová
Vedoucí: Prof. PhDr. Jiří Stromšík, DrSc.
Praha 2008
1
Prohlašuji, že jsem diplomovou práci vypracovala samostatně s využitím uvedených
pramenů a literatury.
……………………………………………
2
Poděkování
Za veškeré odborné konzultace a připomínky při vzniku této práce patří můj upřímný
dík Prof. PhDr. Jiřímu Stromšíkovi, DrSc.
3
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
7
2. Ars Erotica in der Geschichte der Literatur
9
2. 1. Die „freie“ Antike oder Alles ist möglich?
9
2. 2. Das Christentum – Tabus, Tabus, Tabus… oder Ist noch etwas erlaubt?
11
2. 3. Und wie geht es weiter? Die Sexualität und die Literatur, Politik, Medizin und
Soziologie
16
2. 3. 1. Das 17. und 18. Jahrhundert. Am Ende kommt es – de Sade will nicht
schweigen!
16
2. 3. 2. Das 19. Jahrhundert – die Viktorianische Ära oder „Vom Sex wird
geschwiegen“
19
2. 3. 3. Das 20. Jahrhundert – Freud, Surrealismus, die Blumenkinder oder Was für ein
Ende kann das haben?
21
3. Postmoderne
30
3. 1. Die Genealogie des Begriffs
30
3. 2. Die charakteristischen Merkmale der Postmoderne
32
3. 2. 1. Moderne versus Postmoderne oder Der ewige Gegensatz?
32
3. 2. 2. Der Romancier ist tot, es lebe der Romancier? Und was ist mit dem Leser?
34
3. 2. 3. Überquert die Grenze, schließt den Graben!
36
3. 3. Postmoderne auf deutsch?
37
4
4. Die Klavierspielerin – eine Horrorgeschichte aus Wien
40
4. 1. Die gestohlene Weiblichkeit oder Die Mutter ist an allem schuld!
44
4. 2. Voyeurismus als Neurose?
48
4. 3. Selbstverletzungen als ein Weg zum Ich?
50
4. 4. Der „anerzogene“ Sadomasochismus
52
4. 5. Versuch eines Inzests oder Ist Erika eine Mutterschänderin?
56
4. 6. Wie wäre es mit einem „normalen“ Sex? Zum Beispiel in der Besenkammer…
58
4. 7. Und eine Vergewaltigung, gnädige Frau?
60
4. 8. Die Grenzen der „schönen“ Literatur oder Ist das Porno?
62
4. 9. Die „Ekelsprache“ als literarisches Mittel?
65
4. 10. Postmoderne als (Lese)hilfe?
68
4. 11. Und Freud? Was macht der da?
69
4. 12. Konzept: Mythenzerstörung
71
5. Helden wie wir – Perversion und Politik
73
5. 1. Die kindliche Sexualität versus allwissende Mutter
77
5. 2. Ferienlager oder Sexualerziehung der sozialistischen Jugend
85
5. 3. Dreimal und Schluss oder „Normal“ geht es nicht!
87
5. 4. Stasi als Brutanstalt der Perversionen? oder Sexuelle Abartigkeiten als Exportartikel 91
5. 5. Der Riesenpenis stürzt die Mauer oder Kann es ein Volk mit einem „zu kleinen
Pimmel“ gewesen sein?
95
5. 6. Pornographie ist es nicht oder Auch ein Penis kann zum Romanhelden werden!
97
5. 7. Der „Schelm“ Brussig spielt mit dem Leser…
98
5. 8. Ironie, Witz, Ekel, Perversion und Erotik – das passt genau zu der „DDR-Logik“
100
5. 9. Brussigs postmoderne Antwort
104
5
5. 10. Der sozialistische „Jugendstil“
105
5. 11. In der Komik liegt die Würze oder Durch Lachen zur Katharsis?
106
6. Die Liebe im postmodernen Zeitalter
110
7. Summary
115
8. Resumé
118
9. Literaturverzeichnis
121
9. 1. Siglen
121
9. 2. Literatur
121
6
1. Einleitung
Im Zentrum der vorgelegten Diplomarbeit steht die Untersuchung der Funktionen von
Körperlichkeit und Erotik in der Literatur der Postmoderne, genauer in den Romanen Die
Klavierspielerin von Elfriede Jelinek und Helden wie wir von Thomas Brussig. Fokussiert
werden das Vorkommen von Themen wie Mann-Frau-Verhältnis, Körperlichkeit, Sexualität,
Obszönität in den erwähnten Werken und die Möglichkeiten ihrer literarischen Ausnutzung.
Untersucht werden auch die sprachlichen Ebenen der jeweiligen Darstellungen.
Die Arbeit umfasst vier Hauptkapitel. Die ersten zwei befassen sich hauptsächlich mit
der theoretischen Einführung in die untersuchte Problematik. Das erste Kapitel – Ars Erotica
in der Geschichte der Literatur– bringt einen Überblick der Thematisierung der Liebe und
Sexualität im Rahmen von einzelnen historischen (literarischen) Epochen. Das zweite
Hauptkapitel – Postmoderne – ist gedacht als Darstellung der Genealogie, der Bedeutung und
der charakteristischen Merkmale der postmodernen Literatur samt einem kurzen Überblick
der Entwicklung dieser literarischen Strömung in den deutschsprachigen Ländern. Die
nächsten zwei Kapitel bestehen aus der Zusammenfassung und der anschließenden Analyse
der untersuchten Werke. Analysiert werden die Themenkreise, innerhalb derer die erotischen
Motive erscheinen, die Ziele, die die Autoren mit Hilfe dieser Mittel erreichen wollen und
auch die stilistischen Ebenen der literarischen Darstellung (vor allem ob sich die Autoren der
Vulgärsprache, der saloppen Umgangssprache, der Sprache in der Familie oder der neutralen
Sprache bedienen, bzw. welche weitere stilistische Mittel in Verbindung mit den Themen der
Erotik und Körperlichkeit vorkommen). Thematisiert werden auch die Deutung des jeweiligen
Buches unter dem Aspekt der postmodernen Lesart und die Frage, ob es sich bei den Werken
um Pornographie handelt, bzw. wie die „pornographischen“ Muster literarisch ausgenutzt
werden können und ob sie eventuell „höheren Prinzipien“ dienen können. In dem letzten
7
Hauptkapitel, das unter dem Titel Die Liebe im postmodernen Zeitalter erscheint, werden die
beiden Werke bzw. einige ihrer Motive miteinander verglichen, damit eventuelle
Gemeinsamkeiten der beiden literarischen Texte festgestellt werden könnten.
Nach Übereinkunft mit dem Betreuer der Arbeit wurde das Werk Kieseritzkys in der
Endfassung nur am Rande behandelt, bzw. zum Vergleich hereingezogen, weil sich bei
näherer Untersuchung seiner Texte erwiesen hat, dass seine Darstellungen einen anderen
methodologischen Zugang erforderten und somit über die gewählte Untersuchungsmethode
hinausgingen.
8
2. Ars Erotica in der Geschichte der Literatur
2. 1. Die „freie“ Antike oder Alles ist möglich?
In seinem Buch Sexualität und Wahrheit befasst sich der französische Philosoph
Michel Foucault mit der Geschichte der Sexualität. Seine Untersuchung beginnt in der Antike,
wo die Erotik eine wichtige (wobei heute jedoch oft überschätzte) Rolle in der Literatur als
auch in dem gesellschaftlichen Leben spielte. Schon die berühmtesten Philosophen dieser Zeit
– Sokrates (circa 469–399 vor Christus), Platon (427–347 vor Christus) und Aristoteles
(384–322 vor Christus) beschäftigen sich in ihren Werken mit der Sexualität, ihrer
gesellschaftlichen Stellung und den möglichen Tabus, die als moralisch verbindend
verstanden sein sollten (als deren Empfänger sind jedoch ausschließlich die freien Männer zu
verstehen). Nach Foucault war einer der Urheber der ersten sexuellen Tabus Sokrates – er
tabuisiert ganz eindeutig den Verkehr der Väter mit ihren Töchtern (bzw. der Mütter mit ihren
Söhnen). Als eines der charakteristischen Merkmale der antiken Kultur bezeichnet Foucault
(Foucault II, S. 70 f.) die enge Verbindung zwischen der Tisch- und der Sexualkultur, was
verschiedene literarische Beschreibungen der Gastmähler bezeugen. Erotik wird auch zum
Hauptthema der Dichtung Ars amatoria (Die Kunst der Liebe) von Ovid (geb. 43 vor
Christus). Die antiken Schilderungen der Liebesszenen bezeichnet Foucault jedoch als
„zurückhaltend“ (ebd., S. 54), was im Gegensatz zu ihren „öffentlichen Vorführungen“ (ebd.,
S. 54) und den ikonographischen Abbildungen, die sehr „offen“ waren, steht. Als eines der
weiteren Beispiele dieser Tendenz führt Foucault Aristoteles´ Schrift Untersuchung der
Lebewesen an, wo Aristoteles sehr ausführlich die Geschlechtsorgane der „menschlichen
Gattung“ beschreibt, ihr Sexualleben wird jedoch kaum erwähnt. In der Antike entstehen auch
viele Abhandlungen über die Diätetik, wo die Sexualität natürlich auch thematisiert wird, es
9
geschieht aber ganz anders, als es später in der christlichen Kultur der Fall war. Wichtige
Rollen in diesen Werken spielen zum Beispiel die Bestimmung des optimalen Alters oder der
Jahreszeit, wann die Leute Kinder zeugen sollten, die Frage der „richtigen“ Stellung bzw. des
„richtigen“ Verkehrs wird aber offen gelassen (ebd., S. 53 f.). Schon während der Antike
erscheinen zugleich die ersten Rufe nach sexueller Abstinenz, die von bestimmten Denkern
verlangt und „gesund“ gefunden wurde (Foucault III., S. 161). Das Hauptargument der
Befürworter war der hohe Wert des Spermas, das während des Liebesaktes „umsonst“
verloren geht. Als Beispiel wäre der Philosoph und Mathematiker Pythagoras (circa 580–500
vor Christus) zu nennen, der behauptete, dass der Geschlechtsverkehr gesundheitsschädlich
ist, denn man verliert nicht nur sein Sperma, sondern auch alle seine Kräfte. Ähnliche
Ansichten vertraten auch die Stoiker (ab 300 vor Christus), die überzeugt waren, dass die
Sexualität an sich gut ist, aber nicht mit allzu viel Sehnsucht und Trieb verbunden sein darf
und vor allem zum Zwecke der Fortpflanzung verwendet werden soll (Abbott, S. 48 f.). Der
Geschlechtsverkehr wird aber in der antiken Kultur keineswegs als das Böse empfunden, wie
es in der christlichen Kultur der Fall sein wird (Foucault III., S. 163 f.). Zugleich entsteht auch
das Thema der ehelichen Treue, als strenges Verbot gilt sie jedoch nur für Frauen (Foucault
II., S. 26). Die Männer haben auch während der Ehe die Möglichkeit, ganz legal die Dienste
der Prostitution zu benutzen (Abbott, S. 49).
Obwohl zu der antiken Kultur auch sehr enge „Freundschaftsverhältnisse“ zwischen
älteren, erfahrenen und weisen Männern und hübschen Jünglingen gehören, erscheinen zu
dieser Zeit auch negative Reaktionen (die dann die öffentliche Meinung für Jahrhunderte
beherrschen werden) auf die Homosexualität (Foucault II., S. 28). Die Masturbation (die aber
eher zum Privatbereich gehören sollte) wurde positiv gewertet (Foucault III., S. 186). Schon
im 1. Jahrhundert warnt jedoch Aretaios vor ihren Vernichtungskonsequenzen, mit denen der
ganze Organismus des Onanierenden zu rechnen soll (Foucault II., S. 25).
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Interessante Zeugnisse der antiken Einsichten zum Thema Sexualleben befinden sich
in dem Traumbuch, das im 2. Jahrhundert von Artemidoros geschrieben wurde. Besonders
wichtig sind die Tabus, die erwähnt werden – untersagt bleiben nach ihm der Oralverkehr,
Verkehr mit Göttern, Tieren und Leichen, die Masturbation, die lesbische Liebe und die
einzig mögliche Stellung während des Sexualaktes ist die Missionärstellung (Foucault III.,
S. 25 ff.). Aus dem oben Genannten können wir erschließen, dass es bestimmte Tabus schon
in der „liberalen“ Antike gab. Diese Tendenz setzt in der christlichen Kultur fort, wo sie noch
wesentlich intensiviert wird.
2. 2. Das Christentum – Tabus, Tabus, Tabus… oder Ist noch etwas erlaubt?
Der erste christliche Text, der sich mit der ehelichen Sexualität befasst, ist nach
Foucault (Foucault II., S. 23) die Schrift Der Erzieher, die im 2. Jahrhundert von Klemens
von Alexandria verfasst wurde. Hier erscheint schon die Überzeugung, dass Sex als eine
Sünde, die sexuelle Abstinenz bzw. eheliche Monogamie als ein Ideal, und Homosexualität
als etwas Unnatürliches zu verstehen sind.
Das Christentum allgemein verbindet den Geschlechtsverkehr mit dem Bösen, der
Sünde, dem Sturz und dem Tod (ebd., S. 22). Die vorbildliche Figur der christlichen Texte ist
ein tugendhafter im Zölibat lebende Held, der allen Verführungen mit Ehre widersteht und so
die Möglichkeit erhält, die wahre Liebe zu Christus zu erfahren. Hochgeschätzt werden die
ewige Jungfernschaft und damit verbundene geistliche Trauung mit Christus (ebd., S. 303 f.).
Die Verherrlichung der Jungfräulichkeit hängt mit der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau
Maria zusammen, die in der christlichen Religion eine enorm wichtige Rolle spielt (Abbott,
S. 62). Zu erwähnen ist auch die Rolle der Frau, die die Körperlichkeit und dadurch auch das
Böse repräsentiert. Der Mann verkörpert dagegen die Geistigkeit bzw. das Gute (ebd., S. 59).
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Die Strategie, wie den Verführungen zu widerstehen, wird zu einem der beliebtesten Themen
der christlichen Literatur (ebd.).
Eine wichtige Zäsur in der Entwicklung der christlichen Sexualmoral stellt in der
westlichen Kultur das 6. Jahrhundert dar, als in Europa die ersten Klöster entstehen. Der
Zölibat wird hier zu einem Muss. Die Masturbation wird als etwas Unnatürliches und Böses
verworfen, zu dieser Zeit erscheint ihr erstes schriftliches Verbot in der westlichen Literatur
(Foucault III., S. 186), problematisiert werden sogar die Pollutionen der Mönche (Abbott,
S. 115 f.). Mit diesem Thema und der Sexualität überhaupt hat sich im 16. Jahrhundert auch
der ehemalige Mönch Martin Luther befasst. Er kam zu der Schlussfolgerung, dass die
Sexualität (die uns Gott selbst verliehen hat) in Ordnung ist (ebd., S. 116). Einen weiteren
wichtigen Moment der christlichen Tradition stellt nach Foucault das 13. Jahrhundert dar – es
ist der Anfang der Organisation des Beichtesystems (Foucault II., S. 49). Die Beichte
bezeichnet er als das erste wahrheitsgetreue Zeugnis des Sexuallebens der westlichen
Zivilisation (Foucault I., S. 80 f.).
Was die mittelalterliche literarische Tradition betrifft, muss man sich ihrer
Zwiespältigkeit bewusst sein. Auf der einen Seite erscheint in den Anfängen der Dichtung
dieser Zeit, im 11. und 12. Jahrhundert, der Minnenbegriff als „der Grundbestandteil
ritterlicher >hövescheit<“ (Bahr, S. 107), wo der Wunsch nach körperlicher Vereinigung stets
von der Absage begleitet ist, die körperliche Liebe also nur erhofft und erwünscht wird. Das
Verhältnis von Mann und Frau erscheint als Spiegelbild des Feudalverhältnisses, wo der
Mann „seiner Frau zuliebe“ Dienste verspricht bzw. leistet. Unter den häufigsten Motiven
wären die der Entführung und des Liebesversprechens zu nennen. Diese sublimierte Form der
Liebe, die eher als eine veredelte Form des gesellschaftlichen Verkehrs verstanden wurde,
kam vor allem in der Lyrik, dem sog. Minnesang, zum Ausdruck. Eine besonders wichtige
Rolle spielte in dieser Gattung die Metaphorik (die Falkenmetapher repräsentiert zum Beispiel
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eine Art erotischer Spannung), die das Verständnis der Gedichte nur einem engen Kreis der
Leser ermöglichte (ebd., S. 107 ff.). Im späten Mittelalter versuchen sich die Tendenzen zur
bestimmten Lockerung der literarischen Verhältnisse durchzusetzen. Im 13. Jahrhundert
erscheinen die Gedichte von Neidhart von Reuenthal (gest. nach 1237), die erstens durch ihre
Konstituierung im bäuerlichen Milieu von der höfischen Tradition befreit sind, zweitens auch
traditionsfrei gestaltet sind. Das Mitwirken der höfischen Tradition, das in den Liedern stets
anwesend ist, verleiht manchen Gedichten sogar eine parodistische Wirkung. Das
Minnenverhältnis wird umgedreht, indem das Begehren auf die weibliche Person verlegt wird.
Es erscheinen keine Dienstvorstellungen mehr, die Partner nennen sich mit ihren Namen. Die
Liebesszenerie wird in die bäuerliche „Wirklichkeit“ übertragen (ebd., S. 180). Ein weiterer
wichtiger Beitrag zur „Lockerung der Moral“ stellen die Fastnachtspiele dar, die ebenfalls im
Spätmittelalter eine große Popularität gewannen (diese Gattung hat sich ursprünglich aus den
Fastnachtbräuchen entwickelt). „Fastnacht ist die kurzfristige Umkehr dessen, was die
kirchlichen Gebote vorschreiben, um diese dann um so kräftiger wirken zu lassen. Die
Umkehr äußert sich im Fastnachtspiel in der Bevorzugung des Bereiches, den die kirchliche
Morallehre am schärfsten bekämpft: der Sexualität.“ (ebd., S. 282) Der Hauptzweck dieses
Spiels ist nach Bahr die Präsentation des Sexuellen (ebd., S. 282). Die typischen Vertreter
dieses Genres waren Hans Rosenplüt (circa 1400–1470) und Hans Folz (1450–1515). Im 16.
Jahrhundert hat die Tradition der „liberalen“ Fastnachtspiele Hans Sachs (1494–1576)
fortgesetzt, der aber auch eine Reihe von Fastnachtschwänken geschaffen hat, wo die
Schilderung der Vulgaritäten durch moralische Absichten begründet wird. Die Lehre wirkt
hier „umso eindringlicher, je derber das inszenierte Ereignis ist“ (ebd.). Ähnliche
moralisierende Absicht hatte im Mittelalter ursprünglich der Schwank (eine knappe Erzählung
einer besonderen derb komischen Begebenheit), der zu einem der wesentlichsten
Themenkreise der Volksbücher geworden ist. Im Laufe der Zeit verlor diese Gattung
13
allmählich ihre Zweckgebundenheit, das belehrende Exempel trat in den Hintergrund,
thematisiert wurden vor allem die Relativierung der gültigen Bindungen und der herrschenden
Sitten und das Profanieren des (allgemein geachteten) Religiösen. Nach Bahr sind die
dominanten Motive dieser Werke die Bereiche des Stoffwechsels und der Erotik (ebd.,
S. 290 ff.). Neben dem Werk von Hans Sachs erscheinen die Motive des Schwanks im Werk
von Jörg Wickram (circa 1505–1560), bei dem jedoch die moralisierende Tendenz die
Hauptrolle spielt.
In der Zeit der Renaissance und des Barocks setzt sich die Dichotomie des Mittelalters
fort. Die Liebe, Körperlichkeit und Erotik erscheinen sowohl in einer sublimierten als auch in
einer nicht-sublimierten Form. In der Kunst der Renaissance (der Malerei und Bildhauerei vor
allem) erscheint der nackte Körper (unterstützt von neuen Erkenntnissen aus der Anatomie)
als ein Spiegelbild der Herrlichkeit Gottes. Es entstehen die ersten Aktgemälden in der
modernen Kunst. Leidenschaft, Sehnsucht und Körperlichkeit kommen zum Ausdruck
(Frontisi, S. 163 ff.). Man muss jedoch zwischen der „anatomisch begründeten“ Nacktheit
(Michelangelo, Dürer), der „anmutigen, verführenden“ Nacktheit (Botticelli, Tizian,
Tintoretto) und der „didaktischen“ Nacktheit (Cranach, Grien) unterscheiden.
Im Barock wird die Ausdrucksweise noch expressiver, die Anzahl der „erlaubten
Dinge“ vergrößert sich. Die Be- bzw. Verurteilung der menschlichen Leidenschaften wird neu
bewertet (diese liberale Tendenz sehen wir zum Beispiel bei den Vertretern der sog. zweiten
schlesischen Schule). Es erscheinen auch Wertskalen, „die mit dem christlichen Dogma nicht
zu versöhnen sind“ (Bahr, S. 335). Als typisches Beispiel dieser Lockerung in der deutschen
Literatur wäre Christian Hoffmann von Hofmannswaldau (1616–1679) zu nennen, der neben
den zeittypischen geistlichen Gedichten sein „eigentliches Interesse der Darstellung
menschlicher Leidenschaften, speziell der erotischen“ (ebd., S. 373) widmete. Er ersetzt die
christlichen Modelle der Leidenschaftsüberwindung und -entwertung durch eine „kunstvolle
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Darstellung der passio erotica“ (ebd., S. 374). Eberhard Haufe charakterisiert seine erotischen
Sonette als eine „pikante Vergegenwärtigung von Sinnlichkeit vor der düsteren Folie von
Vergänglichkeit, Tod und Ewigkeit“ (Haufe, S. 410). Trotz seines literarischen Muts, wagte
Hofmannswaldau jedoch nicht, seine Gedichte während seines Lebens zu veröffentlichen. Es
geschah erst sechs Jahre nach seinem Tod, dank dem (unternehmerisch sehr erfolgreichen)
Entschluss von Benjamin Neukirch (1665–1729), einem Dichter, der zusammen mit David
Schirmer (1623–1687), ein Nachfolger von Hofmannswaldau, vor allem in Sachen Erotik,
war. In der Barockzeit erscheint in der deutschen literarischen Tradition auch eine ganz neue
Gattung – das satirisch-zeitkritische Epigramm, wo „sich die gegen alle Stände gerichtete
Sittenkritik fast immer auch mit der Lust am Witzig-Obszönen verband“ (ebd., S. 411). In der
barocken Malerei erscheinen auf der einen Seite stark religiös aufgeladene Gemälde,
anderseits kommen auch naturalistische oder erotisierende Tendenzen (Caravaggio,
Rembrandt) zum Ausdruck. Diese anscheinend unversöhnlichen Themenkreise können auch
im Werk eines Künstlers vorkommen, wie es z. B. in den Gemälden von Rubens der Fall war,
deren größer Teil mit starker erotischer Sinnlichkeit geladen ist.
Schon in der Barock- und der nachfolgenden Rokokozeit entstehen die galanten
Romane von Christian Friedrich Hunold (1680–1721), dessen Satyrischer Roman (1706)
wegen seiner Frivolitäten einen Skandal erregte. Die Kunst von Rokoko allgemein brachte
weitere Lockerung der schon während des Barocks zum Teil liberal gewordenen öffentlichen
Moral. Zum Hauptthema der Dichtung dieser Zeit gehörte die Suche nach Glück und damit
verbundener Befriedigung von (auch erotischen) Sehnsüchten. In die Kunst dringen kokette
oder sogar laszive Motive ein. Es erscheinen Künstler wie Boucher, Watteau oder Fragonard,
deren Werke zu dieser Zeit sehr beliebt waren, zugleich aber wegen ihrer moralischen Mängel
und Geschmacklosigkeit oft kritisiert wurden (Frontisi, S. 298 f.).
15
2. 3. Und wie geht es weiter? Die Sexualität und die Literatur, Philosophie, Medizin und
Soziologie.
2. 3. 1. Das 17. und 18. Jahrhundert. Am Ende kommt es – de Sade will nicht schweigen!
Nach Foucault war die Situation am Anfang des 17. Jahrhunderts, was die Sexualität
betrifft, ganz positiv eingestellt – das Sexualleben fand fast in der Öffentlichkeit statt, die
Sprache wagte es, offene Beschreibungen zu schaffen und obwohl es Verbote bzw. verbotene
Handlungen gab, war man ihren Verletzungen gegenüber vorwiegend tolerant (Foucault I.,
S. 9).
Im Laufe des 17. Jahrhunderts kommt es zu einem wichtigen Wendepunkt in der
Rezeption der Sexualität. Zu dem wichtigsten Repräsentanten des Dispositivs der Sexualität
wird die Familie und in ihrem Rahmen die Eltern, das Ehepaar. Nur diese „erwachsene“ und
eheliche Sexualität wird anerkannt. Ihre anderen Formen (Sexualität der Kinder, der
Homosexuellen, die außereheliche Sexualität) wurden, unterstützt von Ärzten und Pädagogen,
verboten (ebd., S. 129). Foucault nennt dieses Ereignis „die Geburt der großen Verbote“
(ebd., S. 135). Die sexuelle Abstinenz ergreift wieder ihre imperativische Rolle, die
körperlichen Bedürfnisse sollten durch Verstand zurückgedrängt werden. Auch die Sprache
wird verschleierend und allgemein „moralisch“ (ebd.).
Das 18. Jahrhundert bringt bestimmte Lockerung mit sich. Die Sexualität wird zum
Gesprächsthema, jedoch nicht in der schönen Literatur, sondern als Objekt der Analyse und
Mathematisierung in den Analysen der Politik bzw. Ökonomie (ebd., S. 30). „Die Sexualität
wird zur Angelegenheit der ´Polizei´.“ (ebd., S. 32) Die bisher verschwiegene Sexualität der
Kinder wird zu einem der Hauptthemen der Pädagogik (ebd., S. 122). Die Entdeckung von
den Gesetzen der Erblichkeit lässt eine Reihe von Werken über Hygiene und Eugenik
16
entstehen. Im Jahre 1758 veröffentlicht der schweizerische Arzt Samuel A. Tissot eine
Abhandlung über Onanie, in der er (schon wieder) für sexuelle Abstinenz plädiert. Sein
Argument ist (schon wieder) der hohe Lebenswert des Spermas (Abbott, S. 216).
Am Ende des 18. Jahrhunderts erscheint ein weiteres Thema, das bis zum Ende des
19. Jahrhunderts in der Medizin, Pädagogik und Literatur besprochen wird – das onanierende
Kind, genauer Schüler einer Internatschule bzw. Sohn reicher Eltern umgeben von
Hauspersonal und Privatlehrern. Als literarische Beispiele wären Der Hofmeister oder die
Vorteile der Privaterziehung (1774) von Lenz zu nennen oder hundert Jahre früher Tartuffe
(1664) von Molière.
Am Ende des 18. Jahrhunderts erscheinen auch die Werke des französischen Adeligen
Donatien Alfonse François de Sade. Diese kontroverse Person mit anscheinend bisexuellen
Tendenzen, die in vielen Skandalen ihrer Zeit die Hauptrolle spielte, wurde mehrmals im
Gefängnis oder im Irrenhaus interniert. Sein literarisches Primat stellte Justine oder Das
Unglück der Tugend (1791) dar, 1795 erschien die Philosophie im Boudoire oder die
lasterhaften Lehrmeister, das Buch Die hundertzwanzig Tage von Sodom oder Die Schule der
Ausschweifung bleibt unvollendet. Dank seiner „revolutionären“ Bücher wurde de Sade im
Laufe der Zeit zum Synonym der böswilligen Sinnlichkeit und genusssüchtigen Grausamkeit.
De Sade lehnt eine von der Gottesordnung gelenkte Welt ab, in seine Welt gehören dagegen
Morde, Diebstähle, Vergewaltigungen, Sodomie, Inzest und Prostitution (Thomas, S. 14).
Foucault bezeichnet den von de Sade beschriebenen Sex als einen Sex ohne jegliche Norm
oder Regeln, der ausschließlich dem Gesetz der Macht unterliegt (Foucault I., S. 172).
Der Surrealist Maurice Heine charakterisiert in seinem Nachwort zur Philosophie im
Boudoir dieses Werk als einen Versuch der Spezifizierung der sexuellen Anomalien, außer
anderen des Sadismus (dessen Name tatsächlich von de Sade abgeleitet wurde; diese
Perversion wurde wissenschaftlich von dem deutschen Psychiatern Krafft-Ebing im
17
19. Jahrhundert beschrieben). Das Buch Die hundertzwanzig Tage von Sodom beschreibt nach
Donald Thomas eine ziemlich häufige literarische Situation, nämlich die Orgien junger
Männer mit schönen Frauen, die gehorsam ihre Befehle erfüllen, in dem Roman Philosophie
im Boudoir sieht er wiederum den ironischen Entwurf einer Republik, wo Morde,
Vergewaltigungen, Inzest oder Sodomie nicht bestraft werden. Ihm zufolge handelt es sich
um eine Beschreibung der moralischen Anarchie, die zu dieser Zeit in Neapel herrschte
(Thomas, S. 182). Nach M. Heine, einem „Fan“ von de Sade, befindet sich in de Sades erstem
Buch kein einziges unanständiges Wort und die „heiklen“ Situationen werden angeblich
immer verschleiert, denn wichtiger als Erotik sei dem Autor die Vermittlung seiner
philosophischen Überzeugungen (Heine, S. 232). Diese Annahme ist aber äußerst naiv. Auch
wenn die Beurteilung der „Unanständigkeit“ der Sprache freilich eine sehr subjektive Sache
ist, sind die Beschreibungen der sexuellen Aktivitäten „ganz objektiv“ sehr offen und roh, was
auch in seinen anderen Werken der Fall ist.
Das Werk von de Sade beeinflusste die Philosophie der sog. poètes maudits („Um die
natürlichen Äußerungen der Menschheit und das Wesen des Bösen zu begreifen, muß man zu
Sades Werk immer wieder zurück kehren.“ Baudelaire – hier zitiert nach Thomas, S. 311) und
viele Dichter, die am Anfang des 20. Jahrhunderts tätig waren. Apollinaire, der sich für die
Veröffentlichung des Werks von de Sade eingesetzt hat, hat ihn als „den freiesten Geist, der je
die Erde betreten hat“ (Thomas, S. 318) bezeichnet. Positiv gewertet wurde de Sade auch von
Marcel Proust und Albert Camus. Nach dem Ersten Weltkrieg war de Sade eine der
Einflusspersonen des Surrealismus, der unter anderem auch die „heiligen“ Symbole der
bürgerlichen Gesellschaft in Frage gestellt hat (ebd., S. 319). De Sade bot den Surrealisten ein
Vorbild, wie man die Fesseln der Familie, Moral und Religion loswerden kann (Nadeau,
S. 20). Die „sexuologischen“ Theorien von de Sade werden von manchen als Vorwegnahme
18
der späteren Theorien von Krafft-Ebing und Sigmund Freud hochgeschätzt (Thomas,
S. 186 f.).
Wie provokativ die Bücher von de Sade noch im 20. Jahrhundert empfunden wurden,
bezeugt die Tatsache, dass der französische Herausgeber Pauvert, als er im Jahre 1953 das
Buch Die hundertzwanzig Tage von Sodom publizieren wollte, wegen der Verletzung der
öffentlichen Moral angeklagt wurde. Der Erotismus von de Sade war kaum vergleichbar mit
der Erotik der kommerziellen Pornographie der 50er Jahre, die Texte wurden für so destruktiv
gehalten, dass sie die Grundsteine der Zivilisation und Gesellschaft zu bedrohen schienen
(ebd., S. 9 f.). Pauvert selbst hat die Obszönität bestätigt, argumentierte jedoch mit der
Publikationsfreiheit, und es gelang ihm später, die Veröffentlichung einer begrenzten Auflage
durchzusetzen. Der Import dieser Bücher nach Großbritannien und in die USA wurde jedoch
verboten. Nach Donald Thomas wird de Sade ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zum
Bestandteil der Massenkultur.
2. 3. 2. Das 19. Jahrhundert – die Viktorianische Ära oder „Vom Sex wird geschwiegen“
Das 19. Jahrhundert könnte nach Foucault als Dämmerung der Sexualität bezeichnet
werden. Die Sexualität und alle ihre Äußerungen werden aus dem öffentlichen Leben und
auch aus der Sprache ausgedrängt. Toleriert werden diese Aktivitäten nur in den
Freudehäusern und Sanatorien (Foucault I., S. 10). Der Rest der Gesellschaft wird
vollkommen puritanisiert (ebd., S. 11). Nach Foucault geschieht es hauptsächlich deswegen,
weil die Sexualität mit der allgemeinen und intensiven Arbeitsaktivität unvereinbar ist (ebd.,
S. 12). Die einzige erlaubte Form der Sexualität ist das „schon bekannte“ zeugende Ehepaar.
Während des 19. Jahrhunderts wird die Scientia Sexualis geboren (im Jahre 1846
öffnete Heinrich Kaan mit seinem Werk Psychopathia Sexualis das medizinisch-
19
-psychiatrische Gebiet der Perversionen), die von jetzt an intensiv die Pädagogen, Ärzte und
vor allem Psychiater beschäftigen wird. Die „christliche“ Beichte wird zu einem Bestandteil
der „Therapie“ (ebd., S. 80 f.).
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erscheint aber zugleich die dekadente
Philosophie der poètes maudits, die unter anderen von den Franzosen Arthur Rimbaud,
Stéphane Mallarmé, Paul Verlaine, Charles Baudelaire und Comte de Lautréamont
repräsentiert wurden. Gemeinsam für ihr Werk waren der Mut, die gesellschaftlichen Tabus
und Konventionen zu verletzen, und der Überdruss an der damaligen bürgerlichen Kultur.
Pessimismus, Mystizismus, Morbidität – so können ihre Gedichte und Prosawerke
charakterisiert werden. Zu ihrem Leben gehörten Alkohol, freier Sex und Exzentrizität. Als
einer ihrer typischen Vertreter wäre der Dichter Lautréamont zu nennen, der im Jahre 1869
seine wohl bekannteste Prosa, Die Gesänge des Maldoror beendigte (die aber erst 1874, vier
Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde; der Grund war der „ungenügende“ Mut der
Herausgeber). Ludvík Kundera charakterisierte dieses Werk als einen „wahnsinnigen
Monolog“ und eine „öffentliche Erklärung von allem Gewaltigen, Vergewaltigenden und
Sinnlichen“ (Kundera, S. 5 f.). Es ist ein typisches Beispiel der Zerstörung von Tabus – der
Leser wird mit rohen Beschreibungen vom Foltern und unglaublichen Obszönitäten
konfrontiert. Ein Teil des Werkes besteht aus der Verherrlichung der Päderastie, deren
„Aktivitäten“ (zum Beispiel Vergewaltigung eines Jungen) der Autor ganz anschaulich und,
wie schon gesagt, obszön beschreibt. Vertreten sind auch Zoophilie, Nekrophilie und Inzest.
Wie de Sade benutzt Lautréamont Gewalt und Grausamkeit als Hauptthemen. Die Sprache
bleibt jedoch unter Umständen „anständig“, wird nicht vulgär.
20
2. 3. 3. Das 20. Jahrhundert – Freud, Surrealismus, die Blumenkinder oder Was für ein
Ende kann das haben?
Um die Jahrhundertwende (genauer seit 1895) erschienen die ersten Werke von dem
österreichischen, vor allem in Wien tätigen, Psychiater Sigmund Freud (1856–1939). Die von
ihm erfundene Methode der Psychoanalyse (und damit verbundene Entdeckung des Gebiets
des Unbewussten) hat geholfen, viele Tabus durchzubrechen und viele Erscheinungen und
Probleme der Sexualität zu benennen. Der erste Skandal, den ein sich um die Sexualität
interessierende Wissenschaftler freilich ausrufen musste, hing mit der Psychoanalyse einer
seiner Patientinnen namens Dora zusammen (veröffentlicht wurde dieser Fall 1905 in dem
Bruchstück einer Hysterie-Analyse). Während der Analyse wurden auch sexuelle Fragen
diskutiert, wobei zwei „moralisch inakzeptable“ Probleme zum Ausdruck kamen: einerseits
hat Freud die Geschlechtsorgane mit ihren wissenschaftlichen Namen benannt (also im
Gegensatz zu den verschleiernden Phrasen der damaligen gesellschaftlichen Norm), zweitens
kannte die Patientin Sachen, die für ihr Alter und für die Epoche skandalös waren. Dieser
Skandal wurde jedoch durch die Veröffentlichung der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
(1. Auflage – 1905) überwunden. Dieses Buch hat den Glauben an die sexuelle „Unschuld“
der Kinder bezweifelt, oder besser gesagt, negiert. Freud behandelt hier die sexuellen Triebe
der kleinen Kinder und bezeichnet sie als Ursprung aller Perversionen der Erwachsenen (dank
der Amnesie, die fast alle Kinder durchmachen, erinnert sich der Erwachsene an seine
Kindheitsgedanken nicht). Freud war natürlich nicht der Begründer der Sexualwissenschaft,
vor ihm erschienen zum Beispiel die Werke von Richard Freiherr Krafft-Ebing oder Henry
Havelock Ellis. Seine Vorgänger berichteten aber lediglich über pathologische Formen der
Sexualität und gaben ihnen die Namen. Sie gingen von der Vorraussetzung eines „normalen
Instinkts“ aus, der der Sexualität zugrunde liegt. Bei Freud gibt es diese Normalität nicht –
21
„Der sexuelle Trieb (…) hat weder ein natürliches Objekt noch einen natürlichen Zweck, und
die normale Sexualität muß sich auf der Grundlage von Partialtrieben konstituieren, von
denen jeder das repräsentiert, was man eine Perversion nennt … Die Partialtriebe gehen
niemals in einer Resultanten, die man ´normal´ nennen kann, völlig auf; es bleibt immer ein
R e s t . Dieser Rest besteht aus einem ´perversen´ Trieb, aber das entscheidet nicht darüber,
was aus dem Rest wird. Es kann ein Zustand der Perversion entstehen oder – genauer –
bestehenbleiben, oder es können sich neurotische Symptome daraus entwickeln oder aber
´Reaktionsbildungen´ (der Ekel, die Scham, die Moral) … Diese Reaktionsbildungen sind die
Grundlage der Sublimierung.“ (Mannoni, S. 88 f.) Dank der Sublimierung (Umformung der
sexuellen Neigungen in andere Aktivitäten) unterstützt dieser perverse Trieb die psychische
Tätigkeit (z. B. künstlerische) und ist auch der Anfang der Charakterformung. Freuds
Zeitgenossen waren von dieser Theorie von Gleichsetzung der Laster mit den Tugenden (die
1915 in Triebe und Triebschicksale noch erweitert erschien) natürlich empört.
Freud war jedoch in seinen Bemühungen, die sexuelle Sphäre zu enttabuisieren oder
wenigstens zu beschreiben, nicht allein. Sexuelle (und skandalöse) Themen finden wir auch
bei dem Wiener Schriftsteller und Dramatiker Arthur Schnitzler (1862–1931). Die
Gleichsetzung der Liebe mit dem Liebesspiel, die typisch für Schnitzlers männliche Figuren
ist, brachte dem Autor den Vorwurf der Amoralität und auch einige Skandale. Den größten
von ihnen verursachte das Drama Reigen (geschrieben 1896–1897, veröffentlicht 1903). Die
öffentliche Moral konnte sich mit der Schilderung von zehn Liebesdialogen (immer vom
Liebesakt begleitet) nicht abfinden und Schnitzler (und das Theater) wurde wegen der
„Verletzung der öffentlichen Moral“ angeklagt (Stromšík, S. 92). Auch in der Malerei dieser
Zeit (um 1900) gab es Häretiker – zum Beispiel die Österreicher Gustav Klimt (1862–1918)
und Egon Schiele (1890–1918). Beide haben durch ihre Auffassung und offene Darstellung
der erotischen Thematik die damalige Gesellschaft provoziert. Schiele wurde wegen seiner
22
Zeichnungen, die als Pornographie bezeichnet wurden, sogar zu drei Tagen Arrest verurteilt.
Die stark erotischen Aktgemälden der beiden Maler wurden mit den damaligen Augen als
vulgär gesehen.
Nach dem Ersten Weltkrieg, genauer 1919, erscheint in Frankreich eine künstlerische
Strömung, die über zwanzig Jahre die Kultur in fast ganz Europa beeinflussen wird, der
Surrealismus. Sein Programm lässt sich folgenderweise zusammenfassen – „Protest gegen alle
Konventionen des bürgerlichen Lebens und ihre ideologischen Rechtfertigungen und
künstlerischen Ausdrucksformen und gegen alle Formen institutionalisierter Unterdrückung
des Menschen“ (Barck, S. 729). Die surrealistischen Künstler (unter anderen sind es André
Breton, Paul Eluard, Salvador Dalí, Luis Aragon) bieten uns eine Ästhetik des Wunderbaren,
die Aufhebung der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit und die Methode der
automatischen Schreibweise an (welche die von Freud „entdeckte“ Schicht des Unbewussten
zum Ausdruck bringt). Zu dem gesellschaftlichen Protest gehört freier Umgang mit den
bisherigen Tabus, auch mit dem wohl am meisten tabuisierten Thema, der Sexualität – „Erotik
und Liebe sind für die Surrealisten elementare und praktische Akte der Befreiung von
sozialen Zwängen, Handlungen der Selbstbefreiung (…) von den internationalisierten Regeln
einer christlich-bürgerlichen Moral.“ (ebd., S. 726) Nach Maurice Nadeau sind sich die
Surrealisten der Wichtigkeit der Triebe und Sehnsüchte und deren Befriedigung im Leben des
Menschen bewusst und behandeln dieses Thema auch oft in ihren Werken (Nadeau, S. 19).
Liebe und Erotik sind wichtige Inspirationsquellen der surrealistischen Künstler. Die
„bürgerliche“ in den Regeln der Ehe verhaftete Liebe wird verneint. Verlangt wird eine freie
Möglichkeit, die erotische Sehnsucht (nach Freud der Hauptinhibitator des menschlichen
Denkens) zu realisieren, was die damalige Gesellschaft dem Einzelnen nicht erlauben wollte.
Kritisiert wurden auch die Praktiken der Kirche, die ihre pervertierte Erotik hinter
23
verschiedensten Symbolen verbergen sollte – fast nackter Christus, sadistisches Foltern der
Märtyrer, masochistische Visionen der Hölle (ebd., S. 99).
Erotische Themen bzw. Sexualität lassen sich in vielen Texten der surrealistischen
Dichter entdecken. Aragon befasst sich in seinem Bauer in Paris mit der Frage der
Prostitution, wobei er sie als eine „Möglichkeit einer solidarischen und mythischen
Kommunion mit der Masse“ (Barck, S. 727) entdeckt. In Irène, dem klassischen Text
surrealistischer Erotik (ebd., S. 726), wagt Aragon einen sehr mutigen Versuch einer
Beschreibung der Liebesszene „mit allem drum und dran“. Der Leser wird zu einem Voyeur,
dessen Vorstellungskraft mit sehr genauen (jedoch nicht allzu vulgären) Beschreibungen
(außer anderem des Oralverkehrs) geweckt wird. André Breton und Paul Eluard listen in
ihrem Aufsatz Die unbefleckte Empfängnis wiederum die 32 möglichen Lagen des
Geschlechtsverkehrs auf. Orgasmus wird zum Thema des Phänomens der Ekstase, das von
Salvador Dalí verfasst wurde. Zum Teil bewahren die surrealistischen Texte aber doch noch
bestimmte gesellschaftliche Tabus – „Die phallokratische Erotik der Surrealisten bleibt bei
aller Revolte gegen bürgerliche und spießige Sexualmoral und ihr christlich bigottes
Gegenbild der ´reinen´ Familie durch die unaufgehobene traditionelle Rollenverteilung der
Geschlechter noch immer in Grenzen dieser Moral gefangen.“ (ebd., S. 727) Nach Barck
kehren die „surrealistischen Motive des Protests und der Provokation“ (ebd., S. 719) in der
Protestbewegung wieder, die im Jahre 1968 angefangen hat.
Eine enge, obwohl beiderseits kritische Beziehung zu der surrealistichen Bewegung
hatte auch der französische Schriftsteller, ein konvertierter Katholik, George Bataille
(1897–1962), der mit dem Text Die Geschichte eines Auges (1928) den Boden der Literatur
betrat. Das Hauptthema seiner Werke (Madame Edwarda – 1941, Die Mutter – 1966, Der
Gestorbene – 1967) ist radikalisierte obszöne Sexualität, die die ganze Skala der vorstellbaren
Perversionen abdeckt. Ganz entscheidend sind für Batailles Werk die Verbindung vom Sex
24
und Tod und der Tod Gottes. Unter seine philosophischen Vorbilder gehören de Sade,
Nietzsche und Freud. In seiner Sehnsucht nach Erkenntnis der Ganzheit des menschlichen
Daseins kommt Bataille zu der Ansicht, dass diese nur durch eine Grenzsituation zu erfahren
ist, also zum Beispiel mit Hilfe eines obszönen, alle Tabus brechenden Sexualerlebnisses.
Dazu gehören Homosexualität, Masturbation, Prostitution, Oralverkehr, Beschreibung der
Entleerung, Koprophilie und das alles geschieht in einer vulgären „pornographischen“
Sprache. Láďa Šerý sieht als Hauptthema von Batailles Texten den Gegensatz zwischen dem
Körperlichen (Animalischen) und dem Geistigen im Menschen. Erotik wird zu einem
Abenteuer des Geistes und des Körpers zugleich, einem Abenteuer, das zum Tod führt. Den
Tod versteht Bataille als „den Höhepunkt unseres erotischen Suchens“ (Šerý, S. 98 ff.).
In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erschienen auch zwei Werke, die in
Großbritannien und den USA zuerst verboten wurden bzw. „aus Zensurgründen gekürzt und
´gereinigt´“ (Kindlers Neues Literatur Lexikon, X, S. 77) werden mussten. Veröffentlicht
werden konnten diese Bücher in den oben genannten Ländern erst in den 60er Jahren des
20. Jahrhunderts. Es handelt sich um den Roman Lady Chatterley´s Lover (erschienen 1928)
von dem Engländer David Herbert Lawrence und Wendekreis des Krebses (erschienen 1934),
den autobiographischen Roman des Amerikaners Henry Miller. Das erste Buch verdiente
seinen Skandalruf dank der Freizügigkeit, mit der die sexuellen Beziehungen des
Zentralpaares geschildert werden. Man warf Lawrence Obszönität und Verherrlichung des
Ehebruchs vor (ebd., S. 78). Henry Miller hat sich in seinem Roman von der „klassischen“,
Tabus respektierenden Literatur, abgewandt. Statt dessen konfrontiert er die Leser mit
schrankenlosen Schilderungen aller Art sexueller Beziehungen. Beide Werke haben jedoch
die Tatsache gemeinsam, dass Sexualität und ihre Schilderungen nicht zum primären und
wichtigsten Thema werden. Bei Lawrence handelt es sich um eine Gesellschaftskritik von
25
England der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, Miller schuf wiederum ein anarchistisches
Loblied auf die Stadt Paris.
Einen weiteren wichtigen Augenblick in der Auffassung der Sexualität bringt die
„Revolution“ mit sich, die im Jahre 1968 gipfelte. Die neu entstandene Situation fasst
Hermann Glaser in seinem Buch Die Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
folgendermaßen zusammen: „Drop out. Do your own thing. Leave society as you may have
known it. Wer ´draußen´ ist, ist drinnen, wer die Gesellschaft verläßt, ihren Ritualen und
Lügen entfließt, ist ´hip´, ´in the known´ – weiß Bescheid: daß es nämlich jenseits der
Repression Hippieland gibt, beautiful and peaceful, ein künstliches Arkadien, das in
anarchistischer Ekstase und enthebendem Rausch explodiert wird. Nacktheit, oft zerfließend
androgyn, wird der Verhüllungsideologie demonstrativ entgegengestellt…“ (Glaser, S. 22 f.)
Angegriffen wurde die „Krawattenkultur“ bzw. das „vermarktete Kulturleben“ insgesamt
(ebd., S. 57). Nach Glaser waren die charakteristischsten Eigenschaften dieser vorwiegend
studentischen Protestbewegung die „sexuelle Schranklosigkeit“ (ebd., S. 22) und die Negation
der „rationellen“ bürgerlichen Gesellschaft. „Die Phantasie an die Macht!“ – das war eine der
damaligen Forderungen (ebd., S. 37). Die Provokation, ihre Ziele und ihre Form
charakterisiert Glaser folgenderweise: „Die Funktion der Provokation sollte es sein, Normen,
Regulationen, Attitüden, Tabus, Stereotype ´besinnungslos´ gewordener etablierter Ordnung
in Denken und Handeln (repressive Strukturen) aufzubrechen, um auf diese Weise den Boden
für die intentionale Aktion vorzubereiten … Der Schock, unterstützt von ´unordentlicher´
Kleidung, skandierendem Sprechchor, obszönem und fäkalischem Jargon (mit ´Scheiße´ als
Entreebillet in den linken Underground) brach verhältnismäßig rasch Systemzwänge und
Mechanismen auf.“ (Glaser, S. 39) Die Funktion der vulgären Sprache war nach Glaser
die Bemühung, „sich dem Glamourglanz der Warenästhetik und dem ´hygienischen
Leistungsdruck´ zu entziehen“. (ebd., S. 42) Auch die Sphäre der „bürgerlichen“ Literatur
26
wird bezweifelt: „Protestiert wird gegen die traditionellen Formen der Literatur, des
Literaturkonsums sowie der Literaturkritik; der ´harmlose´ und zweckfreie Umgang mit der
sogenannten schönen Literatur wird entlarvt als ein Versuch, von der Wirklichkeit (den
gesellschaftlichen und politischen Problemen) mit Hilfe von ´Interpretationsideologien´
abzulenken.“ (ebd., S. 70)
In Deutschland wurde zu einem der Symbole der sexuellen Enthemmung die
Kommune 1 (K1), die Ende 1966 in einer alsbald demolierten Berliner Dachwohnung des
nach USA gereisten Schriftstellers Uwe Johnson entstanden war. Ihre Mitglieder waren Fritz
Teufel, Dieter Kunzelmann und Rainer Langhans. Hermann Glaser beschreibt diese „WG“
wie folgt: „Fritz Teufel und seine Kommunarden … praktizierten eine Lebensweise, die von
der im Sekundärtugendsystem eingeschliffenen Gesellschaft (ausgerichtet auf Ordnung und
Sauberkeit, Anpassung und Jasagertum) verabscheut, zugleich aber, tiefenpsychologisch
gesehen, als Befreiung ersehnt wurde. Spott auf die Justiz (…), Pornographie, Unsauberkeit,
vor allem aber Gruppensex.“ (ebd., S. 42) Dieser „Wunsch nach Befreiung“ akzentuierte in
der BRD die Zeitschrift konkret, die „einen Teil ihres Geschäfts damit [machte], daß sie die
Kombination von Politik und Sexualität, Sozialkritik und Pornographie reichhaltig narrativ
aufarbeitete und farbig bildete. Im Stil eines alternativen Herrenmagazins befriedigte sie auf
diese Weise sowohl die bourgeoisen Voyeurinteressen wie das linksromantische
Prostitutionsbedürfnis.“ (ebd., S. 42)
Neben
der
Entstehung
der
Grünen,
der
Frauenbewegung
und
mancher
Bürgerinitiativen brachte die Protestbewegung, die Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts
ihr Ende nahm, eine bestimmte Lockerung in der Sache Sexualität mit sich: „Die
Liebesbeziehungen und die Formen ihrer sexuellen Befriedigungen seien selbstverständlicher
und vielfältiger geworden; bei vielen Jugendlichen könne man eine Entgrenzung ihrer
Sinnlichkeit wahrnehmen; die traditionellen Tabuschwellen verlören ihren Schrecken … Die
27
Jugendlichen gewinnen ein aufmerksameres und freundlicheres Verhältnis zu ihrem Körper
und seinen Ausdrucksmöglichkeiten. Die Körper bewegen sich freier und stehen nicht mehr
unter dauerndem genitalem Überdruck. Narzißtische Bedürfnisse werden offener zugelassen
und lustvoll ausgelebt. Selbstbefriedigung wird angstfrei genossen und kann eher mit
sexuellen Partnerbeziehungen verbunden werden … Die heterosexuelle Normierung verliert
an Härte … Kurz: die jugendliche Sexualität gewinnt an polymorphen Ausdrucksformen.“
(ebd., S. 114)
Einer der Hauptphilosophen dieser revolutionären Zeit war der Soziologe Herbert
Marcuse, der, unterstützt von seiner Interpretation des Werkes von Sigmund Freud, in seinem
Werk Triebstruktur und Gesellschaft (im Original Eros and Civilisation) die Aufhebung der
Unterjochung der menschlichen Triebe fordert, die die Kultur und Zivilisation mit sich
bringen. „Die freie Befriedigung der Triebansprüche des Menschen ist unvereinbar mit einer
zivilisierten Gesellschaft: Triebverzicht und Aufschub der Befriedigung sind die
Voraussetzungen des Fortschritts.“ (Marcuse, S. 11) Die Kultur in ihrer „alten“ Auffassung
sollte abgeschafft und durch ihre „neuen Formen“ (ebd., S. 12) ersetzt werden. Die
Umformung des Lustprinzips in das Realitätsprinzip, wie es unsere Gesellschaft von uns
verlangt, muss aufgehoben werden – „Der Mensch gelangt zu der traumatischen Einsicht, daß
die volle und schmerzlose Befriedigung seiner Bedürfnisse unmöglich ist. Nach dieser
Erfahrung der Enttäuschung tritt ein neues Prinzip der seelischen Funktionen in Erscheinung.
Das Realitätsprinzip verdrängt das Lustprinzip: der Mensch lernt, augenblickliche, ungewisse
und zerstörerische Lust zu Gunsten einer späteren, beschränkten, aber ´gesicherten´
Lusterfüllung aufzugeben.“ (ebd., S. 20 f.) Diesen Augenblick betrachtet Marcuse als das
größte traumatische Ereignis in der menschlichen Entwicklung, sowohl aus der Sicht der
Phylogenese als auch der Ontogenese (hier wird die negierende Kraft der Kultur durch Eltern
und Erziehungspersonen ersetzt). Als einen der Gründe der Modifikation der Triebstruktur der
28
heutigen Gesellschaft sieht er den ökonomischen Aspekt – Sex soll von Arbeit ersetzt werden.
Die Arbeit bringt (so Marcuses Interpretation des Werkes von Freud) dem Menschen keine
Befriedigung, macht ihn dagegen immer unglücklich, ist mühevoll, unlustvoll, schmerzlich
(ebd., S. 74). Deswegen verdankt die Kultur ihre Entstehung nur dem Sexualtrieb, durch
dessen Sublimierung die kulturelle bzw. gesellschaftliche Arbeit möglich sei. Als weiteres
„Unterdrückungsinstrument“ der Triebe bezeichnet Marcuse die Vernunft (ebd., S. 139).
Nach Freud (laut Marcuse) existiert aber auch eine andere Wahrheit als die
vernunftvolle. Die Phantasie (Vorstellungskraft) kann dem Menschen die Erfahrung der
wahren Erfüllung leisten, seiner gewaltlosen Vereinung mit der Natur, wie man es zum
Beispiel in den surrealistischen Werken erleben kann (ebd., S. 139 ff.). Um eine Kultur ohne
Unterdrückung und Verdrängung zu entwickeln, ist es nach Marcuse nötig, die Beziehung
zwischen Trieben und Vernunft neu zu gestalten, „ein neues Realitätsprinzip“ (ebd., S. 170)
zu schaffen. Damit hängt auch die Neubewertung des wichtigsten Triebes – der Sexualität –
zusammen.
29
3. Die Postmoderne
3. 1. Die Genealogie des Begriffs
In seinem Aufsatz Postmoderne. Genealogie und Bedeutung eines umstrittenen
Begriffs untersucht Wolfgang Welsch die Geschichte dieser ursprünglich literaturwissenschaftlichen Bezeichnung, die sich im Laufe der Jahre auch in Bereichen wie
Architektur, Malerei, Soziologie und Philosophie etabliert hat. Die Ergebnisse seiner
Forschungen lassen sich folgenderweise zusammenfassen.
Zum ersten Mal erscheint der Ausdruck Postmoderne in der Literaturgeschichte im
Jahre 1917 in dem Buch Die Krisis der europäischen Kultur von dem deutschen Schriftsteller
und Philosophen Rudolf Pannwitz. Postmoderne ist für ihn der „bevorstehende Höhenkamm
nach dem Wellental der Moderne“ (Welsch 1991, S. 12). Bei seiner Beschreibung des
postmodernen Menschen handelt es sich nach Welsch jedoch um eine an Kitsch grenzende
(allerdings gut gemeinte) Paraphrase des Werks Nietzsches (v. a. seiner Theorie des
Übermenschen). Im Jahre 1934 benutzt den Begriff Postmoderne der spanische
Literaturwissenschaftler Federico de Oniz als Bezeichnung für eine kurze literarische Periode
der spanischen und ibero-amerikanischen Dichtung (1905–1914), die auf den Modernismo
folgte. Im englischen Sprachraum erscheint das Wort Postmoderne zum ersten Mal im Jahre
1947 in der D. C. Sommerwells Kurzfassung der Enzyklopädie von Arnold Toynbee A study
of history. Als „post-modern“ wird hier die gegenwärtige Phase der abendländischen Kultur
bezeichnet, die 1875 angefangen hat und durch den Umkehr der Politik von der national-staatlichen Denkweise zu einer globalen Interaktion charakterisiert werden kann. Wie man
sieht, erschien dieser Begriff in der Geschichte sehr disparat, ohne jeglichen kausalen oder
begrifflichen Zusammenhang.
30
Eine wichtige Zäsur kam im Jahre 1959, als in den USA die Diskussion über die
literarische Postmoderne in dem heutigen Sinn des Wortes beginnt. Die Hauptfigur dieses
Ereignisses ist Irwing Howe: „Howe konstatiert (…), daß die Literatur der Gegenwart im
Unterschied zur großen Literatur der Moderne – der Literatur der Yeats, Eliot, Pound und
Joyce – durch Erschlaffung, durch ein Nachlassen der innovatorischen Potenz und
Durchschlagskraft gekennzeichnet sei. In diesem Sinn wird sie als ´post-modern´ bezeichnet.“
(ebd., S. 13) Howe bezeichnet also Postmoderne als etwas Negatives, nach Welsch handelt es
sich um eine „Diagnose eines tristen Wellentals nach den fulminanten Gischtkämmen der
Moderne“. (ebd.) Laut Welsch handelte es sich dabei keineswegs um eine Anklage, vielmehr
um Konstatierung des Faktes, dass die Sturmphase der Moderne ganz natürlich von einer
„ruhigeren“ Zeitperiode gefolgt wird. Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts kam es jedoch
zu einer positiven Neubewertung der postmodernen Literatur. Es treten die amerikanischen
Literaturkritiker Leslie Fiedler und Susan Sontag auf, die durch das Aufgeben der
ausschließlichen Orientierung am Maßstab der klassischen Moderne die kulturpessimistischen
Töne loswerden und so die Freiheit gewinnen, die eigenen Qualitäten dieser neuen Literatur
wahrzunehmen.
Was die eigentlichen Werke betrifft, erscheinen laut Welsch die ersten postmodernen
Texte in den USA der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Unter die typischen Vertreter zählt er
zum Beispiel John Barth, Leonard Cohen und Norman Mailer. Nach Europa dringt dieses
Phänomen erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein, zu dieser Zeit soll nach Welsch
die Postmoderne in den USA schon längst „out“ sein.
Hanns-Josef Ortheil dagegen gibt in seinem Aufsatz Was ist postmoderne Literatur?
als den Anfang der literarischen Postmoderne die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts in den USA
an (unter den typischen Vertretern wären die Schriftsteller wie Saul Bellow, Kurt Vonnegut,
Norman Mailer, John Hawkes, John Updike und John Barth zu nennen). Unter weiteren
31
Ländern, wo sich diese literarische Strömung durchgesetzt hat, nennt er Italien (Umberto Eco
und Italo Calvino) und das Gebiet Südamerikas (Manuel Puig, Alejo Carpentier, Carlos
Fuentes, José Lezama Lima, Gabriel García Márquez).
Ein wichtiges „Wirkungsgebiet“ des Postmoderne-Begriffs ist die Architektur, wo
diese Bezeichnung auch zuerst negativ verwendet wurde. Erst mit der Person des
amerikanischen (später nach London übersiedelten) Architekten und Kritikers Charles Jencks
hat diese Bezeichnung einen positiven Inhalt gewonnen. Im Jahre 1975 hat er den Termin
Postmoderne aus der Literatur in die Architektur übertragen. Als theoretische Basis
verwendete er die Thesen des Literaturkritikers Leslie Fiedler, dessen literarischen Theorien
er in der Architektur angewandt hat. (Welsch 1994, S. 28 f.)
3. 2. Die charakteristischen Merkmale der Postmoderne
3. 2. 1. Moderne versus Postmoderne oder Der ewige Gegensatz?
In seinem berühmten (obwohl zum Teil bestimmt absichtlich zugespitzten) Vortrag
Überquert die Grenze, schließt den Graben!, den er im Jahre 1968 an der Freiburger
Universität hielt, macht Leslie Fiedler mehrmals auf die Tatsache aufmerksam, dass die
Moderne (von ihm als der Zeitabschnitt von den Anfängen der beiden Weltkriege bestimmt)
und ihre Auffassung von Literatur tot sind. Das Zeitalter von Proust, Joyce, Mann und Eliot
ist laut ihm definitiv zu Ende. „Die Spezies Literatur, die die Bezeichnung ´modern´ für sich
beansprucht hat (mit der Anmaßung, sie repräsentiere äußerste Fortgeschrittenheit in
Sensibilität und Form, und über sie hinaus sei ´Neuheit´ nicht mehr möglich) …, ist tot, das
heißt, sie gehört der Geschichte an, nicht der Wirklichkeit.“ (Fiedler, S. 14) Die Literatur
muss laut ihm von jetzt an keine „höhere Wahrheit“ mitteilen oder sich wenigstens darum
32
bemühen, wie es in der Moderne der Fall war. Nach Fiedler handelt es sich in der Literatur
der Gegenwart um „…die Romantik des postelektronischen Zeitalters, die weiß, daß es keinen
Sinn mehr hat, einen jungfräulichen, unkorrumpierten Westen am Horizont zu suchen, weil es
so etwas nicht mehr gibt…“ (ebd., S. 37)
Der „Paradephilosoph der Postmoderne“ (Welsch 1991, S. 10), der Franzose Jean-Françoise Lyotard, charakterisierte den Gegensatz Moderne versus Postmoderne wie folgt:
„Die Postmoderne, das wäre somit eine Moderne ohne Trauer, … ohne die Sehnsucht nach
dem Ganzen und Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit … kurz, eine den
Verlust des Sinns der Werte, der Realität in fröhlichem Wagnis auf sich nehmende Moderne.“
(hier zitiert nach Baumgart, S. 145)
Diese These vertritt auch Wolfgang Welsch, der sich in seinem schon erwähnten
Artikel Postmoderne. Genealogie und Bedeutung eines umstrittenen Begriffs zu diesem
Thema folgenderweise äußert: „Während die Literatur der klassischen Moderne sehr fein
gesponnen, aber auch elitär war und mit ihren Glasperlenspielen nur eine intellektuelle
Oberschicht erreichte, bricht die neue Literatur aus diesem Elfenbeinturm aus.“ (Welsch
1991, S. 14)
In einer „geographisch breiteren“ Sicht sieht die Problematik der amerikanische
Literaturkritiker Craig Owens, der in seinem Diskurs der Anderen – Feministinnen und
Postmoderne die Postmoderne als „Krise der kulturellen Autorität … besonders der Autorität,
mit der die west-europäische Kultur und ihre Institutionen ausgestattet sind“ bezeichnet.
(Owens, S. 172) Die von der Moderne verlangte Autorität des Kunstwerks erscheint ab jetzt
nicht mehr, nach dem von Owens zitierten Frederic Jameson hat die Literatur sogar ihre
gesellschaftliche Funktion verloren.
Hanns-Josef Ortheil sieht das Moderne-Postmoderne-Verhältnis aus einer anderen
Perspektive, die er eher auf eine ganz neue Rolle des Lesers in der Literatur richtet (auf dieses
33
Thema werde ich in dem folgenden Kapitel näher eingehen): „Die postmoderne Literatur ist
die Literatur des kybernetischen Zeitalters. Sie verabschiedet nicht die ästhetischen Projekte
der Moderne, sondern verfügt über diese als Modelle, die in Spiele höherer Ordnungen
überführt werden können.“ (Ortheil 1994, Was ist postmoderne Literatur, S. 126) Die Realität
muss auf einer ganz neuen Art und Weise erfasst werden: „Die postmoderne Antwort auf
Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nicht
zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge
gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld. (Zitat – Eco) Ironie, Maskerade hoch zwei,
metasprachliches Spiel…“ (ebd., S. 131) Eine ähnliche Einstellung findet sich auch bei
Fiedler, der für „Parodie oder Übertreibung oder groteske Imitation klassischer Vorbilder“
(Fiedler, S. 31) plädiert.
3. 2. 2. Der Romancier ist tot, es lebe der Romancier? Und was ist mit dem Leser?
Mit der Funktion und Form der Literatur hat sich auch die Funktion und Form der
Gattung Roman gravierend geändert (und dadurch auch die Rolle des Lesers). Leslie Fiedler
hat die neue Situation folgenderweise charakterisiert: „Kein Romancier kann sich erneueren,
der nicht einsieht, daß sofern er Romacier im traditionellen Sinn bleibt, er tot ist … Das
Selbstbewußtsein des Romans muß – gleich dem der Vorlesung und des christlichen
Gottesdienstes – das Bewußtsein seiner eigenen Absurdität, ja Unmöglichkeit, einschließen.“
(Fiedler, S. 18 f.) Der neue Roman soll „anti-künstlerisch“ und „anti-seriös“ sein und seine
exakte Funktion wäre die Überbrückung der Kluft zwischen Elite- und Massenkultur. Die
postmodernen Romane sollen der Kunst, der Innerlichkeit, der Analyse und dem Anspruch
möglichst entfernt sein, immun gegen Lyrizismus und platten sozialen Kommentar, dagegen
sollten sie sich der Genres der Pop-Kultur bedienen. Nach Hanns-Josef Ortheil ist der
34
postmoderne Roman künstlich, er folgt den Regeln des „romanhaften Spiels“. (Ortheil 1994,
Was ist postmoderne Literatur?, S. 131) Der (erfahrene) Leser kennt allerdings diese Regeln
und weiß, dass er nicht belogen werden kann, weil es einen plausiblen Spielplan gibt. Die
Zahl der möglichen Lesarten ist unendlich. Diese Tatsache erklärt Ortheil mit Hilfe der
Theorie des italienischen Schriftstellers Italo Calvino. Danach besteht der Roman aus drei
Territorien – aus dem Komischen, dem Erotischen und dem Phantastischen. Dazu sagt
Ortheil: „Gerade diese Darstellungsformen erlauben Auswege ´aus der Begrenztheit und
Eindeutigkeit jeder Darstellung und jedes Urteils´.“(ebd., S. 130) So wird der Leser „zum
intellektuellen Komplizen des Autors“. (ebd., S. 126). Er führt weiter hinzu: „Die
postmoderne Literatur setzt den universellen Leser voraus; sie sieht ihn in die Intrigen einer
totalen Zeichensprache, auf deren labyrinthische Zumutung er selbst die Antwort geben muß.
Statt ihn mit Theorien und Weltaufklärungen zu befriedigen, erzählt sie ununterbrochen
Spielvorschläge, die variiert, aber auch erweitert werden können.“ (ebd., S. 126) Am Beispiel
des Romans von Julio Cortázar Rayuela – Himmel und Hölle zeigt Ortheil, dass die Rolle des
Lesers entscheidend für die finale Bedeutung des Werks sein kann: „Auf Grund eines
komplizierten Systems von Anweisungen erhält der Leser nicht nur eine, sondern mehrere
Möglichkeiten (letztlich unendlich viele) den Roman zu lesen.“ (ebd., S. 129) Damit wird
aber die Rolle des Lesers wesentlich anspruchsvoller, verlangt ein bestimmtes kultur-literarisches Vorwissen. Die Lesart von gestern ist bei den heutigen Romanen nicht mehr
möglich, die entscheidende Arbeit wird dem Leser zugemutet.
Das Spiel zwischen dem Autor und dem Leser charakterisiert Umberto Eco
folgenderweise: „Sie (die postmoderne Haltung, Anmerkung der Autorin) erscheint mir wie
die eines alten Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr
nicht sagen kann: ´Ich liebe dich inniglich´, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß
er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir von Liala geschrieben worden sind. Es gibt
35
jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: ´Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich
inniglich.´…Wenn sie das Spiel mitmacht, hat sie in gleicher Weise eine Liebeserklärung
angenommen.“ (Eco, hier zitiert nach Ortheil 1994, Was ist postmoderne Literatur?, S. 131)
3. 2. 3. Überquert die Grenze, schließt den Graben!
So hieß der schon erwähnte berühmte Vortrag, der Leslie Fiedler im Jahre 1968 in
Deutschland hielt. Mit diesen Worten fasst er zugleich eines der charakteristischen Merkmale
der Postmoderne (zu der Zeit eine seiner Forderungen an die neue Literatur) zusammen. Wie
ich schon gesagt habe, ist nach Fiedler die Funktion des heutigen Romans die Überbrückung
der Kluft zwischen Elite- und Massenkultur, der Unterschied zwischen der hohen und der
niedrigen Kunst soll abgeschafft werden. Dazu sollen die Autoren die Gattungen des
„Marktplatzes“ (Fiedler, S. 31) wie Western, Science-Fiction und Pornographie aufgreifen
und literarisch ausnutzen. Diese Symbiose führt dann zu weiteren Bereicherungen der
„hohen“ Literatur – „…die Kluft zu schließen bedeutet auch, die Grenze zwischen dem
Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen zu überschreiten, zwischen dem Wirklichen und
dem Mystischen, zwischen der bürgerlichen Welt mit Boudoir und Buchhaltung und dem
Königreich dessen, was man lange als Märchen zu bezeichnen pflegte…“ (ebd., S. 34)
Hanns-Josef Ortheil sieht die Situation in ähnlicher Optik. Die moderne und
avantgardistische Kunst war laut ihm weit entfernt von jedem Publikumgeschmack, hat das
„Kunstwerk für Experten“ (Pound, hier zitiert nach Ortheil 1994, Was ist postmoderne
Literatur?, S. 127) produziert. Die postmoderne Literatur dagegen hat die Kunst (den Roman)
für unterschiedlichste Anspielungsbereiche geöffnet (den historischen Roman, Sci-fi,
Western, Pornographie, existentielle Analyse). Die Tatsache führt laut Ortheil (gleich wie laut
Fiedler) zu der Möglichkeit, das Faktische und Fiktionale beliebig zu verwirren.
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Wolfgang Welsch hat sich zu diesem Thema auch geäußert: „Der postmodernen
Literatur gelingen solche gesellschaftlichen und institutionellen Grenzüberschreitungen,
indem sie in sich unterschiedlichste Motive und Erzählhaltungen verbindet und nicht mehr
bloß intellektuell und elitär, sondern zugleich romantisch, sentimental und populär ist … Sie
schafft eine Verbindung von Wirklichkeit und Fiktion ebenso wie von elitärem und
populärem Geschmack.“ (Welsch 1991, S. 15)
Mit der „Erweiterung“ der hohen Literatur um neue Bereiche hängt auch ein weiteres
charakteristisches Merkmal der Postmoderne zusammen. Es ist die Mehrsprachigkeit. Nach
Wolfgang Welsch lautete das Ergebnis der postmodernen Literaturdebatte (die nach seiner
Überzeugung 1969 beendigt wurde) folgenderweise: „Postmodernes liegt dort vor, wo ein
grundsätzlicher Pluralismus von Sprachen, Modellen, Verfahrensweisen praktiziert wird, und
zwar nicht bloß in verschiedenen Werken nebeneinander, sondern in ein und demselben
Werk.“ (Welsch 1991, S. 15) Craig Owens führt noch einen Pluralismus der Kulturen hinzu –
„Einig sind sich Fürsprecher und Gegner darin, die Postmoderne als Krise der kulturellen
Autorität zu verstehen, besonders der Autorität, mit der die westeuropäische Kultur und ihre
Institutionen ausgestattet sind. Die Erkenntnis, daß es mit der Hegemonie der europäischen
Zivilisation zu Ende geht, ist kaum neu; spätestens seit Mitte der 50er Jahre haben wir die
Notwendigkeit erkannt, fremden Kulturen anders entgegenzutreten als durch den Schock von
Dominanz und Unterwerfung.“ (Owens, S. 1)
3. 3. Postmoderne auf deutsch?
Hanns-Josef Ortheil beschäftigt sich in seinem Artikel Postmoderne in der deutschen
Literatur auch mit den postmodernen Werken der Literatur der deutschsprachigen Länder.
Am Anfang macht er die Leser auf die wichtige Tatsache aufmerksam, dass die Entwicklung
37
der deutschen Literatur anders war, als in anderen europäischen Ländern. Leslie Fiedler hat in
seinem schon mehrmals erwähnten Vortrag aus dem Jahre 1968 eine postmoderne Literatur
propagiert, die als Antwort auf die Literatur der Moderne gedacht war. In Deutschland sind
die modernen und avantgardistischen Strömungen jedoch von dem nazistischen Regime schon
ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts unterdrückt worden, und die Autoren hatten erst nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Chance, Anschluss an die internationalen Bewegungen
des Modernismus zu finden. Sie haben erst jetzt die Möglichkeit bekommen, das Programm
dieser literarischen Bewegung zu studieren. Vielen von ihnen war jedoch schon damals klar,
dass sie diese Strömung nicht erneueren, sondern höchstens darauf eine neue Literatur
aufbauen können.
Das zentrale Thema der deutschen Literatur nach 1945 waren die literarische
Aufarbeitung des Faschismus, die Dekuvrierung des Versagens der Deutschen in den Zeiten
der Diktatur und die Darstellung psychischer Katastrophen und des Endes der tröstenden
Welt- und Heilsbilder. Es wurden neue Weltentwürfe konstruiert. „Die Aneignung von
Themen und Methoden der sogenannten ´klassischen Moderne´ sollten auch der deutschen
Literatur neue Wege zeigen.“ (Ortheil 1991, S. 38). Das bevorzugte Konzept des Erzählens
war nach Ortheil jedoch das traditionell-neorealistische.
Am Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts entsteht eine Literatur junger Autoren,
die ihren gesellschaftlichen Protest mittels Literatur auszudrücken versuchten. Nach einigen
Protestjahren kehren jedoch viele dieser Autoren zu eng an das Subjekt geknüpften
Erzählmethoden zurück (z. B. die Texte der sog. neuen Subjektivität).
Man sieht also, dass die deutsche Literatur in ihrem Wesen und ihren Formen lange
ziemlich konservativ war. Darauf weist Hanns-Josef Ortheil mit der folgenden Äußerung hin
– „Ironie, Spiel … und die deutsche Literatur! Es ist fast eine Unmöglichkeit!“ (Ortheil 1994,
Was ist postmoderne Literatur?, S. 132) Trotzdem erscheinen auch hier postmoderne Werke.
38
Die erste entschiedene Absage an die künstlerische Formensprache des Modernismus
findet man nach Ortheil in den Arbeiten Rolf-Dieter Brinkmanns, in den frühen Werken von
Peter Handke (Sprechstücke, Der kurze Brief zum langen Abschied) und auch bei Hubert
Fichte (Die Palette, Versuch über die Pubertät). Den zeitlichen Anfang der „deutschen“
Postmoderne sieht Ortheil folgenderweise: „Mir scheint jedenfalls einiges dafür zu sprechen,
daß der geschichtliche Ort, an dem der Einstieg der deutschen Literatur in die Postmoderne
sich vollzog, jener Ort Ende der sechziger Jahre war, an dem das gesellschaftskritische
Konzept der Gruppe 47, das politische der Studentenbewegung und das durch Adornos
Ästhetik vermittelte der ´Kritischen Theorie´ an Überzeugungskraft einbüßten.“ (Ortheil
1994, Postmoderne in der deutschen Literatur, S. 200) In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts
kam es dann zu einer immer größeren „Aufgeschloßenheit und Beeinflußung durch
postmoderne Anregungen der ausländischen Literatur“ (ebd., S. 209). Zu dieser Zeit sind in
dem deutschsprachigen Raum vor allem diese postmodernen Autoren tätig: Wolfgang
Hildesheimer (Marbot, 1981), Klaus Hoffer (Bei den Bieresch, 1979), Gerold Späth
(Commedia, 1980), Hermann Burger (1942–89), Gert Hofmann, Gerhard Köpf (geb. 1948),
Botho Strauß, Gert Jonke (Erwachen zum großen Schlafkrieg, 1982), Patrick Süskind
(Parfüm, 1985), Christoph Ransmayer (Die letzte Welt, 1988) und Thomas Hürlimann (Das
Gartenhaus, 1989). Die Literatur der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ist laut Hanns-Josef
Ortheil ohne die „Großerfahrungen von Post-Histoire, Postmoderne und Poststrukturalismus
nicht zu denken“. (Ortheil 1991, S. 49)
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4. Die Klavierspielerin – eine Horrorgeschichte aus Wien
Dieser Roman von der (inzwischen mit dem Nobelpreis ausgezeichneten)
österreichischen, oder besser gesagt Wiener, Schriftstellerin und Dramatikerin Elfriede
Jelinek erschien im Jahre 1983. Seine Thematik und die „Offenheit“ der literarischen
Bearbeitung haben zu Diskussionen geführt bzw. die öffentliche Moral und das ästhetische
Empfinden mancher Leser verletzt. Es geschah trotz der Tatsache, dass die Themen wie
Sexualität, Perversion und Obszönität keineswegs neu im Repertoire der Wienerin waren. Sie
erschienen mehr oder weniger in ihren Prosaarbeiten wir sind lockvögel baby! (ersch. 1970),
Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft (1972), Die Liebhaberinnen (1975) u. a.,
auch ihre Lyrikproduktion behandelt vor allem die Sinnlichkeit und Sexualität. Ihren
Höhepunkt, was die Skandalwirkung betrifft, hat Elfriede Jelinek jedoch erst sechs Jahre
später erreicht, als ihr skandalösester Roman Lust erschienen ist.
Die Hauptprotagonistin des Buches ist die Klavierspielerin oder genauer
Klavierlehrerin Erika Kohut, der es „auf das Ende der Dreißig“ (KL, S. 5) zugeht und die
immer noch mit ihrer Mutter in einer Wohnung in Wien lebt und von der Mutter auch in
diesem Alter als ihr „Kind“ (ebd.) bezeichnet wird. Der geisteskranke Vater lebt (bis zu
seinem frühen Tod) in einem Irrenhaus, völlig isoliert von der Mutter-Tochter-Symbiose. Die
Mutter hat also in der Erziehung der Tochter freie Hand, was sie auch völlig egoistisch und
rücksichtslos ausnutzt. Von klein auf wird das kleine Mädchen zu einer berühmten und (vor
allem im ökonomischen Bereich) erfolgreichen Pianistin trainiert. Beim Üben verbringt sie
ihre ganze Kindheit und Jugend und wird wegen des verhinderten Kontakts mit anderen
Kindern bzw. Jugendlichen fast menschenfeindlich. Der Eintritt in die große Welt der Musik
gelingt aber nicht und Erika (oder besser gesagt ihre Mutter) muss sich mit der Stelle einer
Klavierlehrerin an der Musikschule zufrieden stellen. Die Überwachung und Kontrolle der
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Mutter hört aber keineswegs auf – Erika besitzt nicht einmal ein eigenes Zimmer, wo sie die
Tür abschließen könnte, sie schläft in dem ehemaligen Ehebett zusammen mit der Mutter und
auf Schritt und Tritt muss sie der Mutter genaue Berichte über ihre jeweilige Aktivität
abgeben. Die Mutter bestimmt sogar, wie Erika aus dem Haus geht. Die Feinde, gegen die zu
kämpfen ist, heißen Männer, Sinnlichkeit und eigentlich Freude aller Art. Der einzige
Trotzversuch der Tochter besteht darin, dass sie sich von Zeit zu Zeit ein neues Stück
Kleidung kauft, was immer wieder als eine Revolte betrachtet wird – indem Erika nämlich
das (ihr) Geld verschwendet, bedroht sie den Kauf der (von der Mutter) ersehnten
Eigentumswohnung.
Diese Unterdrückung kann freilich nicht ohne Schaden bleiben: schon seit der Pubertät
fügt sich die Tochter schmerzliche Verletzungen zu (die vorwiegend gegen ihre
Geschlechtsorgane gerichtet sind), träumt von masochistischen Phantasien, später besucht sie
Kinovorstellungen mit Hardcordepornos und wird schließlich zur Voyeurin, die sich Peep-Shows und die im Prater kopulierenden Paare anschaut. Die wenigen Liebesaffären, die sie
hinter sich hat, haben immer ein frühes Ende genommen und Erika blieb von jeglicher Lust
unbetroffen: „Erika spürt nichts und hat nie etwas gespürt. Sie ist empfindungslos wie ein
Stück Dachpappe im Regen. Jeder Herr hat Erika bald verlassen…“ (ebd., S. 77) Ihre
sadistischen Tendenzen finden in der Abscheu gegenüber der Masse ihrer untalentierten
Schüler und im absichtlichen Verletzen der Mitpassagiere mit Musikinstrumenten im
öffentlichen Verkehr Ausdruck.
In dieser Lebenssituation lernt sie Walter Klemmer kennen. Er ist einer ihrer Schüler,
der um sie auf seine Art „wirbt“, was Erika eigentlich nicht unangenehm ist. Er ist ein
„gesunder, sportlicher Typ, eine Art Männlichkeitsideal“ (Szczepaniak, S. 126), in den sich
Erika zu verlieben beginnt; sie träumt sogar von ihrer gemeinsamen Hochzeit. Die
Annäherungsversuche verlaufen aber keineswegs reibungslos. Wie der Leser bald begreift,
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sind Klemmers Gefühle nicht von besonderem Wert. Er will Erika im Grunde nur ausnutzen:
„Er will seiner Lehrerin einmal einen langen Kuß geben und ihren Körper abgreifen. Er will
sie mit seinen tierischen Instinkten konfrontieren. Er will mehrmals wie unabsichtlich an sie
stark anstreifen … Er wird tun, was sie sagt und wünscht, daraus für spätere ernsthaftere
Lieben zu profitieren. Lernen möchte er im Umgang mit einer um vieles älteren Frau – mit
der sorgsam umzugehen nicht mehr nötig ist.“ (KL, S. 66) Der Respekt seiner „Traumfrau“
gegenüber lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: „Herr Klemmer will so gern Erikas
Freund werden. Dieser formlose Kadaver, diese Klavierlehrerin, der man den Beruf ansieht,
kann sich schließlich noch entwickeln, denn zu alt ist er gar nicht, dieser schlaffe
Gewebesack.“ (ebd., S. 67) Auf der anderen Seite hat er auch einige „höhere“ Absichten mit
seiner Lehrerin: „Ihren Körper wird er sie lieben oder zumindest akzeptieren lehren, den sie
bisher noch negiert.“ (ebd., S. 66) All das bleibt der Lehrerin jedoch verschwiegen, und bald
kommt der erste Annäherungsversuch. Es geschieht – poetischer geht es gar nicht – im
Schülerklo der Musikschule. Auch dem Verlauf der „Aktion“ fehlt jegliche Romantik – nach
den stürmischen Erregungsversuchen, die der Schüler an ihr durchgeführt hat und die in ihr
keine libidösen Gefühle hervorriefen, nimmt Erika die Situation in eigene Hände und
verbietet ihrem Schüler, sie anzufassen. Statt dessen fängt sie an, ihn zu masturbieren. Kurz
vor seinem Orgasmus hört sie auf und untersagt auch dem Schüler jegliche Aktivität, die zur
Erleichterung seines „Zustandes“ führen könnte. Die Lehrerin genießt die Demütigung ihres
Schülers bis zum Ende.
Klemmer überwindet diese Erniedrigung jedoch überraschend schnell und innerhalb
von einigen Tagen will er die „Liebe“ fortsetzen. Erika ist prinzipiell nicht dagegen, jedoch
unter der Voraussetzung, dass ihre in einem Brief, den sie Klemmer überreicht,
zusammengefassten Instruktionen vollzogen werden. Ohne die Seiten durchstudiert zu haben,
erscheint der Schüler eines Tages an der Haustür Erikas. Sie gibt bald nach und ladet ihn in
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die Wohnung ein. Weil dort die Mutter schon auf ihr „Kind“ wartet, wagt Erika ihre bisher
bedeutendste Rebellion: mit Hilfe von Klemmer blockiert sie die Tür und verschafft sich so
zum ersten Mal in ihrem Leben eine Art Privatsphäre. Der Mutter bleiben nur der Fernseher
und der Likör als „Ersatzunterhaltung“. Erika befiehlt Klemmer, ihren Brief laut zu lesen.
„Was in diesem Brief steht, liest sich wie ein Ausschnitt aus einem Lehrbuch für sado-masochistische Praktiken. Klemmer bekommt eine detaillierte ´Gebrauchsanweisung´ zu
Erikas Mißhandlung und Erniedrigung…“ (Szczepaniak, S. 126) Er soll sie lange und
raffiniert quälen und dann vergewaltigen. Die Tatsache, dass das genaue Gegenteil – die
Ausübung der „Liebe in der österreichischen Norm“ (KL, S. 232) – von ihm verlangt wird,
begreift Klemmer nicht. Statt Erika leidenschaftlich zu küssen, verlässt er angeekelt ihre
Wohnung.
Ein paar Stunden später versucht die verzweifelte Tochter, die körperliche Liebe
wenigstens von ihrer eigenen Mutter zu erzwingen, indem sie sich über den „mürben
Mutterkuchen“ (ebd., S. 235) wirft und ihn mit Küssen bedeckt. Bei diesem Liebeskampf geht
es aber nicht um Orgasmus, sondern um „die Person Mutter“ (ebd.). Die Mutter wehrt sich
mit allen Kräften, gegen die viel jüngere Tochter hat sie jedoch keine Chance. Erst wenn sie
das mütterliche Schamhaar erblickt, was ihr eigentliches Ziel zu sein scheint, hört Erika auf
und die beiden Frauen schlafen „dicht an dicht“ (ebd., S. 237) ein.
Erika entscheidet sich, einen Neuanfang in der Sache „Klemmer-Liebe“ zu probieren,
diesmal aber mit einer ausgebesserten Strategie: „Sie spart mit sich und gibt sich nur ungern
aus, nachdem sie Überlegungen vielfältiger Art angestellt hat.“ (ebd., S. 241) Nagelneu
angekleidet begegnet sie dem Schüler und ohne zu zögern folgt sie seinem etwas leichtsinnig
ausgesprochenen Wunsch, „es an Ort und Stelle zu tun“ (ebd., S. 242). „Ort und Stelle“
bedeutet in diesem Fall „das Kabinett der Putzfrauen“ (ebd.), ein (schon wieder) nicht allzu
romantisches Ambiente. Die Lehrerin bemüht sich darum, ihren Schüler zu erregen, was ihr
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leider nicht gelingt. Zu einem „muss“ er, ohne es richtig zu wollen, zum anderen fürchtet er
sich „vor den so lang ungelüfteten Innenwelten dieser Klavierlehrerin“ (ebd., S. 244). Erika
versucht vergeblich weiter das zu tun, was „bei den Liebenden üblich und eingebürgert ist“
(ebd.), nach ein paar „Mundübungen“ übergibt sie sich aber, was bei Klemmer eine Wutwelle
voll beleidigender Beschimpfungen hervorruft.
Um sein Versagen „als Mann“ zu verarbeiten, versucht er sich später am Abend im
Prater an „wehrlosen Tieren“ (ebd., S. 252) und Blumenbeeten abzureagieren, was ihm aber
bei weitem nicht reicht. Er geht in Erikas Wohnung und vergewaltigt sie brutal, weil „sie es
sowieso und nicht anders gewollt habe“ (ebd, S. 273), in ihrem Brief nämlich. Die erniedrigte
Erika geht am nächsten Morgen Richtung Klemmers Schule, und zwar mit einem Messer:
„Geht das Messer auf die Reise oder wird sich Erika auf den Canossagang zu männlicher
Verzeihung machen? Sie weiß es noch nicht…“ (ebd., S. 281) Bei Ansicht der lebhaften und
unbeschwerten Unterhaltung Klemmers mit seinen Kommilitonen, wendet Erika, ganz ihren
Prinzipien treu, das Messer gegen sich selbst. Statt dass das Messer, wie ursprünglich
gewollt (?), ins Herz fährt, sticht sich die Frau „nur“ in ihren Schulter. Dann geht sie „nach
Hause“ (ebd., S. 283), zu ihrer Mutter.
4. 1. Die gestohlene Weiblichkeit oder die Mutter ist an allem schuld!
„Die nahezu groteske Symbiose von Mutter und Tochter ist vom parasitischen
Ausnützen, von der Ausbeutung, Beherrschung und Unterdrückung der Tochter durch
die Mutter bestimmt, in der die Tochter jedes Selbstwertgefühls, ihres Körpergefühls
sowie ihrer Lustfähigkeit beraubt wird.“ (Cornejo, S. 159)
In der Klavierspielerin demontiert Elfriede Jelinek grundsätzlich die durch die
bürgerliche Moral idealisierte Mutter-Tochter-Beziehung (Szczepaniak, S. 71), nach Monika
44
Szczepaniak handelt es sich sogar um „die radikalste Destruktion des Mutter-Mythos“ (ebd.,
S. 84). Ähnlicher Ansicht ist auch Renata Cornejo – laut ihr wird der Mythos der
Mütterlichkeit als „patriarchales und auch feministisches Konstrukt“ (Cornejo, S. 153)
verspottet. Die Erwartungen der Leser, die unter dem Begriff Mütterlichkeit „Liebe und
Wärme“ (Szczepaniak, S. 74) verstehen, werden gnadenlos enttäuscht. Die Mutter erscheint
wie eine erbarmungslose Herrin, die keine Einwände zulässt und über alles (samt des Lebens
ihrer Tochter) selbst entscheidet. Nach Renata Cornejo zeigt uns Jelinek die „Übernahme der
Mutterrolle als die einzige gesellschaftlich sanktionierte Form weiblicher Machtausübung, in
der die Mütter die Aufgabe übernehmen, den Töchtern den Stempel der Unterdrückung
aufzuprägen“ (Cornejo, S. 153). Die Mutter Kohut will ihr „Besitztum“ (KL, S. 7), ihr
„Einpersonen-Privatzoo“ (ebd., S. 270) ganz für sich haben, mit niemandem will sie ihre
Erika teilen: „Keine Spur von Liebe, Opferbereitschaft, Gutmütigkeit mütterlicherseits. Statt
dessen Totalverwaltung, Besitzansprüche, Fremdbestimmung.“ (Szczepaniak, S. 80) Die
Tochter hat kein normales Kontakt mit Gleichaltrigen, wird zur Homophobie und zum
Einzelgängertum erzogen. Für Verstöße gegen die Disziplin gibt es physische oder psychische
Strafen. Auch „dank“ dem ständigen Wiederholen des Satzes, sie sei „nicht eine von vielen,
sondern einzig und allein“ (KL, S. 14), schafft es Erika als Kind, als Teenager und schon gar
nicht als Erwachsene, Freunde bzw. einen Lebenspartner zu finden. „Wo man gewöhnt ist,
einen Sozialisationsprozeß betrachten zu können, findet man nur besitzergreifende Fürsorge
mit perversen Folgen…“ (Szczepaniak, S. 68) Die meisterhafte Schilderung der „häuslichen
Gewalt“ hat Szczepaniak folgendermaßen charakterisiert: „Mit wahrhafter Virtuosität
gestaltet die in der Beschreibung des alltäglichen Grauens unerschöpfliche Autorin die Szenen
der mütterlichen Zuwendung bzw. Versöhnung der vor einem Augenblick noch böse
ineinander verkrallten Kampfparteien Mutter und Tochter. Diesem Grauen vermag Jelinek
stets eine Art perversen Gemütlichkeit abzugewinnen.“ (ebd., S. 82)
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Die mütterliche Erziehung „bearbeitet“ Erika dermaßen, dass sie sich „ein Verhältnis
mit einem Mann nur als eine Herrscher-Beherrschte-Beziehung“ (ebd., S. 123) vorstellen
kann. Erika ist nicht im Stande, „eine geschlechtliche Identität zu finden“ (ebd.), ein positives
Verhalten zu ihrem Körper zu entwickeln. Sie fühlt sich nicht als Frau oder zumindest nicht
zufrieden als eine Frau. Sie ekelt sich vor jeglicher Körperlichkeit, sogar vor ihrem eigenen
Körper. Statt dessen wird Erika „von der Mutter phallisch besetzt“ (Janz, S. 71). Nach Marlies
Janz stellt die Tochter eine Art „Mann-Ersatz“ (ebd.) für die Mutter dar, diese ambivalente
und äußerst problematische Umpolung funktioniert auch umgekehrt: die Mutter ersetzt „für
Erika den Mann und macht ihr die Beziehung zu einem Mann auf vertackte Weise
unmöglich“ (ebd.).
Die „auf immer und ewig“ mit ihrer despotischen Mutter lebende Erika Kohut ist kein
Muster des anmutigen und zarten Weiblichkeitsbegriffs, der von der Konsumgesellschaft
erwartet und verlangt wird. Nach Renata Cornejo stehen Mütterlichkeit und Weiblichkeit
sogar im direkten Gegensatz zueinander, die Mütterlichkeit wird als „ständige Bedrohung der
weiblichen Autonomie und Subjektkonstitution“ (Cornejo, S. 153) betrachtet. Die durch
Egoismus und Verbote geprägte mütterliche Erziehung zerstörte Erikas Emotionalität und
Sexualität. Die Ausgangs- und eigentlich zugleich die Dauerlebenssituation der Heldin hat
sehr prägnant Monika Szczepaniak geschildert: „Innerlich ´ein einziger großer Kühlschrank´
(KL, S 23), von einer zerstörerischen Gier, einem zwanghaften Vernichtungswillen beherrscht
(…), in trivialen Wünschen nach Liebe verfangen, aber zu keiner ´Normalausführung´der
Liebe fähig, versucht sie gewaltsam, ´sich zur Frau zu wandeln´ … Erikas ´Versagen´ betrifft
nicht nur ihre geplante Karriere als Pianistin, sondern es ´erstreckt´ sich darüber hinaus auf
ihre Weiblichkeit, auf die Fähigkeit, eine geschlechtliche Identität zu finden.“ (Szczepaniak,
S. 123)
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Der Verlust oder genauer die Absenz der Geschlechtigkeit wird von der Autorin
mehrmals im Verlauf der Handlung konstatiert: „Erika ist ein kompaktes Gerät in
Menschenform. Die Natur scheint keine Öffnungen in ihr gelassen zu haben. Erika hat ein
Gefühl von massivem Holz dort, wo der Zimmermann bei der echten Frau das Loch gelassen
hat. Es ist schwammiges, morsches, einsames Holz im Hochwald, und die Fäulnis schreitet
voran.“ (KL, S. 53) Oder ein Stück weiter: „Zwischen ihren Beinen Fäulnis, gefühllose
weiche Masse. Moder, verwesende Klumpen organischen Materials … Im Gehen haßt Erika
diese poröse, ranzige Frucht, die das Ende ihres Unterleibs markiert. “ (ebd., S. 198 f.) Es
scheint, dass Erika verschiedene Auswege sucht, um ihre Weiblichkeit bzw. Geschlechtigkeit
zu finden und sich endlich von ihrer extrem dominanten Mutter zu trennen. Auswege, dank
denen sie das Gefühl haben könnte, dass sie ein normales Sexualleben (oder sogar ein
normales Leben überhaupt?) führt. Nach Marlies Janz lässt sich die Situation folgendermaßen
beschreiben: „Alle diese Perversionen stehen im Kontext mit der mütterlichen Dominanz und
Erikas scheiternden Versuchen, gegenüber dieser Macht ein Selbst auszubilden.“ (Janz,
S. 73 f.) Es handelt sich um „falsche Formen des Abgrenzungsversuchs von den Mutter“ (ebd,
S. 75). Ähnlich sieht die Problematik auch Renata Cornejo, die zugleich auf die
„Harmlosigkeit“ der Versuche aufmerksam macht: „Es handelt sich dabei um heimlich
erkämpfte ´Freiräume´, die allerdings keine ernsthafte Bedrohung für die Mutter darstellen, da
sie genauso wie die Tochter weiß, dass eine endgültige Loslösung von ihr unmöglich ist.“
(Cornejo, S. 162) Die „Auswege“ oder besser gesagt Perversionen, die ich in den
weiteren Kapiteln näher eingehen werde, lassen sich folgenderweise zusammenfassen:
Selbstverletzungen, Voyeurismus und sadomasochistische Phantasien.
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4. 2. Voyeurismus als Neurose?
„Sie will einfach still dasitzen und schauen. Zuschauen. Erika, die zuschaut ohne
anzustreifen.“ (KL, S. 54)
Mit dem fehlenden Weiblichkeitsgefühl hängt ganz eng Erikas zwanghaftes Schauen,
ihr Voyeurismus, zusammen. Nach Monika Szczepaniak handelt es sich um „eine Art
Sinnlichkeitsersatz“ (Szczepaniak, S. 124). Auch Renata Cornejo sieht den Hauptgrund für
Erikas „Abnormalität“ in der asexuellen Erziehung, deren Folge die „Verschiebung des
Begehrens auf das Auge“ (Cornejo, S. 171) ist. Erika versucht ihr „Gefühlsdefizit“ (ebd.)
durch Schaulust und Fetischisierung zu bekämpfen. Diese „gesunde“ junge Frau, ersetzt ein
„normales“ Sexualleben durch Besuche von Peep-shows, sie unternimmt nächtliche Ausflüge
in die Praterwiesen, wo sie kopulierende Paare beobachtet, oder betrachtet ihren eigenen
Körper mit einem „analytischen, männlichen Blick“ (Szczepaniak, S. 124) vor dem Spiegel.
Im Falle der Peep-shows wird die männliche Sichtweise noch dadurch verdeutlicht,
dass Erika „die einzige Kundin im Laden voller Männer“ ist. Die Tatsache, dass es sich um
eine „Ersatzbefriedigung“ (oder zumindest deren Illusion) handelt, bezeugen folgende Zeilen:
„Auch Erika will nichts weiter als zuschauen … Nichts paßt in Erika hinein, aber sie, sie paßt
genau hinein in diese Kartause.“ (KL, S. 53) Diese „Kartause“ samt ihrem Zweck wird auch
dem nichts wissenden Leser sehr „wahrheitsgetreu“ (die Aspekte der sprachlichen Ebene
werde ich in einem selbstständigen Kapitel näher eingehen) geschildert: „Erika hebt ein von
Sperma ganz zusammengebackenes Papiertaschentuch vom Boden auf und hält es sich vor
der Nase … Sie pflegen das hingepatzte Sperma dieser Jäger vom Fall achtlos in einen
dreckigen Kübel zu schlappen … Zuckend und stoßend entledigen sich in den
Nachbareinsiedeleien die Schwengel ihres kostbaren Frachtguts … Das Objekt ihrer
Schaulust fährt sich gerade zwischen die Schenkel … Es hebt die Arme und massiert sich die
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Brustwarzen, damit sie sich aufrichten. Es setzt sich gemütlich hin und spreizt die Beine stark,
und jetzt kann man aus der Froschperspektive in die Frau hineinlungen…“ (ebd., S. 54 ff.) Bei
weiterer Lektüre kommt man jedoch eher zu der Schlußfolgerung, dass das Erwartete
(eigentlich hauptsächlich seitens der Heldin) irgendwie nicht zu Stande gekommen ist. Erika
will nur schauen, warum nicht? Wird sie aber dadurch sexuell erregt? Nein, denn: „Erika
schaut ganz genau zu. Nicht um zu lernen. In ihr rührt und regt sich weiter nichts.“ (ebd.,
S. 56) Vielleicht könnte sie „mit sich selbst“ etwas anfangen, aber die allumfassende
mütterliche Anwesenheit mahnt: „Erika, die zusschaut ohne anzustreifen. Erika hat keine
Empfindung und keine Gelegenheit, sich zu liebkosen. Die Mutter schläft im Nebenbett und
achtet auf Erikas Hände…“ (ebd., S. 54) Der kategorische Imperativ der Mutter erscheint
auch ein paar Seiten weiter: „Erika kann nichts dafür. Sie muß und muß schauen. Sie ist für
sich selbst tabu. Anfassen gibt es nicht.“ (ebd., S. 56)
Erika unternimmt von Zeit zu Zeit auch Ausflüge in die Praterwiesen, wo sich nachts
die Prostituierten und ihre Kunden konzentrieren. Erika kommt jedoch weder als „Ware“ noch
als Kundin, sie will nur beobachten und belauschen, sie ist schon wieder „die Schauende“
(ebd., S. 141). Man könnte wieder annehmen, dass Erika schaut, um sexuell erregt zu werden.
Höchstwahrscheinlich hofft sie es zumindest, es scheint jedoch, dass auch diese
Ersatzbefriedigung scheitert: „Irgendwelche Organe in ihr arbeiten plötzlich, ohne dass sie es
kontrollieren kann, in doppeltem Tempo oder noch rascher. Ein starker Druck auf der Blase,
ein lästiges Leiden, das sie immer überkommt, wenn sie sich aufregt.“ (ebd., S. 144)
Die eher „männliche“ Sicht- und Handlungsweise, die Erika bei ihren voyeurischen
„Ausflügen“ (und auch in den Peeps-shows) zeigt, stammt nach Marlies Janz aus der
Erfahrung der deformierten Geschlechterhierarchie, die Erika ihr Leben lang erleben muss
(Janz, S. 75). Erika will sich dadurch (endlich) von der Mutter abgrenzen, um den „Übergang
zum Vater“ (ebd.) zu ermöglichen. Nichts davon mit Erfolg: „Erika wird nicht zur ´Frau´,
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sondern zur ´Herrin´. Es gelingt ihr nicht, sich weiblich zu identifizieren, sondern aufgrund
ihrer phallischen Besetzung durch die Mutter sowie ihrer eigenen Versuche, sich selbst den
fehlenden Vater zu ersetzen, muß sie auf dem Weg zur psychischen ´Weiblichkeit´ immer auf
halber Strecke scheitern.“ (ebd.)
4. 3. Selbstverletzungen als ein Weg zum Ich?
„Ihr Hobby ist das Schneiden am eigenen Körper.“ (KL, S. 89)
In ihrer Pubertät begegnet Erika während eines Sommeraufenthaltes auf dem Lande
ihrem älteren und in aller Hinsicht beneidenswerten Cousin, der seine Ferien mit Sport und
Flirten verbringt. Also ganz im Gegensatz zu Erika, die „vor Einflüssen bewahrt und
Versuchungen nicht ausgesetzt“ (KL, S. 35) wird, sondern sich völlig dem Klavierspielen
widmet. Eines Tages „landet“ Erika während eines Wettkampfspiels an der Gürtellinie ihres
Cousins und ist von dem Anblick fasziniert: „Sie will es nur einmal spüren, sie will diese
glitzernde Christbaumkugel nur ein einziges Mal mit den Lippen berühren … Der Burschi
weiß nicht, daß er eine Steinlawine losgetreten hat bei seiner Cousine. Sie schaut und schaut.“
(ebd., S. 44) In der Nacht schneidet sich Erika dann (aus Schuldgefühl?, oder vielleicht aus
dem nicht gestillten Hunger nach Liebe bzw. Sexualität?) absichtlich mit der Rasierklinge in
den Handrücken. Dass es nicht zum ersten Mal passiert, lässt sich annehmen…
Dass ihre selbstquälerischen Tendenzen nicht aufgehört haben, sondern vielmehr
angewachsen sind, verdeutlichen uns einige „leichte“ Anspielungen im Laufe des Textes. „So
richtig“ und auf die „Jelineksche Weise“ geschieht so vor allem in einer Passage, wo sich
Erika mit der „väterlichen“ (Janz, S. 77) Klinge ihr Geschlecht fast zerschneidet. Nach
Marlies Janz handelt es sich bei diesem „Anfall“ um „eine symbolische Selbstdefloration“
(ebd., S. 76): „SIE setzt sich mit gespreizten Beinen vor die Vergrößerungsseite des
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Rasierspiegels und vollzieht einen Schnitt, der die Öffnung vergrößern soll, die als Tür in
ihren Leib hineinführt … Es klafft auseinander, erschrickt vor der Veränderung, und Blut
quillt heraus … Einen Augenblick lang starren die beiden zerschnittenen Fleischhälften
einander betroffen an, weil plötzlich dieser Abstand entstanden ist, der vorher noch nicht da
war.“ (KL, S. 88 f.) Erika fühlt auch bei dieser „Operation“ keinen Schmerz, vielmehr
empfindet sie Angst: „Der Unterleib und die Angst sind ihr zwei befreundete Verbündete, sie
treten fast immer gemeinsam auf.“ (ebd., S. 89) Angst und Entfremdung sind die Gefühle, die
sie mit ihrem eigenen Körper (aber auch mit ihrer „Seele“) verbindet. Gegen diese Gefühle
versucht Erika zu kämpfen, indem sie sich selbst (und nicht einen Mann) zum Subjekt ihrer
Defloration macht. So hofft sie sich eine Position der Selbstbestimmung und Autonomie
herzustellen, sich „mit eigenen Händen“ zur Frau zu machen und so ihre Weiblichkeit (und
endliche Abgrenzung von der Mutter) zu gewinnen. Denn die Dinge selbst in die Hand zu
nehmen, ist genau das, was die Mutter Erika verwehren will. Dieser These wendet sich auch
Renata Cornejo zu, indem sie diesen Akt als den „symbolischen Vollzug der Trennung von
der Mutter“ (Cornejo, S. 163) bezeichnet.
Elfriede Jelinek bietet dem Leser zwar einfachere Teilerklärung für Erikas
Selbstquälen: „Gerade diese allerletzten Verborgenheiten stacheln Erika an, immer Neues,
immer Tieferes, immer Verboteneres betrachten zu wollen. Sie ist stets auf der Suche nach
einem neuen unerhörten Einblick. Ihr Körper hat noch nie, nicht einmal in Erikas
aufgespreizter Standardpose vor dem Rasierspiegel, seine schweigsamen Geheimnisse
preisgegeben…“ (KL, S. 108) Diese These beantwortet jedoch nicht völlig die Frage, warum.
Die Hauptrolle dieses Problems spielt wieder (wie schon oben angedeutet wurde) die
Weiblichkeit, die es nicht gibt. Nach der Theorie von Marlies Janz handelt es sich um
„Deckererlebnisse, die ihr Sicherheit bieten sollen, indem sie selbst als Kastrierende
erscheint“ (Janz, S. 76). Dass es leider nicht der richtige Weg zur Selbstfindung bzw.
51
-anerkennung ist, erklärt Marlies Janz folgenderweise: „Die antagonistische und gewaltsame
Form dieser Selbstbehauptung aber ist nur die Kehrseite und Umkehrung ihrer Ohnmacht und
ermöglicht keine wirkliche Selbst- und Subjektwerdung.“ (ebd., S. 77)
Zum dritten und letzten (direkt erwähnten) Vorfall der Selbstverstümmelung kommt
es nach einer für Erika äußerst beleidigenden und schmerzhaften „Liebesszene“, die im
Kabinett der Putzfrauen stattfindet und Erika nur Entzauberung und Erniedrigung bringt
(siehe folgendes Kapitel). Höchstwahrscheinlich aus Schuld- und Schamgefühl spickt sie sich
mit „Haus- und Küchengerät“ (KL, S. 251), sie sticht sich mit „Nadeln, die vielfarbene
Plastikköpfe tragen“ (ebd.). „Sie jagt sich die Instrumente an und in ihren Körper.“ (ebd.,
S. 252) Auch Erika hat allerdings ihre Grenzen, denn „unter die Fingernägel zu stechen“
(ebd., S. 251), wagt sie „wegen Schmerz“ (ebd.) nicht.
4. 4. Der „anerzogene“ Sadomasochismus
„An Klemmers steinhartem Schwanz zu ersticken wünscht sich die Frau, während sie
so eingezwängt ist, daß sie sich nicht im geringsten bewegen kann.“ (KL, S. 228)
Auch die sadistischen bzw. masochistischen Tendenzen, die Erika zu beherrschen
scheinen, hängen nach Marlies Janz mit ihrem „Individuationsprozess“ (Janz, S. 74)
zusammen, beziehen sich auf „das Problem der kindlichen Abgrenzung von der Mutter“
(ebd.). Gleich wie bei der Selbstverletzung ist die Mutter diejenige, die die Schuld an der
„Abnormalität“ ihrer Tochter trägt: „Erikas Sadomasochismus resultiert aus der
Unfähigkeit, sich gegen die Mutter abzugrenzen. In ihrer Destruktivität wie in ihren
Unterwerfungsphantasien reproduziert sie das Mutter-Tochter-Verhältnis.“ (ebd.)
52
Die gefühllose Erika braucht offensichtlich „schmerzhafte Erfahrungen“, sie hofft,
dass sie vielleicht dadurch ihre Gefühle und Wahrnehmungskräfte endlich wecken könnte.
Zuerst scheint sie sich mit wörtlichen Sadismen gegen ihre Schüler, absichtlichem Verletzen
der Mitpassagiere in Verkehrsmitteln und masochistischen Phantasien (zum Beispiel von
einem „bösen“ Wolf, der sie zerreißt) zufrieden zu stellen. Später erlebt sie immer größere
Schmerzen bei dem Selbstverletzen, dem sie sich regelmäßig „widmet“. Als aber einer ihrer
Schüler, der mit ihr zu flirten beginnt, erscheint, meint Erika „eine richtige“ Chance zum
Ausleben ihrer sadomasochistischen Perversion zu bekommen. Die „sadistische“ Erziehung
der Mutter und auch die bisherigen tristen Erfahrungen mit den Männern haben Erikas
Glauben geformt, dass man/frau die Sexualität nur als ein Herrschaftsverhältnis erfahren
kann. Die „richtige“ Form der geschlechtlichen Differenzierung bzw. Rollenteilung kennt
Erika (dank ihrer „verkehrten“ Erziehung) nicht. Die Frau, die bisher gewöhnt war, die
männliche Position zu belegen (in ihrem Voyeurismus und auch während den
Selbstverletzungen), versucht auch in dieser Situation („Partnerschaft“), den Mann zu spielen.
Durch sadistische „Verfahrensweisen“ hofft sie, ihre sexuelle Minderwertigkeit bzw.
mangelhafte Erfahrung zu verleugnen. Und zum ersten Mal läuft sie sogar ohne Schaden
davon.
Nach anfänglichen Annäherungsversuchen, die bei Erika, ganz im Gegenteil zu ihrer
Mutter, nicht unwillkommen sind, kommt es zu dem ersten „sexuellen Abenteuer“ zwischen
der Lehrerin Erika und ihrem Schüler Walter Klemmer. Es geschieht auf dem Schülerklo,
ganz der Jelinekschen „Ekelästhetik“ getreu. Es gibt da alles, was eine „romantische
Szenerie“ benötigt: „Gestank nach Kinderurin“ (KL, S. 173), der an „eine Pestgrube“ erinnert
(ebd.), „verschmierter Becken … mit Bazillen überzogen“ (ebd., S. 174 f.) oder „schmutziger
Blechkübel“ (ebd, S. 176). Die Liebesszene selbst liegt der Romantik auch weit entfernt:
„Er zerrt an ihr. Er drückt ihr einen langen Kuß zur Eröffnung auf den Mund, der längst fällig
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war. Er greift ihr unter den Rock … Er wühlt in Erikas Innereien herum, als wollte er sie
ausnehmen … Es ist ihm unmöglich mit der ganzen Hand in sie einzudringen, doch vielleicht
kann er es wenigstens mit einem oder zwei Fingern bewerkstelligen … Er überzieht sie mit
Speichel.“ (ebd., S. 177 f.) Wenn es scheint, dass es zum „Gipfelakt“ kommen könnte,
unterbricht Erika Klemmers „Betätigungen“. Sie nimmt, wie sie es gewöhnt ist, die „Sache“
in eigene Hand. Sie kehrt das „konventionelle Herrschaftsverhältnis“ (Szczepaniak, S. 126)
zwischen Mann und Frau um und untersagt dem Schüler jegliche Aktivität. Nach einigen
Mahnungen gehorcht er sogar, obwohl er noch überlegen muss, ob er „etwas falsch
verstanden habe“ (KL, S. 179). Der „werbende Mann“ wird doch nicht „aus dem Geschehen
einfach entlassen“ (ebd). Erika beginnt, „die rote Wurzel zwischen ihren Fingern zu kneten“
(ebd.). Immer wieder muss sie den verwirrten Mann daran erinnern, dass sie diejenige ist, die
hier die Regeln bestimmt: „Sie unterläßt es sofort, seinen Schwanz zu masturbieren, wenn er
nicht aufhört, ihren Unterleib abzugrasen.“ (ebd., S. 180) Nach einer Weile kommen auch
Erikas Zähne und Fingernägel zum Einsatz. „Sie tut ihm mit Absicht weh.“ (ebd., S. 181)
Schließlich bricht sie kurz vor dem Höhepunkt ihre „Tätigkeit“ ab und verbietet streng auch
dem Schüler alles, das „ihr Werk“ vollenden könnte. Erika genießt die Rolle der grausamen
Herrin bzw. Voyeurin: „Klemmer versucht verstohlen, an sich herumzuspielen, wie es in
keinem Notenheft steht. Ein scharfer Zuruf hält ihn davon ab. Er soll einfach stehenbleiben,
bis sie ihm etwas Gegenteiliges befiehlt. Sie möchte die körperliche Veränderung an ihm
studieren … Für Erika ist dies die absolute Kür in Sachen Zuschauen.“ (ebd., S. 182 f.) Erika
sieht ihrem Schüler bis zum letzten Moment zu und macht ihn dadurch zu einem
„lächerlichen Objekt“ (Szczepaniak, S. 126). Das Machtspiel zwischen Lehrerin und Schüler
hat angefangen. Weil Klemmer ihre Befehle einigermaßen respektiert hat, wird ihm „eine
Fortsetzung“ zugesprochen. „Anweisungen werden Ihnen zugehen“ (KL, S. 184), hört der
mittlerweile schon aufgemunterte Walter Klemmer.
54
Mit „Anweisungen“ hat Erika einen Brief gemeint, den sie ihrem Schüler einige Tage
später übergibt. Und obwohl dieser sich außer Stande sieht, „diese Frau zu begehren“ (ebd.,
S. 207), wünscht er sich trotzdem seit längerem „in sie einzudringen“ (ebd.). Deshalb wartet
er eines Nachmittags auf Erika, die ihn schließlich mit nach Hause nimmt. Die empörte
Mutter wird mittels eines Schrankes an der Tür zum Likör Trinken und Fernsehen verurteilt
und die Lehrerin und ihr Schüler sind zu zweitem Mal alleine. Diesmal sogar in einer
„normalen“ Umgebung. Wenn Erika feststellt, das ihr „Geliebter“ ihren Brief noch nicht
gelesen hat, befiehlt sie ihm, die Seiten laut vorzulesen. Es geht um einen (allerdings nur von
einer
Seite
unterzeichneten)
sadomasochistischen
Vertrag:
Ketten,
Peitsche
oder
Gummischlauch ziehen Walter Klemmer nicht an. Jelinek schont dabei den Leser nicht: der
von Ausdrücken und Handlungsweisen der Pornohefte oder de Sades Romane inspirierte Text
spielt mit Wörtern wie: bestrafen, Knie in den Leib bohren, Fäuste in den Magen schlagen,
grausam
schlagen,
Knebel
oder
Fesseln.
Erika
schlägt
in
ihrem
„detaillierten
´Gebrauchsanweisung´ zu … Mißhandlung und Erniedrigung“ (Szczepaniak, S. 126) vor, dass
ihr Schüler eine Nylonschürze besorgt, in die er „Löcher hineinschneiden soll, durch die Man
Blicke Auf Geschlechtsorgane Wirft“ (KL, S. 223). Immer wieder zieht Klemmer der
Gedanke durch den Kopf, dass es doch nicht Erikas Ernst ist: „Stimmt es wirklich, wie es hier
steht, daß sie ihm die Zunge in den Hintern stecken muß, wenn er rittlings auf ihr sitzt.
Klemmer bezweifelt sehr, was er liest, und schiebt es auf schlechte Beleuchtungsverhältnisse.
Die Frau kann es so nicht gemeint haben, die derartig Chopin spielt.“ (ebd., S. 227)
Schließlich soll er sie noch vergewaltigen. Klemmer hat Recht, so ernst meint es Erika
wirklich nicht, leider hat er aber nicht die Kraft, gegen seine Empörung zu kämpfen, Erika
verständnisvoll in die Arme zu nehmen und sie leidenschaftlich zu küssen, wie sie es sich
eigentlich wünschen würde: „Sie wünscht sich innigst, daß er, anstatt sie zu quälen, die Liebe
in der österreichischen Norm an ihr tätigt.“ (ebd., S. 232) Statt dessen verabschiedet er sich
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rasch, und es sieht auch nicht so aus, dass er gerne noch wiederkommen möchte, wie es ihm
Erika mehrmals anbietet.
Auch in diesem Fall ist der Weiblichskeitsmangel an allem schuld. Marlies Janz
charakterisiert die Situation folgendermaßen: „Der Brief mit seinen masochistischen
Arrangements aber stößt bei Klemmer nur auf Verständnislosigkeit und Protest, und Erika
selbst ist froh, daß Klemmer sie nicht ausführt. Sie ist erleichtert, als er sie nicht schlägt, und
scheint sich eben damit von den masochistischen Phantasmen loszulösen. Doch in
Wirklichkeit vermag Erika nicht einmal zu ihren Phantasmen zu stehen, sondern gerät in
Panik vor ihrer Realisierung. Die masochistische Lösung, bei der sie selbst die Arrangements
trifft für die eigene Unterwerfung und die eigene ´Weiblichkeit´ inszeniert, scheitert, weil sie
selbst Angst bekommt und Klemmer sich weigert.“ (Janz, S. 80) Nach Renata Cornejo erhofft
sich Erika, sich durch diese „Beziehung“ endlich von der Mutter trennen zu können. Der
Mann wird von ihr als „möglicher Befreier und Initiator der Losbindung von der Mutter“
(Cornejo, S. 163) angesehen. Dass sie nicht im Stande ist, ihm diese Tatsache mitzuteilen
bzw. die Liebe anders als in der Form von Macht und Unterdrückung zu erleben, ist eine
andere Frage. Ähnlich wie im Fall Erikas Selbstverletzungen sieht Cornejo ihren Brief an
Klemmer als den (letzten) „verzweifelten Versuch, sich von der Allmacht der Mutter und der
mütterlichen Symbiose zu befreien“ (ebd., S. 164).
4. 5. Versuch eines Inzests oder Ist Erika eine Mutterschänderin?
„Sie küßt und küßt. Sie küßt die Mutter wild. Die Mutter erklärt es zur Schweinerei,
was die aus der Kontrolle geratene Tochter mit der Mutter aufführt.“ (KL, S. 236)
Nach der misslungenen „Briefangelegenheit“ passiert etwas Unerwartetes. Erika
versucht, die eigene Mutter zu vergewaltigen. Es geschieht nachts in dem Ehebett, wo vor
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vielen Jahren sogar die Mutter „Begierde“ (KL, S. 233) empfunden hat. Jetzt empfindet die
Mutter jedoch nur Ärger und Zorn der „bösen“ Tochter gegenüber, die sich erlaubt hat, mit
einem Mann allein zu sein. Sie wendet sich an Erika mit Beschuldigungen und Drohungen.
Die Tochter reagiert sehr „seltsam“: „Sie wirft sich über die Mutter und deckt diese mit
Küssen vollauf ein … Erika küßt wahllos in diesen hellen Fleck hinein. Aus diesem Fleisch
ist sie entstanden! Aus diesem mürben Mutterkuchen. Erika drückt ihren nassen Mund der
Mutter vielfach ins Antlitz und hält die Mutter eisern mit den Armen fest … es ist wie bei
einem Liebeskampf, und nicht Orgasmus ist das Ziel, sondern die Mutter an sich, die Person
Mutter.“ (ebd., S. 234 f.) Die Mutter versucht, sich zu wehren, doch Erika „saugt und nagt an
diesem großen Leib herum, als wollte sie gleich noch einmal hineinkriechen“ (ebd., S. 235).
Erst als sie ihr merkwürdiges Ziel erreicht, lässt sie die Mutter frei: „Die Tochter hat für ganz
kurze Dauer das bereits schütter gewordene dünne Schamhaar der Mutter betrachten können
… Das hat einen ungewohnten Anblick geboten. Die Mutter hat dieses Schamhaar bislang
strengstens unter Verschluß gehalten. Die Tochter hat absichtlich während des Kampfes im
Nachthemd der Mutter herumgestiert, damit sie dieses Haar endlich erblicken kann…“ (ebd.,
S. 236 f.) Nach Marlies Janz versucht Erika auf dieser Weise in die „regressive Einheit mit
der Mutter“ (Janz, S. 80) zu flüchten, die „wiederum der Angstbewältigung dient“ (ebd.). Das,
was sie erblickt, ist nach der Theorie von Janz die Bestätigung der „weiblichen Kastration“
(ebd.), die sie beiden jedoch gleich verleugnen, anstatt sie zu entmystifizieren: „Mutter und
Tochter verbleiben mit ihrer Verleugnung im Rahmen einer Weiblichkeitskonstruktion, wie
sie Freud formuliert hat…“ (ebd.) Auch nach Renata Cornejo versucht Jelinek sich mit den
Theorien Sigmund Freuds und Heinz Kohuts aufeinanderzusetzen: „Dass Jelinek in der
Klavierspielerin Freud ödipale psychoanalytisiche Theorie unter die Lupe nimmt und
parodiert, geht aus ihrer ironisierten Inszenierung der Mutter-Tochter-Beziehung hervor, in
der die Entwicklung der Tochter Erika zum Phallusersatz der Mutter und des weiblichen
57
Geschlechts zur Minderwertigkeit, zum Objekt und zum Mangel vorgeführt wird. Sowohl
Freuds Theorie als auch die Objektrelationstheorie des österreichischen Psychologen Heinz
Kohut wird als Struktur des Machtdenkens entblößt…“ (Cornejo, S. 155) Durch ihre
Sehnsucht nach einer körperlichen Wiedervereinigung mit der Mutter, sehnt sich Erika laut
Cornejo nach der „präödipalen, Sicherheit gewährenden Einheit mit der Mutter“ (ebd.,
S. 161).
4. 6. Wie wäre es mit einem „normalen“ Sex? Zum Beispiel in der Besenkammer…
„Das geschmacklose Drops von Klemmers Liebesfortsatz wird vom Mann in ihrer
Mundhöhle festgehalten, der Mann preßt sich als Ganzes gegen ihr Gesicht und stöhnt
sinnlos.“ (KL, S. 247)
Erika will ihre „Liebe“ jedoch nicht aufgeben. Diesmal versucht sie, mit „klassischen
Methoden“ an die Sache zu gehen, von jetzt an „spart [sie] mit sich und gibt sich nur ungern
aus“ (KL, S. 241), sie setzt von heute auf die „Schönheit“ (ebd.). In nagelneuer Kleidung
versucht sie ihren Schüler wieder zu erobern. Zu ihrer Überraschung ist er bereit „es [mit ihr]
an Ort und Stelle zu tun“ (ebd., S. 242), so dass er dann „bequem um drei im Judoklub sein“
(ebd.) kann. Erika Kohut zerrt ihn „in das Kabinett der Putzfrauen“ (ebd.), wo „es“ geschehen
soll. Die Umgebung hat also schon wieder den „Jelinekschen“ Charakter bekommen:
„Puttzmittel riechen streng und stechend, Werkzeuge zur Reinigung stapeln sich.“ (ebd.)
Erika hat den „schmutzigste[n] Raum der Schule“ (ebd.) ausgewählt. Erika, die in der
„höheren Liebeskunst“ (ebd.) nicht bewandert ist, versucht ihr Bestes, aber weil Klemmer
eigentlich nicht „so richtig“ will, versucht er die „Aktion“ auf die nächste Woche zu
verschieben, was von Erika abgelehnt wird (ihren Vorsatz hat sie offensichtlich längst über
den Kopf geworfen, sie braucht gar nicht erobert zu werden). Aus Angst vor Erniedrigung
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wegen seiner kurzfristigen Impotenz beginnt er heimlich, „an sich herumzustreicheln, doch es
bleibt wie tot an ihm.“ (ebd., S. 243) Die Liebesszene setzt noch „romantischer“ fort:
„Hysterisch zerrt, klopft, schüttelt er … Als Liebeslawine rast sie auf ihn zu … Er fürchtet
sich vor den so lang ungelüfteten Innenwelten dieser Klavierlehrerin. Sie wollen ihn ganz
verzehren! … Sie macht Liebesbewegungen wie sie sich das vorstellt.“ (ebd., S. 243 f.) Doch
kein Erfolg kommt. Klemmer versucht noch einmal, der Herr der Situation zu werden und so
seinen „männlichen Ruf“ zu retten (was Jelinek dem Leser mit einer Art Schadenfreude mit
allen ekelhaften Details schildert): „Er stülpt sich den Mund der Frau rasch über sein nach
kurzer Aufmerksamkeit wieder sinkendes Geschlecht, wie einen alten Handschuh …
Klemmer stößt wild in ihren Mund, und er bleibt dabei einen Beweis schuldig. Sein schlaffer
Schwanz schwimmt, ein fühlloser Korke, auf ihren Gewässern.“ (ebd., S. 244 f.) Die Lehrerin
„leckt an Klemmer herum, eine Kuh und ihr neugeborenes Kalb“ (ebd., S. 245). Doch böse ist
sie ihm nicht, sie erklärt seine Indisposition durch „Überregung und Nervosität“ (ebd.,
S. 244), sie spricht andauernd von der Freude, die sie bald mit ihm, in ihrer Beziehung
nämlich, erleben wird. Sie bemüht sich tüchtig, die „Liebe“ zu erleben. Sie gehorcht ihm, die
Domina ist zur Untertanin geworden. Auch Klemmer hat sich mit der neuen Rollenverteilung
brav abgefunden: „Sie versucht … seinen Schwanz unauffällig auszuspucken, muß ihn aber
gleich darauf wieder einnehmen, befiehlt der Schüler Klemmer in Verkennung des
Lehrerverhältnisses seiner Frau Lehrerin … Ohne Zucker soll sie diese bittere Medizin
nehmen.“ (ebd., S. 247) Doch nach einer Weile ist es klar, dass er sich „heute bestimmt nicht
in das Loch ihres Mundes, der an ihrem besseren Teil, dem Oberteil, gelegen ist, entladen
können“ (ebd.) wird. Man könnte glauben, dass die Situation schon ihre „Peinlichkeitsgrenze“
erreicht hat, was aber leider nicht so ist. Denn Erika „würgt, obwohl sie kaum etwas im Mund
hat“ (ebd.) und „erbricht in einen alten Blechkübel“ (ebd., S. 248). Immer noch versucht sie
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nett zu sein, bietet sogar Liebesworte und Umarmungen an. Der tief beleidigte Mann
antwortet jedoch nur mit Beschimpfungen und Beleidigungen, sogar mit Gewalt.
4. 7. Und eine Vergewaltigung, gnädige Frau?
„Sie wird von Klemmer befragt, ob es das sei, was sie sich vorgestellt habe. Sie sagt
sirenenhaft anschwellend, daß nein.“ (KL, S. 267)
Der „geborene Sieger, der Erfolgsmensch“ (Szczepaniak, S. 145) Walter Klemmer
findet sich mit seiner Niederlage diesmal nicht so leicht ab. Er entscheidet sich, Rache zu
nehmen. Er will sich beweisen, dass er „nach wie vor der Herrscher ist“ (ebd.). Zuerst
versucht er sich an Gegenständen abzureagieren, das reicht ihm aber nicht und so entscheidet
er sich, der „Urheberin“ seines erbärmlichen Zustandes die Quittung zu überreichen. Er
beschließt, „die gedemütigte Männlichkeit gewalttätig zu rächen“ (ebd.). Der Schüler dringt
in der Nacht in die Wohnung der Lehrerin ein und vergewaltigt sie brutal. Die Mutter darf die
Erniedrigung ihrer Tochter im Nebenzimmer miterleben. Erika „genießt“ wie gelähmt die
„bitteren Früchte ihrer Liebe“. Während sie mittels ihres Briefes die Gewalttätigkeit
paradoxerweise im Schach gehalten hat, wird die männliche Brutalität, die Klemmer durch
Liebespose und Liebesrhetorik kaschiert hat, von nichts mehr gebremst. Erikas Illusion,
Klemmer könnte sie aus dem mütterlichen Bann befreien, bricht für immer und ewig
zusammen. Renata Cornejo schildert den „final countdown“ wie folgt: „Statt erhoffter
Erlösung und Befreiung muss die Frau seine ´Zurechtweisung´ über sich ergehen lassen,
indem sie durch den Mann, dem ´wilden Tier´, vor welchem sie die Mutter immer gewarnt
hat, als Frau ausgelöscht und vollkommen vernichtet wird – statt ersehnter Vereinigung folgt
brutalste Vergewaltigung.“ (Cornejo, S. 178)
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Erika hat aber seit ihrem Brief die Situation (wie es schon in der Besenkammer klar
wurde) völlig umgewertet: „Den Schmerz möchte sie aus dem Repertoire von Liebesgesten
gestrichen sehen. Jetzt fühlt sie es am eigenen Leibe und erbittet sich, wieder zur
Normalausführung der Liebe zurückkehren zu dürfen … Bitte nicht hauen. Mein Ideal ist jetzt
doch wieder die Gegenseitigkeit der Gefühle.“ (KL, S. 269) Doch der Schüler hat seine
Lektion gelernt: „Ich führe nur Ihre Befehle aus, gnädige Frau.“ (ebd.) Er gibt ihr Ohrfeigen,
schlägt sie in den Magen, tritt ihr „launisch“ (ebd., S. 272) gegen die Rippen, kurz: er „lernt
die Freiheit kennen“ (ebd., S. 269). Auch die psychische Demütigung muss zurückgezahlt
werden: „Ihr Nachthemd ist verrutscht, und Klemmer erwägt eine Vergewaltigung. Doch als
Mißachtung weiblichen Geschlechtreizes sagt er, zuerst muß ich einmal ein Glas Wasser
trinken. Er bedeutet Erika, daß sie jetzt weniger Reiz für ihn habe als ein hohler Baumstamm,
in dem der Bienenschwarm noch haust, für den Bären.“ (ebd., S. 273) Doch bei dem Akt
selbst bittet er um „Liebe und Verstehen“ (ebd., S. 275). In seinen klischeehaften
Liebesvorstellungen (die doch auch die körperliche Liebe miteinbeziehen) befangen, verlangt
er „energisch sein Recht auf Zuneigung, das jeder hat, auch der Schlimmste“ (ebd.). Jelinek,
die Meisterin der schmerzlichen Zuspitzung, schildert die Situation ohne Mitleid bis zur
Absurdität: „Klemmer, der Schlimme, bohrt in der Frau herum. Er wartet auf das Stöhnen der
Lust bei ihr … Er bittet: liebe mich, er schleckt an ihr und schlägt abwechselnd.“ (ebd.,
S. 275 f.) Doch die gefühllose Erika ist nicht im Stande, etwas zu spüren: „Entweder ist es zu
spät oder noch zu früh dafür.“ (ebd., S. 275) Walter Klemmer verabschiedet sich mit einer
Entschuldigung und der Bemerkung, er habe es jetzt eilig. Nur der Mann ist auf seine Kosten
gekommen (?).
Renata Cornejo bezeichnet diese Szene als einen Beweis dafür, dass es laut Jelinek
keine „gewalt- und angstfreie Beziehung (Liebe) zwischen Mann und Frau“ (Cornejo, S. 176)
gibt und dass diese Vorstellung von der Autorin als „trivialer Mythos entlarvt [wird], auf den
61
das Patriarchat sich gründet“ (ebd.). Die bloßgestellte Macht des Patriarchats konstatiert auch
Monika Szczepaniak (die sprechende und handelnde Instanz ist nämlich nicht das Individuum
Klemmer, sondern der Mann in ihm): „Was sich da als Männlichkeit übt, ist Resultat der
gesellschaftlichen Normierung, die vorschreibt, was ´männlich´ und was ´weiblich´ ist. Die
geschilderte Männlichkeit wird als Ideologie vorgeführt, die Autonomie, Freiheit und
Herrschaft verspricht und sich durch krude Gewalt realisiert.“ (Szczepaniak, S. 146) Nach
Szczepaniak hat Klemmers Begierde die ganze Zeit nur als „Tarnkappe für seine
Machtambitionen“ (ebd., S. 173) fungiert. Diese letzte „Liebesszene“ hat gezeigt, dass ihm
nur „der Vergeltungs- und Vernichtungswille“ (ebd.) wichtig sind. Und auch das, dass es
lebensgefährlich sein kann, mit dem Feuer (uralten gesellschaftlichen Klischees) zu spielen.
Diese Szene ist aus einem weiteren Grunde (der allerdings ausführlicher in dem
nächsten Kapitel behandelt wird) sehr wichtig. Mehr als auf anderen Stellen kann der Leser
auf die Idee des „Vielversprechenden“ kommen. Nach Szczepaniak handelt es sich dabei um
den „typischen Jelinek-Sound“ (ebd.). Die Autorin lockt den Leser an. Erika könnte doch
einverstanden sein und ein richtiger Sexualakt mit allem drum und dran könnte stattfinden.
Jelinek kommt jedoch dem „eventuellen Konsum der Pornographie wirksam ´in die
Quere´…“ (ebd.) Purer Sex findet nur für die „uniformierten“ Leser statt.
4. 8. Die Grenzen der „schönen“ Literatur oder Ist das Porno?
„In dem, was ich schreibe, gibt es immer wieder drastische Stellen, aber die sind
politisch. Sie haben nicht die Unschuldigkeit des Daseins und nicht den Zweck des
Aufgeilens. Sie sollen den Dingen, der Sexualität ihre Geschichte wiedergeben, sie
nicht in ihrer scheinbaren Unschuld lassen, sondern die Schuldigen benennen.“
(Elfriede Jelinek – hier zitiert nach Riedle)
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Wie uns die vorigen Kapitel deutlich gemacht haben, erscheinen in der
Klavierspielerin mehrere Stellen, wo Sexualität das Haupt- oder zumindest Nebenthema ist.
Wie ebenfalls klar wurde, benutzt Jelinek die Schilderungen der (zum Teil krypto-) sexuellen
Angelegenheiten nicht wegen der Sexualität an sich, sondern präsentiert diese Thematik mit
einem „höheren“ Ziel, das dann im Rahmen der Intention des gesamten Werkes wirksam
wird. (Noch deutlicher erscheint dieses Verfahren in Werken wie Die Liebhaberinnen oder
Die Lust)
Das Wahrig Wörterbuch definiert die Pornographie folgenderweise: „primitive, die
geschl. Begierden reizende Darstellung der Geschlechtsteile od. sexueller Vorgänge in Wort
u. Bild“. Laut The Cambridge Encyclopedia ist pornography: „The presentation of erotic
behaviour intended to cause sexual arousal“. Auch der Literaturkritiker Ladislav Nagy sieht
als das wichtigste charakteristische Merkmal der Pornographie, dass die sexuelle Aktivität
zum Hauptaspekt des Werkes wird und die Schreibweise und Stilistik vor allem die sexuelle
Erregung der Leser anstrebt (Nagy, S. 5). Jelinek selbst sieht Pornographie eher aus einer
„feministischen“ Sicht: „Pornographie ist nicht das Beschreiben von Vögeleien oder das
Beschreiben von nackten Leuten, die irgendetwas miteinander machen. Pornographie ist die
Darstellung der Frau als Hure. Also ihre Freigabe zu Quälereien, zu Erniedrigungen und ihre
Lust daran.“ (Lahann, S. 78) Ulrich Joost erweitert den Begriff „Pornographie“ um die
Definition der „charakteristischen“ Sprache: „Pornographie meint auf Literatur bezogen die
Behandlung von sexuellen Gegenständen in unverhüllter, direkter oder ´obszöner´ Sprache in
schriftlicher Gestalt mit dem intendierten und/oder erreichten Zweck der Erregung.“ (Joost,
S. 315) Zugleich fügt er aber gleich Folgendes hinzu: „Aber es ist nur eine zumindest
sprachlich völlig unobszöne Pornographie denkbar, es können selbstverständlich vollkommen
obszöne Texte gänzlich unpornographisch sein und sogar als Kunstmittel eingesetzt werden.“
(ebd., S. 316)
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Jelinek schreibt also keine Pornographie! Sie schildert zwar Erotik bzw.
Geschlechtsteile bis zum kleinsten Details, benutzt Vulgarismen und obszöne Bilder, das alles
tut sie jedoch keineswegs mit dem Ziel, den Leser „geil“ zu machen. Und von Lust kann bei
ihr keine Rede sein, jedenfalls nicht von der weiblichen Lust. Die pornografische
Schreibweise dient Jelinek zu einem anderen Zweck: „Jelinek bedient sich zum Teil der
vorgefertigten Muster aus pornographischen Filmen oder Romanen, die sie aber zugleich in
jenen Textpassagen destruiert, die als Gegensatz zur herkömmlichen Praxis literarischer oder
visueller Pornographie gedacht sind.“ (Szczepaniak, S. 167) Ähnlicher Ansicht ist auch
Renata Cornejo, laut ihr handelt es sich bei Jelinek um keine Pornographie, „die bloß den
Frauenkörper entwertet und zum obszönen Objekt der Schaulust und des sexuellen Begehrens
degradiert, sondern um ein Zerrbild der kulturell geprägten Vorstellungen in satirisch
zugespitzter Form, in dem die Anwendung des Obszönen nach Jelinek gerechtfertigt ist, da
man ´den Beziehungen zwischen Männern und Frauen die Unschuld nimmt und die
Machtverhältnisse klärt´“ (Cornejo, S. 172). Nach Monika Szczepaniak ist bei Jelinek die
Sexualität als eine „politische Angelegenheit“ (Szczepaniak, S. 166) ständig präsent; das
Adjektiv „politisch“ bedeutetet in diesem Sinne „Gesamtheit der menschlichen Beziehungen
in ihrer wirklichen, sozialen Struktur, in ihrer Macht der Herstellung der Welt“ (ebd.). Die
Benutzung (oder eher Ausnutzung) der „bekannten“ Muster der Pornographie konstatiert auch
Günther A. Höfler: „Die Darstellung des Bereichs des Geschlechtlichen bei Jelinek beruht auf
einem Sehen-Wollen, das sich die Technik der Foto/Porno/graphie anverwandelt hat.“
(Höfler, S. 168)
Die Sexualakte finden an ekelhaften Orten statt („Die Schönheit des Augenblicks der
sexuellen Vereinigung wird mit verschiedenen Mitteln zerstört“ – Szczepaniak, S. 171), es
geht eigentlich nicht um Sex bzw. Leibe, immer sind die Machtverhältnisse im Spiel und
immer wieder werden Klischees aufgegriffen und bloßgestellt. Das Repertoire an
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Perversionen kann sich zweifellos mit dem eines Pornos vergleichen (nach Ulrich Joost
bevorzugt die Pornographie „jeweils tabuisierte Spielarten“ – Joost, S. 316, was zum Teil
auch für den Fall Jelinek zutreffen könnte): schmerzhafte Selbstverletzungen, detaillierte
Schilderung sadomasochistischer Praktiken, Inzest (oder mindestens dessen Andeutung),
Oralverkehr (oder mindestens ein Versuch), brutale Vergewaltigung… „Der geschichtliche
Charakter der Sexualität ist sozusagen dem Text strukturell inhärent und zwar als Ergebnis
verschiedener
Kunstgriffe
wie
Übertreibung,
satirische
Überspitzung,
groteske
Überzeichnung des ´Gegenstandes´, was wiederum die Demontage des pornographischen
Diskurses zur Folge hat. Nicht nur wird die ´Kulturlüge´ über Sexualität demaskiert; diese
Projektionen von Sexualität begegnen dem Leser in der von Jelinek bis ins Irrsinnige
verzerrten Form.“ (Szczepaniak, S. 174)
4. 9. Die „Ekelsprache“ als literarisches Mittel?
„Im Gehen haßt Erika diese poröse, ranzige Frucht, die das Ende ihres Unterleibs
markiert.“ (KL, S. 199)
Zu der „Mythenzerstörung“ trägt ganz bedeutsam auch die schonunglose Erzähl- bzw.
Schreibweise der Autorin bei. Die obszönsten Momente werden ganz unparteilich
beschrieben, gefühl- und bedeutungslos. Dafür aber immer bis zum äußersten detailliert,
nichts wird (rücksichtsvoll) verschwiegen. Die Autorin gönnt dem Leser keinen (tröstenden)
Kommentar, der Blick ist der eines unbetroffenen Zusehers. „Alles ist sichtbar, oberflächlich,
banal…“ (Höfler, S. 157) Dieses Verfahren ist u. a. bei Beschreibung von Erikas
Selbstverstümmelung deutlich: „Mit wenig Information über Anatomie und noch weniger
Glück wird der kalte Stahl heran und hineingeführt, wo sie eben glaubt, daß ein Loch
entstanden müsse.“ (KL, S. 88) Diese Passage charakterisiert Höfler folgenderweise: „Das
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Monströse ist dabei Ergebnis einer gleichsam medizinischen Sichtweise, hier einer
gynäkologischen Perspektive, deren Objektivierungstechnik den Körper paralysiert … Der
Forscherblick wird dabei wie ein sadistisches Instrument gehandhabt; Sehen, Sezieren und
Schreiben werden zu identischen Akten.“ (Höfler, S. 156) Wichtig ist dabei auch die Distanz,
die zwischen dem Leser und der Figur entsteht und die „Emphatie mit dem Objekt nur noch in
einer Persiflage zuläßt“ (ebd.).
Passagen der „hohen“ literarischen Sprache (die teilweise sogar die „großen“ Dichter
paraphrasieren) werden zäsurlos mit dem „perversen“ Jargon gemischt. Dieses Nebeneinander
bewirkt dann stärkere Empörung: „Dieser Beruf ist doch nichts für eine Frau. Am liebsten
nähme man eine gleich mit, egal welche, im Prinzip sind alle gleich. Sie unterscheiden sich
nicht grundsätzlich, höchstens in der Haarfarbe, während die Männer doch mehr
Einzelpersönlichkeiten sind, von denen der eine lieber das hat und der andere lieber das. Die
geile Sau hinter dem Fenster, also quasi auf der anderen Seite der Barriere, hat zum Ausgleich
den dringenden Wunsch, daß diesen Ochsen hinter den Glasfenstern der Schwanz abreißt
beim Wichsen.“ (KL, S. 51)
An Morbidität grenzen die Beschreibungen von Erikas Beziehung zu ihrem eigenen
Körper, die einfach keine Grenzen kennen und alles „ehrlich“ sichtbar machen: „Zwischen
ihren Beinen Fäulnis, gefühllose weiche Masse. Moder, verwesende Klumpen organischen
Materials…“ (KL, S. 198) Die virtuose „plastische“ Schilderung erhöht noch die Wirkung der
einzelnen Wörter. Monika Szczepaniak fasst die Jelineksche Erzählweise bzw. die Kluft
zwischen den („klischeehaften“) Erwartungen der Leser und der (innovatorischen) Intention
der Schriftstellerin wie folgt: „Der Leser bekommt suggeriert, daß hier über Liebe gesprochen
wird, über den weiblichen Körper, über die Schönheit und gleichzeitig wird ihm ´zu verstehen
gegeben´ (nicht mitempfinden soll er!), daß diese Liebe Vernichtung ist, dieser Körper ein
´bläulich angelaufener Tumor´(KL, S. 241) und das ganze ekelhaft … Auch während der – so
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angesagten – Liebesszene wird der Leser aus allen Illusionen gerissen…“ (Szczepaniak,
S. 128)
Jedoch auch in den „härtesten“ Passagen vergisst Jelinek nicht ihr beliebtes Verfahren
– den Sprachwitz (der schon wieder hauptsächlich an der Demontage von Klischees aller Art
beruht), der dem Leser hilft, das eben Gelesene zu relativieren: „Klemmer versucht
verstohlen, an sich herumzuspielen, wie es in keinem Notenheft steht“ (KL, S. 182) oder
(nachdem Erika versucht hat, ihre Schamlippen voneinander abzutrennen): „Zum Stillen des
Blutes wird das beliebte Zellstoffpaket hervorgekramt, das jede Frau um seiner Vorteile
willen kennt und schätzt, vor allem beim Sport und bei der Bewegung im allgemeinen.“ (ebd.,
S. 89); oder während der Lektüre des Briefes: „Stimmt es wirklich, wie es hier steht, daß sie
ihm die Zunge in den Hintern stecken muß, wenn er rittlings auf ihr sitzt. Klemmer bezweifelt
sehr, was er liest, und schiebt es auf schlechte Beleuchtungsverhältnisse. Die Frau kann es so
nicht gemeint haben, die derartig Chopin spielt.“ (ebd., S. 227) Jelinek arbeitet auch mit
einfallsreicher (aber oft ekelhafter oder obszöner) Metaphorik: nach Klemmers Versagen in
der Besenkammer „leckt [Erika] an Klemmer herum, eine Kuh und ihr neugeborenes Kalb“
(ebd., S. 245). Am Anfang der Liebesszene im Schülerklo fühlt sich Erika wie ein
„Geschenkartikel in leicht angestaubter Seidenpapierverpackung auf einem weißen
Tischtuch“ (ebd., S. 176). Da es sich bei weitem um keine romantische „Hochzeitsnacht“
handelt, ist die Ironie bzw. der Sarkasmus kaum zu übersehen. Den Beischlaf eines
Gastarbeiters und einer alternden Frau fasst Jelinek folgendermaßen zusammen: „Er fährt in
die Frau hinein, als müßte er in Rekordzeit ein Paar Schuhe besohlen oder eine
Autokarosserie zusammenschweißen.“ (ebd., S. 142) Trotzdem (oder gerade deswegen) ist
Jelineks Blick so kalt, dass man fast (innerlich) erfriert. Oder ist es genau umgekehrt? Der
Leser wird mit so vielen Grausamkeiten und so vielem Ekel konfrontiert, dass er einfach
(nach)denken muss.
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Aus dem oben Genannten ist es klar, dass sich Jelinek vor allem bei den
Beschreibungen der Szenen aus dem sexuellen Bereich, sehr oft der Umgangs- oder besser
Vulgärsprache bedient. Alex Deprert hat diese Sprachschicht auf folgender Weise
charakterisiert: „sehr direkt, oft grob, ordinär und respektlos bis menschenverachtend“
(Deprert, S. 128). Nach der Einstufungsskala von Wolfgang Müller (Müller, S. 21 f.), der in
seinem Artikel die möglichen Sphären der sexuellen Sprache noch detaillierter untersucht,
benutzt Jelinek drei Ebenen: die „drastisch-metaphorische Sprache“ (z. B. Schwengel), die
„saloppe Umgangssprache“ (z. B. Schwanz, wichsen, ficken) und die lustvoll-derb-vulgäre
Sprache mit anschaungsprallem Vokabular“ (z. B. Gummiwurm, abspritzen, sich in eine Frau
schrauben). Daneben erscheinen aber auch Ausrücke aus der „(lustfreien) Normalsprache“
(Genital, Geschlecht, Brüste…) oder sogar der „gehoben-literarischen Sprache“ (die Porno-Darstellerin ist „froh der Gabe und froh ihres Versorgers“), die aber fast immer als Mittel der
literarischen Stilisierung (Ironie, Zuspitzung, Kontrast) ihre Rolle spielen.
4. 10. Postmoderne als (Lese)hilfe?
„Das postmoderne Wissen (…) ist nicht allein das Instrument der Mächte. Es
verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das
Inkommensurable zu ertragen.“ (J.-F. Lyotard – hier zitiert nach Cornejo, S. 33)
Grundsätzlich können wir sagen, dass Jelinek uns eine postmoderne (De-)Montage
anbietet. Sie arbeitet mit Mustern der Trivialromane und Pornohefte, deren Inhalte sie durch
literarische Persiflage zu „höheren Zwecken“ ausnutzt. Diesen Vorgang samt seinem Ziel
beschreibt Ivonne Spielmann folgenderweise: „Dekonstruierend und fragmentarisch arbeitet
sie mit Techniken der Prosa und des Dramas in einem vielschichtigen Montageverfahren, um
Weiblichkeitsmythen und herrschende Denkmustern offenzulegen. Aus dem Bruch mit dem
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Einverständnis des Schweigens über die herrschenden Verhältnisse entwickelt sie einen
politischen Kunstbegriff, der das Verdrängte und Tabuisierte öffentlich macht.“ (Spielmann,
S. 35) Jelinek benutzt diese „Verfremdung“, um den Lesern „die Mechanismen von Kultur
und Gesellschaft in verschobener Perspektive“ (ebd., S. 37) zu vermitteln. Auch die
Schreibweise wird „postmodern“ mehrsprachig, Jelinek nutzt sehr verschiedene Sprachebenen
(siehe voriges Kapitel) als literarische Mittel des Kontrasts und wohl auch der Provozierung
aus.
4. 11. Und Freud? Was macht der da?
„Somit werden wir durch die außerordentliche Verbreitung der Perversionen zu der
Annahme gedrängt, daß auch die Anlage zu den Perversionen keine seltene
Besonderheit, sondern ein Stück der für normal geltenden Konstitution sein müsse.“
(Freud, S. 79 f.)
Nach der Theorie von Marlies Janz beweist schon der Name der Heldin Kohut
(Anspielung auf den Narzißmus-Theoretiker Heinz Kohut) die Tatsache, dass sich Elfriede
Jelinek um eine Inszenierung der „patterns“ der Psychoanalyse bemüht: „Diese patterns
entstammen vor allem Freuds Theorie der Weiblichkeit (die Frau als Kastrierte und daher
narzißtisch Gekränkte)…“ (Janz, S. 71) Die klassischen psychoanalytischen Stereotype der
Weiblichkeit werden ironisch aufgegriffen, ja parodiert (parodistisches Verfahren gegenüber
Freuds Theorien kann man allerdings auch in dem Buch der Desaster von Ingomar von
Kieseritzky finden). Die Besucher der Peep-show schauen auf „das nichts … auf den reinen
Mangel“ (KL, S. 54), Klemmer will wiederum das „Rätsel Frau“ (ebd., S. 67) an Erika
studieren. Die „psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien“ (Janz, S. 71) werden auch zur
Schilderung der psychischen und sozialen Motiven in der Entwicklung von Erika benutzt:
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wegen der Abwesenheit des (abgeschobenen) Vaters wird Erika „von der Mutter phallisch
besetzt“
(ebd.).
Erikas
inzestuöser
Versuch
parodiert
wiederum
Freuds
ödipale
psychoanalytische Theorie. Die Erfahrung der eigenen Kastration (die Erika schon längst
gemacht hat), die bei dem inzestuösen Überfall noch durch die Kastriertheit der Mutter
gekräftigt wurde, könnte laut der Theorie Freuds fatale Folgen haben: „Die Ersatzbildungen
dieses verlorengegangenen Penis des Weibes spielen in der Gestaltung mannigfacher
Perversionen eine große Rolle.“ (Freud, S. 101) Sigmund Freud war auch in der Tat
überzeugt, dass die „sexuellen Impulse“ aus unserer Kindheit verantwortlich für unser ganzes
weiteres Leben sein können. Die Figur Erika Kohut lässt sich tatsächlich als eine Patientin
von Freud lesen. Die Wurzeln ihrer „Neurose“ wären in dem Maß der (Dis-)Harmonie der
geschlechtlichen Entwicklung des Kindes zu suchen: „Die Normalität des Geschlechtslebens
wird nur durch das exakte Zusammentreffen der beiden auf Sexualobjekt und Sexualziel
gerichteten Strömungen, der zärtlichen und der sinnlichen, gewährleistet, von denen die
erstere in sich faßt, was von der infantilen Frühblüte der Sexualität sich erübrigt … alle
krankhaften
Störungen
des
Geschlechtslebens
sind
mit
gutem
Rechte
als
Entwicklungshemmungen zu betrachten.“ (ebd, S. 112 f.) Laut der Theorie Freuds könnte
Erika als ein „neurotisches“ Wesen bezeichnet werden, das nicht im Stande ist, den
Voyeurismus und die Grausamkeit, die den Kindern eigen sind, mit dem „erwachsenen“
Sexualtrieb zu ersetzen.
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4. 12. Konzept: Mythenzerstörung
„Die Sexualität erscheint [bei Jelinek] als Aggression, als Zerstörung, als eine Art
´korrumpierter´ Kommunikation zwischen den Geschlechtern…“ (Szczepaniak, S. 156)
Elfriede Jelinek stellt in der Klavierspielerin neben anderen „kulturellen“ Mythen
auch den „profanen“ Liebesbegriff in Frage. Wie im Falle der Sexualität wird auch dieser
Bereich als bloßes Schlachtfeld der Machtverhältnisse zwischen den beiden Geschlechtern
entlarvt: „Die Scheinwelten des Trivialromans werden so rasch zunichte gemacht, wie schnell
und einfach sie aufgebaut wurden. In Wirklichkeit äußert sich die Liebe in Besitz- und
Herrschaftsansprüchen, in Verdinglichung und Gewalt.“ (Szczepaniak, S. 156) Der Mythos
Liebe wird relativiert – „es handelt sich um einen ´korrumpierten´ Begriff der Liebe, dessen
Sinn gleichsam ´entwendet´ und die übriggebliebene Hülle mit einem neuen Inhalt gefüllt
wird“ (ebd, S. 157). Die sogenannte Liebe oder Zuneigung haben immer einen Hintergrund
(sexuelles Training, Trennung von den Eltern), nie handelt es sich um „reine“ (oder sogar
romantische!) Gefühle. Die Vorstellungen von einer romantischen Liebe werden energisch
angekratzt, der Eros ist endgültig geflüchtet (ebd., S. 156). Kurz: „Man sieht: dem in diesem
Buch gezeigten Amourösen liegt nichts Natürlich-Spontanes zugrunde, alles ist bis ins Detail
durchgedacht, Gefühle werden nachgespielt, inszenierte intime Vereinigungen enden jeweils
mit einem Desaster; Kalkül, Gewalt und Aggressivität sind die Norm.“ (ebd., S. 173) Dem
Leser bleibt nur, die allmähliche Zerstörung der gesellschaftlich determinierten Klischees,
Ideologien und Imaginationen zu verfolgen. Elfriede Jelinek hat keine Angst, etwas Neues
anzubieten, die bisher „festen“ Grundlagen unseres gesellschaftlichen Bewusstseins zu
erschüttern: „Erfinderisch und ironisch nimmt sich Jelinek die Freiheit, thematische
Einschränkungen ebenso wie literarische, dramatische und sprachliche Konventionen
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aufzubrechen, gesellschaftliche wie künstlerische Limitationen zu verletzen.“ (Spielmann,
S. 24 f.)
Trotz dem oben Genannten handelt es sich bei Jelinek nicht um bloße Provokation.
Auch die Tabus wurden nicht umsonst gebrochen. Es geht ihr nicht um Spiel, sondern um
ernste Sachen, um eine Mitteilung einer drastischen Wahrheit, die mit drastischen Mitteln
ausgedrückt werden muss. Man wird mit der apokalyptischen Vision der Gegenwart
konfrontiert und kein „besserer“ Morgen wird einem angeboten. Doch der Leser muss (wenn
er Jelineks Vorschlag akzeptiert) der brutalen Realität gewachsen werden. Wenn nicht, dann
kann die literarische „Rezeption“ der Klavierspielerin so aussehen, wie es im Falle von dem
Journalisten Reinhard Beuth war: „Das wiederum bietet Jelinek reichlich Gelegenheit, ihr
sadomasochistisches Spezialwissen detailfreudig auszulegen … Sie gefällt sich selbst als
Menschenverächterin. Sie haßt Musik, sie haßt Wien, sie haßt Menschen … Das macht die
Jelinek-Lektüre so verdrießlich. Sie möchte ganz bestimmt ihre Leser zum Kotzen bringen.
Bei labilen Naturen schafft sie es mit der Klavierspielerin bestimmt.“ (Beuth, S. 202)
72
5. Helden wie wir – Perversion und Politik
„Wer, wenn nicht ich, war zum Perversen berufen! Beim Munterdrauflosficken holte
ich mir die Gonorrhöe … bei wahrer Liebe bekam ich ihn nicht hoch … Wichsen
brachte mir Knochenbrüche ein … und Vergewaltigen war leider eine strafbare
Handlung!“ (H, S. 244 f.)
Dieses Buch des damals beginnenden (ost-)deutschen, oder besser gesagt Berliner
Schriftstellers Thomas Brussig (geboren 1965) erschien zum ersten Mal im Jahre 1995. Dank
dem günstigen Zeitpunkt seiner Veröffentlichung, fast unmittelbar nach der Wende, und
sicher nicht zuletzt dank dem „originellen“ Stil des jungen Autors brachte sein zweites Buch
Brussig einen immensen (auch kommerziellen) Erfolg. Die Erzählung ist als ein Interview mit
dem Reporter aus New York Times stilisiert; ganz genau geht es eigentlich um einen
Monolog, denn der Reporter (der allerdings keine Ahnung über die „wahre“ Geschichte hat),
Mr. Kitzelstein, stellt nie irgendwelche Fragen. Die Handlung wird in die letzten zwanzig
Jahre der DDR situiert und auch die Wende und der Mauerfall werden thematisiert. Die Sicht
des „Dokumentaristen“ ist jedoch äußerst außergewöhnlich… Der erzählende Held des
Buches heißt Klaus Uhltzscht. Dieser Mann mit einem unaussprechlichen Namen eröffnet den
Roman mit der sensationellen Behauptung: „Ich war´s. Ich habe die Berliner Mauer
umgeschmissen.“ (H, S. 7) Und als ob es nicht genug wäre, fügt er gleich hinzu: „Die
Geschichte des Mauerfalls ist die Geschichte meines Pinsels…“ (ebd.) Also komm, Leser,
und lasse Dir die Geschichte seines „Schwanzes“ (ebd., S. 8) erzählen…
Um zu dem Höhepunkt seines Lebens zu kommen, muss Klaus freilich vom vorne
anfangen, damit die Bedeutungskette völlig geklärt wird. Und so skizziert er die „wichtigen“
Ereignisse seiner problematischen Biographie. Schon seine Geburt war nicht reibungslos.
Klaus wurde am 20. August 1968 geboren, in der Nacht, wo ein „ganzes Panzerregiment“
(ebd., S. 5) aus Ostdeutschland Richtung Tschechoslowakei rollte. Der Held selbst schildert
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dieses Ereignis folgendermaßen: „In Panik durchstieß ich die Fruchtblase, trieb durch den
Geburtskanal und landete auf einem Wohnzimmertisch. Es war Nacht, es war Hölle, Panzer
rollten, und ich war da: Die Luft stank und zitterte böse, und die Welt, auf die ich kam, war
eine politische Welt.“ (ebd.) Wie imposante Einführung in das Problem von Klaus´ Leben…
Auch Klaus´ Kindheit ähnelte einer unendlichen „Problemkette“. Er wächst in einer
idealen „sozialistischen“ Familie auf. Seine Mutter arbeitet (wegen der Schwangerschaft hat
sie das Medizinstudium abgebrochen) als eine Hygieneinspektorin. Sie ist diejenige, die Klaus
alle (vor allem die Sexualität betreffenden) hygienischen und auch sozialen Regeln beibringt
und ihn so zu einem verklemmten und von fast allen „schmutzigen“ Freuden isolierten jungen
Menschen erzieht. Vor allem während der Pubertät ist Klaus vorwiegend damit beschäftigt,
aus ihrer „allsehenden“, ständig kontrollierenden Sicht zu flüchten. Der Vater, der, wie Klaus
lange glaubt, im „Außenhandel“ (in Wirklichkeit bei der Stasi) arbeitet, widmet sich Klaus so
gut wie nie: „Ein Vater, der so wenig an mich glaubte, daß er sich nicht mal der Anstrengung
unterzog, einen vernichtenden Satz wie ´Ach, aus dem Jungen wird doch nichts!´ zu Ende zu
bringen; er winkte nach den Wörtern ´Ach, aus dem Jungen…´ immer nur resignierend ab. Er
sagte nicht einmal meinen Namen!“ (ebd., S. 10)
Sehr wichtig (vor allem für Klaus´ „sexuologisches“ Wissen) sind die sozialistischen
Ferienlager, an denen Klaus regelmäßig teilnimmt. Dort erfährt er nicht nur von der richtigen
(obwohl für ihn ganz unglaublichen) Version der Fortpflanzung, sondern auch die Wahrheit
über den Beruf seines Vaters. Seine weiteren Lebensstationen sind durch die ersten
Erektionen und Pollutionen geprägt; bzw. durch sein Bemühen, dieser vorzubeugen: „Meine
ganze Pubertät hatte ich nichts anderes zu tun, als meine Ständer wegzuräumen.“ (ebd., S. 71)
Deswegen hört er fast auf zu trinken, was ihm einige Jahre später zu einer unverhofften
Karriere helfen wird…
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Klaus ist sich seines Versagertums bewusst und schildert seine Lage ohne Schleier:
„Ich hatte den widerwärtigsten Namen, ich war der schlechtinformierteste Mensch, ich war
Toilletenverstopfer, Sachenverlierer, Totensonntagsfick und letzter Flachschwimmer. Ich
konnte mir nicht mal einen runterholen. Und als Antityp brachte ich es sogar auf die
Titelseite.“ (ebd., S. 92 f.) Sein Minderwertigkeitsgefühl wird noch von weiterer
erniedrigender Tatsache unterstützt: er hat „den kleinsten Schwanz, den man je gesehen hat“
(ebd., S. 101). So identifiziert er sich mit dem Kleinen Trompeter aus dem gleichnamigen
sozialistischen Lied, denn kleine Trompeter haben doch kleine Trompeten…
In dieser Situation beginnt auch Klaus bei der Stasi zu arbeiten. Und an seinem
Arbeitsplatz trifft er Leute, die noch „einfacher“ sind als er. Während seines Aufenthaltes im
Stasi-Lager (genauer während eines „Fickererlaubnisses“ – ebd., S. 124) macht er sein erstes
sexuelles Erlebnis durch. Es wäre jedoch nicht Klaus Uhltzscht, wenn keine Katastrophe
passieren würde – er steckt sich mit Gonorrhöe an. Sein „zweites Mal“ endet noch schlimmer:
damit er die „Wurstfrau“, die ihn wegen seiner Penisgröße ausgelacht und abgelehnt hat, nicht
vergewaltigen muss, ist er gezwungen, zum ersten Mal in seinem Leben zu masturbieren
(bisher hat er sich diese Aktivität aus Angst, fünfzig Millionen Menschen auf einmal zu töten,
streng versagt). Und es endet (wie unerwartet!) mit einer weiteren Katastrophe – wegen den
mangelhaften Lichtverhältnissen rutscht er aus und bricht sich den linken Daumen und das
rechte Handgelenk. Zum dritten Mal (seiner „einzige[n] Liebesgeschichte“ – ebd., S. 214)
findet er seine Geliebte zu edel und läuft einfach weg…
Trotz
seinem
erfolglosen
Lebenslauf
träumt
er
von
der
Karriere
eines
Nobelpreisträgers oder zumindest von einem geheimen Auftrag, der die sozialistische Welt
rettet. Als er aber feststellt, dass sein beruflicher Alltag ziemlich „harmlos“ ist, findet er
seinen eigenen Weg zur (zukünftigen) Anerkennung. Er fängt klein an: als er eines Tages den
Ausdruck „Hühnerficker“ als Titulierung der von ihm „bewachten Person“ hört, versucht er,
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um sich besser in den Gegner hineinversetzen zu können, die wörtliche Bedeutung auch
praktisch zu realisieren. Kurz danach fällt Klaus eine tolle „sozialistische“ Idee ein: Er will
die „sozialistischen“ Perversionen im Westen für Devisen vermarkten. Er wird also pervers,
„um dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen“ (ebd, S. 247). Nachdem er alle möglichen
Stellungen mit Goldbroilern ausprobiert hat, entwickelt Klaus einen innovatorischen
„Fellatiomat“ (ebd., S. 252). Schließlich entscheidet er sich zur „Massensodomie“ (ebd.,
S. 256) und vergewaltigt mit Hilfe eines Kondoms Hunderte von Kaulquappen.
Inzwischen zeigt es sich, dass Klaus´ Durstphase, die er in der Pubertät durchgemacht
hat, endlich ihre Früchte bringt. Aufgrund seines „spezielle[n] Blutbildes“ (ebd., S. 261) wird
er zum einem Spezialauftrag berufen. Anstatt dass er, wie er hofft, im feindlichen Westen
eingesetzt wird, wird „nur“ sein „Perversenblut“ (ebd.) dem Generalsekretär der SED Erich
Honecker gespendet. Klaus Uhltzscht bringt diese lebensgefährliche Mission beinahe in
weitere (diesmal wohl endliche) Katastrophe… Er überlebt und (inzwischen sind wir im
Herbst 1989 angelangt) nimmt (aus Schuldgefühl wegen seines Stasi-Berufs) an einer
Protestdemonstration teil. Als er sich (nachdem er die Rednerin Christa Wolf mit der
„Phantasiefrau“ seiner ersten Erektionen, der Eiskunstlauftrainerin Jutta Müller, verwechselt
hat) entscheidet, zum Mikrophon zu gehen, um sich als „der Feind“ zu outen, verletzt er sich
bei einem Treppensturz seine Genitalien und muss operiert werden. Diese schmerzliche
Operation bringt jedoch immenses Wachstum seines Gliedes mit sich, was dann
grundbedeutende Folgen für die Weltgeschichte haben wird.
Es sieht so aus, dass Klaus´ Pech endlich durchgebrochen wurde. Er ist jetzt Besitzer
des größten Penis der Welt und bereit, diese Tatsache der Welt mitzuteilen. Er flieht vom
Krankenhaus (zufällig am 9. November 1989) und genießt sein neues Selbstbewusstsein,
denn: „mit so einem Schwanz in der Hose kann nichts schiefgehen…“ (ebd., S. 314)
Unterwegs begegnet er einer Masse von Leuten, die nach Westen durchdringen möchten, was
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ihnen die Grenzsoldaten nicht erlauben wollen. Dann geschieht das, worauf der Leser das
ganze Buch lang wartet: „Ich öffnete langsam den Mantel, dann den Gürtel und schließlich
die Hosen und sah den Grenzern fest in die Augen … mit einem Grinsen zog ich meine
Unterhose herunter.“ (ebd., S. 318) Die Grenzer, von dem Anblick gelähmt, lassen die nach
Westen dringende Masse ihrem Schicksal. Und Klaus Uhltzscht erlebt den ersten Erfolg
seines Lebens…
5. 1. Die kindliche Sexualität versus allwissende Mutter
„Wo ich nun schon von meiner Mutter und meinem Schwanz rede…“ (H, S. 53)
Bestimmend für Klaus´ Entwicklung in der frühen Kindheit war die Erziehung seiner
mit Hygiene besessenen und alles kontrollierenden Mutter, der „Hygienegöttin“ (H, S. 25).
Der Vater spielt als Elternteil fast keine Rolle und die Mutter übernimmt alle Verantwortung
für Klaus´ „Kinderstube“. Klaus liebt und bewundert sie einerseits, anderseits treibt ihn ihre
allumfassende Anwesenheit zum Wahnsinn. Schon in seiner frühen Kindheit erfährt er von ihr
von der Gefährlichkeit der Umwelt – sprich Bazillen und deren Keime, die überall auf ihre
Opfer warten („Aus Gründen, die ich selbst nicht verstehe, umwickle ich auf allen Toiletten,
deren Hauptnutzer ich nicht dutze, die Toilettenbrille sorgfältig mit Toilettenpapier … Ich
habe schon Hunderte von Toilettenverstopfungen verursacht.“ – ebd., S. 44). Von der Mutter
erfährt er auch von der Notwendigkeit, alle Gesetze und Vorschriften zu respektieren („Wenn
ich mal bei Rot über Kreuzung gehe, erwarte ich, daß mir ein Heckenschütze in den Rücken
schießt…“ – ebd., S. 35). Die Mutter kontrolliert sogar die intimsten Bereiche ihres Sohnes,
was dann „fatale“ Folgen für Klaus´ weiteres Leben hat. Als sie eines Tages mit der
Bemerkung „Es schnuppert!“ das von Klaus eben benutzte Bad betritt, ist der Junge in seiner
tiefsten Seele erniedrigt: „Nie wieder gab ich meiner Mutter Gelegenheit, meine Scheiße zu
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reklamieren – aber zu welchem Preis! Wie soll man ein Mann werden, wenn man sich sogar
seiner selbstgekackten Scheiße schämen muß? Ich spülte seit jenem Tag jedesmal sofort,
wenn es platschte, und erhob mich dabei von der Toilettenbrille … selbst mein kleines
Geschäft wird im Sitzen erledigt … Ich stehe doch nicht vor dem Toilettenbecken, mein Gott,
es könnte ja was danebengehen!“ (ebd., S. 44 f.) Als sich Klaus bei der Masturbation im
Treppenhaus verletzt und nicht im Stande ist, die „hygienische Pflege“ selbst durchzuführen,
übernimmt seine Mutter diese Pflicht. Die „peinliche“ Tatsache und ihren genauen Verlauf
gönnt Brussig dem Leser wirklich bis zum Ende – „das Arschwischen“ (ebd., S. 24), das die
Mutter für Klaus übernommen hat, wird sehr detailreich und anschaulich beschrieben (ähnlich
„wahrheitsgetreu“ sind auch einige Passagen von Kieseritzkys Buch der Desaster, wo der
Autor die Leser mit „Problemen“ wie Periode, Erbrechen oder Durchfall bekannt macht). Der
„dokumentaristische“ Blick kann manchmal stressig sein…
Am allerschlimmsten sind jedoch die mütterlichen Interventionen in dem Bereich der
sich entwickelnden Sexualität, von der ansonsten in der Familie natürlich geschwiegen wird.
Die „erlaubten“ Tätigkeiten mit dem „Puller“ (ebd., S. 53) werden ganz genau spezifiziert:
„Man macht kein Gewese darum, sondern benutzt ihn auf der Toilette, und nur ein Ferkel tut
andere Dinge damit, weil bekanntlich der Puller ein hygienisch heikles Ding ist, nach dessen
Benutzung man sich jedesmal die Hände waschen muß. Wir hatten ein Extra-Stück Seife
dafür, die Rote Seife.“ (ebd., S. 53 f.) Als Klaus seine erste Erektion kriegt (allerdings beim
Ansehen von Dagmar Frederick, die „ungefähr so apart wie Nancy Reagan“ – ebd., S. 67 –
ist), und versucht sich im Bad zu verstecken, um sein „Rohr“ (ebd.) in Ruhe betrachten zu
können und auch um zu probieren, ob man „verschiedene Dinge“ (ebd.) daran aufhängen
kann, kommt die Mutter und verlangt eine Erklärung seines „merkwürdigen“ Verhaltens.
Weil Klaus keine Ahnung hat, „wie man einen Steifen los wird“ (ebd., S. 68) und die Tür
einfach öffnen muss, folgt die notwendige vorwurfsvolle Frage: „Hast du wieder daran
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rumgespielt?“ (ebd.) Der arme Klaus verbringt also die nächsten Jahre damit, dass er auf der
Suche nach Methoden der Verhinderung der Erektion ist – er hört fast auf zu trinken, steckt
sich einen Rubikwürfel in die Tasche, „um die Identifizierung des Ständers zu erschweren“
(ebd., S. 69), wird Mitglied des Schachvereins (denn während der Partien braucht man nicht
aufzustehen), lenkt sich andauernd mit Kopfrechnenaufgaben ab.
Als Klaus mit der Mutter über den Geschlechtsverkehr diskutieren will, den er als
Fortpflanzungsmethode für ein Märchen hält, und ihr verrät, dass er im Ferienlager Zeuge der
Masturbation seines „Genossen“ war, liest ihm seine sex-feindliche Mutter Leviten. Sie
spricht von einer kriminellen Tat, vom „Fall von Exhibitionismus“ (ebd., S. 75), dessen Täter
angezeigt werden könnte, wenn er volljährig wäre. Klaus, der doch „dabei“ war, sieht sich
gleich ins Gefängnis gehen. Doch wie „erfolgreich“ die puritanische Erziehung war, bezeugen
die Gedanken, die Klaus noch vor dem Verdikt der Mutter durch den Kopf gehen (diese
Passage bezeugt wiederum auch Brussigs Vorliebe für satirische Überspitzung und tabu-brechende Wortspiele): „Was sich auf seinem rechten Oberschenkel abspielte, war, wenn
man mal vom Sachschaden absieht, mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar! Und ich habe
Beihilfe geleistet! Mir drohte nicht nur das amerikanische Schwurgericht, mir drohten die
Nürnberger Prozesse!“ (ebd.) Genauso negativ war die Einstellung der anständigen Mutter
zum „richtigen“ sexuellen Akt: „…und als mir meine Mutter mit Hilfe des Verbotsschild-Zitats ´Eltern haften für ihre Kinder´ die Fährnisse des Vögelns nahebrachte, war ich so
beeindruckt, daß ich für die nächsten vier Jahre praktisch mit Impotenz geschlagen war.“
(ebd., S. 35)
Sobald Klaus (mit mehr oder weniger Erfolg) das Problem Erektion endlich gelöst hat,
kommt etwas, was noch unkontrollierbarer und deswegen schlimmer für ihn ist – die
Pollutionen. Obwohl schon Martin Luther im 16. Jahrhundert zu der Schlussfolgerung
gekommen ist, dass sie keine Gefahr für die menschliche Gesundheit oder Moral darstellen,
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freut sich Klaus´ Mutter keineswegs darüber, dass sich das Sexualleben ihres Sohnes
„normal“ äußert. Sie unterstellt (schon wieder) Klaus, schuld an diesen „nächtlichen
Ereignissen“ zu sein. Dabei benutzt sie ihren typischen Stil (oder den typischen mütterlichen
Stil): „Klaus … du mußt es ja nicht jede Nacht machen.“ (ebd., S. 84 f.) Mancher Leser kann
sich ganz bestimmt (zumindest teilweise) in die (wenn auch unberechtigten) Schamgefühle
des Sohnes bzw. Kindes im Allgemeinen hineinversetzen. Klaus´ Problemlösung ist aber sehr
originell (immerhin Brussigs Stil vom „Jahrmarkt der Absurditäten“ ganz entsprechend). Die
Situation wird folgendermaßen „anschaulich“ und vor allem völlig „aufrichtig“ geschildert:
„Ich erwog, mit Windeln zu schlafen, aber dann kam ich auf die Idee, mir einen
Scheuerlappen in die Schlafanzughose zu stecken. Und zwar einen grauen, der kaschierte die
Flecken am besten. Wenn ich ihn trocknen wollte – ich hatte keine Lust, mich mit einem
samendurchfeuchteten Scheuerlappen ins Bett zu legen –, breitete ich ihn über einer
Fahrradfelge aus, die ich eigens zu diesem Zweck neben meinem Bett plazierte. Der
ahnungslose Betrachter (ich dachte da besonders an meine Mutter) sollte den Scheuerlappen
für einen Putzlappen halten.“ (ebd., S. 85) Die Mutter durchschaut überraschenderweise diese
List nicht, Klaus hat es jedoch mittlerweile satt, mit einem Scheuerlappen „mit der Konsistenz
von Knäckebrot“ (ebd., S. 87) schlafen zu müssen. Seine Invention scheint richtig
unerschöpflich zu sein, er entscheidet sich für ein spezielles Bettwäschemuster mit
aufgedruckten bräunlichen Flecken („wichsfleckengemusterte Bettwäsche“ – ebd., S. 89), die
die verdächtigen Spuren tarnen sollte. Auch diese Aktion erfüllt ihren Sinn, das
außergewöhnliche Muster erweckt jedoch eine lebhafte und alle Aspekte angehende
Diskussion am Familientisch. Als die Mutter die Idee erwähnt, es könnte eher ein
Tapetenmuster sein, reagiert der genervte Sohn (allerdings nur in seinem Kopf) schon
überempfindlich: „Ha! Was war denn das nur wieder? Ein Vorschlag, mein Sperma an der
Wand zu verteilen, anstatt es ins Linnen strömen zu lassen?“ (ebd.)
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Als Klaus (fatal von Pech angezogen) nach seinem ersten sexuellem Erlebnis feststellt,
dass er sich dabei mit Gonorrhöe angesteckt hat, wird er zur medizinischen Behandlung in die
Poliklinik des Ministeriums, also „nach Hause“, überwiesen. Obwohl er sich wie ein „halbe[r]
Elvis“ (ebd., S. 131) anzieht und sich verändert und selbstbewusster fühlt („Kaum zu glauben,
wie ein Fick einen Menschen verändern kann.“ – ebd., S. 131 f.), hat er seine Mutter bei
weitem nicht besiegt. Er wird einem schonungslosen Verhör (samt den typischsten Fragen
und der AIDS-Warnung) unterzogen. Zu einer offenen Revolte ist Klaus zu schwach, seine
innere Stimme protestiert jedoch heftig: „Wann werden sie begreifen (…), daß es mein
Schwanz ist und meine Angelegenheit, wo ich ihn reinstecke und was dranklebt, wenn ich ihn
rausziehe.“ (ebd., S. 135) Der Vater bringt noch eine andere Dimmension ins Gespräch,
nämlich die politische, die die Mutter sofort aufgreift und das Horrorszenario laut schildert:
Klaus´ „Geliebte“ (die er allerdings gar nicht kennt!) könnte emigrieren und dann „äußert sie
in dem obligatorischen Gespräch mit feindlichen Geheimdienstleuten, daß sie Intimverkehr
hatte mit dem Angehörigen der Sicherheitsorgane Klaus Uhltzscht. Da wollen die natürlich
alles ganz genau wissen. Und damit wäre er erpreßbar!“ (ebd., S. 136) Die kleinbürgerliche,
pardon, sozialistische Moral der Eltern, ist gravierend verletzt worden. Und Klaus kann ja
auch Vater werden! Und übrigens – es wäre viel besser, wenn nächstes Mal die Frau noch
„davor“ den Eltern vorgestellt wird. Klaus´ neu gewonnenes Selbstbewusstsein ist irgendwie
weg und seine Loser-Gefühle steigen auf das „bekannte“ Niveau: „Warum kann ich nicht mal
an den Fick glauben, den ich selbst vollbracht habe? Weil sie sagen, daß es lebensgefährlich
ist? Weil ich ein Kind dieser Eltern bin? Weil ich den kleinsten Pimmel habe?“ (ebd.,
S. 137 f.) Klaus´ Familie ist einfach kein Ort der Geborgenheit und liebevoller Unterstützung,
es wird nicht miteinander gesprochen, es wird gemahnt, befohlen und vor allem verboten.
Wie anstrengend das Leben mit einer „ordnungsliebenden Nervensäge“ (Kraft, S. 1)
ist, die jedoch nichts direkt sagt und immer „in Fassung“ bleibt und man sie also nicht richtig
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beschuldigen kann, zeigen uns folgende Zeilen, in denen uns Brussig, wie für ihn typisch,
eine „aufrichtige“ und fast glaubwürdig dargebotene Beichte eines Teenagers anbietet: „Das
wollen wir uns doch lieber abgewöhnen, sagt sie angesichts eines befleckten Lakens. Woher
will ich wissen, daß sie etwas gegen Wichsen hat? Vielleicht hatte sie nur was gegen Ins-Laken-Wichsen und wollte mich nur dazu bewegen, ins Klo oder in einen Kondom oder
sonstwo hineinzuwichsen – aber nicht in mein Laken? (Natürlich hatte sie was gegen
Wichsen, aber heute würde sie in aller Unschuld behaupten, daß ich mir das nur eingebildet
hätte, daß sie mich immer ehrlich und respektvoll…)“ (H, S. 90) Das Verhör ist ein wichtiger
Bestandteil dieses Mutter-Sohn-Verhältnisses: „Ist diese Frau nur dann zufrieden, wenn ich in
der Schämecke stehe? Muß ich mich immer schuldig fühlen?“ (ebd., S. 85) Klaus ist immer
der Täter und der Verurteilte. Und die Strafe? Eine Menge Minderwertigkeitsgefühle: „Ich
schwieg betreten. Sie hatte mich wieder mal geschafft. Soll ich mich jetzt kastrieren lassen?“
(ebd., S. 86) Der komplexbeladene Klaus, der es nicht schafft, einen „normalen“ sozialen
Kontakt zu irgendeiner Person aufzubauen, der „dank der mütterlichen Fürsorge“ abnorm
wird, hat dann eigentlich keine Chance ein normales Sexualleben zu führen. Auch Sigmund
Freud (die Reminiszenz der von ihm beschriebenen Mutter-Sohn-Beziehung lässt sich
bestimmt zwischen den Zeilen entdecken) würde wohl zustimmen: „Wer in sonst irgendeiner
Beziehung geistig abnorm ist, in sozialer, ethischer Hinsicht, der ist es nach meiner Erfahrung
regelmäßig in seinem Sexualleben.“ (Freud, S. 59)
Von seinem Arbeitgeber, der Stasi, bekommt Klaus eine eigene Mietwohnung. Die
Kontrolle der alles kontrollierenden Mutter hört also auf. Im Notfall kann Klaus jedoch mit
ihrer Hilfe rechnen. Als er die Treppen hinunterfällt und sich seine Genitalien verletzt (von
den Ärzten wird er paradoxerweise für ein Stasi-Opfer gehalten) erscheint die Mutter auf
einmal im Krankenhaus. Denn „Als Mutter spürt man so was.“ (H, S. 298) Klaus fühlt sich
„am Boden vernichtet“ (ebd.), und bald kommt auch noch der erwartete Satz, der eigentlich
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fast wie eine Drohung klingt: „Dann laß mal sehen!“ (ebd., S. 299) Als die ablehnende
Antwort nicht akzeptiert wird, zieht Brussig einen weiteren typischen Spruch aus seinem
Familien-Repertoire aus: „Der feine Herr will seiner Mutter nicht zeigen, wo er sich verletzt
hat?“ (ebd., S. 300) Klaus weigert sich noch eine Weile, sich der „Zwiespältigkeit“ seiner
Lage bewusst. Die Situation ist ihm jedoch sehr wohl bekannt: „Sehen Sie, Mr. Kitzelstein,
genau das ist ihre Art. Wenn ich sie nachschauen ließe und mit meinem Ständer konfrontierte,
habe ich wieder dran rumgespielt, wenn ich sie nicht lasse, bin ich der feine Herr.“ (ebd.) Der
Sieg der Mutter ist sowieso unabwendbar. Und obwohl sie „noch Ärztin“ (ebd.) ist, ist sie, die
Hygienegöttin, die doch auf alles gefasst sein sollte, entsetzt! Allerdings kein Wunder, denn
das, was noch vor einigen Tagen einem „zertretenen Frosch“ (ebd., S. 292) ähnelte, ist zu
einem Tyrannosaurus Rex geworden: „Zwischen meinen Beinen lag etwas wie ein Tier,
zusammengerollt und friedlich. War das etwa? … Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines
Tages auf und anstatt Ihres gewohnten Zipfelchens finden Sie zwischen Ihren Beinen das
größte Glied, das Sie gesehen haben.“ (ebd.) Der von den Eltern sein ganzes Leben lang
gedemütigter Klaus (direkt von dem Vater und indirekt von der Mutter) wird endlich seines
Versagergefühls los. Sogar seine Mutter, die in jeder Situation etwas zu sagen hat, wurde zum
Schweigen gebracht! Klaus fühlt sich jetzt endlich wie ein Mann, und einige Tage später
äußert er sich sogar folgendermaßen: „Ein Mann ging hinaus in die Nacht, ein Mann mit
seinem Schwanz. (Ich rede von mir, wie sie sich denken können). Ich hatte ein Glied, das
diese Bezeichnung verdiente. Nix mehr mit Kleiner Trompete. Das Gewicht meiner Eier gab
mir beim Gehen ein neues Gefühl.“ (ebd., S. 313)
Die Familie und die Erziehung stellen den wichtigsten Baustein in der Mosaik von
Klaus´ Lebens- und Leidensgeschichte dar. Brussig schildert uns eine typische Familie („eine
biedere DDR-Familie“ – Walther, S. 1; „eine parteifromme Spießerfamilie in der DDR“ –
Biermann, S. 2), wirklich nicht ideal (aber ist nicht gerade das das Allertypischste?), die noch
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dazu in ein autoritäres (bei weitem nicht ideales) System situiert wird. Der Autor bietet
uns die Karikatur eines „psychopatologischen DDR-Familienidylls aus der niederen
Nomenklatura“ (Biermann, S. 1) an. Der Leser wird jedoch des Gefühls irgendwie nicht los,
dass eine Menge Authentizität und Selbsterfahrung (natürlich stark satirisch zugespitzt und
übertrieben) im Text immer präsent sind. Die Sprüche von Klaus´ Mutter kommen einem sehr
bekannt vor… Und die Komplexe des Sohnes, die zu sexueller Verklemmtheit führen, die
später (mit Hilfe des perversen Systems) sogar in vielfache Perversion mündet, kann man
auch irgendwie nachvollziehen. Wie Thomas Brussig selbst zugibt, ist auch das „stilisierte
Selbsterfahrene“ in der Erzählung dabei: „Mit sexuellen Verklemmtheiten kenne ich mich
aus. Ich habe das alles ausgeschmückt, übertrieben und konsequent zu Ende geführt.“
(Felsmann, S. 2) Zugleich empfindet man auf jeder Seite die Tödlichkeit der immer
anwesenden (familiären oder staatlichen) Totalität, die durch den tragisch-komischen Stil, der
sich kein Blatt vor den Mund nimmt, noch gesteigert wird. Die Sexualität ist tabu, richtig
gesprochen wird darüber nie. Und die Mutter tut noch „so scheißunschuldig“ (H, S. 58): „Mit
der harmlosesten Miene sagt sie noch heute Puller, und sie findet auch nichts dabei, eine
Katze Muschi zu nennen; einmal brachte sie es sogar fertig, beim Scrabble VULVA zu
legen.“ (ebd.) Sehr treffend hat die Elternerziehung Marion Löhndorf charakterisiert: „Die
Mutter, ein Muster aseptischer Perfektion und strengster Selbstdisziplin, drückt Klaus den
Stempel idiotisch weltfremder Musterknabenhaftigkeit auf. Der Vater, ein liebloses Ekel,
gibt ihm blühende Minderwertigkeitskomplexe mit auf den Weg…“ (Löhndorf, S. 1)
Zusammengerechnet: Kann da jemand normal bleiben?
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5. 2. Ferienlager oder Sexualerziehung der sozialistischen Jugend
„Sie hatten ja immer recht, diese Ferienlagertypen, sie waren mir immer um eine böse
Wahrheit voraus. Männer haben so ´n Schwanz und mit dem fahren sie in Mösen ein,
sofern sie ihn sich nicht blasen lassen…“ (H, S. 83)
Im Rahmen der Familie ist also Sex tabu. Die „Quelle der (nicht nur) sexuellen
Wahrheit“ findet Klaus in den Ferienlagern, wo er aller seiner Illusionen beraubt und der
„harten Realität“ gestellt wird. Der „unschuldige“ Klaus schildert seine Empörung
folgendermaßen: „…und dann gerate ich im Ferienlager unter neun Experten, die den Puller
einvernehmlich Pimmel nennen und schon am ersten Abend die Pimmelgröße ihrer Väter
diskutieren. Am allerersten Abend! Ich hatte mir fest vorgenommen, daß ich mich nie wieder
in ein Weitpissen hineinziehen lasse, aber damit hatte ich nicht gerechnet.“ (H, S. 54) Klaus
hat selbstverständlich „keine Ahnung vom Schwanz [seines] Vaters“ (ebd.). Brussig schildert
die Diskussionen, die eigentlich wohl typisch für Jungen in diesem Alter sind und die
meistens während Massenaktionen, wie zum Beispiel ein Ferienlager, stattfinden, mit „guter
Kenntnis des Gegenstandes“. Es wäre aber nicht Brussig, wenn er keine satirische
Überspitzung hinzufügen würde: „Und ich glaubte, in Afrika seien auch die Puller größer.
Und nun? Afrikanische Verhältnisse in einer Berliner Schwimmhalle. Was es nicht alles
gibt.“ (H, S. 56) Als Klaus noch dazu von seinen Genossen im sozialistischen Ferienlager (!)
erfährt, wie man einen Beischlaf ausübt, ist er nicht nur durch die Vorstellung selbst empört,
er kann sich vielmehr nicht mit dem Gedanken abfinden, dass sogar seine asexuellen Eltern so
etwas machen mussten. „Der Vater muß seinen Pisser in die Muschi der Mutter stecken.“
(ebd., S. 63) – Brussig nimmt kein Blatt vor den Mund und offenbart auch denjenigen, die
diese Erfahrung vermissten, die „Wahrheit der Ferienlager“. Als der uninformierte Klaus noch
erfährt, dass „das Kind zuerst beim Vater ist“ (ebd.), hat es für ihn fatale Folgen: „Ich konnte
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mir jahrelang keinen runterholen, aus Angst vor den Schreien der gemordeten Kinder…“
(ebd., S. 64) Allerdings – Klaus´ (Brussigs) Phantasie ist unerschöpflich. Weil er nicht bereit
ist sich mit der Vorstellung abzufinden, dass die ganze Menschheit „ein Produkt zahlloser
Ficks“ (ebd.) sei, entscheidet sich Klaus diese „Bumsthese“ zu erschüttern. Man kann da fast
spüren, wie es Brussig genießt mit Wörtern zu spielen, wie fröhlich er zuspitzt und übertreibt:
„Die Wissenschaft, die ich vertrete, wird bald Schluß machen mit dem Aberglauben, daß
Pimmel in Mösen gesteckt werden müssen, um Kinder zu zeugen! Es wird in allen Ländern
ein großes Aufatmen geben: Nie wieder ficken müssen!“ (ebd.) Ähnliche Form haben auch
Klaus´ Vorstellungen von seiner Zeugung, von dem „Fick“ seiner Eltern, das sie nur
seinetwegen und nicht ohne Ekel durchmachten: „Wie lange dauerte es? Sekundenbruchteile?
Oder gar mehrere Sekunden? Haben sie es im Badezimmer getan? Nachdem sie nacheinander
geduscht hatten? Ich malte mir aus, daß mein Vater sein geheimes Ding nicht mit bloßen
Fingern in ihre Möse bugsierte, sondern mit Gummihandschuhen oder einer Grillzange …
Und daß sie tapfer eine Viertelminute verharrten, bis eine Ansteckung stattgefunden haben
mußte.“ (ebd., S. 66) Brussigs Stilisierung in die Sichtweise eines Kindes scheint wirklich
einwandfrei zu sein…
Im Ferienlager wird (der damals elfjährige) Klaus auch Zeuge der Masturbation seines
vierzehnjährigen Kollegen, eines Radiobastlers, und sieht auch zum ersten Mal das Sperma.
Dessen Konsistenz bestätigt nur Klaus´ Zweifel daran, dass „Ficken was mit Fortpflanzung zu
tun hat“ (ebd., S. 73). Denn die „Spucke“ (ebd.), die er sieht, ist tot „wie ein Tortenguß“
(ebd.). Im Ferienlager sieht Klaus auch die ersten Bilder vom Sex. Und es geschieht –
satirischer geht es fast nicht – „unter der Gagarin-Büste im Ehrenhain“ (ebd., S. 75). Klaus´
Vorstellung von der „sterilen Grillzange“ liegt in einer Minute in Trümmern: „Daß die
Menschheit zu Kriegen, Konzentrationslagern, Apartheid und Atombomben fähig war,
stand täglich in der Zeitung. Aber nicht, daß ein Menschwiestolzdasklingt einen
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Hastduwiederdranrumgespielt in den Mund nimmt.“ (ebd.) Brussig zeigt, dass er sich nicht
fürchtet, auch „ernste“ Sachen in seine satirischen Spiele miteinzubeziehen. Ähnliche Optik
benutzt der Autor auch bei der Schilderung von Klaus´ Reinkarnationstheorie: im Ferienlager
lernt Klaus auch das „Lied vom Kleinen Trompeter“ kennen, das ihm bei seiner
Selbstidentifikation und vor allem mit seinem großen Problem einigermaßen (zumindest
kurzfristig) hilft. Das sozialistisch stark geprägte Lied führt Klaus zu der Annahme, dass er
der „wiedergeborene Kleine Trompeter“ (ebd.) ist: „Ich sah meinen Schwanz, ich sah das
Lenin-Denkmal und ahnte, daß ich der Kleine Trompeter bin.“ (ebd.) Die sozialistischen
Symbole zu karikieren ist überraschend einfach und witzig wirksam!
5. 3. Dreimal und Schluss oder „Normal“ geht es nicht!
„Kaum habe ich meinen Schwanz aus einer Möse gezogen, werden
Resozialisierungsmaßnahmen erforderlich.“ (H, S. 143)
Weil sich Klaus aus Angst, ein Massenmörder zu werden, zu masturbieren fürchtet,
verbirgt er sich in seine sexuelle Phantasie: er liegt stundenlang auf den Lüftungsgittern der
U-Bahn-Schächte (wo der Westen nur vier Meter entfernt ist) und träumt (wie gewagt für den
späteren Stasi-Mitarbeiter!) von den westlichen Frauen, die „vermutlich auch jene
sagenumwobenen G-Punkte“ (ebd., S. 173) haben und sich „mit einem Schwanz im Mund
fotografieren lassen“ (ebd.). Es ginge aber noch schlimmer: „Wäre ich bereits damals von
denselben perversen Energien getrieben gewesen wie nur wenige Jahre später, hätte ich das
Lüftungsgitter vergewaltigt. Aber mit achtzehn hatte ich noch Skrupel. So kann ich nur
beteuern: Ich habe nie auf der Mitte der Friedrichstraße gelegen und mit einem Lüftungsgitter
gebumst.“ (ebd., S. 173 f.)
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Klaus erstes sexuelles Erlebnis findet erst während des Stasi-Vorbereitungskurses
statt. Es geschieht auf einem Schiff, die Frau heißt Marina, hat eine tolle Figur, über die „man
reden kann und über die man sich so seine Vorstellungen machen kann“ (ebd., S. 124). Allein
das würde Klaus schon reichen, aber Marina hat noch mehr zu bieten! Als sie eine Flasche
„Tschammpannja“ aufmacht, glaubt Klaus nicht seinen Augen: „Sie machte es der
Sektflasche mit der Hand! Sie wichste der Sektflasche einen!“ (ebd., S. 124 f.) Ganz im
Gegenteil zu dem „Safen Sekt“ (ebd., S. 125), den Klaus von zu Hause (und das nur zu
Silvester) kennt. Ohne „überflüssige Diskussionen“ übernimmt Marina nach ein paar Stunden
die Initiative: „Sie legte ihren Kopf an meine Schulter und tastete nach meiner Nudel. Ohne
mich um Erlaubnis zu fragen!“ (ebd., S. 127) Alles läuft reibungslos und sogar der immer
grübelnde (wie man eine Frau richtig auszieht, wo der G-Punkt zu suchen wäre…) Klaus
lockert sich einigermaßen. Alles läuft wie in einem durchschnittlichen Film: „Wir hatten
gevögelt, wir teilten uns die Zigarette danach und dazu lief Musik.“ (ebd., S. 129) Romantisch
und selbstbewusst gestimmt blickt Klaus unter den Küchentisch und das Gespenst seiner
Mutter lässt sich wieder erblicken: „Unter dem Küchentisch war ein Hamsterkäfig!
Abgesehen davon, daß es mir noch heute bei dem Gedanken unwohl ist, von einem Hamster
beim Bumsen beobachtet worden zu sein, war Hamster in der Küche ein Ausdruck
unvorstellbarer Verwahrlosung … In der Küche, also einem Raum, in dem Speisen zubereitet
werden, Dinge also, die man verzehrt, hält sie sich ein Tier mit einem Fell, in dem sich
sonstwas einnisten kann.“ (ebd., S. 129 f.) Trotz dem Tripper, mit dem sich Klaus bei seinem
„ersten Mal“ angesteckt hat, ist Marina für ihn eine schöne Erinnerung geblieben…
Da Klaus dann in der „Zentralstelle zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“
(ebd., S. 140) behandelt werden muss, kann Brussigs Sinn für zugespitzte Übertreibung
(deren idealer Vermittler doch der naiv geschilderte und schildernde Klaus ist) völlig entfaltet
werden (ganz nach dem Motto „Man nehme eine sozialistische Parole…“): „So viele
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Zimmer? War Tripper so beschäftigungsintensiv? Gar ein Wirtschaftsfaktor? Werden durch
unverantwortliches Ficken Arbeitskräfte gebunden, die in der Volkswirtschaft so dringend
benötigt werden? Ist Gonorrhöe kontrarevolutionär? Erwartet mich noch ein Parteiverfahren?“
(ebd.) Da sieht man, dass sogar Geschlechtskrankheiten politisiert werden können…
Die zweite „Gelegenheit zum Fick“ (ebd., S. 185) muss sich Klaus hart erkämpfen. Er
wartet in „vielen kalten Winternächten“ (ebd.) vor dem Altberliner Ballhaus und hofft einmal
Glück zu haben. Seine Kriterien sind wirklich nicht hoch: „Es durfte die Erstbeste sein –
solange sie nur allein über den Hof ging.“ (ebd., S. 187) Die „Erstbeste“, von Klaus „die
Wurstfrau“ benannt, kommt endlich. Doch heiß wird Klaus irgendwie nicht so richtig: „Ich
würde meine Rote-Seife-Region von der Möse einer wildfremden, betrunkenen und mehr als
doppelt so alten Bumsschuppen-Besucherin umschließen lassen?“ (ebd., S. 189) Es wird aber
noch schlimmer: diese „Kreatur“ lacht Klaus´ Penis aus. Er gibt aber nicht auf und bemüht
sich noch um „Romantik“ (Brussig gönnt dem Leser wieder eine Portion von
Situationskomik): „´Na los, mach was´, stöhnte ich ihr ins Ohr und nuckelte an ihr herum, in
der Hoffnung, auf eine erogene Zone zu stoßen, aber sie kicherte bloß. Ich fummelte ihren BH
auf, patschte ihr auf der Brust – Sülze – herum und erwartete, davon eine Erektion zu
bekommen.“ (ebd., S. 190) Weil die Unbekannte nicht bereit ist Klaus zu erregen, wird er
wütend („Ich, historischer Missionar, der ich an meiner sexuellen Vervollkommnung arbeite,
werde mich doch am Menschenmaterial eines Bumsschuppens ausprobieren dürfen!“ – ebd.,
S. 190 f.). Die Situation ändert sich jedoch (wieder einer Groteske ähnlich): „Wir wälzten uns
auf dem Boden, und vielleicht lag es daran, daß ich immer mit einer Art Ringkampf rechnete
oder mit einer Tätigkeit, die anstrengend ist wie das Verladen von Schweinehälften – aber
plötzlich kam er mir hoch.“ (ebd., S. 191) Doch die „Wurstfrau“ lacht ihn wieder aus. Klaus
respektiert ihr Nein nicht und ist fast entschlossen sie zu vergewaltigen. Nur der Gedanke an
seine Eltern bricht seine kriminelle Tat ab.
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Klaus verlässt die Wohnung und seine Lage wird noch absurder: „…ich stand in
diesem Treppenhaus und versuchte mich anzuziehen, ich hatte einen Ständer, der rebellierte,
der wollte nach wochenlangem Warten in kalten Winternächten endlich auf seine Kosten
kommen, und irgendwie verstand ich ihn; so ein Schwanz ist doch auch bloß ein Mensch.“
(ebd., S. 193) Also holt er sich, um Brussigs Wortschatz zu benutzen, zum ersten Mal in
seinem Leben, einen runter. Er onaniert, „um nicht zu vergewaltigen!“ (ebd.) Und das Objekt
seiner „Wichsphantasien“ (ebd., S. 196) ist Klaus´ Vorgesetzter, der Innenminister Mielke.
Brussigs bekannte Schreibweise (diesmal onomatopoetisch bereichert) ist schon wieder da –
man nehme eine sozialistische Parole…: „…Genosse Minister, Sie sehen ja, daß ich kein
Ferkel bin – floggfloggflogg – sondern für unsere gemeinsame Sache wichse –
floggfloggflogg – für den Sozialismus – floggfloggflogg – und in humanistischer
Tradition…“ (ebd., S. 195) Doch das Feuerwerk der grotesken Einfälle ist noch nicht zu Ende
– Klaus rutscht „auf einem Zehnmillionenkleckser“ (ebd., S. 198) aus und bricht sich beide
Hände. Und das mit offener Hose…
Zum dritten Mal begegnet Klaus sogar die Liebe! Und sie beginnt noch romantisch,
mit dem Verlust von Klaus´ Portmonnee, das Yvonne, so heißt die einzige Liebe im Klaus´
Leben, findet und ihrem Besitzer ehrlich übergibt. Und diese Liebesgeschichte erwischt Klaus
voll und ganz: lange Blicke, unendliches Plaudern, Plattenhören, Kerzen… Inmitten von
dieser romantischen Atmosphäre kommen jedoch Gewissenbisse: „Kann ich es mit meinem
Gewissen vereinbaren, einen Engel zu ficken?“ (ebd., S. 235) Noch dazu ist sie (ganz dem
Muster des Groschenromans ähnlich) eine Dissidententochter: „Auf solche Geschichten
warten doch die westlichen Gazetten, oder?“ (ebd., S. 236) Als Klaus diese Gedanken endlich
los wird und sich, um Zeit für erneute Erektion zu gewinnen, Yvonnes Körper widmet, wobei
er „in ihrem Muff herumstöbert“ (ebd., S. 237) – denn soviel Kitsch erträgt Brussig auch nicht
– gelangt die Idylle rasch zu Ende. Yvonne flüstert „Tu mir weh!“ und das schafft Klaus
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einfach nicht. Er zieht sich an und geht weg. Mit diesem Schritt endet auch Klaus´ Pilgerfahrt
nach den Geheimnissen der Liebe und der liebevollen Zweisamkeit…
5. 4. Stasi als Brutanstalt der Perversionen? oder Sexuelle Abartigkeiten als
Exportartikel
„Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Wichsbefehl von Wunderlich und dem
Gerücht, daß viele, die in der Haft geschlagen wurden, zur Erklärung ihrer Verletzung
unterschreiben mußten, daß sie ´die Treppen hinuntergefallen´ sind?“ (H, S. 241)
Ähnliche Verhältnisse wie im Ferienlager, herrschen, was die „männliche Sexualität“
betrifft, auch während den Trainingkursen der Stasi, bei der Klaus gleich nach seinem
Schulabschluss zu arbeiten beginnt. Klaus ist verwirrt: „…kein Zweifel, direkt über mir
wurde gewichst. Ein paar Nächte später brachte es Raymund fertig, unseren einzigen
Ehemann … berichten zu lassen, wie er es mit seiner Frau treibt. Was sind das für Zustände!
Kennt hier niemand die Gesetze? Die juristischen Konsequenzen? Raymund masturbiert und
zieht René mit rein, Beihilfe zur Masturbation … Sollte das die Stasi sein? Tagsüber
stolperten wir in Schützenkette über den Acker, nachts wurde gewichst – bei der Stasi?“ (ebd.,
S. 116) Auch hier finden die „typischen Männergespräche“ statt und Brussig schont uns (wie
es der Leser inzwischen gewöhnt wurde) gar nicht, die sprachliche Ebene entspricht der
Situation. So wird man mit Ausdrücken wie: „in der Fotze kramen“, „aufbocken und von
hinten nehmen“, „sich einen blasen lassen“, „am Muff schnuppern“, „an die Titten fassen“
oder „Mösenfleisch“ (ebd., S. 120 ff.) konfrontiert. Auch hier fühlt sich Klaus minderwertig,
er denkt darüber nach, ob er etwas hat, was seine Kollegen bewegt, sich in seiner Gegenwart
„immer einen runterzuholen“ (ebd., S. 121). Zu den wichtigsten Eigenschaften seines
„Genossen“ Raymund, den er bewundert, gehören auch seine Fähigkeiten aus dem Bereich
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der Autoerotik: „Der kann mit seinem Schwanz umgehen … Ich stopfe mir einen
Scheuerlappen in die Schlafanzughose, und Raymund kleckert eben mal seine Bettwäsche
voll.“ (ebd., S. 123) Im Rahmen eines „Gruppenausgangs“ (ebd.) erlebt Klaus auch sein erstes
Mal…
Als Klaus dann bei dem zweiten Mal (siehe voriges Kapitel) auf eigenem Sperma
ausrutscht, rettet ihn seine Zugehörigkeit zu der „geheimnisvollen“ Stasi vor der
Beschuldigung seiner Eltern, „abnormen Handlungen“ (ebd., S. 201) zuzuneigen: „Oh
Mr. Kitzelstein, ist es nicht wunderbar, zu dieser Stasi zu gehören? In einem Hause, wo mein
erster selbstgebumster Orgasmus bewertet wird als Selbstmordversuch in Tateinheit mit
Hochverrat und Thema einer Gehirnwäsche wird, da reicht es plötzlich aus, so
beziehungsvolle Worte zu murmeln wie ´Ihr könnt es euch doch denken´…“ (ebd.) Die ganze
Gelegenheit ergibt Klaus sogar einen „höheren“ Sinn (und erstaunliche, fast abschreckende
Assoziationen, umso tragischer, dass man irgendwo im Hinterkopf gar nicht lacht): „Mit zwei
gebrochenen Händen kann niemand Flugblätter drucken. Oder seine Hetzlieder auf der
Gitarre, dem Klavier oder dem Akkordeon begleiten. Mit gebrochenen Händen kann man
nicht einen Telefonhörer abnehmen. Wenn ich Major Wunderlich nun erzähle, wie mein
Unfall wirklich passiert ist – ob er mich dann die Treppenhäuser aller Bürgerrechtler
bekleckern läßt? … Mit Lizenz für den historischen Fortschritt zu wichsen war schon immer
mein Wunsch! Und fünfzig Millionen wären nicht einfach weggeworfen und vergessen, nein,
ihr Tod hätte einen Sinn! Sie stürben für unsere Sache! Wie der Kleine Trompeter!“ (ebd.)
Noch perverser wirkt dann die Operation „Oberer Treppenabsatz“ (ebd., S. 241), in
der es um Verhaftung von der „überwachten Person“ namens „Individualist“ geht und die
Klaus wieder ensprechend naiv interpretiert. Als sich sein Vorgesetzter an ihn mit der Frage
wendet: „Dann machst du das morgen mal, ja? Oberer Treppenabsatz, ja?“ (ebd.), versteht sie
Klaus in der Intention seines Erlebnisses im Treppenhaus: „Mir war nicht klar, wieso ich mir
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synchron zur Verhaftung von Individualist einen von der Palme wedeln sollte.“ (ebd.) Die
Sache klärt sich (Gott sei Dank!) gerade noch rechtzeitig auf und so bleibt uns „nur“ die
perverse Realität, wo Staatsangestellte die Mitbürger desselben Staates absichtlich
verletzen…
Nach dem endgültigen Scheitern von Klaus´ Bemühen um ein „normales Sexualleben“
wird Klaus zum „Profiperversen“. Es geschieht sozusagen „dienstlich“. Die von ihm
überwachte Person, „der Individualist“, wird in einem Telefongespräch als „Hühnerficker“
(ebd., S. 239) bezeichnet. Da Klaus dieses Schimpfwort nicht kennt, versteht er es wörtlich
und kommt zu einer mehr als überraschenden Schlussfolgerung, die genau nach Brussigs
(oder besser gesagt Klaus´) Logik auf der Durchführung der Instruktionen bis zum Absurden
beruht: „Vielleicht kann ich mich noch besser in den Gegner hineinversetzen, seine Taten
noch vorhersehbarer machen, wenn ich selbst ein Hühnerficker werde? … Mit dieser
Überlegung kaufte ich mir zum Feierabend einen ganzen Broiler, den ich zu Hause und ohne
Rücksprache mit meiner Dienststelle sexuell mißbrauchte.“ (ebd.) Das Perverse des Systems,
das monatelang ohne einen Grund Personen überwacht, Wohnungen durchsucht und Kinder
zur Warnung entführt, veranschaulicht Brussig den Lesern mit einer großen „Plastizität“. Es
ist erstaunlich, welche (äußerst tragikomische) Wirkung die Mischung von absurden
Dienstanweisungen (noch von einem bis zum Absurden geschilderten Angestellten
interpretiert) und einer mehrere Tabus brechenden Tat haben kann: „Daß Wunderlich
ebenfalls mahnte, das In-den-Gegner-Hineinversetzen sein ´A – nicht immer leicht – B –
erfordert es besondere Charakterfestigkeit und – C – einen klaren klassenmäßigen
Standpunkt, der uns immun macht – A – gegen gewisse Reizworte und – B – gegen eine
gewisse logische Geschlossenheit der gegnerischen Argumentation´, fiel mir erst hinterher ein
… Stehen Charakterfestigkeit und ein klassenmäßiger Standpunkt in einem unüberbrückbaren
Gegensatz zur Vergewaltigung von Lebensmitteln?“ (ebd., S. 240) Klaus wird also zu einem
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viermaligen Perversen: er treibt es „mit Tieren! Mit toten Tieren! Toten Jungtieren! Die
keinen Kopf hatten!“ (ebd.) Später begeht der „Star-Perverse“ sogar die Massensodomie“
(ebd., S. 256), deren Opfer Hunderte von Kaulquappen sind, die er in einem Kondom
vergewaltigt. Mit dieser Optik gesehen erscheint dann der Versuch Kieseritzkys (Das Buch
der Desaster) ein bisschen Abnormalität in das BRD(!)-Sexualleben in der Gestalt eines
sterbenden und trotzdem (oder gerade deswegen) Sex verlangenden Mädchens zu bringen als
etwas ganz Natürliches.
Mit seinen Perversionen hat Klaus jedoch Pläne. Um seinem sozialistischen
„Zuhause“ ökonomisch zu helfen, denkt er über die Möglichkeit nach, „urheberrechtlich
geschützte Perversionen zu fabrizieren und sie gegen Devisen zu exportieren“ (ebd., S. 244).
Seinen Traum von dem Nobelpreis hat ein anderer, viel skurrilerer (der aber zugleich seine
sexuellen Probleme beseitigen würde) ersetzt: „Ich wurde historischer Missionar, anstatt
Nobelpreisträger, und so wollte ich nun ein Großer Perverser werden, anstatt mein
lebensgefährliches, knochenbrecherisches und juristisch bedenkliches Geschlechtsleben
fortzuführen!“ (ebd., S. 245) Und der ideale Markt für die Perversionen im Westen sind doch
die Talkshows! Oder aber (Brussigs Einfälle sind wohl unerschöpflich): „Perversionen
könnten zum Partythema werden oder bei Einstellungsgesprächen die Atmosphäre lockern,
und erst wenn es so viel bekennende Perverse wie Kreditkarteninhaber gibt, würde ich den
Markt für gesättigt halten.“ (ebd., S. 247) Klaus´ Vision heißt: „Perversionen für die Massen!“
(ebd., S. 248) Die Ergebnisse seiner Forschung will er auch in einem Buch veröffentlichen
und er unterschätzt seine Fähigkeiten nicht im Geringsten: „mit der Genialität eines Einsteins
werde ich Freuds Forschungsgegenstand und Lenins Vermächtnis verschmelzen.“ (ebd.) Gibt
es eigentlich eine größere Perversion als das? Als Bestandteil dieses Planes entwickelt Klaus
einen Lippensimulator („Fellatiomat I“ – ebd., S. 250), der aus Gummibonbons als Ober- und
Unterlippe besteht. Bei dem perversen Stasi-Angestellten überrascht es den Leser gar nicht,
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dass er während der Stasi-Vorlesungen auf Wörter wartet, die „vielversprechende“
Lippenbewegungen benötigen, um sie dann in seiner „Anrichtung“ zu benutzen. Leider
gelingt es nicht, „Millionen Männer der blauen Welt Botschaften aus dem real existierenden
Sozialismus bis zum Moment restloser Beglückung“ (ebd., S. 251) zu gönnen. Keine
sozialistische Botschaft ist für diesen Zweck geeignet. Sonst könnte ja die sozialistische
Perversion die Menge der kapitalistischen Staaten zu einer sozialistischen Revolution
überzeugen…
5. 5. Der Riesenpenis stürzt die Mauer oder Kann es wirklich ein Volk mit einem „zu
kleinen Pimmel“ gewesen sein?
„Ich war auf der Flucht vor meinem Schwanz, und als mir zufällig die Mauer in die
Quere kam…“ (H, S. 19)
Eines Tages wird Klaus wegen seinem „speziellen Blutbild“ (ebd., S. 261) ins
Innenministerium zu einer Blutspende berufen. Er versteht schon wieder nichts: „Das
spezielle Blutbild? Das ich der sexuellen Hauptaufgabe meiner Pubertät – trage niemals
Ständer – verdanke? Was mich geradewegs in die Perversion führte? … Dann braucht die
Stasi Perversenblut?“ (H, S. 261) Es geht um eine Blutspende für den Generalsekretär der
kommunistischen Partei Erich Honnecker und Klaus kostet es beinahe das Leben.
Die Spende des perversen Blutes hat noch ihre historische Wirkung. Wie Klaus selbst
bemerkt, beeinflusst sie sogar Honeckers Politik: „Seiner Amtsführung war das Perversenblut
anzumerken.“ (ebd,, S. 276) Und er fügt auch eine „politologische Wahrheit“ hinzu, die
jedoch der Philosophie seiner Dienststelle ganz und gar nicht entspricht: „Proteste
herauszufordern ist meistens Taktik, Proteste niederzuschießen ist meist ein Verbrechen, aber
Proteste herauszufordern, um sie niederzuschmeißen, ist Perversion.“ (ebd.) Doch die
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Konsequenzen dieser medizinischen Operation sind noch viel gravierender: als Klaus bei
einer Demonstration (wir sind inzwischen im Herbst 1989 angelangt) die Eislauftrainerin Jutta
Müller („die Alterspräsidentin [seiner] sexuellen Phantasien“ – ebd., S. 285) reden hört
(in Wirklichkeit hat er sie mit Christa Wolf verwechselt) und zu der Tribüne läuft, fest
entschlossen das Seine zum Thema Sozialismus zu sagen, fällt er die Treppen herunter
(welche Ironie des Schicksals… pardon, Brussigs), verletzt sich und muss wegen seines
„Eiersalat[s]“ (igitt!) operiert werden. Das Ergebnis des schmerzlichen Eingriffs hat für
Klaus, aber zugleich für die ganze Weltgeschichte, fatale Folgen: es kam zu einem
Riesenwachstum von seinem Penis (Ursache: das Serum, das ihm bei der Blutspende gespritzt
wurde, verursachte während der Operation „kumulative Wechselwirkungen“ – ebd., S. 301–
die die unerwartete Entwicklung des Genitals bewirkten). Klaus ist freilich überglücklich,
denn „Jeder Mann will den größten haben – aber ich hatte ihn!“ (ebd., S. 303) Und es wird
ihm allmählich klar, welcher überlangen Kette von Zufällen er seinen „Dildo zum Glatt-neidisch-Werden“ (ebd., S. 305) eigentlich verdankt: dank der super-puritanischen Mutter
(die nicht zuletzt von ihrer sozialistisch-perversen Umgebung stark geprägt ist) ist er
gezwungen, fast nichts zu trinken, um die Erektion zu vermeiden, dank dem Mangel an
Flüssigkeiten gelangt er zu dem speziellen Blutbild, mit dessen Hilfe er dann zu der
Blutspende auserwählt ist, später fällt er dank einer (letztendlich) glücklichen Verwechslung
die Treppe herunter, muss operiert werden und so (hurra!) erfüllt sich sein größter Traum, was
dann später noch zum Sturz der Berliner Mauer bzw. des Sozialismus (was seit der Seite
sieben dem Leser wiederholt mitgeteilt wird) führt. Aber noch ein paar Stunden zurück: Klaus
flieht aus dem Krankenhaus (der Zufall wollte es, dass es ausgerechnet am 9. November 1989
geschah) und entscheidet sich, der „Wurstfrau“ seine neue „Da-kann-man-direkt-neidisch-werden- Anatomie“ (ebd., S. 309) zu präsentieren. Und da kommt der fatalste aller Zufälle:
„…so trafen wir uns: Sie wollten einfach so in den Westen, und ich war mit meinem großen
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Schwanz unterwegs zur Wurstfrau.“ (ebd., S. 315) Doch das Volk hat, wie Klaus sieht, „einen
zu kleinen Pimmel“ (ebd., S. 316) und er ist „der Erlöser mit dem großen Schwanz“ (ebd.)
Die Grenzer sind vom Anblick seines entbloßten Penis ganz gelähmt, das Volk dringt durch
und der Sozialismus bzw. der kalte Krieg ist zu Ende! Die Zufällenkette hat sich geschlossen.
Die Schlange fraß sich selbst und das mit eigenen Zähnen…
5. 6. Pornographie ist es nicht oder Auch ein Penis kann zum Romanhelden werden!
„Wenn ich über meinen Schwanz schon nicht schreiben kann, werde ich eben darüber
reden. Und das sind keine Pennälerprotzereien, sondern Mosaiksteine der historischen
Wahrheit, und wenn Sie nicht wollen, daß noch Fragen offenbleiben, müssen Sie schon
akzeptieren, daß meine Schilderungen ziemlich schwanzlastig geraten.“ (H, S. 8)
Nach den Definitionen der Pornographie, die ich in dem Kapitel über Elfriede Jelinek
zusammengefasst habe, handelt es sich auch im Falle Brussigs um kein pornographisches
Werk. Helden wie wir kann man eher als einen Wenderoman, was den Gegenstand der
Erzählung angeht, bezeichnen. Nach Barbara Felsmann (deren Artikel im Jahre 1995
erschienen ist) handelt es sich um „eines der wenigen Bücher, in dem sich ein Ost-Autor
radikal mit den DDR-Verhältnissen auseinandersetzt.“ (Felsmann, S. 1) Brussig selbst
bestätigt diese These und erweitert sie zugleich: „Ich komme mir manchmal ein bißchen
einsam vor, weil die Debatte zur Zeit darum geht, daß es ja gar nicht so schlimm war in der
DDR. Wir Ostler müssen aus dieser Nostalgie herauskommen. Das war ein wichtiger Grund,
dieses Buch zu schreiben. Und ich lasse da einen erzählen, der eine erbärmliche Geschichte
hat, erbärmlicher als die eines jeden anderen, der aber trotzdem darüber redet und es
überlebt.“ (ebd.) Die Wende wird jedoch keineswegs aus der historisch-politologischen Sicht
untersucht bzw. dargestellt. Die Perspektive ist ganz originell. Roberto Simanowski sagt dazu
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Folgendes: „…ja, dies ist der lang ersehnte Wenderoman. Kein Roman über die Wende (die
ist ein weites Feld und Brussig erklärt weder ihren Ursprung, noch beschreibt er wirklich
ihren Ablauf), sondern eine Wende in der Art, Vergangenes zu betrachten und aufzuarbeiten.“
(Simanowski, S. 2) Und das tut Brussig in der Tat; und intensiv! Zum Hauptthema wird
(zumindest auf den ersten Blick) etwas, was an der Skala der provokativsten Themen sicher
einen der ersten Plätze belegen würde. Sabine Brandt sieht den Ausgangspunkt des Romans
wie folgt: „Man könnte sagen, das gesamte Schicksal des Helden stehe unter dem Aspekt
niederschmetternden phallischen Unvermögens.“ (Brandt, S. 2) In ähnlicher Optik sieht den
Fokus des Buches auch Wolf Biermann: „Das außerordentlich kleingeratene Zentralorgan
zwischen den Beinen des Romanhelden bewährt sich in diesem Roman über 300 aufregende
Seiten als der zentrale Punkt, von dem aus die DDR-Weltgeschichte im Innersten
zusammengehalten wird.“ (Biermann, S. 1) Auch Andreas Nentwich hat keinen Zweifel an
dem Hauptthema des Werkes: „Ein Penis wird zur alles überragenden Metapher.“ (Nentwich,
S. 53) Zugestimmt wird ihm von Peter Walther, der „Puller“ wird laut ihm zum „Dreh- und
Angelpunkt der ganzen Geschichte“ (Walther, S. 1). Walther schildert den „Haupthelden“ und
die „außerordentliche“ Sichtweise des Romans folgenderweise: „Klaus Uhltzscht beginnt die
ihn umgebende Wirklichkeit aus der Sicht seines Geschlechtslebens zu begreifen. Alles, was
er erlebt, hängt auf verschlungene Weise mit den einsetzenden oder ausbleibenden Regungen
jugendlicher Sexualität zusammen. Triebkraft der Geschichte ist nicht etwa Klaus Uhltzscht,
sondern, mit Verlaub, sein Schwanz.“ (ebd.)
5. 7. Der „Schelm“ Brussig spielt mit dem Leser…
„An den Wochenenden legte ich mich in meiner fluchtsicheren Hellersdorfer
Eineinhalb-Zimmer-Hochparterre-Wohnung aufs Bett, hörte bei herunterlassenen
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Hosen die Endloskassette und kaute synchron mit den künstlichen Lippen auf Eichel
und Schaft herum. Dazu ließ ich eine Stoppuhr laufen…“ (H, S. 253)
Um dieses Buch zu verstehen (oder sich zumindest darum bemühen zu können),
benötigt der Leser eine immense Urteilskraft, die ihm hilft, das äußerst raffinierte Netz der
Stilisierungen aller Art durchzuschauen. Und auch einen großen Mut, eine Menge von
grotesken und oft völlig ins Absurde überzogenen Szenen zu absolvieren. Ja, Helden wie wir
kann man zweifellos auch als einen (jedoch speziellen) Schelmenroman bezeichnen. Die
Internetenzyklopädie Wikipedia charakterisiert diese Gattung folgenderweise: „Der
Schelmenroman oder pikarischer/pikaresker Roman (…) schildert aus der Perspektive seines
Helden, wie sich dieser in einer Reihe von Abenteuern durchs Leben schlägt. Der Schelm
stammt aus den unteren gesellschaftlichen Schichten, ist deshalb ungebildet, aber
´bauernschlau´ … Traditionellerweise ist der Schelmenroman eine (fiktive) Autobiographie.“
Thomas Brussig erweitert diese Beschreibung noch um eine große Portion Karikatur. Roberto
Simanowski sagt zu diesem Aspekt Folgendes: „Volker Braun hatte den Schriftstellern der
80er Jahre zugerufen: Ein Text aus einem Schrei gemacht, das wäre ehrlich … Nach der
Wende mußte man Texte erwarten, die aus einem Schrei der Befreiung und der Empörung
über das Erlittene bestehen. In Brussigs Roman gibt es diesen Doppelschrei nur als Karikatur:
die Klage des komplexbeladenen Klaus Uhltzscht über seinen zu kleinen Pimmel und die
Freude über dessen plötzliches Wachstum ins Superlative. Was das mit der Wende zu tun hat?
Wer so fragt, ist noch nicht durch Brussigs Schule gegangen. Nichts ist so politisch wie ein
Schwanz; schließlich war es Klaus Uhltzschts Riesending, durch das die Mauer fiel.“
(Simanowski, S. 1) Marion Löhndorf bezeichnet das Buch als einen Schelmenroman, wo
„aller Witz in der Sicht des klassischen Unterdog“ (Löhndorf, S. 2) konzentriert wird. „Aus
der Froschperspektive des Zukurzgekommenen entwirft der Autor ein satirisches Bild der
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DDR-Gesellschaft.“ (ebd.) Nach Wolf Biermann liefert uns Brussig „den ersten geistreichen
Schelmenroman über einen stinknormalen unbekannten Kämpfer an der unsichtbaren Front“
(Biermann, S. 1); kurz: „Brussig schildert die grauenhaft komische Leidensgeschichte eines
authentischen DDR-Kretins.“ (ebd.) Ja, Klaus ist ein Loser, ein „Sammelbecken aller
erdenklichen Veklemmungen, daß als Referenzrahmen seiner Geschichte nicht mehr der
DDR-Alltag, sondern nur noch das Tagebuch eines Psychotherapeuten in Frage kommt“
(Simanowski, S. 4). Der (Anti)Held und sein ganzes Leben werden tatsächlich völlig ins
Groteske überzogen. Sabine Brandt charakterisiert diese Stilisierung folgenderweise: „Freilich
spielt die Phantasie eine große Rolle, insofern nämlich, als die Realität phantastisch überhöhnt
und bei aller Wiedererkennbarkeit aufs skurrilste verfremdet ist.“ (Brandt, S. 1) Thomas Kraft
sieht das Realität-Phantasie-Verhältnis in Brussigs Versuch einer „speziellen“ DDR-Geschichte ähnlich: „Mit seiner Realsatire über zwanzig Jahre DDR-Geschichte nimmt
Brussig, immer haarscharf an der Charmegrenze der Provokation entlang, den G-Punkt all
jener Legenden und Schönredereien über Wesen und Ende der DDR so zielsicher ins Visier,
daß sie vor Scham vibrieren und mit rotem Kopf ihre Impotenz eingestehen müßten. Er
jongliert mit den Wahrheiten wie mit rohen Eiern und bekleckert sich dabei ungeniert. Das hat
Methode, dient der Katharsis und der Unterhaltung.“ (Kraft, S. 2)
5. 8. Ironie, Witz, Ekel und Perversion und Erotik – das passt genau zu der „DDR-Logik“
„Selbst als ich eine Phase hatte, in der ich alles mögliche unter ein Schülermikroskop
legte, war ich nicht bereit, mir zu Forschungszwecken einen runterzuholen. Moral als
Preis für Erkenntnis? Und das im Sozialismus? Nicht mit mir! Lieber ein Beflecker von
Bettwäsche als ein Beflecker der sozialistischen Idee!“ (H, S. 84)
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Wie es schon angedeutet wurde, ist Brussigs Erzählweise sehr originell, oder auch
„unerwartet unverkrampft“ (Lehmer, S. 1), wie doppeldeutig man auch das Adjektiv
„unverkrampft“ verstehen kann. Sein Stil besteht aus drei Haupteinheiten: dem Sprachwitz,
der Steigerung/Übertreibung/Zuspitzung und den unerwarteten Metaphern. Und als der rote
Faden zieht sich natürlich das Sexuelle durch das ganze Buch. Thomas Kraft charakterisiert
Klaus´ „Redeschwall“ als „völlig überdreht, obszön und auf kokette Art naiv“ (Kraft, S. 1),
der Monolog des Erzählers unterläuft und persifliert sich selbst, meistens mittels Witz und
Ironie. Ja, Ironie und Selbstironie sind die elementaren Bausteine von Brussigs Text. Darüber
hinaus gerät die Geschichte „ziemlich schwanzlastig“, wie wir schon auf den ersten Seiten
schließlich gewarnt werden. Peter Walther nennt das die „bisweilen unmotivierte Häufung
genitalbezogener Logik“ (Walther, S. 3). Andere Rezensenten sehen darin doch einen
„kausalen Zusammenhang“. Wie etwa Jutta Lehmer: „Doch hinter all dem vordergründigen
Blödsinn entfaltet sich ein stimmiges DDR-Bild. Auf seine Weise schafft Brussig die
Paralelle von der sexuellen Verklemmtheit, die wegen Unterdrückung in Perversionen
mündet, zum sozialistischen Staat.“ (Lehmer, S. 1) Ähnliche Ansicht vertritt auch Andreas
Nentwich: „…in den grotesk überzeichneten Phobien, Zwangshandlungen und Perversionen
eines negativen (oder eher Mitleid erweckenden – Anmerkung der Autorin) Helden wird die
Deformation einer ganzen Gesellschaft dem Gelächter preisgegeben.“ (Nentwich, S. 53)
Brussig gelangt in seinen satirischen Übertreibungen zu der „radikale[n] Demontage eines
Kleinbürgerregiments“ (ebd.). Sandra Kluwe spricht von einem „Korrelationsverhältnis
zwischen Unterdrückung durch die autoritäre Macht und sexueller Verkrümmerung“ (Kluwe,
S. 3). Gelobt wird Brussigs Versuch auch von Sabine Brandt, die seine Tendenz zur
Provozierung als begründbar (die Frage ist, ob nicht zu unkritisch) empfindet: „Die Fabel ist
so viel und so wenig unanständig wie das Leben selbst. Zum einen trifft die Schilderung von
Klaus´ phallischen Emanzipationsanstrengungen exakt ins Herz diktatorischer Prüderie, die
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das Sexuelle verteufelt, ideologische und existentielle Vergewaltigungen aber zum Prinzip
erhebt. Zum zweiten wird deutlich, daß Regime, die solchen Prinzipien folgen, selber
erschütternd impotent sind. Zum dritten zeigt die Methode eine Gesellschaft von der intimen
Warte her auszuleuchten, eine Menge Komik, jedenfalls wenn man sie so handhabt, wie
Thomas Brussig das tut: scheinbar naiv, in Wahrheit hintergründig boshaft, mit genauen
Charakter- und Situationsanalysen, die dank einer guten Portion Übertreibung besonders
intensiv einleuchten.“ (Brandt, S. 2)
Dass die Intention des Autors in der Tat so eine war, bezeugen auch Brussigs (ernst
gemeinte?) Worte: er habe gemerkt, „wie wirksam es sein kann, über Sexualität zu schreiben,
wenn man kein Blatt vor den Mund nimmt.“ (Felsmann, S. 1) Kurz: das Perverse dient einem
höheren Zweck. Brussig fügt noch hinzu: „Man hat ja immer vom pervertierten Sozialismus
gesprochen, und ich wollte unbedingt die sozialistische Perversion aufzeigen.“ (ebd.) Die
zugespitzt dargestellten „Trivialitäten der DDR“ (Dieckmann, S. 1) werden mit einigen
„ernsten“ Fragen, die oft aus der Perspektive eines „unbeschwörten Gehirns“ beantwortet
werden, vermischt und noch dazu bekommt der Leser eine reiche Portion vom Drastisch-Derb-Zotig-Geschmacklosen (um Brussigs Vorliebe in Bildung von überlangen Bindestrich-Konstruktionen nachzuahmen). Das „hohnlächternde Feuerwerk respektlos-phantastischer
Einfälle“ (Simanowski, S. 1) nimmt fast kein Ende, Brussigs Vorstellungskraft scheint
wirklich unerschöpflich zu sein. In so einem Milieu gedeiht die Provokation unermesslich:
„Mit grimmig-fröhnlicher Respektlosigkeit durchtobt Brussig erzählerisch seinen Stoff,
nimmt dabei die Pose des Provokateurs, des Antibourgeois ein. Unbekümmert übertrieben
lässt er Drastisches, Derbes, Zotiges einfliessen.“ (Löhndorf, S. 1) Nichts scheint Brussig
heilig zu sein. Sabine Brandt sieht in der derben Komik eine ernste Tiefe: „Denn diese
Biographie ist ja nicht bloß närrisch. Soweit sie es aber ist, lebt sie nirgends von plattem Witz,
sondern immer von der intelligenten Unverschämtheit und dem trefferischen Spott der
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Shakespeareschen
Narren.“
(Brandt,
S. 3)
Brussigs
Tendenz
zur
(anscheinenden)
Bagatellisierung kommentiert auch Roberto Simanowski: „Hervorstechendes Merkmal der
´Entsorgung´ der Vergangenheit ist, daß Brussigs Held sich in erster Linie um seinen
Schwanz kümmert. Gibt es etwas Persönlicheres als dies? Gibt es angesichts Operativer
Vorgänge und angesichts der Schüsse an der Mauer etwas Banaleres als dies?! Und doch
ständig von seinem Schwanz zu reden, drückt eine politische Haltung aus und wird … zum
geschichtsphilosophischen
Bekenntnis.
Obszönität
als
Antiutopie.
Eine
solche
Schlußfolgerung ist irgendwie wahr, aber im Grunde völliger Unsinn.“ (Simanowski, S. 5)
Nach Simanowski wird „nichts aufgearbeitet, sondern alles niedergelacht“ (ebd.) und die
Erlösung wird im Obszönen gesucht. Doch, „das wissen wir ja alle, steckt die größte
Verzweiflung sowieso in den urigsten Komödien.“ (ebd.) Nichtdestoweniger bezweifelt
Simanowski sowieso die „höhere“ Metaebene des Buches: „Wenn Rezensenten in der
Schilderung der phallischen Emanzipationsanstrengungen des Klaus Uhltzscht ein Abbild
diktatorischer Prüderie sehen, die das Sexuelle verteufle und die ideologischen
Vergewaltigungen zum Prinzip erhebe, vergewaltigen sie Brussigs Text mit dem gleichen
Eifer, wie die Ideologen der DDR dazumal ihre Bürger.“ (ebd., S. 4) Sven S. Poser entdeckt
in Brussigs Buch jedoch „Tieferes“, nämlich einen „moralischen Apell“: „Zugegeben ist die
Penis-Metapher drastisch. Doch steckt dahinter nicht vordergründige Spekulation, sondern der
Wille zur Provokation. Brussig will die 89er am Schlawittchen packen, er will ihren Nerv und
den der anderen Generationen treffen, die in der DDR sozialisiert wurden und zum Teil bis
heute am Menschenbild des Totalitarismus laborieren … Dank Brussig wird der Humus
sichtbar, auf dem die Formelle und Informelle Mitarbeit für die Stasi gedeihen konnte.“
(Poser, S. 2)
Der Witz (dessen Fähigkeit zur „Erleichterung“ der Situation Brussig häufig ausnutzt)
dient mehrmals einer sehr treffsicheren Beschreibung des DDR-Alltags. Zum Beispiel die
103
sog. Werbegespräche an den Grundschulen, die den Schülern eine Weiterbildung sichern
sollten: „eine ganz einfache Frage: Würde es Sie nicht reizen, später einmal mit Menschen zu
arbeiten? … Und wer kann schon nein sagen, wenn man so geradeaus gefragt wird, ob man
vielleicht mal mit Menschen arbeiten wolle? Ein Mensch wie stolz das klingt! Und hat man
sich schon einmal überlegt, Politoffizier der Nationalen Volksarmee zu werden und junge
Menschen politisch zu bilden? Ist denn man nicht für den Frieden? Für den Sozialismus? Und
wolle man nicht etwas dafür tun? Ihr Vater, streut dann der aktenkundige Werbeoffizier ein,
ist doch ein einfacher Arbeiter (bzw. Ihre Mutter ist doch ein einfacher Mensch!) … Ach,
Förster wolle man werden? Man liebe die Natur? Na, das trifft sich ja hervorragend! Gerade
als Kommandeur eines Panzerregiments ist man wegen der häufigen Schießübungen zu jeder
Jahreszeit im urwüchsigen Wald der militärischen Sperrgebiete…“ (H, S. 117)
5. 9. Brussigs postmoderne Antwort
„Die Postmoderne Antwort auf Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß
die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre
Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit
Ironie, ohne Unschuld. Ironie, Maskerade hoch zwei, metasprachliches Spiel…“
Umberto Eco
Leslie Fiedler verlangt von den postmodernen Literaten einen anti-künstlerischen und
anti-seriösen Roman, der eigentlich hauptsächlich der Überbrückung der Kluft zwischen
Elite- und Massenkultur dienen sollte. Danach könnte Helden wie wir ein ideales
postmodernes Werk sein, das sehr wohl auch die „Massenleser“ verlocken könnte. Das Buch
ist witzig, provozierend, originell und kann auch ohne den „sekundären Blick“, also als eine
groteske Geschichte, gelesen werden. Ganz der Theorie von Italo Calvino entsprechend
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besteht die Handlung aus den Territorien des Komischen, des Erotischen und des
Phantastischen. Die Vergangenheit wird auf einer „ganz neuen“ Weise bearbeitet und es wird
immens gespielt, vor allem mit Wörtern, was ihre semantische aber auch graphische Ebene
angeht.
Für die Darstellung von seinen grotesken Einfällen benutzt Brussig des Öfteren Zitate,
die sich entweder auf die hohe bzw. wissenschaftliche Literatur berufen, oder aber auf das
„weite Feld“ der Werbung (also eine Sphäre der Pop-Kunst hoch zwei). So begegnet der
Leser den Anspielungen auf Freuds (für seine Zeit äußerst provokative) Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie, der grotesken Parodie des „Heldenliedes“ vom Kleinen Trompeten, der
satirischen Ausbeutung des Spruches von Maxim Gorki (Ein Mensch – wie stolz das klingt),
der Bestätigung von Woody Allens „fundamentaler Entdeckung des Penisneides beim Mann“
(H, S. 58) und nicht zuletzt der spielerischen Ausnutzung der Zitate der neueren („Ich war als
Onanist so ausdauernd wie das Häschen in der DURACEL-Werbung: Jeder andere Onanist
wäre längst fertig, nur ich war noch unermündlich am Trommeln.“ – ebd., S. 195) und auch
der schon „historischen“ Reklame („Ich dachte an Henry Ford und seine Vision vom ´Auto
für die Massen´, an Steve Jobbs und seine Vision vom ´Computer für die Massen´. Auch ich
hatte eine Vision: Perversionen für die Massen!“ – ebd., S. 248).
5. 10. Der sozialistische „Jugendstil“
„Brussig treibt das Zotige bis zum Höhepunkt und manchmal noch weiter.“
(Lehmer, S. 1)
Was den erzählenden Helden seines Buches angeht, hat sich Thomas Brussig für einen
jungen Mann entschieden, der vorwiegend von seiner Kindheit und Jugend spricht. Dem
entsprechend hat der Autor auch die sprachliche Ebene seiner Erzählung gewählt. Wohl auch
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dank eigener „Altersgenossenschaft“ mit Klaus Uhltzscht gelingt es Brussig einwandfrei, den
Monolog eines Teenagers zu stilisieren. Vor allem in den Passagen, die das Sexuelle
betreffen, wird der Leser mit der harten „sprachlichen Realität“ konfrontiert. Bei diesen
Beschreibungen bedient sich Klaus hauptsächlich folgender sprachlichen Ebenen (um die
Methodik von Wolfgang Müller – S. 21 f. – zu benutzen): der drastisch-metaphorischen
Sprache (keulen, wichsen, Fotze), der saloppen Umgangssprache (Schwanz, bumsen, Muschi,
Pisser,
Schwan,
Pfeife,
Rohr,
Muff),
der
lustvoll-derb-vulgäre
Sprache
mit
anschauungsprallem Vokabular (ficken, vögeln, Pinsel, Ständer, Eier, Möse, Latte, Nudel) und
zum Teil auch der sog. Sprache in der Familie (Pimmel, Puller). Die Ausdrücke der
(lustfreien) Normalsprache erscheinen proportionell gesehen fast nie. Ziemlich oft kommen
jedoch (wohl auch zu der Jugendsprache gehörende) Vulgarismen vor, und zwar vor allem
das Substantiv „Scheiße“ in allen denkbaren Formen und Ableitungen. Auch der „anständige“
Leser muss zugeben, dass Brussigs „drastische“ Mittel jedoch wirksam für die Schilderung
des „Milieus“ sind und der Glaubwürdigkeit der Figur einen immensen Beitrag leisten.
Ganz typisch für Brussig sind (neben seinen unendlichen Bindestrich-Konstruktionen)
die „abscheulich-drastischen“ Metaphern, die vor allem bei den Schilderungen des Bereiches
der Sexualität benutzt werden. Seine verletzten Genitalien bezeichnet Klaus als einen
„Eiersalat“ (H, S. 290) oder als einen „zertretenen Frosch“ (ebd., S. 292); das Sperma seines
Genossen ähnelt in seinen Augen einem „toten Tortenguß“ (ebd., S. 73). Auf solchen Stellen
bietet es sich die Frage an, was so ein durchschnittlicher Lesermagen zu verkraften vermag…
5. 11. In der Komik liegt die Würze oder Durch Lachen zur Katharsis?
„Das Buch ist wirklich ein Brettenknaller, aber es soll Anlaß sein, daß man sich
ernsthaft und gründlich unterhält und sich über die DDR-Vergangenheit klar wird.“
Thomas Brussig (hier zitiert nach Felsmann, S. 3)
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In dem untersuchten Text kommen mehrmals Passagen vor, die auf die „enge
Beziehung“ zwischen den Perversionen und dem „realen Sozialismus“ der DDR bzw. der
Stasi aufmerksam machen. Wie zum Beispiel die recht treffliche Idee mit Berlin als Mekka
der Abnormalität: „So wie Hollywood die Hauptstadt der Unterhaltungsindustrie ist, wird
Berlin die Metropole der Perversionsindustrie. Wo, wenn nicht hier, in der Stadt des
Todesstreifens, unter dem die U-Bahnen im Fünfminutentakt hindurchfahren, ist die
Perversion zu Hause!“ (H, S. 249) Auch die Tatsache, dass Klaus in den „Reihen von Stasi-Angehörigen“ pervers wird und das noch wegen seinem Eifer, die Befehle so gründlich wie
möglich durchzuführen, zeigt wohl die Intention des Autors, der eine verhältnismäßig direkte
Parallele in dieser Richtung zieht. Und als Klaus dann noch die Perversionen im Westen
vermarkten will, hat es Brussigs Vorstellungskraft zum Gipfel geschafft: „Mr. Kitzelstein, ich
lege Wert auf die Feststellung, daß ich pervers wurde, um dem Sozialismus zum Sieg zu
verhelfen. Mein Forschungsgebiet war heikel; das Verhältnis von Sozialismus und Perversion
nirgends geklärt. Wie gefällt Ihnen die dialektische Einheit Sozialismus braucht Perversion,
Perversion braucht Sozialismus! Da lacht das Herz, nicht wahr?“ (ebd., S. 247) Wie es
mehrmals im Text der Fall ist, zeigt Brussig auch hier, wie wirksam es sein kann eine
„sozialistische“ Parole umzudrehen und sie satirisch auszunutzen. Roberto Simanowski
charakterisiert diesen für Brussigs Stil sehr typischen Vorgang (der noch deutlicher zum
Beispiel bei der Treppenmasturbation zum Vorschein kommt) wie folgt: „Ein soeben
geschriebenes Wort, eine Formulierung wird aufgegriffen und so lange gedreht, erneut
betrachtet und weitergetragen, bis es seine Oberflächlichkeit erreicht hat und zum Witz taugt
… Was ihm wichtig ist, sind abenteuerliche Assoziationen, die Obszönität mit Ideologmen
koppeln…“ (Simanowski, S. 4 f.) Als der Generalsekretär der SED Blut braucht, kann es nur
Klaus „Perversenblut“ sein und der „bauernschlaue“ Klaus zieht wieder Parallelen: „Ich habe,
wie der Kleine Trompeter, meinem Generalsekretär das Leben geopfert – wenn auch nur auf
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dem Totenschein. Ich konnte zwar nicht mit lustigem Rotgardistenblut aufwarten – ich hatte
nur verängstigtes Perversenblut, was aber außer Ihnen und mir keiner weiß.“ (H, S. 273) Die
sozialistische Perversion, sozialistisch, weil Klaus Probleme und damit verbundenes Dursten
(dank dessen er Jahre später zum „passenden“ Blutspender wird) eigentlich „Produkte“ der
(zumindest an der Oberfläche) prüden Gesellschaft sind, zu der auch seine prüde (zumindest
an der Oberfläche) Mutter gehört, führt aber zugleich später zum Fall des Sozialismus bzw.
der Mauer, denn gerade die lebensgefährliche Spende verursacht dann das enorme Wachstum
von Klaus´ Penis.
Die Tragikomik, die in folgender Äußerung von Klaus´ Mutter enthalten ist, bezeugt,
dass sich Brussig wohl auch um die ernste Seite der DDR-Gesellschaft bzw. ihren Willen,
sich mit der Vergangenheit irgendwie abzufinden, kümmert: „´Ich weiß nicht, was das soll´,
erwiderte sie kopfschüttelnd. ´Wir haben uns für die Menschen aufgeopfert. Für ganz normale
Menschen. Deshalb sind wir Helden … Helden wie wir haben nichts zu bereuen.´ Wie kann
man da widersprechen? Bald werden sie sich von ihren Heldentaten erzählen. Und ich? Von
welchen Heldentaten soll ich erzählen? … Aber ich habe nie in aller Unschuld mitgemacht,
mit ihrer naiven Begeisterung der Aufbaujahre.“ (ebd., S. 299) Eine gewisse Tragik weist
auch die Stelle auf, wo Klaus über sein Schicksal, ergo über das typische (freilich überspitzte)
Schicksal eines Otto-Normal-Verbrauchers aus der DDR spricht: „Zugegeben, ich bin der
Schlimmste und Abscheulichste, ich bin der zurückgekehrte Untote, Honeckers Kleiner
Trompeter, der perverse Stasi, der Kindesentführer und, und, und – aber ich bin doch ein Kind
aus ihrer Mitte!“ (ebd., S. 282)
Aus dem oben Erwähnten lässt sich also erschließen, dass Brussig zwar mit dem Leser
und dessen Mut, „das Inkonvetionelle“ zu verkraften, immens spielt, doch es geschieht nicht
umsonst. Wenn der Leser zum (postmodernen) „Mitspieler“ wird, wird ihm ein „ernstes“ Bild
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der tragischen Parallelität zwischen dem perversen Regime und dessen pervers gewordenen
Opfern angeboten.
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6. Die Liebe im postmodernen Zeitalter oder Kann auch die Liebe
„politisch“ werden?
„Die Standardformen heterosexueller Kopulation, normal oder ,poetisch‘ vermittelt,
sind verflucht altmodisch, wenn nicht gar ein bißchen lächerlich, wir fordern Fellatio,
Analverkehr und Flagellation, um sicher zu gehen, daß wir Pornographie vor uns
haben und keine Liebesgeschichte.“ (Fiedler, S. 29)
Auf den ersten Blick scheinen beide in meiner Diplomarbeit untersuchten Werke
diesem Motto zu entsprechen. Es gibt Sex, einen „abnormalen“ dazu, und es gibt eine Menge
davon. Die Helden beider Romane machen „abnormale“ Sachen, sie provozieren, verletzen
gesellschaftliche Tabus und wohl auch die „öffentliche Moral“. Der „belletristisch“ erfahrene
Leser möchte fast um Hilfe rufen. Es ist doch Pornographie, was sich da abzieht! Wo bleiben
nur der „schöne Schein“ und die kulturellen Traditionen… So etwas gibt es doch nicht!
Die
gründliche
Analyse
bringt
jedoch
überraschende
Feststellungen.
Die
Konfrontation der Texte mit den charakteristischen Merkmalen der Pornographie hat gezeigt,
dass es sich im Falle der untersuchten Romane keineswegs um pornographische Werke
handelt. Die Anwesenheit der erotischen Motive dient nicht der Erregung der Leser, wie es in
der Pornographie die Regel ist. Beide Autoren, Jelinek und Brussig, nutzen die Thematik der
Sexualität bzw. Körperlichkeit literarisch aus. Und zwar als stilistische Mittel, als einen Teil
der Charakterisierung der Figuren, als eine Weise der Charakterisierung der Umwelt und der
(sozialen) Verhältnisse innerhalb der jeweiligen Gesellschaft. Zugleich bezweckt die
Offenheit in Sachen Sex (zumindest zum Teil) Provokation, die (wie ich noch später belegen
werde) verschiedenen Zielen dienen kann.
Die sexuelle Thematik stellt in der Welt der Literatur jedoch nicht Neues. Schon in der
Antike (die allerdings nicht so liberal war, wie es oft gedacht wird) kommt das Sexuelle vor
110
und bleibt (sublimiert oder nicht-sublimiert) immer in der Kunst präsent. Ab dem
17. Jahrhundert wird das Geschlechtliche mit kleineren oder größeren Schritten aus der
Sphäre der Kunst allmählich verdrängt – „Der Geschlechtstrieb wurde in der bürgerlichen
Gesellschaft als animalischer Instinkt angesehen, den zu unterdrücken gilt, um den
zivilisierten Menschen als Krone der Schöpfung zu installieren“. (Müller, S. 13 f.) Schon am
Ende des 18. Jahrhunderts erscheint der „störende Geist“ namens de Sade, eine richtige
Wende stellt jedoch erst das Ende des 19. Jahrhunderts dar, wo die sog. poètes maudits die
bürgerliche Moral angreifen und die tabuisierten „Tatsachen“ relativ offen präsentieren. Sie
bleiben (im Laufe der Geschichte) nicht allein – Sigmund Freud, Artur Schnitzler, Gustav
Klimt, Egon Schiele, die Surrealisten, D. H. Lawrence, Henry Miller oder die Blumenkinder
reizen die „anständigen“ Bürger die nächsten hundert Jahre. Die Ziele der erotischen
Darstellungen im Laufe der Jahrhunderte sind verschieden: philosophisch (Antike), belehrend
(z. B. die frühen mittelalterlichen Fastnachtspiele), amüsant (Barock, Rokoko) oder
provozierend (poètes maudits, Schiele, Surrealisten, Blumenkinder).
Bei Brussig und Jelinek sind die Funktionen der erotischen Darstellungen
komplizierter (was allerdings in der Literaturgeschichte auch nichts Neues ist, denn
„komplizierte Botschaften“ wollen – mit größerem oder kleinerem Erfolg – schon de Sade
oder Georges Bataille vermittelt haben). Die literarischen Beziehungen in den untersuchten
Werken sind aber um so schwerer zu begreifen, als man sich in das weite Feld namens
Postmoderne begibt, wo man mit „Überraschungen“ und vor allem mit Anstrengung rechnen
muss, denn der Leser wird doch zum Mitautor des Werkes und seine Phantasie und
kombinatorischen Fähigkeiten werden dringend benötigt. Wenn man zum Mitspielen keine
Kraft hat, dann hat das Spiel auch keine Lösung. An der Oberfläche bleiben nur die
„nutzlosen Einzelheiten“, Bausteine, aus denen kein vernünftiges Gebäude zu bauen ist. Der
Leser bzw. Kritiker muss also „innovatorische“ Methoden anwenden: „Über solche Bücher
111
mit einem Begriffsapparat zu sprechen, der Dostojewski angemessen ist, … ist widersinnig.“
(Fiedler, S. 29) Wenn man versucht, die Bücher von Jelinek und Brussig mit Hilfe des
postmodernen „Schlüssels“ zu dechiffrieren, stellt man fest, dass das postmoderne „Spiel“
auch sehr gravierende politische und soziale Verhältnisse miteinbeziehen kann.
Die zwei anscheinend ganz unterschiedlichen Texte weisen eine Reihe von
Gemeinsamkeiten auf. Gemeinsam ist das anscheinend völlig unterschiedliche Milieu (das
sozialistische Ostberlin bei Brussig und das kapitalistische Wien bei Jelinek), das in den
Auffassungen von beiden Autoren (vor allem auf den zweiten Blick) sehr ähnlich angesehen
wird. Sowohl die sozialistische als auch die kapitalistische Stadt, bzw. die darin herrschenden
gesellschaftlichen Verhältnisse, werden als totalitär, menschenverachtend und -destruierend
entlarvt. Identisch ist auch die Dichotomie Schein – Realität. Die österreichische Hauptstadt
Wien wird im Allgemeinen als eine Kunststadt empfunden, wo Höflichkeit und
Freundschaftlichkeit das höchste Gebot seien. Trotzdem sieht Jelinek (und mit ihr auch andere
Vertreter der sog. Antiheimatliteratur wie z. B. Robert Menasse oder Thomas Bernhard) diese
Metropole als vernichtend und ungesund. In mitten von dieser „hohen“ Kultur gibt es
Sklaven! Denn mit welchem anderen Wort kann man Erika Kohut bezeichnen? Die Musik,
die doch den Geist veredeln sollte, wird Erikas Mutter zu einem ihrer Folterinstrumente, mit
deren Hilfe sie das (sexuelle) Leben ihrer Tochter vernichtet und sie jeglicher (Weiblichkeits)
Gefühle beraubt. In dem „roten“ Berlin geht es ähnlich zu. Die vorbildliche „sozialistische“
Mutter, die doch vorbildlich „sozialistisch“ handelt, gefährdet gravierend die „normale“
Entwicklung ihres Sohnes, der dann als Opfer des perversen Systems (mit Hilfe seiner
perversen Institutionen, wie der Stasi zum Beispiel) als pervers endet.
In beiden Werken wird die entscheidende Verantwortung für die Entwicklung der
Helden innerhalb der Familien den Müttern, die zugleich teilweise schon von der Gesellschaft
her prädestiniert sind, zugewiesen. Sie werden in beiden Werken zu den wesentlichen
112
„Machtinstitutionen“. Beiden Müttern gegenüber empfinden ihre Kinder eine Art
übertriebener (jedoch unter Umständen mehr als begründeter) Hassliebe. Beide Mütter
verhalten sich ihren Kindern gegenüber autoritär, beide nehmen die Erziehung in eigene
Hände, denn die Väter spielen in diesen Familien eine sehr geringe Rolle. Beide Frauen
versuchen, ihren Kindern die Sexualität zu untersagen und sie von möglichen Freunden oder
Partnern zu isolieren. Die „Andersartigkeit“ beider Figuren wird von ihren Autoren vor allem
mittels deren sexuelle „Exzesse“ geschildert. Erika wird (zumindest anscheinend) zu einer
Sadomasochistin, die sich selbst verletzt und hofft, durch Voyeurismus erregt zu werden.
Nachdem Klaus seine anfängliche „Angstphase“ überwindet, wird er zum Perversen mit allen
möglichen (und auch unmöglichen) Typen der Abartigkeit.
Weder Erika noch Klaus sind im Stande, einen Partner zu finden bzw. ein Partnerleben
zu führen. Die Leben beider Figuren sind fast unglaublich (natürlich gilt es mehr für den
„Fall“ Klaus Uhltzscht), anderseits kann man sich irgendwie vorstellen, dass die
Lebenssituationen beider Helden enorm kompliziert sind und dass an ihren Geschichten doch
„etwas“ sein könnte. Beide Autoren zeigen uns – und beide tun es, ohne ein Blatt vor den
Mund zu nehmen, ohne jegliche Rücksicht auf den Leser – wie die Umgebung (verstanden
sowohl als Gesellschaft als auch Familie) den Einzelnen deformieren kann, wie immens das
einzelne Leben von der Umwelt abhängig ist. Für beide Helden sind vor allem die
Deformationen im Bereich der Sexualität kennzeichnend. Erst durch ihre äußerst
problematische sexuelle Entwicklung kommen ihre psychischen „Defekte“ völlig zum
Ausdruck. Dass Erika mit ihrer Mutter in einem Ehe(!)bett schläft, ist seltsam, jedoch nicht
unvorstellbar. Als sie dann aber einen „inzestuösen Versuch“ begeht, wird der Leser mehr als
beunruhigt. Sie hat auch keine Freunde, ja, das ist sehr traurig! Doch als sie anfängt,
eigenhändig ihr eigenes Geschlecht zu zerschneiden, wird der Leser empört! Ihr Unglück in
der Liebe erweckt ein natürliches Mitleid, doch ihre „Affaire“ mit Klemmer schockiert!
113
Elfriede Jelinek hat es geschafft, den gelangweilten und auf alles gefassten Leser zu
überraschen und ihn möglicher Weise in (zumindest) mentale Bewegung zu versetzen.
Thomas Brussig arbeitet mit ähnlichen Mustern – für den erfahrenen Leser sind Masturbation,
Vergewaltigung oder Perversion nichts Neues. Doch die sexuellen Praktiken von Klaus
Uhltzscht sind so „originell und innovatorisch“, dass der Leser entweder das Buch angeekelt
weglegt oder staunend weiter liest und von unendlichen Fragen nach dem Sinn der
schockierend-übertriebenen Bilder verfolgt wird. Wenn man Brussigs Spiel akzeptiert, muss
man zugeben, dass es doch ein Ziel und eine Lösung hat. Die Perversionen werden zu
stilistischen Mitteln mit erstaunlicher Aussagungskraft.
Beide Autoren schaffen es sehr wohl, sowohl die Motive der Sexualität und
Körperlichkeit als auch die „pornographische“ Sprache, literarisch auszunutzen. Jelinek
bezweckt dadurch die Zerstörung oder zumindest die In-Frage-Stellung einer Reihe von
gesellschaftlichen Mythen (Mutter-Tochter-Beziehung, Liebe, Sexualität). Statt dessen
werden Tabus gebrochen und Lügen bloßgestellt. Das alles kommt um so stärker zum
Ausdruck, um so provozierendere Mittel (vor allem aus dem Bereich der Sexualität)
verwendet werden. Brussig benutzt die sexuelle Thematik (vor allem Klaus´ Perversionen)
zur Beschreibung und Charakterisierung eines perversen totalitären Systems. Mit Hilfe einer
„Schocktherapie“ schafft er es, uns die Vorgänge eines unmenschlichen Regimes näher zu
bringen. Fazit: beide Autoren provozieren. Es geschieht absichtlich, immens und fast
unerträglich… Doch es ist nicht umsonst! Und sie zeigen uns, dass sich Leslie Fiedler in
seiner (bewusst übertriebenen) Forderung geirrt hat: Fellatio, Analverkehr und Flagellation
müssen nicht notwendig Pornographie signalisieren, sie können zu literarischen Mitteln
werden und sogar eine „politische“ Botschaft an die postmoderne Welt vermitteln.
114
7. Summary
The submitted thesis deals with the functions of sexuality and eroticism in the
postmodern literature, concretely examined on the novels Pianist (Die Klavierspielerin,
published in the year 1983) by the Austrian writer and dramatist Elfriede Jelinek and Heroes
like we are (Helden wie wir, published in the year 1995) by the german author Thomas
Brussig.
To remember the historical relations accompanying this topic the first part of the thesis
is dedicated to the historical review of the tradition of literary/artistic representation of the
themes of sexuality and eroticism. It is showed that this topic is present in art (in more or less
sublimated form) from its very beginning and this situation lasts (with small interruptions)
through all the periods. It is also mentioned that obscenity which could be understood as
”typical modern“ can be found in the art very early – for example in the medieval carnival
plays, in the poems of some baroque poets, in the books of de Sade, in the works of so-called
poètes maudits, in the surrealist literature, in the books of George Bataille or in the texts
which appeared during the ”revolution“ in the year 1968.
Very important for the right understanding of a postmodern work is also the
knowledge of the characteristics of the this literal epoch. The relevant chapter demonstrates
that the aims of the postmodern literature are different to the previous ones (especially to the
modern understanding of art; modernism is often seen as a direct opposite of postmodernism).
Unlike the past (whole literary tradition in fact) also the ”pop“ genres as western, science
fiction or pornography are used in the ”high“ literature of postmodernism. Also the role of the
reader is changed – he or she becomes a kind of ”co-author“. His/her knowledge of literature
is necessary for the work to obtain the ”right“ (often purely subjective) meaning. The
postmodern literature was born in USA in the 1950s and its typical representatives are John
115
Barth, Leonard Cohen, Norman Mailer, Kurt Vonnegut and John Updike. In German speaking
countries the most important postmodern authors (except from Elfriede Jelinek and Thomas
Brussig) are Botho Strauß, Christoph Ransmayer and Patrick Süskind.
The above mentioned novels of Jelinek and Brussig are used to demonstrate
concretely how the topics of sexuality and eroticism can be utilized in the postmodern
literature. Both the authors work with apparently different milieus, anyway during the
analysis it turns out that the predestinations of the characters (caused mainly by their
backgrounds) are very similar. Jelinek´s conception of Vienna and its society is almost
identical with the socialistic Eastern Berlin seen by the eyes of Brussig. Also the families in
the two books are not very different, the only difference can be seen in the intensity of cruelty,
which is apparently higher in Jelinek´s book. Anyway both the authors show the readers, how
intensively an authoritative system (it doesn´t matter if as family or the whole society – since
both work as communicating vessels anyway) can manipulate and above all destroy an
individual. In the conception of both authors this destruction is showed in the field of
sexuality in its highest intensity. Erika and Klaus, which grew up ”under perverted
circumstances“, are not able to enjoy their sexuality in a ”normal“ way. The text examples
show practically, how the postmodern authors can use the sexual abnormalities as literary
means of expression – for example to characterize a figure or a society. Or as a way to
describe a really difficult search for the own entity, and to describe this process in the most
effective way… Both the authors use very provocative topics (provocative even nowadays!)
to support the effectiveness and impressiveness of their messages. For this reason Jelinek uses
sadomasochism, selftorture, voyeurism or incest. Brussig offers a whole spectrum of
abnormalities to the reader – necrophilia, zoophilia or mass sodomy.
It is also showed, how (completely according to the postmodern programme) elements
of ”lower“ genres (above all pornography in these particular examples) can be utilized and
116
why it happens. Related to this is also the use of unconventional levels of language
(vulgarisms, nonliterary language). In Jelinek´s book the effects are supported also by her
predilection for so-called ”disgusting aesthetics“ or morbidity, Brussig provokes mainly by
Klaus´s ”teeny“ language and his obsession by his own penis.
As it was already mentioned, both the authors don´t use the topics from the fields of
sexuality and eroticism accidentally. They use them on purpose, concretely in two ways: first
they are used as elements of narration (telling the reader some details to the story), second
these ”provocative facts“ are used to intensify the authors´ messages (e. g. criticism of the
society) to the highest possible level.
117
8. Resumé
Předkládaná diplomová práce tematizuje funkce tělesnosti a erotiky v literatuře
postmoderny, které jsou konkrétně zkoumány na příkladech románů Pianistka (Die
Klavierspielerin, poprvé publikováno 1983) rakouské spisovatelky a dramatičky Elfriede
Jelinekové a Hrdinové jako my (Helden wie wir, poprvé publikováno 1995) německého autora
Thomase Brussiga.
Aby nezůstaly stranou dějinné souvislosti provázející tuto tématiku, je první část práce
věnována historickému přehledu tradice literárního, popř. uměleckého zobrazení motivů
(tělesné) lásky a erotiky. Je poukázáno na fakt, že tato tematika k umění patří již od jeho
počátků a že je (s malými přestávkami) ať již v sublimované či nesublimované formě v této
oblasti stále přítomná. Zmíněna je i skutečnost, že obscenita, která by možná mohla být
vnímána jako „typicky moderní“, se v umění objevuje již mnohem dříve – jako příklad
můžeme uvést středověké masopustní hry, některé barokní básníky, texty de Sada, některá
díla tzv. prokletých básníků a surrealistů, prózy George Bataille nebo texty, které vznikaly
v souvislosti s „revolucí“ v roce 1968.
Rozhodující
pro
správné
pochopení
postmoderního
díla
je
také
znalost
charakteristických znaků této literární epochy. V relevantní kapitole je ukázáno, že
postmoderna sleduje jiné cíle než literární směry před ní, vyhraňuje se především proti
moderně, za jejíž pravý opak bývá postmoderna označována. Na rozdíl od minulosti (vlastně
celé literární tradici) se v postmoderní době ve „vysoké“ literatuře používají i žánry
„populární“, jako například western, science fiction nebo pornografie. Výrazně se mění i role
čtenáře, ze kterého se stává jakýsi „spoluautor“. Jeho literární znalosti jsou nutně potřebné
k tomu, aby dílo získalo ten „správný“ (často ovšem zcela subjektivní) význam.
118
Postmoderní literární tradice, která se zrodila v 50. letech 20. století v USA a jejímiž
typickými představiteli jsou John Barth, Leonard Cohen, Norman Mailer, Kurt Vonnegut
nebo John Updike, existuje v německy mluvících zemích. Jako postmoderní lze označit (vedle
Elfriede Jelinekové a Thomase Brussiga) také již některá díla Wolfganga Hildesheimera
a zejména Botho Strauße, Christopha Ransmayera nebo Patricka Süskinda.
Na příkladech textů Jelinekové a Brussiga je konkrétně doloženo, jak mohou být
v postmoderní literatuře využita témata erotiky a tělesnosti. Oba autoři pracují se zdánlivě
odlišnými prostředími, která však, jak se v průběhu analýzy ukazuje, mají za následek velmi
podobnou predestinaci postav, a to jak Eriky Kohutové u Jelinekové, tak Klause Uhltzsche
u Brussiga. Pojetí obou autorů ukazuje, že společenské klima ve Vídni, jak je zobrazeno
v Pianistce, vykazuje mnoho podobnosti se socialistickým východním Berlínem viděným
očima Thomasse Brussiga. Také rodiny obou hrdinů se v konečném důsledku příliš neliší,
snad jen v intenzitě krutosti, která je u Jelinekové poněkud extrémnější. Ovšem oba autoři
nám ukazují, jak dalece může být jedinec autoritativním systémem (lhostejno zda v rámci
rodiny či společnosti, neboť obě stejně fungují jako spojité nádoby) nejen ovládán, nýbrž
především destruován. U obou autorů je tato destrukce nejmarkantnější v oblasti sexuality.
Erika a Klaus, kteří vyrostli za „perverzních okolností“, nejsou schopni prožívat svou
sexualitu „normálním“ způsobem. Na jednotlivých příkladech z obou textů je doloženo, jak
mohou být sexuální úchylky využity postmoderními autory jako literární prostředky,
například k charakteristice osob, případně společnosti. Nebo jako možnost impozantní
vizualizace hledání cesty k vlastnímu já. Pro podporu drastičnosti případně působivosti
výpovědi používají oba autoři vysoce provokativní témata, a sice provokativní i v dnešní
postmoderní době. U Jelinekové je to především sadomasochismus popř. sebetrýznění,
voyeurizmus nebo incest. Brussig čtenáři zase nabízí celou škálu perverzí – mezi jinými
nekrofilii, zoofilii či masovou sodomii.
119
Je také ukázáno, jak mohou být, zcela dle principů postmoderny, do textu
vkomponovány prvky „nižších“ žánrů (v tomto případě především pornografie) a s jakým
záměrem se tak děje (samozřejmě s přihlédnutím k mnohosti variant subjektivního uchopení
textu). S touto skutečností souvisí také využití prostředků z netradičních jazykových rovin
(např. vulgarismy, nespisovný jazyk). U Jelinekové je účinek podpořen ještě její zálibou v tzv.
„nechutné estetice“ popř. morbiditě, u Brussiga šokuje popř. provokuje především jeho
„mládežnický“ styl vyprávění a jeho posedlost penisem.
Jak již vyplývá z výše uvedeného, nepoužívají oba autoři motivy a témata z oblasti
erotiky a tělesnosti náhodně. Používají je záměrně, a sice dvojím způsobem: za prvé jako
stavební prvek vyprávění, který čtenáři prozrazuje mnohé k ději, za druhé slouží tyto
„provokativní skutečnosti“ k maximálnímu možnému zesílení autory zprostředkovaného
sdělení (popř. společenské kritiky).
120
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